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Humorvoller Cosy Crime mit einer resoluten Hobbydetektivin und Katzennärrin zwischen Wuppertal und Wattenmeer. Der zweite schräge Fall für Rosa Fink! »›Die laufen Marathon. Wie kann man sich so etwas nur freiwillig antun?‹, rätselte Rosa. Sebi beging den Fehler, etwas zu lange zum Friesentisch zu schauen. Der unverschämte Läufer bemerkte seinen Blick prompt und schwenkte einladend das Bierglas. ›Rosa und Sebi, denn man tau. Kommt rüber!‹« Ausgerechnet das Lieblingskleid passt nicht mehr! Darum ist Rosa im Urlaub am Jadebusen jedes Mittel recht, um den Kilos zu Leibe zu rücken. In nicht ganz nüchternem Zustand wettet sie, fit für einen Halbmarathon zu werden, denn Laufen macht schlank. Das verspricht jedenfalls der friesische Ultraläufer Oliver Dauer, der sich flugs als persönlicher Trainer anbietet. Außerdem flirtet er sehr zum Missfallen von Sebi ganz ungeniert mit Rosa – und nebenbei mit einigen anderen Frauen. Als der charmante Friese nur eine Woche später beim 24-Stunden-Lauf tot umfällt, zweifelt Rosa an einem natürlichen Todesfall – und da ist sie nicht die Einzige. Steckt etwas anderes dahinter? Vielleicht sogar Eifersucht? Rosa geht der Sache auf den Grund und auch Sebi muss ran, ob er will oder nicht. »Diese locker-leicht geschriebene, humorvolle und spannende Lektüre bietet angenehme Unterhaltung für zwischendurch.« ((Leserstimme auf Netgalley))
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Redaktion: Christiane Geldmacher
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Cover & Impressum
1 –Metamorphosen
»Willst du wohl zugehen!«
Rosa Fink verpasste ihrem neuen Koffer einen Fußtritt, obwohl der keine Abhilfe schaffte. Angeblich war dieses Modell handlich, aber dennoch für einen dreiwöchigen Urlaub mehr als ausreichend. Mit diesen Worten hatte ihr ein Verkäufer im Brustton der Überzeugung das Ding empfohlen. Aber was wusste der schon! Es ging hier nicht um irgendeinen Urlaub, sondern um einen besonderen. Betört durch den gemeinsam gelösten Katzenfall hatte Rosa Ende Mai Sebis Heiratsantrag endlich angenommen. Nach acht Ablehnungen in den Vorjahren war die Neuauflage ihrer Hochzeit nun beschlossene Sache. Morgen würden sie gemeinsam nach Dangast reisen und dort noch einmal den Bund fürs Leben schließen. Doch sie hatte eine nicht verhandelbare Bedingung gestellt: diesmal keine Verwandtschaft. Ihr zukünftiger Ex war sofort einverstanden gewesen, was mit den traumatischen Erfahrungen bei ihrer ersten Hochzeit vor achtzehn Jahren zusammenhing. Die Vermählung mit Sebastian alias Sebi hatte damals im engsten Familienkreis stattgefunden.
Leider hegten Waltraud und Heinrich Fink, Sebis politisch konservative, erzkatholische Eltern und ihre Eltern Klaus und Renate keinerlei Sympathie füreinander. Ihr Vater war überzeugter Atheist mit starkem Linksdrall – und wer ihn kannte, wusste, dass er gern provozierte. In dem Wuppertaler Restaurant, in dem sie einen Raum für das Mittagessen mit anschließendem Kaffeetrinken reserviert hatten, nahm das Unheil seinen Lauf. Als Sebis Mutter Waltraud ihr Bedauern darüber kundtat, dass die Kinder nicht kirchlich geheiratet hatten, begann Klaus reflexhaft, gegen die Kirche, den Papst und Gott zu poltern.
Rosas Mutter Renate ermahnte ihn, sich doch wenigstens beim Essen zusammenzureißen, und die Trauzeugen, Sebis Schwester Stephanie und Rosas Bruder Thorsten, bemühten sich erfolglos, unverfängliche Gesprächsthemen zu finden. Es folgte angespanntes Schweigen bei Tisch. Beim Anschneiden der Hochzeitstorte leitete Klaus mit einer eigentlich recht harmlosen Stichelei eine weitere Eskalation ein. Jetzt fuhren auch Sebis Eltern, die bisher lediglich verkniffen geguckt und sich ansonsten zurückgehalten hatten, harte Geschütze auf. Sebis Bruder Christoph verschluckte sich an einem Stückchen Torte, als der Satz fiel, sie hätten ihrem Sebastian eine Frau aus katholischem Hause gewünscht. Für Rosa war es keine Überraschung, dass Waltraud und Heinrich sie als Schwiegertochter ablehnten. Aber einen solchen Wunsch bei der Hochzeit laut auszusprechen, war ihr gegenüber äußerst uncharmant, Provokation hin oder her. Das fand auch Sebi. Den schönsten Tag ihres Lebens hatten sie sich beide anders vorgestellt.
Während Christoph sich die Torte aus der Luftröhre hustete und der Rest der Familie verbal aufeinander eindrosch, stahlen sie sich mit einer Flasche des eisgekühlt bereitstehenden Sekts davon und eröffneten bereits am späten Nachmittag ihre Hochzeitsnacht. Wenigstens diese gestaltete sich dann schön. Vom Hörensagen wussten sie, dass die Abwesenheit des Brautpaares den Gästen erst eine halbe Stunde später aufgefallen war, woraufhin man die Kaffeetafel abräumen ließ und die Hochzeitsfeier für beendet erklärte.
Seither verband die Elternpaare eines, nämlich eine robuste gegenseitige Abneigung. Die Scheidung ihrer Kinder hatten beide Parteien herzlich wenig bedauert, die Fortsetzung des Verhältnisses über die Scheidung hinaus dafür umso mehr. Der Scheidungsgrund – das Fremdgehen Sebis und seine dabei in außerehelicher Sünde gezeugte Tochter Frieda – bedeutete natürlich einen herben Schlag für Waltraud und Heinrich Fink. Sie pflegten kaum persönlichen Kontakt zu ihrer inzwischen zehnjährigen Enkelin. Zum Geburtstag, zu Ostern und zu Weihnachten schickten sie Geldscheinkarten mit frommen Motiven. Außerdem hatten sie ein Sparkonto für Frieda eingerichtet, in das sie regelmäßig einzahlten, um ihrer großelterlichen Pflicht und Schuldigkeit Genüge zu tun.
Aus all diesen Gründen sollte die zweite standesamtliche Trauung heimlich, still und leise während eines Urlaubs am Jadebusen erfolgen. Allerdings beabsichtigte Rosa, der Familieneintracht eine zweite Chance zu geben. Sie hatte ihren Bruder Thorsten sowie Sebis Geschwister Christoph und Stephanie eingeweiht und der liebe Sebi wusste nichts davon. Sie wollte ihn nach der Trauung mit einer Videocollage überraschen, in der alle Geschwister und die Eltern gratulierten. Scheidungsgrund Astrid war ebenfalls in die Aktion involviert, da Rosa als krönenden Abschluss des Videos einen Gruß von Frieda vorgesehen hatte. Das fertig geschnittene Video würde Christoph auf einer Downloadseite für schnelle Datenfreigabe bereitstellen. Schließlich sollte beim abendlichen Hochzeits-Dinner ein Beamer, den Frau Janssen ihr zugesichert hatte, die Videogrüße auf eine weiße Wand im Restaurant projizieren.
Während Rosa hinter Sebis Rücken die Überraschung vorbereitete, war er zuerst geradezu übereifrig seinem Versprechen nachgekommen, sich um alle Formalitäten zu kümmern. Er hatte eine beglaubigte Abschrift aus dem Eheregister mit einem Vermerk zur Auflösung ihrer vorherigen Ehe besorgt, die Eheschließung beim Wuppertaler Standesamt angemeldet und darüber informiert, dass die Trauung im Nordseebad Dangast erfolgen sollte. Danach war Sebi so erschöpft von der Erledigung des Papierkrams gewesen, dass er wieder das tat, was er am besten konnte: nämlich nichts. Und das so lange, bis es im Urlaubszeitraum keine freien Termine mehr beim für Dangast zuständigen Standesamt in Varel gab. Das einzige Datum, das man noch anbieten konnte, war Freitag, der 14. September. Als Sebi Rosa eröffnete, dass sie erst am Tag vor ihrer Abreise heiraten würden, versuchte er seinen Schnitzer in bekannter Manier schönzureden. Sieh es so, wir verbringen vorgezogene Flitterwochen in Dangast – das war mal wieder so typisch für Sebi!Auf ihre Erklärung, dass man Flitterwochen nicht vorziehen könne, da sie per Definition die Zeit unmittelbar nach und nicht vor einer Hochzeit umfassten, reagierte er mit schuldbewusstem Blick und der Bitte, ihm noch dieses eine Mal zu verzeihen. Sie tat es. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Rosa konzentrierte sich wieder auf das Kofferproblem. Kein einziges Teil, das aus der Mitte herausquoll, konnte sie entbehren. Alles musste mit. »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!«, kündigte sie an, bevor sie das verhasste Übergewicht an Hüften, Po und Oberschenkel zielführend einsetzte. Sie ging in die Knie und hockte sich auf den Koffer. Als Nächstes stopfte sie die Textilien mit der einen Hand nach innen und zog gleichzeitig mit der anderen Hand den Reißverschluss Millimeter für Millimeter weiter zu, bis er rundum geschlossen war.
Rosa stand auf und betrachtete zufrieden ihr Werk. Dieses Problem war dank ihrer Rettungsringe gelöst, dafür deutete sich nun ein anderes an. Wo blieb Sebi nur? Er hätte längst hier sein sollen, um sie abzuholen. Aber das kannte sie schon, er kam gern zu spät und redete sich mit dem akademischen Viertel heraus. Bevor es morgen früh losginge, wollten sie noch Monika besuchen, um sich von Rudi und Ruby zu verabschieden. Drei lange Wochen lagen vor ihnen, in denen sie die Kätzchen nicht sehen konnten. Bei ihrer Rückkehr vom Wattenmeer würden die Kleinen dann zwölf Wochen alt sein und dürften endlich bei ihr einziehen. Der getigerte Zuwachs war ein heikles Thema zwischen ihr und Sebi, weil sie mindestens bis zur Abklärung seiner möglichen Katzenhaarallergie ihre Wohnung behalten wollte. Trotz Eheschließung – und vielleicht sogar dauerhaft, auch ohne Allergie. Räumliche Trennung war angeblich das Glücksgeheimnis vieler Promi-Paare. Living Apart Together nannte sich das alternative Beziehungsmodell mit getrennten Wohnungen in derselben Stadt. Sebi und sie praktizierten genau das bereits seit acht Jahren höchst erfolgreich. Warum überstürzt etwas daran ändern? Das Living-Apart-Together-Prinzip war ihr schon deswegen sympathisch, weil man sich bei Bedarf aus dem Weg gehen und die Zeit für sich allein genießen konnte. Es gab keine Diskussionen darum, wer für welche Hausarbeit zuständig war. Eigentlich also ein Idealzustand, den sie so lange wie möglich aufrechterhalten wollte.
Sie griff gerade nach ihrem Handy, um Sebi Dampf zu machen, als es zu vibrieren begann.
»Hallo Schatz, bist du startklar?«
»Natürlich! Seit einer Viertelstunde. Wo steckst du denn?«
»Guck mal raus, dann siehst du mich.«
Tatsächlich zeigte ihr ein Blick aus dem geöffneten Fenster, dass Sebi in diesem Moment vorfuhr und mit quietschenden Reifen an der gegenüberliegenden Straßenseite stoppte. Nach einem kurzen Hupen stieg er aus, schaute nach oben und winkte ihr fröhlich zu, als er sie entdeckte. Rosa seufzte beim Anblick seines mit pinken Hibiskusblüten bedruckten Hemdes. Wenn das sonnige Spätsommerwetter anhielt, stand zu befürchten, dass er dieses oder ein anderes aus seiner reichhaltigen Sammlung an schrillen Hawaiihemden auch auf dem Standesamt tragen würde.
Auf der Fahrt zum Wuppertaler Zooviertel, in dem Monika ihre kleine Hobby-Katzenzucht betrieb, trat Sebi kräftig ins Gaspedal. Dabei konnte sein Punktekonto in Flensburg nicht mehr viel verkraften, nachdem er bei der Rettungsaktion im Frühjahr, als er Rosa aus dem Keller befreit hatte, geblitzt worden war.
»Denk an die Geschwindigkeitsbegrenzung im Burgholztunnel, oder möchtest du deine Fotosammlung erweitern?«, warnte Rosa ihn. »Auf die paar Minuten kommt es nicht an. Du hättest dich vorher mehr beeilen und mich pünktlich abholen sollen. Jetzt verspäten wir uns auf jeden Fall, da kannst du noch so rasen.«
»Habe mich ein bisschen mit der Zeit verkalkuliert«, gab Sebi zu. »Ich war in Ronsdorf bei Maik und musste danach noch kurz unter die Dusche springen.«
Rosa wunderte sich. Sebi duschte normalerweise direkt morgens, entweder vor oder nach dem ersten Kaffee des Tages. Und auch, wenn Maik Sebis langjähriger bester Freund war, würde er ihn doch nicht ungeduscht besuchen.
»Hat das Treffen mit Maik dich dermaßen ins Schwitzen gebracht?«
»Kann man so sagen. Ich bin mit ihm und Sascha einmal um die Talsperre gelaufen.«
Ihre ungläubig hochgezogenen Brauen deutete er wohl als fragenden Blick, weil er die Erklärung nachschob: »Sascha, mein alter Kumpel vom Polizeidienstsport. Der ist spontan auch noch vorbeigekommen.«
Ein Missverständnis, denn an Sascha konnte sie sich noch erinnern. Mit ihm hatte Sebi alle zwei Jahre für das Deutsche Sportabzeichen trainiert. Sebi war damals recht sportlich gewesen, in den meisten Disziplinen hatte er gute Leistungen abgeliefert. Aber nicht im Laufen. Da hatte ihm damals schon die Ausdauer gefehlt.
»Du läufst freiwillig? Ich staune. Warum das denn?«
»Ich muss dringend etwas für meine Fitness tun. Schließlich heirate ich bald, da möchte ich in Topform sein.«
Rosa fiel es schwer zu glauben, dass er sich wegen der bevorstehenden Hochzeit im Laufschritt um die Ronsdorfer Talsperre schleppte. Es war nur eine kleine Talsperre und somit auch nur eine kurze Runde, aber bei der Hitze zurzeit konnte das nicht gesund sein. »Also meinetwegen musst du dir das nicht antun. Für dein Alter bist du noch einigermaßen gut in Schuss. Du hast dich jedenfalls besser gehalten als Maik. Aber der ist auch schon über fünfzig.«
»Was heißt hier für mein Alter und einigermaßen?« Sebis empörter Seitenblick sprach Bände. »Meinst du, nur weil ein Mann fünfzig wird, muss er seine Ansprüche an sich selbst herunterschrauben?«
Deutete sich da so etwas wie eine Midlife-Crisis anlässlich des runden Geburtstags im nächsten Jahr an? Um Sebis Kondition war es in der Tat nicht besser bestellt als um ihre, aber Rosa fand, dass er sich davon abgesehen passabel gehalten hatte. Trotz der hundert Kilo, die er auf die Waage brachte, ließen sich bei ihm keine so gravierenden Problemzonen erkennen wie bei ihr, was auch daran lag, dass er das Glück hatte, groß zu sein. Ein großer, kräftig gebauter Kerl, dessen Schultern immer noch wesentlich breiter waren als seine Hüften. Aber das Thema konnte sie jetzt nicht vertiefen, denn er setzte schon den Blinker, um in die Hubertusallee abzubiegen. Von hier aus waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zur Seitenstraße oberhalb des Zoos, wo Monika wohnte.
Vor ihrer Garage parkte ein roter Kastenwagen, aus dessen Laderaum jemand in Poloshirt und Jeansshorts Umzugskartons hievte. Erst auf den zweiten Blick identifizierte sie den Mann als Thilo Nowak. Jener Thilo, den sie im Frühjahr nach dem spurlosen Verschwinden seines Katers Maurice kennengelernt hatte, war klein und schmächtig gewesen. Klein war er immer noch, aber nicht mehr schmächtig. In kürzester Zeit hatte Thilo sich eine ziemlich athletische Statur zugelegt. Er winkte ihnen zu und präsentierte dabei einen beeindruckenden Bizeps. Auch Sebi war die Verwandlung nicht entgangen, denn er raunte: »Der hat in letzter Zeit wohl ziemlich viele Kisten geschleppt.«
Wie sich herausstellte, nachdem Thilo den Leihwagen entladen und mit Sebis Hilfe die Kartons in den ersten Stock getragen hatte, gab es für seine Metamorphose andere Gründe als Kistenschleppen. Er betrieb seit Juni Krafttraining, joggte regelmäßig, trank Proteinshakes und nahm jede Menge Nahrungsergänzungsmittel zum Muskelaufbau ein. Rosa bekam aber nur am Rande mit, wie sich die Männer darüber unterhielten, denn ihre Aufmerksamkeit galt Rudi und Ruby. Den Namen Ruby hatte sie ausgesucht und Sebis Vorschlag, seinen Bruder dann der Einfachheit halber Rudi zu nennen, eigentlich inakzeptabel gefunden. Aber dann war es bei Rudi geblieben. Die Tigerchen waren jetzt sieben Wochen alt. Sie wuchsen wahnsinnig schnell und wurden immer aktiver. Abgesehen von der Farbe ähnelte Ruby ihrer blauen Mutter La Belle. Rudi hingegen war eine Kopie seines Erzeugers Otto. Die Unterschiede ließen sich von Woche zu Woche deutlicher erkennen. Ruby besaß die typische kräftige Statur, die breite Kopfform und die Murmelaugen der Rasse Britisch Kurzhaar, während ihr Bruder hochbeiniger und schlanker wirkte. Auch die Tigerzeichnung war bei ihm stärker ausgeprägt. La Belle ließ ihre Kitten keine Sekunde aus den Augen, blieb aber entspannt, da sie Monika in der Nähe wusste. Außerdem kannte sie Rosa und Sebi von den wöchentlichen Besuchen.
Auf dem Kratzbaum im Wintergarten entdeckte Rosa nicht nur Monikas zweite blaue Katze Luna, sondern dicht neben ihr lag Thilos ebenfalls blauer Kater Maurice. Das überraschte sie, denn in ihrem Katzen-Ratgeber stand, dass es schwer war, erwachsene Katzen aneinander zu gewöhnen. »Toll, dass sie sich so gut vertragen«, bemerkte sie verwundert.
»Ja, Thilo und ich dachten, wir versuchen es mal mit der Vergesellschaftung. Maurice fühlt sich schon zu Hause hier. Anfangs gab es Gefauche, aber er hat schnell akzeptiert, dass er als kastrierter Kater in der Hierarchie unter La Belle und Luna steht. Mit seiner Unterwürfigkeit hat er bei den Damen Sympathiepunkte gewonnen.«
»Ach, so ist das.« Rosa musste sich ein Lachen verkneifen. Sie ging davon aus, dass auch Maurices Besitzer auf Sympathiepunkte bei einer gewissen Dame aus war. Deshalb, nach neuer Frisur und modernen Klamotten, nun auch der Zuwachs an Muskelmasse. Für alle war es offensichtlich, nur Monika hatte noch nicht realisiert, dass er sich vom Leben unter einem Dach im selben Haus mehr als nur räumliche Nähe und ein gemeinschaftlich betriebenes Hobby versprach. Rosa war sehr gespannt auf die weitere Entwicklung zwischen Thilo und der hübschen, stets elegant gekleideten Züchterin, auf deren Kleidung erstaunlicherweise nie ein Katzenhaar haftete. Insgeheim hatte sie ihr den Spitznamen Herzogin Kate verpasst. Diesem Namen machte sie auch heute mit einem marineblauen knielangen Sommerkleid und Pumps in passender Farbe alle Ehre. Monikas grazile Körpermitte wurde von einem schmalen geflochtenen Ledergürtel betont, der nicht länger zu sein schien als ein Schnürsenkel. Rosa sah an sich herunter und schätzte, dass sie für ihre nicht vorhandene Taille mindestens die dreifache Gürtellänge benötigen würde. Ernüchtert richtete sie ihren Blick wieder auf Thilo, der immer noch mit Sebi auf der Couch saß. Nun, da er begann, Wert auf seine äußere Erscheinung zu legen, konnte sie sich ihn und Monika durchaus als Paar vorstellen.
Sie versuchte, die Kätzchen mit einem Federwedel zu sich zu locken, aber Rudi und Ruby hatten ihren eigenen Kopf. Zielstrebig staksten sie auf die Couch zu und schnupperten an Sebis Beinen. Da er ihnen jedoch kaum Beachtung schenkte, begann Rudi an einer der nackten Waden hochzuklettern, die so einladend über ihm aufragten.
»Aua! Lässt du das wohl sein, du kleiner frecher Kater«, schimpfte Sebi. »Du hast ganz schön scharfe Krallen.« Er hob den Übeltäter auf seinen Schoß, und beugte sich nach unten, um die Wade genauer zu untersuchen. Indes versuchte Ruby, ermutigt durch Rudis Erfolg, am anderen Bein nach oben zu gelangen. In letzter Sekunde zog Sebi das Knie hoch, nahm Ruby und setzte sie neben ihrem Bruder ab. Zufrieden kuschelte sie sich in Sebis Schoß an ihr Brüderchen und beide begannen, vor Wonne zu schnurren.
»Diese Fellmonster haben meine Beine zerfetzt«, behauptete Sebi und guckte mitleidheischend.
Er sollte sich mal nicht so anstellen, Rosa hatte andere Sorgen. »Sie sind so zuckersüß. Ich weiß gar nicht, wie ich drei Wochen überstehen soll, ohne Rudi und Ruby zu besuchen.«
Monika fand tröstende Worte: »Du musst es positiv sehen. Wenn du wiederkommst, dauert es nicht mehr lange, bis du die süßen Racker ein ganzes Katzenleben lang um dich haben wirst.«
Rosa bemerkte, dass Sebi dem wenig Tröstliches abgewinnen konnte. Er verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. »Was ist los, Sebi, tut es so weh? Man sieht kaum etwas von den Verletzungen«, fragte sie, seine Leidensmiene absichtlich missverstehend.
Thilo, dem der ironische Unterton entging, fragte: »Gegen Tetanus bist du doch geimpft, oder?«
Sebi nickte, woraufhin Thilo vorschlug, die Kratzer mit einer desinfizierenden Wund- und Heilsalbe zu versorgen, um einer Entzündung vorzubeugen.
Eine solche prophylaktische Maßnahme fand Rosa jedoch angesichts der nahezu unversehrten Haut etwas übertrieben und kam Sebi zuvor, indem sie entschied: »Nein, lass mal, so schlimm ist es nicht. Wir müssen dann jetzt leider auch los.«
Das ließ Sebi sich nicht zweimal sagen. »Richtig, ich muss noch packen.«
Er bettete die Kätzchen behutsam auf ein Sofakissen. Thilo wollte auch aufbrechen, um noch eine Fuhre Sachen aus seiner alten Wohnung in Barmen zu holen. Sie verabschiedeten sich von Monika, und nach einem letzten Blick auf die schlummernden Kätzchen folgte Rosa Sebi zum Auto. Thilo lehnte sich aus dem Fenster seines Kastenwagens und rief Sebi zu: »Wir sehen uns dann spätestens in vier Wochen.« Warum er dabei so übertrieben grinste, erschloss sich Rosa ebenso wenig wie der Sinn seines nachfolgenden Rufs: »Und denk an die Anmeldung, sonst bekommst du keine Medaille!«
»Welche Anmeldung? Welche Medaille?« Rosa nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Sebi ihre Fragen beantwortete. »Am Samstag, dem 22. September findet der 52. Wuppertaler Volkslauf rund um die Ronsdorfer Talsperre statt. Thilo und ich sind dabei.«
Jetzt war es an Rosa, breit zu grinsen. »Ach, du liebe Zeit. Und nur, weil du jetzt einmal nach ewiger Zeit wieder gelaufen bist, rechnest du dir Chancen aus, eine Medaille zu gewinnen?«
»Nein, Schatz, jeder vorangemeldete Teilnehmer bekommt eine Medaille, nicht nur ich. Thilo auch. Und sogar Bernd.«
Jetzt war Rosa ein paar Sekunden baff, was nicht sehr häufig geschah. Als sie sich wieder gefangen hatte, sagte sie: »Nicht dein Ernst, oder? Du willst mich verschaukeln. Dein Ex-Chef ist weit über sechzig, stark übergewichtig, kurzatmig und unter Bluthochdruck leidet er auch. Der nimmt doch nie und nimmer an einem Volkslauf teil.«
Sebi schien sich prächtig zu amüsieren. Er hob drei Finger und sagte: »Doch, wirklich wahr. Allerdings läuft er nicht, er wandert. Du wirst dich wundern, Bernd hat mächtig abgespeckt, seit du ihn das letzte Mal gesehen hast.«
Thilo trainierte sich Kondition und Muskeln an, Sebi lief seiner Midlife-Crisis davon und Bernd mutierte zum Wandersmann. Wenn das so weiterging, wunderte Rosa allmählich gar nichts mehr. Auch nicht, dass sie selbst als Bewegungsmuffel aus allen Nähten zu platzen drohte.
Sebi hoffte inständig, dass sich Wiebke Janssen während der Urlaubswochen unter ihrem Reetdach nicht verplapperte. Als Stammgast der kleinen Pension Zum Jadebusen wusste er um das Risiko, das er mit dieser Komplizenschaft eingegangen war, denn die verwitwete Zimmerwirtin redete gern und viel. Es würde ihr äußerst schwerfallen, ein Geheimnis für sich zu behalten. Doch ohne ihre Unterstützung wäre es unmöglich gewesen, alles Notwendige von Wuppertal aus zu organisieren. Rosa glaubte, er hätte Frau Janssen in die Hochzeitspläne eingeweiht, damit sie sein Versäumnis ausbügelte.
Obwohl sie sich nach wie vor siezten, kannten sie Wiebke Janssens komplette Familiengeschichte. Diese hatte sie ihnen über die Jahre verteilt in der Erwartung erzählt, im Gegenzug auch prickelnde Details ihrer unkonventionellen Beziehung zu erfahren. Begünstigt durch ein alkoholisches Getränk namens Friesengeist hatte sich ihre Erwartung in diesem Frühjahr auch endlich erfüllt.
Jedenfalls wusste Sebi, dass Frau Janssens lange verstorbener Mann Hinnerk zu Lebzeiten mit einem gewissen Jasper Teschen befreundet gewesen war und die Patenschaft für dessen Tochter Marie übernommen hatte. Die inzwischen fünfunddreißigjährige Marie lebte in Varel, und wie es der Zufall wollte, war sie dort als Standesbeamtin tätig. Aus diesem Grund hatte er Frau Janssen auf sie angesetzt. Sie sollte ihre Beziehungen spielen lassen und Marie Teschen angeblich bitten, den Finks ausnahmsweise noch einen Termin für die Trauung zu geben. Im Großen und Ganzen entsprach das sogar den Tatsachen – bis auf eines: Es gab kein Versäumnis seinerseits. Wiebke Janssens Auftrag als Mitwisserin der geplanten Überraschung hatte gelautet, das Datum der Trauung unbedingt auf den vorletzten Ferientag zu legen.
Bislang gab sie sich wirklich Mühe, Stillschweigen zu bewahren. Beim Einchecken kam ihr kein verräterisches Wort über die Lippen, nicht die kleinste Anspielung. Allerdings musste er ihr bei Gelegenheit einschärfen, das ständige Zwinkern und Blinzeln in alle Richtungen zu unterlassen, bevor es Rosa auffiele. Noch hatte diese den Tick nicht bemerkt, was vielleicht daran lag, dass sie ihre volle Aufmerksamkeit auf Frau Janssens verändertes Erscheinungsbild richtete. Die Wandlung war in der Tat erstaunlich. Seit Rosa und er ihre Urlaube am Wattenmeer verbrachten, also seit neun Jahren, wohnten sie in der Pension Zum Jadebusen. Genauso lange kannten sie ihre Wirtin als rundliche Person mit roten Apfelbacken, gelbstichiger Dauerwelle und karierter Kittelschürze. Rosa hatte bei einem ihrer ersten Aufenthalte versucht, die Schürzen zu zählen, dann aber einsehen müssen, dass es eine unlösbare Aufgabe war. Der Bestand an karierten Exemplaren, aus dem die dralle Mittsechzigerin immer wieder neue, sich sehr ähnelnde Modelle hervorzauberte, schien unerschöpflich zu sein.
Doch die Frau Janssen, die sie kannten, gab es nicht mehr. Bei ihrer Ankunft am Mittag wurden sie von einer auf wundersame Weise erschlankten und insgesamt modernisierten Version ihrer selbst empfangen. Keine blondierten Pudellöckchen mehr, Wiebke Janssen hatte sich eine fransige Kurzhaarfrisur schneiden und flotte silberne Strähnchen färben lassen. Noch erstaunlicher aber war, dass die obligatorische Kittelschürze fehlte. Auf Karos hatte sie dennoch nicht gänzlich verzichtet, denn sie trug eine karierte Bluse. Darunter eine Jeans und an den Füßen Sneakers anstelle der üblichen Gesundheitslatschen.
»Moin, Frau Janssen. Alter Friese, Sie sehen fantastisch aus! Die neue Frisur steht Ihnen gut. Macht Sie gleich zwanzig Jahre jünger. Und auch sonst, mein Kompliment«,bewunderte Sebi ihren neuen Look, woraufhin sie ungeachtet ihres Alters bis unter die Haarspitzen errötete.
Rosa schien indes mehr auf den Gewichtsverlust fokussiert zu sein. Der zeichnete sich in den weniger üppigen Körperkonturen deutlich ab. Ihre Wangen wirkten jedoch rund, rosig und straff wie eh und je. Meist ging mit dem Abnehmen in höherem Alter ein Plus an Falten im Gesicht einher, aber davon war bei Frau Janssen nichts zu sehen.
Nach einem flüchtigen Moin sagte Rosa: »Jetzt staune ich aber. Im Frühjahr wollten Sie mir noch meine Diät ausreden und nun haben Sie selbst eine gemacht! Sie haben doch bestimmt zehn Kilo abgenommen?«
»Nicht ganz. Es sind acht Kilo seit Juni«, verkündete Frau Janssen mit sichtlichem Stolz und wischte sich die Hände in alter Kittelschürzen-Gewohnheit an ihrer Bluse ab. »Aber ich halte keine Diät, ich bewege mich nur viel mehr. Ich gehe spazieren.«
Sebi, der Rosa in- und auswendig kannte, wusste ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. Sie glaubte nicht an den ursächlichen Zusammenhang zwischen Spazierengehen und Abnehmen. Wie vorausgeahnt, meldete sie sofort Zweifel an. »Sie meinen, Sie haben allein durch Spaziergänge so viel Gewicht verloren? Das ist ja zu schön, um wahr zu sein.«
Frau Janssen gab zu, auch auf das Schnökern zwischendurch zu verzichten. Sie und ihr Mann hatten früher eine eigene Konditorei betrieben. Heute profitierten nur noch die Pensionsgäste von den Backkünsten der Konditormeisterin – und sie selbst. Normalerweise fanden immer zahlreiche Kostproben des Teigs und fertige Gebäckstücke aus eigener Herstellung den Weg in ihren Magen. Das verkniff sie sich seit drei Monaten.
»Fällt mir schon etwas schwer, denn ich bin eine Zuckersnuut. Aber ich lasse keine Hauptmahlzeit aus. Ich frühstücke reichlich, wie sich das gehört, dann gibt es natürlich um elf Uhr die Teepause, das Elführtje. Mittags halte ich mich gewiss nicht zurück und abends lange ich noch mal kräftig zu.«
Für Sebi hörte sich das nach einer durchaus reichhaltigen Tagesverpflegung an. Er hätte das Gespräch jetzt gerne beendet und sich aufs Zimmer begeben, aber Rosa wollte es genauer wissen. Sie rasselte mehrere Fragen zu den Spaziergängen herunter. Seit wann, wo, warum, wie weit, mit wem? Das Thema hatte offenbar beträchtliches Interesse bei ihr geweckt. Frau Janssen gab bereitwillig Auskunft.
»Angefangen hat das, als Bernd, also Herr Ammermann, bei mir logiert hat. Ihr Mann, oder vielmehr Ihr Zukünftiger …« Sie blinzelte ihm zu, bevor sie fortfuhr. »… hat ihm ja netterweise meine Pension empfohlen. Be… Herr Ammermann sollte auf Rat seiner Ärztin ein tägliches Bewegungsprogramm an der Seeluft absolvieren. Darüber kamen wir ins Schnacken, und ich habe ihm von den Terrainkurwegen erzählt. Die sind bei den Kurgästen sehr beliebt. Nun ja, und er fragte mich, ob ich die Wege kenne. Einer von ihnen, die Grüne Mitte, liegt ja quasi direkt vor der Tür. Ein Rundgang von ungefähr zwei Kilometern, teils mit herrlichem Ausblick auf Watt und Wasser. Den bin ich dann mit ihm gegangen.«
Gegen einen herrlichen Ausblick hätte Sebi auch nichts einzuwenden gehabt. Nach der dreistündigen Autofahrt täte es jetzt gut, rauszugehen, Seeluft zu schnuppern und sich eine frische Brise um die Nase wehen zu lassen. Stattdessen stand er nun schon seit geraumer Zeit in der Rezeption herum. Und Rosa lauschte aufmerksam Frau Janssens weitschweifigen Ausführungen, anstatt das Ganze abzukürzen. Wenn er nicht unhöflich erscheinen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenfalls zuzuhören.
»Herr Ammermann war regelrecht begeistert, und er wollte unbedingt auch die anderen Wege erkunden. Eigentlich hatte ich keine Zeit, das Haus war voll, es gab jede Menge zu tun. Aber er ist auch ein früher Vogel, genau wie ich, und Agnes war bereit, morgens zwei Stunden früher anzufangen. So bin ich täglich in aller Herrgottsfrühe mit Herrn Ammermann spazieren gegangen. Oder gewalkt, wie man ja heute sagt. Am nächsten Tag habe ich ihm Alt-Dangast gezeigt, wo der windgeschützte Weg mitten durch das alte Bauerndorf führt, mit weiten Feldern und Weideland drum herum. Wir haben die Streckenlänge langsam gesteigert. Zum Schluss haben wir uns sogar in den Wind auf den Deichrücken gewagt und sind dann über den Terrainweg Achtern Diek zurückmarschiert. Das sind zusammen mit Hin- und Rückweg fast acht Kilometer.«
Sebi war beeindruckt, und Rosa wohl auch, denn sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Alle Achtung, jetzt verstehe ich. Also kein gemütliches Spazierengehen, sondern Walking. Wie ich gehört habe, hat Bernd, also Herr Ammermann, das in Wuppertal noch intensiviert, er wandert nun. Und Sie sind also auch dabeigeblieben?«
Sebi stöhnte leise und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm unbegreiflich, dass Rosa immer neue Fragen stellte, die Frau Janssen zur Fortsetzung ihrer Schilderung motivierten. Schon nickte sie eifrig und erzählte weiter: »Ja, tatsächlich, aber erst, nachdem ich mich einer Walking-Gruppe angeschlossen habe. Herr Ammermann und ich haben uns beim Gehen immer so nett über die Polizeiarbeit unterhalten, da verging die Zeit wie im Flug. Was der B… der Herr Ammermann da so alles erlebt hat! Ich muss sagen, so etwas aus erster Hand zu hören, ist höchst aufregend.«
Den kurzen Seitenblick, mit dem Wiebke Sebi bedachte, interpretierte er als unausgesprochenen Vorwurf, sie nie allzu großzügig mit erlebnis- und faktensatten Polizei- oder Detektivgeschichten versorgt zu haben. Rosa interpretierte ihn offenbar genauso. Sie grinste von einem Ohr zum anderen, und Sebi ahnte warum. Ihrer Meinung nach hielt er sich aufregende Geschichten grundsätzlich vom Leib, da es ihm an Leidenschaft für seinen Job mangelte. Oft genug hatte sie ihm vorgeworfen, er hätte als Polizist kaum Ehrgeiz erkennen lassen und nur Dienst nach Vorschrift gemacht.
Es war schon etwas Wahres daran, das musste Sebi eingestehen. Während sich bei den Kollegen Überstunden ohne Ende angesammelt hatten, war sein Arbeitszeitkonto auf wundersame Weise immer ausgeglichen gewesen. Für andere mochte der Polizeidienst eine Berufung sein – er hatte darin nie mehr als einen Beruf wie jeden anderen gesehen. Die finanzielle Unabhängigkeit nach einer überraschend hohen Erbschaft war ihm da sehr gelegen gekommen. Seine kinderlose, verwitwete und sehr vermögende Patentante Hilde hatte ihm genug Geld vermacht, um seinen Beamtenstatus aufzugeben und fortan komfortabel vom Erbe leben zu können. Die Detektei hatte er eröffnet, weil ihm eine Firmengründung laut Finanzberaterin steuerliche Vorteile brachte – und um sich nicht mit damals Anfang vierzig wie ein Vorruheständler zu fühlen. Nach der Anmietung eines Büros und der praktischerweise direkt darüber befindlichen Wohnung hatte er darauf gehofft, dass möglichst wenig Klienten mit Arbeit drohen würden. Genau das war eingetreten. Aus seiner Sicht war die Detektei Fink eine echte Erfolgsstory. Rosa sah das allerdings anders.
»Allein war das Spazierengehen dröge«, hatte sich Wiebke Janssen inzwischen wieder Rosa zugewendet. »Wahrscheinlich hätte ich es schleifen lassen, wenn ich nicht dem Oli und seinen Watt-Walkies begegnet wäre. Sie erzählten mir, dass sie sich immer dienstags, donnerstags und sonntags treffen. Da habe ich mich dann angeschlossen. Ulla, Dortje, Beeke-Luise, Uwe und Fridbert, alle ungefähr in meinem Alter. Bis auf den Oli, der ist noch ein Jungspund, keine vierzig, und …«
Nun blieb Sebi keine andere Wahl, er musste den Vortrag unterbrechen, bevor sie noch bis in den Nachmittag hier herumstanden. »Oh, jetzt meldet sich meine Blase. Tja, daran merkt man’s, im Gegensatz zu diesem Oli bin ich kein Jungspund mehr. Aber ich freue mich schon, heute Abend in Ihrem Restaurant mehr über Oli und die Watt-Walkies zu erfahren.«
Rosa warf ihm bei dem letzten Satz einen amüsierten Blick zu. Sie durchschaute das Manöver natürlich und ahnte, dass sich seine Freude in gewissen Grenzen hielt.
»Wenn Sie mir eben meinen Zimmerschlüssel geben, gehe ich schon mal mit den Koffern vor«, versuchte er, seinen Abzug zu forcieren. Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Janssen wie zur Salzsäule erstarrt dastand, die flache Hand gegen den Mund gedrückt und unter ihren rosigen Apfelwangen erbleicht.
»Herrjemine«, murmelte sie. »Das ist mir noch nie passiert …«
»Geht es Ihnen nicht gut? Frau Janssen, was ist denn los?«, erkundigte sich Rosa, während Sebi für alle Fälle einen der Stühle aus der Sitzgruppe am Fenster heranschaffte.
Aber dieser wurde nicht benötigt, da schlagartig wieder Leben in Frau Janssen kam. Sie hatte keinen Schwächeanfall erlitten, sondern lediglich die Tischreservierung vollkommen vergessen. Das war tatsächlich ein Novum. Sebi und Rosa bestellten gewohnheitsmäßig am ersten Urlaubsabend das gemütliche Candle-Light-Dinner, obwohlzur Pension nur ein Frühstücksraum gehörte. Dieser wurde an den Wochenenden aber kurzerhand zum privaten Restaurant für Gäste umfunktioniert. Ganz selten stellte Frau Janssen den Raum auch für kleine geschlossene Gesellschaften zur Verfügung – und dies war nun geschehen.
»Es ist mir so peinlich. Wie unangenehm! Bitte sehen Sie es mir nach, es war gewiss keine böse Absicht«, entschuldigte sie sich bekümmert. »Wenn es Sie nicht stört, dass es turbulenter zugeht als sonst, bekommen Sie natürlich Ihren Tisch. Ich schiebe ihn dann noch etwas weiter nach hinten, ganz in die Nische. Da sind Sie etwas entfernt von der Gruppe und können hoffentlich Ihr Menü trotzdem genießen. Was meinen Sie?«
Die Aussicht, umgeben von einer lärmenden Gesellschaft an den Katzentisch verbannt zu essen, begeisterte Sebi zwar nicht sonderlich, aber er wollte die Schuldgefühle seiner Zimmerwirtin nicht ins Unermessliche steigern. Gekonnt schwindelte er nach einem Blick zu Rosa, die ihr Einverständnis durch ein Kopfnicken signalisierte: »Kein Problem, Frau Janssen, ist schon in Ordnung. Das stört uns kein bisschen.«
Es war schon Nachmittag, als Sebi endlich das Wattenmeer sah. Mit Rosa an seiner Seite spazierte er zum Kurhaus, um in gewohnter Manier den Urlaub mit einem Stück Rhabarberkuchen zu beginnen. Leider war ihre Laune nicht die beste, obwohl normalerweise schon der Gedanke an den Dangaster Rhabarberkuchen Glücksgefühle in ihr auslöste.
»Ich sollte es Frau Janssen nachtun und auch nicht mehr so viel schnökern«, gab sie missmutig von sich, als sie auf dem Deich in Richtung Friesendom wanderten. Von diesem Kunstwerk aus war es nicht mehr weit bis zum Kurhaus, um das herum einige weitere Kunstobjekte auf sie warteten. Rosa war immer aufs Neue entzückt, den Grenzstein zu sehen. Viereinhalb Tonnen Granit, phallusförmig steil an der Hochwassergrenze aufragend. Wahrhaftig ein Stein des Anstoßes, der dem Vernehmen nach beim Aufstellen für einen Skandal gesorgt hatte. Doch den lauten Aufschreien der Empörung zum Trotz stand die Skulptur immer noch. Inzwischen war der Phallus ebenso wie der Friesendom ein Wahrzeichen des Nordseebads Dangast.
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