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Mördersuche mit Möwe − Hobbydetektivin Rosa Fink ermittelt. Cosy Crime am Wattenmeer für Fans von Gisa Pauly und Lotte Minck »Mit gesenkter Stimme sprach der Hauptkommissar vertraulich weiter. ›Rosa, der Kollege, der die Anzeige aufgenommen hat … nun ja, er konnte nicht umhin, Heidruns Fahne zu riechen. Auf seine Frage, ob sie Alkohol getrunken hätte, gab sie unverblümt zu, jeden Morgen einen Piccolo für den Kreislauf zu brauchen.‹« Mausetot liegt Heidrun Paulsen frühmorgens auf dem Bürgersteig. Fast jeder an der Küste kannte die quirlige Rentnerin aus Varel, die jeden Tag mit ihrem Lastenrad Lebensmittel einsammelte und diese dann verteilte. Alles deutet auf einen Unfall unter Alkoholeinfluss hin. Aber warum hat sie schon Wochen zuvor mehrere Anschläge auf ihr Leben zur Anzeige gebracht, die bei der Polizei niemand ernst nahm? Während ihr Wieder-Ehemann Sebi in der gemeinsamen Pension mit der Boßel- und Kohlsaison vollauf beschäftigt ist, stürzt sich Hobbydetektivin Rosa auf ihren ersten richtigen Fall. »Ein humorvoller Kuschel-Krimi mit Wohlfühlfaktor. Leser können abtauchen, miträtseln und mitknobeln, aber auch schmunzeln und sich eben wohlfühlen.« ((Westdeutsche Zeitung)) »Rosa Fink ermittelt ganz offiziell. Die Protagonisten sind sehr lebensnah dargestellt, man schließt sie schnell ins Herz. Und bei den zahlreichen Geschichten zum Grünkohl und zu Boßeln kommt auch keine Langweile auf. Dieser Krimi hat mir sehr gut gefallen und ich empfehle sie sehr gerne weiter.« ((Leserstimme auf Netgalley))
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© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Christiane Geldmacher
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Cover & Impressum
1 – Kohlkönige
2 – Stolperfalle
3 – Verfolgungswahn
4 – Plaudertasche
5 – Blutbild
6 – Jurisprudenz
7 – Partygirls
8 – Klönschnack
9 – Möwenschiss
10 – Sackgassen
11 – Verschlusssache
12 – Notfall
13 – Hausbesuch
14 – Gefälligkeiten
15 – Verfallsdatum
16 – Motivsuche
17 – Paradoxon
18 – Grabesruhe
19 – Erfolgsfahnen
20 – Sommerfrische
Erdbeer-Sahnetörtchen ohne Backen
Danksagung
Zum Schluss
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Noch nie in den über fünfzig Jahren seines Lebens hatte Sebi Fink das Osterfest so herbeigesehnt wie in diesem Jahr. Mit Todesverachtung putzte er in der Pensionsküche Grünkohl. Es standen mehrere Tagesgerichte zur Auswahl, aber seit November musste er ausschließlich eines servieren: Grünkohl der Sorte Friesenpalme, der Palme des Nordens. Alles andere wurde verschmäht. Inzwischen war seine leichte Abneigung gegen das Wintergemüse in blanken Hass umgeschlagen.
Die meisten Menschen hielten ihn für einen sanftmütigen Mann. Beeindruckend groß und von kräftiger Statur, aber im Inneren butterweich. Vielleicht würden manche ihre Meinung ändern, wenn sie mich jetzt sehen könnten, dachte Sebi und ließ seine aufgestauten Aggressionen am unschuldigen Kohl aus. Erbarmungslos hieb er mit einem Hackmesser auf die krausen Blätter ein. Nachdem er Strünke und Stiele abgetrennt hatte, entsorgte er sie in den Biomüll. Anschließend ließ er Wasser in einen großen Topf laufen. Als es sprudelnd kochte, warf er die Kohlblätter hinein. Er wartete genau anderthalb Minuten, bevor er sie wieder herausfischte und in einer großen Schüssel mit angetauten Eiswürfeln schwenkte. Blanchieren hieß diese Technik. Normalerweise wendete man sie an, damit das Gemüse knackig blieb. Das galt nicht für Grünkohl, denn der wurde später so lange totgekocht, bis er zu einer Pampe zerfiel, deren Farbe und Konsistenz Schlick ähnelte. Die Prozedur diente in diesem Fall einem anderen Zweck: Sie sollte Bitterstoffe reduzieren und die Mahlzeit bekömmlicher machen.
Vergebliche Liebesmüh, befand Sebi grimmig. Wie gewissenhaft er das Zeug auch blanchierte, es lag ihm bleischwer im Magen. Was bei den weiteren Zutaten wie Butterschmalz, Bauchspeck, Kassler Nacken und fetten Würsten auch kein Wunder war. Sogar die Pensionskatzen Rudi und Ruby mieden die Küche, wenn es nach Kohl roch.
»Zum Glück ist bald Ostern. Am Gründonnerstag endet die Kohlsaison!«, rief Sebi aus, was ihm durch den Kopf ging. Dabei schaute er in Richtung seiner Ehefrau Rosa. Sie war spontan als Küchenhilfe eingesprungen, damit er nicht alles allein machen musste. Beeke-Luise kurierte eine Erkältung aus, Joline, eine junge Studentin, die bei Bedarf mithalf, konnte erst abends kommen, und auch Agnes stand an diesem Wochenende nicht zur Verfügung.
»Gott sei Dank«, kam von Rosa. Sie trug aus hygienischen Gründen ein Haarnetz über ihren rotblonden Locken und einen von Agnes’ Kitteln über Bluse und Jeans. Beim Zuknöpfen des Kittels hatte Rosa festgestellt, dass er wie angegossen passte, und daraufhin frustriert behauptet, sie sei halt eine dralle Qualle. Sebi hatte ihr nicht den Gefallen getan, darauf zu antworten, sondern geschwiegen. Widerspruch führte erwiesenermaßen immer dazu, dass sie sich noch mehr hineinsteigerte.
Nun musterte die selbsternannte dralle Qualle, deren Rundungen Sebi höchst anziehend fand, wenig begeistert erst den Haufen Kartoffeln, der vor ihr auf der Arbeitsplatte lag, und dann ihn. »Wolltest du nicht eigentlich im Winter einen Beitrag zur Dangaster Esskultur leisten? Kulinarische Lesungen und Krimidinner …«
Schwang da ein unausgesprochener Vorwurf mit? »So war der Plan. Wie sollte man das auch ahnen. Wir haben hier zwar oft Urlaub gemacht, aber nie im Herbst und Winter«, glaubte Sebi sich rechtfertigen zu müssen.
»Wohl wahr. Hätten wir gewusst, dass Horden von angeheiterten Friesen in die Pension einfallen würden, um dort Grünkohl mit Pinkel zu verzehren und Friesengeist in sich hineinzuschütten, wären wir in Wuppertal geblieben.« Rosa warf ihm einen Blick zu und kicherte. »Guck nicht so finster. War doch nur Spaß.«
Erfreut darüber, dass seine Frau es so locker sah, scherzte Sebi: »Dieser Kohlfanatismus ist Grund genug, vom Kauf zurückzutreten. Unfassbar. Und kein Wort hat Wiebke darüber verloren.«
»Doch, indirekt. Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich!« Theatralisch seufzend ergriff Rosa die nächste Kartoffel und setzte den Sparschäler an.
Sebi gab die zerkleinerten Kohlblätter in einen Bräter zu den angedünsteten Zwiebelwürfeln und erinnerte sich an das, was die ehemalige Pensionsbesitzerin Wiebke Janssen über die Wintersaison im Nordseebad Dangast gesagt hatte, bevor sie zu seinem pensionierten Polizeichef Bernd Ammermann nach Wuppertal gezogen war
Von November an ist es hier wie ausgestorben.
Die Besonderheiten der Grünkohlsaison, die mit dem ersten Nachtfrost begann und sich über die Wintermonate erstreckte, hatte sie im Taumel ihres späten Liebesglücks vergessen zu erwähnen oder wohlweislich verschwiegen. Bei nächster Gelegenheit würde er ihr das mal scherzhaft auf die Stulle schmieren. Sie rief ja oft genug an. Beim Gedanken an die nicht enden wollenden telefonischen Klönschnacks, die Wiebke ihnen in schöner Regelmäßigkeit aufzwang, seufzte auch er.
Das mit dem ausgestorben stimmte allerdings insofern, als bei garstigem Wetter erheblich weniger Touristen anreisten. Nur zwischen Weihnachten und Neujahr war die Pension voll belegt gewesen – mit Sebis Töchterchen Frieda nebst Familie und Freunden. Seit Jahresbeginn hatten sie zwei Paare im Januar, zwei im Februar und zwei im März als zahlende Übernachtungsgäste beherbergt. Hinzu kam der gebürtige Friese Hauke Gerdes, der seit vielen Jahren in Leipzig lebte. Zurzeit war er der einzige Gast und logierte bis einschließlich Sonntag in der Nordseekammer. Sebi würde ihm keine Träne nachweinen, wenn er seine Koffer packte. Der Mann mäkelte an allem herum, sogar am Essen. Dazu die anbiedernde Art … nicht genug damit, dass er unbedingt Hauke genannt und geduzt werden wollte, er duzte auch ungefragt alle Mitmenschen. Er war eigens zum Boßeln in die alte Heimat gereist – und um Kohlkönig zu werden. Letzteres strebten auch Agnes und ihr Verehrer Flori an. Deshalb hatte Agnes übers Wochenende freigenommen und außerdem dafür gesorgt, dass die Wahl des neuen Kohlkönigpaares an diesem Samstagabend im Pensionsrestaurant stattfinden würde.
Agnes, die Sebi insgeheim Stockfisch nannte, war die gute Seele des Hauses – und trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer verstockten Art eine Nervensäge. Sebi erinnerte sich nur zu gut an die die erste Zeit nach der Übernahme der Pension. Damals hatte er die treue Mitarbeiterin zur stellvertretenden Pensionsmanagerin ernannt und bald darauf zwangsbeurlaubt, weil ihm ihr Übereifer mächtig auf die Nerven gegangen war. Inzwischen kannte er den Grund für ihre Arbeitswut im Frühling, Sommer und Herbst: Sie sparte alle Urlaubstage für den Winter. Denn im Winter taute der Stockfisch vorübergehend auf – beim Boßeln.
Manche Einheimische betrieben das Boßeln als echten Vereinssport, aber für Agnes und viele andere war es ein geselliges Outdoor-Trinkspiel. Hochprozentiges Zielwasser stellte einen maßgeblichen Bestandteil der Gruppenverpflegungen dar, die in Bollerwagen zusammen mit Boßelkugeln und anderen seltsamen Gerätschaften über einsame Landstraßen gezogen wurden. Würfe mit der Kugel, Spielchen wie Teebeutelweitwurf und Zielwasserschlucke wechselten einander so lange ab, bis die eine oder andere Gruppe gesiegt hatte. Es folgte der Grünkohlschmaus, bei dem das Schlucken fortgeführt wurde. Den krönenden Abschluss und zugleich Höhepunkt der Veranstaltung stellte die Wahl der Kohlkönigin und des Kohlkönigs dar.
Doch nun, Anfang April, war es tröstliche Gewissheit, dass heute Abend zum vorerst letzten Mal die verhasste Speise aufgetischt wurde. Sebi legte den Bauchspeck, die Mettenden und das geräucherte Fleisch auf den Kohl, bevor er den Deckel schloss und den Bräter in den Backofen schob. Darin konnte das Ganze nun bei sanfter Hitze ohne weiteres Zutun seinerseits schmoren. Er durfte nur später die in Friesland allseits beliebte Pinkel nicht vergessen. Die groben Grützwürste kamen erst eine Stunde vor Ende der Garzeit dazu, da sie zum Aufplatzen neigten.
Ein Läuten am Lieferanteneingang riss Sebi abrupt aus seinen Gedanken. »Wahrscheinlich die Eierfrau. Ich geh mal eben nachsehen«, gab er Rosa Bescheid. Sie nickte, sah aber nicht auf, sondern schälte konzentriert weiter. Sebi wusch sich schnell die Hände und trocknete sie an der Schürze mit dem aufgedruckten Schriftzug Hier kocht der Chef ab. Danach ging er durch den Flur zur Hintertür, um die Eier in Empfang zu nehmen. Frau Dicks brachte jeden Samstag zwei Dutzend vorbei. Von den glücklichsten Hühnern weit und breit, wie sie zu sagen pflegte. Tatsächlich führte ihr Federvieh ein erfülltes Leben. Die Hennen mussten noch nicht mal auf einen Hahn verzichten. Alle durften frei herumlaufen und gelegentlich brütete eine der Hennen auch Eier aus und umsorgte anschließend als Glucke ihre Küken.
Doch es war nicht wie erwartet die Eierfrau, die geläutet hatte. Stattdessen stand Joline Fischer auf dem Hof. »Moin. Na so was – ich hatte erst in ein paar Stunden mit dir gerechnet«, begrüßte Sebi seine studentische Aushilfe überrascht. Er versuchte, nicht auf ihr Augenbrauenpiercing zu starren – mit mäßigem Erfolg. An die blaue Punkfrisur hatte er sich inzwischen gewöhnt, an die unzähligen Ohrstecker ebenfalls, das Perlen-Piercing an der linken Braue, das wegen Jolines lebhafter Mimik ständig in Bewegung war, irritierte ihn nach wie vor.
»Moin.« Joline zwinkerte ihm zu und ließ dabei ihr Piercing hüpfen. »Freu dich nicht zu früh, ich fange wie abgemacht um sechs an. Vorher fahre ich nach Varel und besuche Tante Heidrun. Falls ihr was Brauchbares für sie habt, könnte ich das mitnehmen. Dann kann sie sich Montag den Weg hierher sparen.«
Sebi kannte Jolines Tante. Eigentlich war es ihre Großtante und es gab wohl niemanden in Varel und umzu, wie man hier zu sagen pflegte, der sie nicht kannte. Heidrun Paulsen war Alt-Hippie. Ihre weiße, meist zu einem dicken Zopf geflochtene Lockenmähne reichte bis zum Po. Mit über siebzig kleidete sie sich immer noch wie zu Woodstock-Zeiten. Sie trug bunt geblümte Tuniken über knöchellangen Pluderhosen, dazu an den Füßen Jesuslatschen oder Clogs. Bei Bedarf zog sie einen olivgrünen Parka über und tauschte die offenen Schuhe gegen warme Boots. Und sie hatte eine Mission: Unter der Woche steuerte sie in aller Herrgottsfrühe täglich bei Wind und Wetter mit ihrem feuerroten Lastenrad Supermärkte, Bäckereien, Hotels und Pensionen im Umkreis von rund zehn Kilometern an, um übrig gebliebene Lebensmittel abzuholen. Aber nicht für den Eigenbedarf. Sie baute die Spenden auf einem Tapeziertisch vor ihrer Wohnung im Zentrum von Varel auf und jeder durfte sich bedienen. Auch eine junge Silbermöwe, die jegliche Scheu vor Menschen verloren hatte. Vom Hörensagen wusste Sebi, dass Heidrun die Möwe Erna nannte. Erna war so an das reichhaltige Morgenbuffet gewöhnt, dass sie bei Tagesanbruch schon lauerte, um sich gierig als Erste darauf zu stürzen.
Montags fuhr die Lebensmittelretterin nach Dangast und versäumte es nie, bei der Pension Zum Jadebusen vorbeizuschauen. Meist stand sie schon vor sieben Uhr auf der Matte, bereit zum Klönen. Klönen bedeutete dasselbe wie Schnacken, Quatschen – oder Töttern, wie es in Wuppertal hieß. Egal, wie man die muntere Konversation nannte, auf die Heidrun erpicht war, Sebi fühlte sich damit morgens um sieben überfordert. Deswegen sammelte er vorsorglich alles, was nicht gekühlt werden musste, in einem Karton, den er griffbereit im Flur deponierte. So konnte er den frühen Vogel direkt an der Hoftür abfertigen.
Auch Joline begeisterte sich für Foodsharing. Mit anderen Studierenden hatte sie sich dem Verein Share your Food angeschlossen und einen Fairteiler auf dem Campus eingerichtet. Das war eine Sammelstelle, an der man Lebensmittel sowohl abgeben als auch kostenlos mitnehmen konnte. Sie besuchte ihre alleinstehende Großtante fast jedes Wochenende. Wir sind seelenverwandt und halten gegen den Rest der Spießerfamilie zusammen, hatte Joline Sebi und Rosa vor einiger Zeit anvertraut.
»Gute Idee. Schön, dass du deine Tante so tatkräftig unterstützt«, würdigte Sebi den Einsatz seiner Aushilfe. »Sie ist ja nicht mehr die Jüngste. Letztens war sie etwas wackelig auf den Beinen.«
Jolines Perlenschmuck geriet wieder in Schwingung, als sie antwortete: »Vielleicht sollte Tantchen morgens lieber auf ihren Muntermacher-Piccolo verzichten. Aber sie schwört ja darauf. Ist angeblich ihr Jungbrunnen … Kann ich dir beim Heraussuchen helfen?«
»Nicht nötig, steht schon alles hier bereit.« Sebi bückte sich, um den Karton hochzuheben, der in der Ecke stand. Er war ziemlich leicht und Sebi sagte bedauernd: »Viel ist es diesmal nicht. Aber wenn die Saison beginnt, wird es bestimmt mehr abzuholen geben.«
»Kein Problem. Auch Kleinvieh macht Mist. Hauptsache, wir bewahren es davor, im Müll zu landen.«
Ein paar Minuten später stieg Joline in ihr schickes neues Auto. Den Vorgänger, eine uralte Klapperkiste, hatte sie im vergangenen Jahr verschrottet und einen Swift mit Hybridmotor auf Kredit gekauft. Der Umwelt zuliebe. Um die Raten zahlen zu können, kellnerte sie in der Uni-Kneipe, saß zwei Nachmittage pro Woche bei einem Discounter an der Kasse und jobbte auch noch in der Pension. Inzwischen bereute Joline es, sich so hoch verschuldet zu haben. Zum Lernen fehlte die Zeit und trotz der drei Jobs kam sie wegen der hohen Raten nur knapp über die Runden. Gut für den Klimaschutz, aber schlecht fürs Studium, hatte sie letztens gestöhnt.
Kaum war der schwarze Swift außer Sichtweite, fiel Sebi der übrig gebliebene Grünkohl ein. Die letzten zwei Beutel hatte er heute nicht verwendet – schade um die gute Gelegenheit, das Zeug loszuwerden.
Nach einem arbeitsreichen Wochenende trat Rosa am frühen Montagmorgen gemächlich in die Pedale, während sie die Kohlkönigsfeier Revue passieren ließ. Sie fühlte sich noch immer verkatert, als sie bei freundlichem, aber kalten Wetter den Deich entlang nach Varel radelte, und hoffte auf den positiven Effekt einer ordentlichen Brise frischer Seeluft. Erstaunlich, wie viel Schnaps diese Friesen vertrugen – vor allem, wenn man bedachte, dass sie schon vor der Feier reichlich gezecht hatten. Angeblich existierte ein ungeschriebenes Gesetz, das den Alkoholkonsum bei Boßelspielen genauestens regelte. Wer eine Runde verlor, musste zur Strafe einen Kurzen trinken. Alle anderen tranken aus Solidarität einen mit.
Im Laufe des anschließenden Festmahls im Pensionsrestaurant waren Alkohol- und Heiterkeitspegel synchron angestiegen, bis um kurz vor Mitternacht Florian Drossel und Agnes Menke als neues Kohlkönigspaar feststanden. Der bis dato amtierende Kohlkönig, Kriminalhauptkommissar Jasper Teschen, hatte daraufhin noch einmal Friesengeist geordert, um mit dem frisch gekürten Paar anzustoßen, und auch Rosa und Sebi zum Umtrunk genötigt.
Einzig der Übernachtungsgast Hauke Gerdes war nicht in Feierstimmung gewesen. Seiner Ansicht nach gebührte ihm als demjenigen mit der höchsten Punktezahl bei den Boßelspielen die Königsehre. Amtsinhaber Jasper Teschen hatte jedoch vorbereitete Umschläge unter den Anwesenden verteilt – rote für die Damen und gelbe für die Herren. Sie enthielten Zettel, auf denen stand: Jetzt aufstehen und klatschen. Aber in je einem der gelben und roten Umschläge versteckte sich die Botschaft: Sitzen bleiben und herzlichen Glückwunsch!
Für Hauke ging es nicht mit rechten Dingen zu, dass ausgerechnet Teschens Polizeikollege und Agnes sitzen bleiben durften. Alle standen weisungsgemäß auf und applaudierten – bis auf Hauke. Zornesrot warf er Teschen ein abgekartetes Spiel bei der Applausmethode vor. Dieser ließ sich nicht provozieren, sondern tat das, worin er als altgedienter Beamter kurz vor der Pension jahrzehntelange Erfahrung hatte: Er belehrte den Erzürnten. In diesem Fall ging es bei der Belehrung inhaltlich um die verschiedenen Methoden, den Kohlkönig zu ermitteln. Schließlich war Hauke, erschlagen von so viel Beamtendeutsch, kleinlaut in Richtung Nordseekammer getorkelt.
Hinter dem Campingplatz gönnte Rosa sich einen Halt, um den lustigen Bocksprüngen der Osterlämmchen zuzuschauen. Schon bevor sie mit Sebi hierhergezogen war, hatten sie viele gemeinsame Osterurlaube in Dangast verbracht. Die Schafe waren also eigentlich ein vertrauter Anblick, doch Rosa konnte sich an ihnen einfach nicht sattsehen. Deichschweine nannte man sie hier auch scherzhaft – oder Pulloverschweine, wenn sie viel Wolle trugen. Sie gehörten zu Friesland wie die Schwebebahn zu Wuppertal. Die Winterpause war vorbei, letzte Woche hatte der Schafhirte seine Herde über die Straße zum Deich geführt, wo sie nun wieder grasten. Viele Schafe hatten Nachwuchs bekommen. Für die Lämmchen war das alles neu, sie tollten aufgeregt herum. Hin und wieder rupften sie am Gras, fanden aber noch keinen rechten Gefallen am Geschmack der saftig grünen Halme, die ihre Mütter sich schmecken ließen.
Der Seewind frischte merklich auf. Rosa fröstelte, obwohl sie sich warm eingepackt hatte. Es wurde Zeit, den Inhalt der Transportbox loszuwerden. Bevor sie zu ihrer Tour aufgebrochen war, hatte Sebi ihr zwei Beutel mit Grünkohlblättern in die Hand gedrückt und gebeten, sie für Heidrun Paulsen mitzunehmen. Die Kohlbeutel wollte sie als Erstes abliefern, zur Bäckerei weiterfahren und auf dem Rückweg noch den Bio-Hofladen ansteuern, in dem es das leckere Holunderblütengelee gab. Durch den kleinen Umweg würde sie noch ein paar Kalorien zusätzlich verbrennen, was nach dem traumatischen Kittelerlebnis gewiss nicht schadete. Nur mit eingezogenem Bauch hatte sich das verdammte Ding zuknöpfen lassen und Rosa war während des Kartoffelschälens gezwungen gewesen, ganz flach zu atmen, damit sie nicht aus allen Nähten platzte.
Wie immer blies der Wind beständig aus der falschen Richtung, nämlich von vorn. Als Rosa um kurz nach acht Uhr das Zentrum von Varel erreichte und sich dem Mehrfamilienhaus näherte, in dem Heidrun wohnte, schnaufte sie vor Anstrengung. So unangenehm der kräftige Gegenwind auch sein mochte, er hatte immerhin bewirkt, dass ihr nicht mehr kalt war. Plötzlich heulte hinter ihr eine Sirene auf, so grell und so nah, dass Rosa zusammenzuckte und fast die Balance verlor. Sekunden später raste ein Rettungswagen vorbei, gefolgt von einem Polizeifahrzeug mit Blaulicht. Gleich darauf bremsten beide Autos scharf ab. Sie hielten am Ende der Straße, genau vor dem Haus, das auch Rosas Ziel war. Und wo, wie sie jetzt bemerkte, eine kleine Menschenansammlung stand, die beim Eintreffen von Polizei und Rettungsdienst auseinanderstob.
Was mochte da geschehen sein? Es musste sich jedenfalls gerade erst ereignet haben. Vor allen Häusern standen die noch vollen Restmülltonnen für die Abfuhr bereit und versperrten die Sicht. Rosa sah lediglich, wie im Obergeschoss des Hauses ein Fenster geöffnet wurde. Ein korpulenter Mann, der etwa in Sebis Alter sein mochte, lehnte sich so weit wie möglich hinaus und gaffte ungeniert nach unten. Rasierschaum bedeckte einen Teil seines Doppelkinns. Es widerstrebte Rosa, ebenfalls sensationsgierig zu wirken. Aber sie war ja keine Gafferin, sie hatte einen Grund, hier zu sein: Sie musste den Grünkohl abgeben. Darum schob sie ihr Fahrrad immer weiter in Richtung des Hauses, bis sie erfasste, was los war und wieder stehenblieb. Zwei Sanitäter beugten sich über eine Person, die halb verdeckt von mehreren Tonnen auf dem Bürgersteig lag. Die Besatzung des Streifenwagens war ausgestiegen. Eine junge Polizistin sprach mit den Umherstehenden und ihre Gestik ließ vermuten, dass sie die Leute anwies, ein Stück zurückzutreten. Derweil versuchte ihr Kollege, eine provisorische Absperrung mit rot-weißem Flatterband zu errichten. Rosa sah nur die Rückseite des Uniformierten, erkannte ihn aber auf Anhieb. Langer Lulatsch, schiefsitzende Kappe, schlackernde Hosenbeine: Hier war der Kohlkönig höchstpersönlich im Einsatz.
»Flori!«, rief Rosa. Gleichzeitig rückte sie näher ans Absperrband.
Der Polizist drehte sich um und guckte verdattert, als er sie erblickte. »Rosa! Was machst du denn hier?«
»Ich will nur rasch etwas bei Heidrun Paulsen abliefern. Sie wohnt in diesem Haus. Lässt du mich durch?«
»Nein«, lehnte Flori rundheraus ab und fühlte sich bemüßigt, eine Erklärung hinterherzuschieben. »Geht nicht. Sie liegt da, der Notarzt meint, da sei nichts mehr zu machen.«
Ungläubig starrte Rosa erst Flori an und dann zu den Mülltonnen, über denen jetzt eine Möwe aufgeregt herumflatterte und heisere Schreie ausstieß. Einer der Rettungsleute – wahrscheinlich der Notarzt – kniete noch neben der regungslosen Gestalt, der andere ging zum Fahrzeug zurück. Den Oberkörper verdeckte die Tonne, was sie erspähte, war lediglich der Unterkörper. Geblümte Pumphose, schwarze Boots und die Spitze eines weißen Haarzopfs: Kein Zweifel, da lag Jolines Großtante. Rosa war erschüttert. »Wie schrecklich!«, entfuhr es ihr unbeabsichtigt laut. »Ich wollte Heidrun Paulsen Grünkohl bringen.«
»Die Paulsen braucht nichts mehr«, vermeldete der Nachbar aus dem ersten Stock. »Hat sich den Kopf aufgeschlagen!«
»Sie unterlassen es, Ihre Mutmaßungen rauszuposaunen. Es kommt gleich jemand zu Ihnen hoch. Bis dahin machen Sie Mund und Fenster zu!«, befahl Floris Kollegin streng.
Bevor er der Order mit finsterem Blick Folge leistete, schimpfte der Mann: »Mutmaßungen, von wegen. Kann doch eins und eins zusammenzählen. Die Paulsen rührt sich nicht und ich sehe eine Menge Blut. Die ist mausetot!«
So ungemütlich hatte Polizeikommissar Florian Drossel sich seinen Start in die Woche nicht vorgestellt. Schlimm genug, dass es bei Dienstantritt um sieben Uhr im Wachraum saukalt war, weil die Heizung streikte. Zudem musste sich just an diesem Morgen ein Todesfall ereignen, noch vor dem Frühstück. Mit Bedauern dachte er an das Schinkenbrötchen, von dem er nur einmal abgebissen hatte, und an die dampfend heiße, starke Ostfriesenmischung zum Aufwärmen. Nun würde das Brötchen zäh und der Inhalt des großen Henkelbechers zu Eistee werden. Schade drum. Mit einem letzten Seufzer hakte Florian das entgangene Frühstück ab. Er war im Streifendienst und somit Kummer gewohnt. Man gehörte immer zu den Ersten, die am Ort des Geschehens eintrafen, und musste des Amtes walten – auch auf nüchternen Magen. Erschwerend kam heute hinzu, dass er mit dem unerfahrenen Küken Valentina Sprenger unterwegs war. Tina, wie seine neue Kollegin genannt werden wollte, war Anfang zwanzig und Kommissaranwärterin, was wiederum bedeutete, dass er als der um fast zehn Jahre ältere Vorgesetzte endlich einmal die Verantwortung trug.
Florian wollte keinen Fehler machen. Er strebte einen Wechsel zur Kripo an, da kam eine Tote nicht ungelegen. Im Gegenteil, er betrachtete sie als Chance. Selten genug durfte er beweisen, was er konnte. Jetzt oblagen ihm so wichtige Aufgaben wie den Unfallort abzusperren und den Leichnam zu sichern. Tina hatte er angewiesen, die Personalien der umstehenden Personen festzustellen. Nur für den Fall, dass Ermittlungen notwendig wären – was er aus einem bestimmten Grund für nicht ausgeschlossen hielt. Der Grund hieß Fink. Rosa Fink. Sein Blick schweifte zu der Frau, die wie festgewachsen mitsamt ihrem Damenrad vor dem Absperrband verharrte. Eine rundliche Mittvierzigerin mit sommersprossiger heller Haut und wachen blauen Augen. Ihre rotblonden Locken lugten vom Wind zerzaust unter dem Helm hervor. Mit beiden Händen hielt Rosa den Lenker umklammert und starrte angestrengt in Richtung Mülltonne. Florian wusste, dass sie ein wenig kurzsichtig war, aber auf eine Sehhilfe verzichtete. Wahrscheinlich konnte sie kaum etwas erkennen. Daran hätten aber weder eine Brille noch Kontaktlinsen viel geändert, da die Müllbehälter praktischerweise einen natürlichen Sichtschutz bildeten.
Obwohl Florian durchaus Sympathie für die nette Chefin seiner Herzensfrau hegte, wollte er sie schnell loswerden. Ihre Anwesenheit irritierte ihn, denn es handelte sich bereits um die zweite Tote, bei deren Fund sie zugegen war. Die erste war nicht so frisch gewesen wie Heidrun Paulsen, ihr Ableben lag eine Weile zurück. Kollegen hatten ihre sterblichen Überreste vor anderthalb Jahren exhumiert – im Beisein von Rosa Fink nach einem entsprechenden Hinweis ihres geschiedenen Mannes. Nur ein paar Monate später waren die inzwischen wieder verheirateten Eheleute Fink mit einem Mafia-Fall an ihn herangetreten, bei dem die Polizei unbedingt außen vor bleiben sollte. Dank seiner ebenso diskreten wie kreativen Mitwirkung hatte Schlimmeres verhindert werden können. Und nun kreuzte Rosa Fink hier auf – mit Grünkohl für eine Leiche. Womöglich ein schlechtes Omen.
»Was ist denn passiert?«, versuchte Rosa in Erfahrung zu bringen.
Er tat so, als hätte er die Frage überhört – es half nichts.
»Ist sie unglücklich gestürzt? Und wirklich tot?«
»Sieht so aus. Ja, sie ist tot.« Florian bereute seine Mitteilsamkeit noch in derselben Sekunde. Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust und stellte klar: »Rosa, ich darf dir keine Auskunft geben. Das weißt du doch, schließlich war dein Mann lange genug bei der Polizei. Ich muss dich bitten, unsere Arbeit nicht zu behindern. Wir sehen uns. Schöne Grüße an Sebi!«
Rosa ignorierte den Wink mit dem Zaunpfahl. »Wie furchtbar. Weiß Joline schon Bescheid?«, fragte sie.
Die einzige Joline, die Florian kannte, war das Punkmädchen aus Oldenburg mit der schlumpfblauen Igelfrisur, das bei der Kohlfeier im Pensionsrestaurant bedient hatte. »Joline?«, wiederholte er. »Eure Aushilfe?«
Rosa bestätigte seine Annahme durch ein Nicken. »Ja, richtig. Heidrun Paulsen ist … war ihre Großtante«, erklärte sie. »Die beiden standen sich sehr nah. Du musst sie benachrichtigen. Ich habe ihre Nummer im Handy gespeichert, einen Moment.«
Während Rosa in ihrer Jackentasche kramte, hob Florian die Polizeimütze ein Stück an, um sich darunter ausgiebig zu kratzen. Doch der Juckreiz ließ nicht nach. Aus Erfahrung wusste er, was das bedeutete: Seine Kopfhaut juckte, weil ihn die Situation stresste. Nun war auch noch die nette Joline involviert, der er während der Feier den Spitznamen Schlumpfine verpasst hatte. Hastig gab er Tina ein Zeichen und informierte Rosa: »Meine Kollegin nimmt die Kontaktdaten auf. Es gibt genug anderes, um das ich mich kümmern muss.«
Tina eilte prompt herbei, hatte seine Geste aber offensichtlich als Hilferuf missverstanden. Die zierliche Anwärterin baute sich vor der wesentlich stabileren Rosa auf und blaffte: »Brauchen Sie einen Platzverweis? Ist hiermit erteilt.«
Verblüfft registrierte Florian, über welch gewaltiges Stimmpotenzial das Küken verfügte. Warum zur Hölle geriet er immer wieder an dermaßen forsche Kolleginnen? Nicht mehr lange, und auch Valentina Sprenger würde ihn unterbuttern. Wie früher die Venske und aktuell die Langhof … genau genommen wie alle Polizistinnen, mit denen er beruflich zu tun hatte. Mit den männlichen Kollegen kam er gut klar. Die störten sich nicht an seinem Comedy-Kanal ERDROSSELT, aber sobald Frauen in Uniform von seinem Hobby mit den YouTube-Videos erfuhren, nahmen sie ihn nicht mehr ernst. Die humorlose Venske hatte wegen der lustigen Polizeifilmchen seine Versetzung vorangetrieben. Polizeioberkommissarin Karen Langhof, seine neue Vorgesetzte in Varel, sah das Ganze entspannter, sprang jedoch nicht weniger respektlos mit ihm um als die Venske.
Rosa zeigte sich unbeeindruckt von Tinas Anraunzer und klärte das Missverständnis schnell. Nach einem Blick zur Toten, neben der immer noch einer der Notfallsanitäter kniete und erfolglos versuchte, den aufdringlichen Vogel wegzuscheuchen, überließ er die beiden Frauen sich selbst. Er ging zum Rettungswagen, um dort auf das Eintreffen des Arztes zu warten. Für Frau Paulsen kam jede Hilfe zu spät, aber ihr Tod musste ärztlicherseits offiziell festgestellt und ein Totenschein ausgestellt werden. Die Todesursache schien hier der Sturz zu sein, oder vielmehr der Aufprall des Hinterkopfes an der Bordsteinkante. Den Unfallhergang galt es noch zu klären. Möglicherweise war sie über die losen Schnürsenkel ihrer klobigen Boots gestolpert. Für die Stolperfallentheorie sprach einiges. Fremdverschulden konnte man wohl ausschließen. Aber egal, tat Florian das leise Bedauern darüber, dass hier keine anspruchsvolle Ermittlungsarbeit zu erwarten war, mit einem Achselzucken ab. Nach dem Wechsel zur Kripo würde er sich mit echten Kapitaldelikten beschäftigen. Mord und Totschlag machten auch vor einer beschaulichen Kleinstadt in Friesland nicht Halt.
Sebi nutzte das gute Wetter, um die Terrasse der Pension Zum Jadebusen auf Vordermann zu bringen. Nach dem langen Winterschlaf sollte sie zu Ostern in frühlingsfrischem Glanze erstrahlen. Beim Kärchern der robusten sandfarbenen Bodenfliesen hatte er den Tipp aus dem Baumarkt beherzigt und einen fugenschonenden Flächenaufsatz verwendet. Nun standen die Außentische und -stühle wieder an ihren Plätzen, ebenso die Kübel mit den winterharten Pflanzen. Rudi und Ruby waren vor dem lauten Hochdruckreiniger auf den Hof geflüchtet, wo sie auch jetzt noch verschreckt im Schutz der Hecke kauerten. Das Hoftor stand offen, aber die Katzen zeigten zum Glück keinerlei Interesse am Herumstreunen. Sie waren menschenbezogen wie Hunde, und wenn die beiden sich draußen aufhielten, blieben sie in ihrem Revier. Als dieses betrachteten sie neben dem Garten hinter dem Anbau, in dem Rosa und Sebi wohnten, die Terrasse und den Hof der Pension.
Rundum zufrieden mit seinem Werk befreite Sebi die große Sitzmuschel von ihrer Schutzhülle und ließ sich wohlig seufzend in die Polster sinken. Eine Pause hatte er sich verdient, bevor er mit den Blumenkästen weitermachte. Zum ersten Mal seit Beginn der Reinigungsaktion schaute er auf die Uhr und stellte erstaunt fest, dass über zwei Stunden vergangen waren. Rosa hätte längst zurück sein müssen. Es vergingen noch fast zehn Minuten, bis er seine Angetraute auf den Hof radeln sah – mitsamt der Grünkohlspende, die er ihr für Heidrun mitgegeben hatte. Da die beiden voluminösen Beutel oben aus der Transportbox herausquollen, waren sie unschwer zu übersehen.
»Moin, mein Schatz, hab dich schon vermisst!«, rief er ihr zu. »Warum bringst du den Kohl wieder mit? Wollte Heidrun den etwa nicht?«
Von Rosa kam keine Reaktion. Sebi stutzte und bemerkte jetzt, dass sie sich über den Lenker beugte und nach Luft schnappte. Sie schien total außer Atem zu sein. Normalerweise radelte sie gemütlich, aber im Moment wirkte sie so erschöpft, als hätte sie die knapp zehn Kilometer von der Vareler Innenstadt bis nach Hause in Höchstgeschwindigkeit zurückgelegt. Rosa schnaufte noch einmal durch, öffnete das Kinnband ihres Helmes und stieg ab. Das Fahrrad ließ sie einfach los. Es krachte auf den Boden, worauf die Katzen, die sie freudig begrüßen wollten, kehrtmachten und sich fluchtartig wieder Richtung Hecke zurückzogen.
»Heidrun ist tot!«, japste Rosa.
Akustisch hatte Sebi den Satz verstanden, doch das Gehörte brauchte eine Weile, um bis zum Gehirn vorzudringen. »Tot?«, echote er ungläubig, während er quer über die Terrasse auf den Hof zu Rosa lief.
Als er das Fahrrad aufhob und abstellte, setzte Rosa zu einer konfusen Schilderung an. Sebi versuchte, die wesentlichen Informationen herauszufiltern. Demnach war Heidrun heute Morgen durch einen Sturz direkt vor ihrer Haustür ums Leben gekommen. Augenzeugen gab es nicht, die umstehenden Personen hatten sich erst versammelt, als Heidrun schon leblos am Boden lag. Am Unfallort hatte Rosa auch Flori angetroffen und veranlasst, dass Joline informiert wurde.
»Die arme Heidrun«, beendete Rosa ihren Bericht.
»Ja, das ist wirklich tragisch. Stürze sind bei alten Menschen leider nichts Ungewöhnliches, wenngleich sie selten tödlich enden.«
Darauf sagte Rosa nichts. Sie guckte so betrübt, dass Sebi sie in die Arme nahm. Mit einem Seufzer legte sie ihren Kopf an seine Brust. Rosa wirkte immer so resolut und alles andere als zimperlich, aber die Sache hatte sie sehr mitgenommen. »Lass uns reingehen«, schlug er vor. »Auf den Schock brauchst du jetzt einen starken Ostfriesentee.«
Den Tee brachte Sebi kurz danach wie gewünscht ins Büro, mit einer Tafel Trauben-Nuss-Schokolade als Nervennahrung und einem doppelten Espresso für sich. Vielleicht war es wirklich besser, wenn Rosa sich mit Büroarbeit ablenkte, anstatt allein in der Wohnung ihren trüben Gedanken nachzuhängen. Er lächelte, als er sie in dem wuchtigen Chefsessel hinter dem ebenfalls wuchtigen Schreibtisch sah. Beide Möbelstücke hatten ihm in seiner Wuppertaler Detektei gute Dienste geleistet, waren mit umgezogen und erfüllten nun im Büro der Pension Zum Jadebusen ihren Zweck. Rosa versank fast darin, obwohl sie zu ihrem Leidwesen nicht die Schmalste war. Was ihn anbelangte, er mochte ihre kurvige Figur.
Erst seit einem Jahr wohnten sie an der Nordseeküste. Genauer gesagt am Jadebusen, wie die Meeresbucht zwischen Weser und der ostfriesischen Halbinsel genannt wurde. Für seinen Traum von einer weiteren beruflichen Veränderung – nach den Stationen Polizeikommissar und Privatdetektiv – hatte Rosa ihren Job als Buchhändlerin aufgegeben. Er wusste, dass sie es nicht bereute, aber sie vermisste den Leseladen Luise. Und natürlich vermisste Rosa auch ihre beste Freundin Silke, die zugleich ihre Chefin gewesen war, weil die kleine Buchhandlung im Wuppertaler Luisenviertel Silke gehörte.
In der Pension pendelte Rosa nun zwischen Büro, Rezeption und Küche. Ihre Herausforderung waren nicht mehr besonders beratungsintensive Leseratten, sondern mäkelige Gäste wie Hauke Gerdes. Da dieser gottlob in der Frühe abgereist war, hielt sich außer ihnen beiden momentan nur Beeke-Luise im Haus auf, die sich mit ihrer Arbeit etwas zur schmalen Rente hinzuverdiente. Sie bereitete heute die Zimmer für Ostergäste vor. Während in den familientauglichen Unterkünften an der Nordsee bereits Hochbetrieb herrschte, wurde es in der Pension Zum Jadebusen erst ab dem Wochenende voll. Das lag an den kleinen Zimmern. Sie eigneten sich nur für Paare ohne Kinder und Singles, die nicht den Urlaub nach den Ferien richten mussten.
Haukes Nordseekammer war schon fertig. Dies ließ die Checkliste vermuten, die vor Rosa auf dem Schreibtisch lag. Beeke-Luise vergaß ständig, was sie erledigt hatte und was nicht – eine altersbedingte Tüddeligkeit vermutlich. Körperlich war sie dank regelmäßiger Wattwanderungen topfit, aber ihr Gedächtnis ließ stark nach. Da die rüstige Rentnerin ihre Arbeit in der Pension liebte, brachte Sebi es nicht übers Herz, ihr zu kündigen. Nach etlichen Beschwerden über volle Papierkörbe und fehlende Handtücher war Rosa auf die ebenso einfache wie geniale Idee gekommen, die Aufgaben einzeln aufzulisten.
Sebi warf einen kurzen prüfenden Blick auf die Liste. Lüften, Möbel abstauben, Böden wischen, Mülleimer und Papierkorb leeren, Betten neu beziehen, Badezimmer reinigen, Spiegel putzen, Handtücher wechseln … es funktionierte: alle Punkte abgehakt. Zufrieden gab er Kluntjes und einen ordentlichen Schuss Sahne in den Tee. Danach reichte er Rosa die Tasse und nahm ihr gegenüber Platz. Vorsichtig, denn er befürchtete immer, der Besucherstuhl könnte unter ihm zusammenbrechen. Er wog hundert Kilo, was verteilt auf seine stattliche Türrahmen-Größe nicht zu viel war, aber die Besucherstühle wirkten wenig stabil.
»Lass uns tauschen«, schlug Rosa vor.