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Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit. Zeit ist die zentrale Ressource unserer Gesellschaft. Doch sie steht nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Teresa Bücker, eine der einflussreichsten Journalistinnen in Deutschland, macht konkrete Vorschläge, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt. Ausgezeichnet mit dem NDR Sachbuchpreis 2023
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Alle_Zeit
TERESA BÜCKER, Jahrgang 1984, ist Publizistin und Vordenkerin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen.
Der Zugriff auf Zeit ist eine Frage von Macht und Freiheit. Wer wird für seine Arbeit bezahlt und wer nicht? Wer hat Zeit, für seine Interessen einzutreten? Heute wird die meiste Zeit der Erwerbsarbeit zugestanden, nur ökonomisch Verwertbares gilt als wertvoll. Für soziale Beziehungen, Sorgearbeit und Erholung bleibt zu wenig Platz. Zeit ist höchst ungerecht verteilt – der materielle Wohlstand hat sich nicht in Zeitwohlstand übersetzt. Zeitarmut treibt uns in Vereinzelung und Erschöpfung, zerstört Familien und Freundschaften, sie macht politisches Engagement zu einer Klassenfrage.Ein gutes Leben für alle kann nur gelingen, wenn wir verstehen, wie drängend Zeitgerechtigkeit ist, und endlich die Debatte darüber beginnen, wie wir Zeit neu verteilen. Wir müssen den Glaubenssatz überwinden, dass Zeit Geld sei, und wir müssen uns der Zeit derer annehmen, deren Bedürfnisse bislang wenig zählen. Teresa Bücker macht konkrete Vorschläge, wie eine moderne Zeitkultur aussehen kann, die für mehr Gleichberechtigung und Lebensqualität sorgt.
Teresa Bücker
Eine Frage von Macht und Freiheit
Ullstein
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© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgAutorinnenfoto: © Paula WinklerE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2775-4
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Disclaimer
Vorwort
1 WARUM DIE ZEIT NIEMALS REICHT
2 ARBEITS_ZEIT
3 ZEIT FÜR CARE
4 FREIE ZEITEN
5 ZEIT UND MACHT MIT KINDERN TEILEN
6 ZEIT FÜR POLITIK
(K)EINE UTOPIE
Dank
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Disclaimer
Für Marguerite und Fitz
Wir müssen uns von unserer Außenposition in die Mitte der Dinge begeben, uns wieder in die Komplexität der Welt einbetten. Wir dürfen nicht bloß Beobachter, sondern müssen Beteiligte sein, die wissen, daß jede ihrer Handlungen Folgen hat, wenn diese auch nicht unbedingt zur gleichen Zeit am selben Ort sichtbar werden.
_ BARBARA ADAM1
Wenn ich in diesem Buch über Frauen schreibe, sind alle Personen damit gemeint, die sich weiblich identifizieren oder als Frauen wahrgenommen werden, mit dem Begriff Männer Personen, die sich männlich identifizieren oder als Männer wahrgenommen werden. Da sich viele Menschen in der binären Struktur der Geschlechtszuordnungen nicht wiederfinden und auch rechtlich mittlerweile die dritte Option anerkannt ist, wähle ich so oft wie möglich genderneutrale bzw. offene Formulierungen und nutze den Unterstrich, um der Vielfalt der Geschlechtsidentitäten Raum zu geben und »Platz für etwas Neues zu machen«2.
Bei den empirischen Quellen wie Studien und Umfragen sind die Daten zur Geschlechtsidentität in der Regel binär erfasst, sodass Textpassagen in diesem Buch, die sich hierauf beziehen, nicht vollständig die soziale Realität abbilden können. In Forschungsarbeiten zur Arbeitsteilung in Familien bleiben zudem queere Sorgeverantwortliche, gleichgeschlechtliche Eltern und Modelle jenseits der heteronormativen Kleinfamilie häufig unberücksichtigt.
Warum empfinden wir, dass die Zeit niemals reicht? Können Menschen diesem Gefühl entkommen, wenn sie Zeit managen und ihren Alltag optimieren? Ist der gekonnte Umgang mit Zeit nur ein weiterer Skill, den man heute braucht?
Gesellschaftlicher Fortschritt wird oft an wachsendem Wohlstand und technologischer Innovation gemessen, Gerechtigkeit als Frage des Zugangs zu Macht und Geld ausgelegt. Doch das sind nur einige von vielen Dimensionen, die eine Gesellschaft prägen und den Alltag von Menschen formen. Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, dass Zeit eine der zentralen Größen ist, deren Einfluss auf das Leben wir genauer hinterfragen sollten – sowohl in ihrer gesellschaftlichen als auch individuellen Wirkung –, und darauf basierend eine Vision einer neuen Zeitkultur entwickeln. Denn zu wenig Zeit zu haben, ist kein individuelles Problem, es ist gesellschaftlich erzeugt.
Der gegenwärtige Umgang mit Zeit strukturiert unser Leben, ohne zu berücksichtigen, ob diese Vorgaben auf alle passen. Sie tun es nicht: Sie führen zu Ungleichheiten, erhalten und verstärken sie. Die Möglichkeit, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, wird auch dadurch begrenzt, dass Menschen unterschiedlich frei über Zeit verfügen können. In einer Gesellschaft, in der Zeit als ökonomisches Gut verstanden wird, werden zudem die Bedürfnisse vieler verdrängt. Eine solche Zeitkultur bleibt eindimensional, sie kann oft sogar unglücklich oder auch krank machen. Wie würden Menschen ihre Zeit verbringen, wenn sie sich frei entscheiden könnten? Und was würde sich verändern, könnten sie es tun?
Es ist daher eine Frage der Gerechtigkeit, wie Zeit verteilt ist, wie sie genutzt werden kann, wie ihr Wert bemessen wird und wie sie erlebt wird. Menschen sind unterschiedlich zeitarm und unterschiedlich zeitsouverän, und das nicht zufällig, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen. Deswegen muss im Zentrum dessen, was man Zeitpolitik nennen kann oder was eine Vision für eine Zeitkultur sein könnte, nicht die Frage stehen, wie ein einzelner Mensch seine Zeit verbringt und wie er mehr davon haben kann, sondern wie Zeit unserer Gesellschaft eine Richtung gibt. Derzeit bestimmt die Haltung, dass die individuelle Anstrengung ausschlaggebend dafür sei, wie das eigene Leben verläuft, sowohl den politischen als auch den gesellschaftlichen Diskurs. Das müssen wir überwinden.
Mehr Zeit für alle entsteht nur mit Ideen für die gesamte Gesellschaft. Zeitgerechtigkeit ist keine Luxusfrage, sondern eine Frage demokratischer Rechte: Denn wenn nur einige wenige Zeit für Politik haben, führt unsere Zeitkultur zu Ausschlüssen und Diskriminierung. Kinder und Erwachsene, die mehrere Jahre in Geflüchteten-Camps verbringen, die in monatelangen Asylverfahren darauf warten, sich ein neues Zuhause aufbauen zu können, haben nicht den gleichen Zugang zu ihrer Lebenszeit wie Menschen, die in sicheren Verhältnissen geboren werden und darin leben. Der Umgang mit Zeit ist immer auch eine Frage von Macht.
Für die Entwicklung einer neuen Zeitkultur muss daher mehr passieren, als Zeitbudgets hier und da zu optimieren. Um Ideen zu entwickeln, wie wir leben möchten, müssen wir verstehen, wie Zeit uns selbst und das gesellschaftliche Zusammenleben prägt. Welche Rollen unsere Wurzeln in der Vergangenheit haben, wo unsere Verortung im Jetzt ist, wie sich der Blick auf die Zukunft gestaltet. Wir müssen hinterfragen, was wir bislang als selbstverständlich betrachtet haben, und neue und gerechtere Zeitkonzepte entwerfen. Müssen Menschen tatsächlich erst ein bestimmtes Alter erreichen, um volle Mitsprache bei Dingen zu haben, die sie betreffen? Ist es unveränderbar, dass wir Erwerbsarbeit ins Zentrum des Lebens stellen? Warum schieben wir die meiste freie Zeit in unseren letzten Lebensabschnitt? Warum bleiben Altersgruppen so häufig unter sich? Welche Verantwortung tragen Menschen im Hier und Jetzt für die Zeit, die nach ihnen kommt?
Wir brauchen einen positiven und politischen Begriff von Zeit – müssen heraus aus dem Gefühl, dass nie genug Zeit vorhanden ist und unsere Zeit nicht uns gehört. Hin zu dem Bewusstsein, dass nicht Zeit vorgibt, wie ein menschliches Leben verläuft, sondern wir mit Zeit gestalten können, wie wir leben wollen. Dass Zeit zwischen Menschen entsteht und es ein Mehr an Zeit geben wird, wenn wir uns stärker zusammentun. Eine neue Zeitkultur will allen Menschen mehr Freiheit bieten, nimmt das Leben breiter in den Blick als bisher und geht respektvoll mit der Zeit von anderen um – auch mit der Zeit der nächsten Generationen.
Ein neues Verständnis von Zeit als politisches Thema könnte schließlich auch Menschen ansprechen, die sich von progressiver Politik bislang weniger vertreten fühlen, weil sie ihre konkreten Alltagsprobleme nicht löst. Ich meine diejenigen, für die viel Geld und Macht außer Reichweite sind oder weniger bedeutsam. Nicht jede_r will Karriere machen, Einfluss haben oder reich sein. Die übergeordneten großen Ziele der Zeitfrage müssen deshalb wieder und wieder in die kleinteiligen Lebensbereiche von Menschen übersetzt werden, um zeitbedingte Ungerechtigkeiten aufzulösen und so eine Basis für eine ressourcenschonende Wirtschaft zu schaffen.
Zeitgerechtigkeit kann das Leben vieler Menschen schnell verbessern und unsere Gesellschaft krisenfester, solidarischer und freier machen. Sie legt den Grundstein für eine Politik, die den Planeten erhalten kann. Zeit ist ein Geschenk, aber auch Verantwortung. Eine neue Zeitkultur ist keine Utopie, da sie in der Vorstellung so vieler Menschen bereits existiert. Die Welt, in der alle über die Zeit verfügen können, die sie brauchen, können wir jetzt gestalten.
Ein 24/7-Milieu sieht aus wie eine soziale Welt, ist aber ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen, die nicht verrät, auf wessen Kosten seine Betriebsamkeit geht.
_ JONATHAN CRARY
3
Wieder einmal passt nicht alles, was ich mir vorgenommen habe, in die dafür vorhandene Zeit. Es gibt das Bild in meinem Kopf von einem idealen Tag, der aber niemals so geschieht. Selbst wenn ich die Woche sorgfältig plane, fallen mir jeden Abend andere Dinge ein, die ich noch hätte machen wollen oder machen müssen, die schön gewesen wären, nach denen ich Sehnsucht hatte. Der ideale Tag hat immer mehr Stunden, als ich wach sein kann.
Die Soziologin Jenny Shaw verbindet unsere subjektive Wahrnehmung von knapper Zeit mit objektiv feststellbaren Veränderungen im Alltag der Gegenwart, die uns dazu bewegt haben, immer mehr von unserer Zeit zu wollen: »Die größere Auswahl an zeitlichen Möglichkeiten zu arbeiten, zu essen oder einzukaufen, verstärkt die Grundhaltung, insgesamt mehr zu machen.«4 Diese zusätzlichen Möglichkeiten haben wir ursprünglich dafür geschaffen, damit unser Alltag ruhiger wird. Supermärkte schließen in vielen Städten erst spät am Abend, damit Menschen, die um 22 Uhr von der Arbeit nach Hause kommen, dann noch Milch für den Kaffee am Morgen kaufen können. Zudem sind viele Geschäfte digital auch noch nach Ladenschluss zugänglich und liefern die bestellte Ware. Die Möglichkeiten, spätabends auswärts zu essen, haben enorm zugenommen, und manche Restaurants bieten Essen sogar rund um die Uhr an. Berufliche Aufgaben können zunehmend von überall aus und zu jeder Zeit erledigt werden, da wir mobil und flexibel arbeiten. Selbst einige Fitnessstudios haben 24 Stunden am Tag geöffnet. Das immense Angebot an Videotrainings führt dazu, dass es egal ist, wann die Arbeit beginnt oder endet: Wir müssen nur früh genug aufstehen oder lange genug aufbleiben, um jeden Tag in Bewegung zu sein.
Unser Alltag bietet nun mehr Raum für die Erfüllung eigener Wünsche, aber auch mehr Raum für Erwartungen anderer. Die Ausrede, etwas nicht tun zu können, weil man nicht vor Ort sei oder die Zeit es nicht erlaube, lässt sich immer seltener glaubhaft vorbringen. Unsere räumlichen und zeitlichen Handlungsspielräume begrenzen wir angeblich nur selbst. Müdigkeit lässt sich bekämpfen. Unser Handeln wird immer weniger von äußeren Faktoren eingeschränkt und immer abhängiger von unserem Ehrgeiz und dem Willen, die eigenen Grenzen zu verschieben. Wir sollen 24/7-Menschen sein.
Unsere Kindheit ist ein Ort, an dem die Zeit zunächst weniger wichtig ist, man schwimmt in ihr wie in einem Meer: Die Zeit erscheint endlos, und man kann sich treiben lassen. Die Unterschiede wahrnehmen zu können zwischen fünf Minuten und fünf Stunden, zwischen heute und morgen und weit in der Zukunft, ist nicht angeboren. Je älter wir werden, desto mehr gleicht unsere Zeit erst abgetrennten Schwimmbahnen, in denen Bewegungsrichtung und Distanz vorgegeben sind. Schließlich erleben wir unsere Zeit als Badewanne, in die wir nur knapp hineinpassen und aus der das kalt gewordene Wasser abläuft. Die Erfahrung, dass die Zeit nicht reicht, ist etwas, das die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Westlund als letzte Stufe der Zeitsozialisierung von Kindern betrachtet. Über acht Lektionen, angefangen beim Lesen der Uhr, entwickelten sie sich ganz allmählich zu »Zeiterwachsenen«.5 In dem Moment, in dem Kinder ihre eigene Zeit als begrenzt wahrnehmen können und den Wunsch äußern, für irgendetwas mehr Zeit haben zu wollen, sind sie Westlund zufolge in der Zeitwahrnehmung der Erwachsenen angekommen.6
Kinder begreifen aus Erwachsenensicht also die Zeit erst dann in Gänze, wenn sie ein Gefühl des Mangels feststellen. Ingrid Westlund beschreibt in ihrem Forschungsbericht, dass sie den Wunsch nach mehr Zeit, »um mehr erreichen zu können«, bereits bei Kindern im Alter von zwölf Jahren feststellen konnte – allerdings nur bei Mädchen.7 Dass Menschen Zeitknappheit empfinden, statt sie nur an der Uhr ablesen zu können, zeigt uns, dass Zeit mehr ist als ein Orientierungsmittel: Wir verbinden Gefühle mit ihr, sie löst Gefühle in uns aus. Zeitdruck kann immensen Stress verursachen. Etwas schneller zu schaffen als gedacht löst Zufriedenheit aus. An das freie Wochenende zu denken kann uns beruhigen und entspannen.
Die Wahrnehmung von Zeitknappheit könnte man nüchtern als Ankunft in der Wirklichkeit beschreiben. Kinder lernen, dass ihre zeitlichen Möglichkeiten begrenzt sind, so wie sie auch in vielen anderen Bereichen die Erfahrung machen, dass nicht alles, was theoretisch möglich ist oder sie sich wünschen, in Erfüllung geht. »Zeit an sich ist nicht knapp«, schreibt Niklas Luhmann jedoch. »Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht erst aus Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.«8 Demzufolge spüren Menschen Zeitmangel dann, wenn sie ihre Erwartungen nicht in den Spielraum des tatsächlich Möglichen einhegen. Sie wollen zu viel. Ist die menschliche Lust an der Maximierung die Hauptursache dafür, dass wir Zeit als zu knapp empfinden? Könnten wir Zeit durch Bescheidenheit entzerren?
Das kindliche Träumen und all die Wünsche, die Menschen ans Leben haben, füllen die verfügbare Zeit, bis sie nicht mehr reicht. Weil wir Fantasie besitzen, sprengen wir den Rahmen unserer Zeiten. Das wäre die wohlwollende, poetische Sicht auf die Zeitnot der Menschen. Würde die Zeit an jedem Tag ausreichen für unsere Pläne, könnten wir stets im Moment leben. Da sie in der Gegenwart aber nicht für all unsere Wünsche reicht, verschieben wir das, was wir noch erleben und erreichen wollen, in die Zukunft. Morgen haben wir neue Zeit. In diesem Verständnis ist die Zeit eine üppige Ressource, die sich über ein langes Leben erstreckt und uns die Möglichkeit bietet, nach und nach allerlei Träume und Wünsche zu realisieren. Wenn die Zeit manchmal knapp ist, zeigt uns das nur, dass wir in der Lage sind, sie reich zu füllen. Unsere Zeitsozialisierung könnte daher auch diese Stufe umfassen: die Fülle der Zeit begreifen und mit dem Bewusstsein leben, dass wir reichlich davon besitzen.
Vor 200 Jahren schufteten Arbeiter_innen in Fabriken täglich noch 14 bis 16 Stunden, an sechs Tagen die Woche.9 Dass die Erwerbsarbeitszeiten heute wesentlich kürzer sind, wird immer wieder als Argument herangezogen, dass Zeitknappheit kein legitimes Gefühl sein könne, da nicht nur der materielle Wohlstand zugenommen habe, sondern auch der Zeitwohlstand. Und der Befund für die Arbeitszeiten stimmt. Zudem ist die Lebenserwartung in den allermeisten Ländern stetig gestiegen. Vor 150 Jahren betrug sie in Deutschland durchschnittlich nicht einmal 40 Jahre, da die Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch war, jedoch auch nur etwa ein Drittel der Menschen älter als 60 wurde.10 Wer 1960 zur Welt gekommen ist, hat gegenüber 1870 durchschnittlich 30 Lebensjahre hinzugewonnen und wird laut Prognose des Statistischen Bundesamtes im Mittel bis etwa 2030 leben.11 Mädchen, die 2020 in Deutschland geboren wurden, werden weitere 13 Jahre länger leben als die Generation ihrer Großeltern; sie sollen ein Durchschnittsalter von 83,6 Jahren erreichen. Die Jungen ihrer Altersklasse werden knapp vier Jahre weniger Zeit für ihre Pläne haben, aber im Mittel immerhin 78,9 Jahre alt werden. Auch sie haben Zeit hinzugewonnen. Die Art und Weise, wie wir heute leben und wie wir uns umeinander kümmern, hat uns also Zeit geschenkt.12 Theoretisch könnten wir unseren Alltag entzerren und dem Gefühl der Zeitknappheit mit dem Wissen begegnen, dass wir unsere Vorhaben auf immer mehr Lebensjahre verteilen können. Wir müssten nicht alles gleichzeitig machen wollen.
Die typische Zeitsozialisierung, die Kinder durchlaufen, sowie die Zeitkompetenz, die Erwachsene heute als Fähigkeit brauchen, um ihr Leben zu organisieren, ist jedoch viel stärker auf die Gegenwart fokussiert als auf die Zukunft. Zwar haben manche Menschen eine Bucket List13 mit Dingen, die sie einmal in ihrem Leben machen möchten und die durchaus auch noch mit 60 oder 70 Jahren realisiert werden können, doch diese Art der langfristigen Lebensplanung wird nicht systematisch erlernt und bezieht sich vor allem auf besondere Wünsche, weniger auf den Alltag. In der Gegenwart sollen wir unsere Zeit über Techniken des Zeitmanagements so strukturieren, dass Vorhaben genau in die dafür vorgesehene Zeit passen oder sogar noch schneller umgesetzt werden, sodass irgendwann mehr Tätigkeiten in die gleiche Zeitspanne passen oder am Ende gar Zeit übrig bleibt für neue Pläne.
Erste Erfahrungen mit Zeitmanagement sammeln Kinder schon, wenn sie bis zum Abendessen ihr Zimmer aufräumen sollen oder eine Unterrichtsstunde lang Zeit bekommen, um eine Klassenarbeit zu schreiben. Sie lernen auf diese Weise, dass nicht die Aufgabe die Dauer der Beschäftigung damit bestimmt, sondern sich die Aufgabe einer zeitlichen Vorgabe unterordnen muss. In diesen Fällen wird die Zeit nicht knapp, weil Kinder sich selbst mit Erwartungen überfordern, sondern weil andere – nämlich Erwachsene – die Zeit für eine Tätigkeit bewusst knapp kalkulieren. Der Wunsch eines Kindes, einen besonders schönen Aufsatz zu schreiben, wird beschnitten durch die Erwartung der Lehrkraft, dass alle Schüler_innen den Aufsatz in 45 Minuten fertigstellen. Zeitknappheit kann also nicht nur von innen im Kontext der eigenen Ansprüche entstehen, sondern auch von außen über die Ansprüche anderer Menschen an uns. »Zeit [ist] eine der wirkmächtigsten Maßnahmen sozialer Kontrolle«, schreibt die Ethnologin Laura Wehr. Schulen seien »Schlüsselinstitutionen dieses Disziplinierungsprozesses«,14 in denen Kinder aus ihren Zeitwelten in die der Erwachsenen hinübergeführt würden.
Kindern wird so vermittelt, dass sie sich bemühen müssen, die Nutzung der eigenen Zeit immer weiter zu verbessern: Sie müssen schneller werden, pünktlich sein, die Zeitvorgaben von Erwachsenen befolgen. Ein Kind kann nur selten zu seiner Lehrkraft sagen: »Ich habe morgen noch Zeit, um die Aufgabe zu lösen.« Die Zeit, die am nächsten Tag vorhanden ist, ist in diesem Moment nichts wert. Am nächsten Tag warten neue Aufgaben. Die zeitliche Entzerrung ist keine Option, die in der Schule gefördert wird; Kinder dürfen keine Belohnung erwarten, wenn sie diese Möglichkeit als Idee vortragen. Zeitknappheit soll am besten gar nicht erst entstehen. Ihr soll unmittelbar vorgebeugt oder begegnet werden, indem man sein Handeln beschleunigt und die Erledigung der betreffenden Aufgabe in die künstlich begrenzte Zeitspanne einpasst. Das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, sollen wir zudem aushalten lernen: Obwohl die tickende Uhr Stress erzeugen kann, wird von Schüler_innen erwartet, dass sie während einer Klassenarbeit klar denken können. In der Berufswelt ist die Anforderung weitverbreitet, unter Zeitdruck Entscheidungen zu treffen, obwohl Menschen in Stresssituationen nachgewiesenermaßen kognitiv weniger leistungsfähig sind. Wie sähe unsere Welt aus, wie würden wir denken und uns fühlen, wenn wir uns für alles, was wichtig ist, mehr Zeit nehmen würden?
Wenn schon in unserer Kindheit und Jugend die Erfahrung allgegenwärtig ist, dass Schnelligkeit belohnt und Langsamkeit bestraft wird – dass die Uhr immer etwas schneller ist, als wir es sein können –, warum sollten wir dann später als Erwachsene fragen, ob es eigentlich so sein muss, dass unsere Zeit nie reicht? Das Gefühl, gehetzt zu sein, sich beeilen zu müssen, mag unangenehm sein, und wir wünschen oft, es wäre anders. Auf der anderen Seite gehört es irgendwie dazu, erscheint uns als Teil der Normalität, die wir akzeptieren. Wie Regen, der ab und an vom Himmel fällt und dann wieder trocknet. Schließlich können wir die Zeit nur unterschiedlich erleben, wenn sie nicht stets das gleiche Tempo hat. Sie darf schneller und langsamer vergehen. Sie darf anhalten und manchmal knapp sein. Wir können entzerrte Zeit genießen, weil wir auch eine zu dichte zeitliche Taktung kennen. Wenn ein Mangel an Zeit jedoch Spuren der Verwüstung hinterlässt wie ein Unwetter und massive Auswirkungen auf unsere Lebensqualität hat, sollten wir ihm anders begegnen, ihn nicht lediglich zur Kenntnis nehmen, sondern ihm etwas entgegensetzen.
Ist Zeitknappheit nur ein Gefühl? Die feministische Techniksoziologin Judy Wajcman hat festgestellt, dass ein Widerspruch zwischen statistischen Daten zur Zeitverwendung und der verbreiteten Wahrnehmung besteht, immer mehr Menschen müssten sich im Alltag hetzen, sie hätten zu wenig Zeit zur Verfügung, das Leben habe sich allgemein beschleunigt. Für diesen Widerspruch hat sie den Begriff Time-Pressure Paradox geprägt.15 In fast jedem Land, in dem Zeitbudget-Forschungen durchgeführt werden, hat sich demnach gezeigt, dass die Menge an freier Zeit, über die Menschen im arbeitsfähigen Alter verfügen, in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen ist.16 So steht es auch im Achten Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der sich 2012 mit der Familienzeitpolitik beschäftigt hat. Die Autor_innen bestreiten einen »generellen Zeitmangel« in Deutschland.17 Sie belegen ihren Befund unter anderem damit, dass die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Deutschland in den letzten fünf Jahrzehnten um über ein Drittel gesunken sei. Sie liege damit deutlich unter dem OECD-Schnitt und sei nach Frankreich und Dänemark die drittniedrigste in Europa.18 Der Bericht führt zudem weitere Indikatoren im Zusammenhang mit Erwerbsarbeit an. So sei die Zahl der Urlaubstage in den letzten 30 Jahren leicht gestiegen. 29,6 Tage Urlaub, ein geringfügiger Zuwachs von etwa einem Tag seit 1991, konnten Beschäftigte 2020 durchschnittlich nehmen.19 Gesetzlich stehen ihnen 20 Tage Erholungsurlaub zu. Addiert man die gesetzlichen Feiertage hinzu, kommen deutsche Arbeitnehmer_innen je nach Bundesland auf 38 bis 41 freie Tage im Jahr.20 Die Schulferien in Deutschland umfassen nach einer Ländervereinbarung 75 Werktage.21 Ein weiterer Hinweis auf mehr freie Zeit ist, analog zum steigenden Lebensalter, die Rentenbezugsdauer: Durchschnittlich rund 20 Jahre lang bekommen Menschen in Deutschland mittlerweile eine Rente. 1995 lag die Rentenbezugsdauer noch bei knapp 16 Jahren.22, 23
Die statistische Durchschnittsbürgerin arbeitet weniger Stunden pro Jahr in ihrem Beruf, hat mehr Urlaubstage und eine längere Rentenzeit als jemals zuvor. Dennoch sagten 2020 hochgerechnet über 26 Millionen Menschen in Deutschland – über 14 und deutschsprachig –, zu denjenigen zu gehören, »die viel zu wenig Zeit haben«.24 In dieser Altersgruppe wären das mehr als ein Drittel, deren Lebensgefühl von Zeitnot geprägt ist.
Warum nehmen so viele Menschen Zeitknappheit wahr, wenn die Zeit, die wir mit Erwerbsarbeit verbringen, weniger geworden ist? Zunächst einmal ist es so, dass der beschriebene Zeitgewinn aus dem Arbeitsleben sich nicht gleichmäßig auf alle Erwerbstätigen in Deutschland und alle Lebensphasen verteilt, da es sich um Durchschnittswerte handelt und die meiste Zeit im Rentenalter hinzukommt. Zudem zeigen die erhobenen Daten nicht, ob mit diesen Veränderungen auch eine Verbesserung der Lebensqualität einhergeht. Vor allem aber – und das soll bei meinen Betrachtungen im Mittelpunkt stehen – sind diese Zahlen kein Hinweis darauf, dass mehr Menschen Zeitwohlstand erleben. Dieser Begriff aus der Zeitsoziologie geht über einfache Statistiken zum Umfang von erwerbsarbeitsfreier Zeit hinaus. Um als reich an Zeit zu gelten, brauchen Menschen – so der Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher, der Zeitwohlstand sowohl quantitativ als auch qualitativ definiert – genug Zeit für eigene Bedürfnisse: Sie können ausreichend Zeit mit anderen verbringen, indem es gemeinsame freie Zeiten wie das Wochenende gibt, sie können ihre Zeit in einem hohen Maße selbstbestimmt gestalten, und sie empfinden ihre Zeit als entdichtet, also mit möglichst wenig Zeitdruck, um Aufgaben zu schaffen.25
Denkt man über die absolut gemessene Arbeitszeit und Freizeit hinaus, stößt man schnell auf Hinweise dafür, dass Zeitdruck ein legitimes Gefühl sein könnte. So ist die Zahl der Pendler_innen in Deutschland stetig gewachsen – von 14,9 Millionen im Jahr 2000 auf 19,3 Millionen in 2018 –, und die durchschnittliche Strecke verlängerte sich von 15 auf 17 Kilometer.26 Und auch die Quote der Alleinerziehenden ist seit den 1990er-Jahren gestiegen, genau wie die Frauenerwerbsquote, was beides die Zeit von Familien beeinflusst. Das mobile Arbeiten wird zwar teils als Gewinn an Autonomie beschrieben, kann jedoch auch durch ständige Erreichbarkeit freie Zeiten einnehmen oder unterbrechen. Personalnot steigert die Arbeitsintensität und das Stressempfinden.
Zudem reduziert die Aussicht auf mehrere freie Jahre im Rentenalter nicht die im Alltag wahrgenommene Zeitnot. Zeit lässt sich nicht sparen und auch nicht mit all den Tools und Techniken für Zeitmanagement beherrschen. Wir können Geld zurücklegen, aber Freiheit, Selbstbestimmung und Wohlbefinden lassen sich nicht für später ansparen. Zeitmanagement verändert, wofür wir unsere Zeit verwenden, aber es vermehrt sie nicht. Ein Leben, das wir mit Warten auf den verdienten Ruhestand verbringen, ist streckenweise ungelebt.
An jedem Tag entscheidet man, welche Dinge man die nächsten 24 Stunden macht, was man nicht tut, was man an andere gibt, was man aufschiebt, weil es gerade weniger wichtig ist und man das Risiko eingehen kann, dass sich nie Zeit dafür finden wird. Wer jetzt keine Zeit für Freund_innen oder Hobbys hat, kann das Versäumte im Alter nicht einfach nachholen. Wie alt wir werden und wie stark der Lebensabend einmal den eigenen Wünschen entspricht, wissen wir nicht.
Noch können wir nicht ohne Schlaf auskommen. Der 24/7-Mensch ist nicht rund um die Uhr wach, aber er versucht, seine restliche Zeit möglichst erschöpfend zu nutzen, er kontrolliert sie, indem er sie mit absichtsvollen Tätigkeiten füllt. Er will sie so weit wie möglich mit Bedeutung anreichern, damit er sie nicht »verliert«.
Die Soziologinnen Tally Katz-Gerro und Oriel Sullivan erforschen, wie Menschen ihre Zeit neben der Erwerbsarbeit nutzen und welche unterschiedlichen Verhaltensmuster sich feststellen lassen. Dabei haben sie eine Gruppe identifiziert, die ihre freie Zeit besonders dicht mit Konsumtätigkeiten füllt. Menschen, die nicht nur ein breites Spektrum an kulturellen Interessen haben, sondern diesen Interessen auch sehr oft nachgehen, bezeichnen die Forscherinnen als »gierige kulturelle Konsument_innen« (voracious cultural consumers), wobei das Freizeitverhalten der »Unersättlichkeit« (voraciousness) hier vor allem außer Haus stattfindet.27 Mehrmals in der Woche unternehmen die Unersättlichen etwas Aufregendes, Ungewöhnliches, Forderndes. Sie kennen die neuen Restaurants, gehen zu Theaterpremieren, Konzerten, probieren unterschiedliche Sportarten aus und nehmen Dienstleistungen wie Massagen oder Maniküren in Anspruch – und all das innerhalb eines kurzen Zeitraumes. Ein solches Verhalten findet man vor allem bei Menschen in höheren Einkommensgruppen, mit höherer formaler Bildung und einer oberen Klassenzugehörigkeit. Menschen mit geringerem Einkommen, das zeigen Daten des Freizeitmonitors für Deutschland, wechseln seltener ihre Beschäftigungen und gehen diesen eher zu Hause nach.28 Zudem ist das unersättliche Verhalten unter allein lebenden Erwachsenen und jüngeren Paaren ohne Kinder stärker verbreitet als unter Menschen mit Kindern oder unter Älteren.29
Diese empirischen Ergebnisse verwundern nicht: Menschen ohne Care-Pflichten haben nun einmal mehr ungebundene Zeit, um immer wieder neue Dinge auszuprobieren. Mit besseren finanziellen Möglichkeiten lässt sich die eigene Freizeit abwechslungsreicher gestalten. Sport zu treiben, Kulturveranstaltungen zu besuchen und in Restaurants und Bars zu gehen, ist – vor allem, wenn all das kombiniert wird – teuer. Wer jünger ist, hat in der Regel mehr Energie, viel zu unternehmen, und in der Erwerbsphase bisweilen mehr Geld als im Rentenalter.
Die Gruppe derjenigen, die besonders viel unternehmen, arbeitet zudem besonders viel. Je höher der sozioökonomische Status, desto häufiger verbringen Menschen mehr als 40 Wochenstunden im Job.30 Deutsche Erwerbstätige, deren Jahresgehalt mehr als 100 000 Euro beträgt, leisten durchschnittlich sechs Überstunden pro Woche.31 Einkommensstarke Menschen sind somit prädestiniert dafür, Zeitdruck zu empfinden, da sie nicht nur dazu neigen, die Erwerbsarbeitszeiten auszudehnen, sondern die Zeit neben dem Job ebenfalls stark verplanen. Zeitknappheit zu empfinden kann ein Klassenphänomen sein. Diejenigen, die im Job busy sind, sind es oft auch in ihrer freien Zeit.
Eine dicht gefüllte Freizeit muss allerdings nicht per se als stressig empfunden werden, sonst wäre dieses Verhalten kaum so verbreitet. Man kann sie auch als genugtuend erleben oder gleichzeitig als stressig und schön. In Ländern mit einem schnellen Lebenstempo sagen zwar mehr Menschen von sich, dass sie Zeitknappheit empfinden, ihre durchschnittliche Lebenszufriedenheit ist jedoch höher als in Ländern mit niedrigerem Lebenstempo.32 Der Psychologe Robert Levine, der zu kulturellen Unterschieden des Lebenstempos geforscht und diese Erkenntnisse in seinem Buch Eine Landkarte der Zeit veröffentlicht hat, erklärt das damit, dass der materielle Wohlstand in beschleunigten Gesellschaften in der Regel höher ist und dieser sich ebenfalls positiv auf das Wohlbefinden auswirkt. Ein hohes Lebenstempo macht vielfach auch deshalb Spaß, weil dadurch das Gefühl entsteht, bei den Dingen, die andere tun, zu denen wir gehören wollen, ausreichend mit dabei gewesen zu sein. Der Wunsch, nichts Relevantes zu verpassen, kann gleichzeitig aber auch zu einem sozialen und zeitlichen Konflikt führen. Insbesondere in den jüngeren Generationen ist das als Fear Of Missing Out (FOMO) beschriebene Gefühl weitverbreitet. FOMO zwingt uns ständig dazu, abzuwägen, ob wir die Zeit aufbringen können, an etwas teilzunehmen, oder ob wir bereit sind, die sozialen Kosten der Nichtteilnahme zu tolerieren.
Wenn die Freizeit öfter erschöpfend ist als entspannend, verspüren Menschen einen zusätzlichen Bedarf an noch mehr Zeit für sich selbst. Ob die eigene Zeit als zu knapp erlebt wird, hängt also auch davon ab, wie voll wir unsere Tage packen. So stehen diejenigen, die sich daran gewöhnt haben, mit finanziellen Mitteln die eigene Zeit besonders dicht zu gestalten, vor einem Dilemma: Sie können Erlebnisse kaufen, aber keine zusätzliche Zeit. In einer Konsumgesellschaft kann die empfundene Zeitknappheit zu einem Teufelskreis werden, da gestresste Menschen häufig versuchen, die innere Unruhe mit zusätzlichen Aktivitäten zu lindern, die sie als Ausgleich bezeichnen oder als Self-Care. Doch diese Maßnahmen gegen den Stress bedeuten oft noch eine Stunde mehr, die von anderen Dingen freigeräumt werden muss, die Platz braucht im Terminkalender und die Erwerbsarbeit voraussetzt, um sie bezahlen zu können. Massagen, Spa-Wochenenden und Restaurantbesuche können sich vor allem diejenigen leisten, die vorher viel Zeit damit verbracht haben, Geld zu verdienen.
Die Sehnsucht nach Ausgleich und auch die Freude, die man aus Hobbys, Ausflügen, gemeinsamem Essengehen oder kulturellen Angeboten ziehen kann, sind jedoch nicht der alleinige Antrieb, um viel zu unternehmen. Die britische Schriftstellerin Madeleine Bunting schreibt in ihrem Buch Willing Slaves über die sogenannte Überarbeitungskultur, unser Konsumverhalten sei »zu der Arena geworden, in der wir unsere Selbstwahrnehmung entwickeln und ein Gefühl von Freiheit erfahren«.33 Über Produkte und Dienstleistungen, die wir kaufen, versuchen wir, unsere Identität zu konstruieren und dadurch wiederum Gruppenzugehörigkeit herzustellen. Neben Statussymbolen wie Kleidung oder Autos ist nun noch etwas Neues hinzugekommen: der Umgang mit Zeit. Die Kulturen, in denen wir leben, sowie unsere sozialen und ökonomischen Prägungen und Präferenzen fließen zusammen in unserer Zeit-Identität.
Bin ich interessant oder langweilig, busy oder boring, ist eine der zentralen Identitätsfragen, mit denen sich Menschen im digitalen Kapitalismus auseinandersetzen. Der Wunsch, für andere interessant zu sein, hat sich innerhalb der individualistischen Kultur westlicher Gesellschaften vor allem in die Praxis übersetzt, fortwährend möglichst beschäftigt zu sein und das nach außen zu zeigen. Denn für andere interessant ist man nicht automatisch. Man kommt nicht als »interessante Person« auf die Welt, sondern muss dafür arbeiten, von anderen als solche erachtet zu werden – und man darf in diesem Bemühen nicht nachlassen. Der Mensch, der gestern interessant war, ist es heute schon nicht mehr, wenn er zu lange ruht und zu wenig Neues zu bieten hat. Dafür muss er mit der Zeit gehen und auch das eigene Wissen darüber aktuell halten, welche Zuschreibungen die Aufmerksamkeit von anderen wecken. Das gilt besonders in digitalen Netzwerken, in denen Persönlichkeiten unter anderem darüber eine Follower_innenschaft aufbauen, indem sie Inspiration für andere bieten. Die Attribute »interessant« und »beschäftigt« fallen mehr und mehr zusammen, da interessant zu sein in diesem Kontext und aus Sicht von Follower_innen und Fans keine Eigenschaft ist, sondern sich durch die Praxis des permanenten Wandels und durch Neuigkeiten ergibt. Gegenseitig beobachten wir, wie sehr andere aus den Sekunden ihres Lebens das Mögliche herausholen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir das Leben anderer Menschen auf digitalen Bühnen observieren und das eigene Leben auf ebendiesen Bühnen inszenieren. Wer sich nicht ständig aktualisiert, fällt aus der Zeit.
Viele Menschen, die soziale Netzwerke nutzen, entscheiden sich dafür, einen Teil ihrer Zeit öffentlich zu leben.34 Das eigene Handeln wird im digital durchdrungenen Alltag nicht nur mit Quantified-Self-Technologien live oder im Nachhinein vermessen – mit Apps, die Schritte zählen, stündlich an ein Glas Wasser erinnern oder die Schlafphasen aufzeichnen –, manche Social-Media-Nutzer_innen antizipieren bereits, bevor sie etwas tun, wie die Abbildung ihres Daseins in digitalen Netzwerken bewertet werden wird. Das gilt besonders für die visuell geprägten Medien, in denen Menschen über Fotos und Videos aus ihrem Alltag berichten. Die Nutzer_innen planen, wie sie die Dokumentation ihres Lebens so optimieren können, dass sie auf mehr Resonanz trifft bei anderen Menschen und bei Algorithmen, damit sie mehr Likes und Kommentare bekommen, die ihnen positive Gefühle bescheren, oder sogar, wie sie eine Personal Brand aufbauen und vielleicht irgendwann vermarkten können. Ratgeber zum Thema, wie man als Mensch eine Marke werden kann, boomen nicht nur für Konzern- und Medienkarrieren. Eine Autorin rät sogar Pflegefachkräften dazu, sich einen Markenkern zuzulegen.35
Mit dem Bestreben, dass alle Menschen sich in Marken verwandeln können, ist eine neue Celebrity-Kultur entstanden. Viele Menschen äußern sich zwar verächtlich über Boulevardmedien und Promi-Magazine, die man allenfalls heimlich im Wartezimmer liest, zeitgleich aber haben wir über digitale Medien etwas kreiert, das der Celebrity-Welt ähnelt. In sozialen Netzwerken wenden nun Menschen aus unterschiedlichsten Milieus täglich Zeit dafür auf, zum einen dem Leben ihrer Idole zu folgen, die keine Adeligen sind, sondern »normale« Menschen, und zum anderen selbst Informationen von sich zu teilen, die in traditionellen Magazinen als »Klatsch« bezeichnet würden: Was hatte ich an, in wen bin ich verliebt, in welchem Farbton erstrahlt mein Wohnzimmer. So praktizieren wir Zerstreuung. Allerdings sind wir in den neuen Unterhaltungsmedien nicht mehr ausschließlich Konsument_innen, sondern gleichzeitig Protagonist_innen.
Die gute Nachricht ist, dass die Rollen, die wir in der digitalen Öffentlichkeit einnehmen, offener und vielfältiger geworden sind. Menschen können heute von Schönheitsidealen abweichen, beruflich scheitern oder über ihre Depressionen sprechen – Tabus schwinden zum Glück und zu Recht –, allerdings müssen sie die Abweichung von alten Normen einweben in interessante Geschichten, die sie selbst über sich erzählen. Am besten täglich. Nutzer_innen sozialer Netzwerke – das sind mehr und mehr wir alle – werden Meister_innen der Cliffhanger, damit das Publikum wiederkommt und sie nicht vergisst: »Es gibt eine spannende Neuigkeit, und die verrate ich euch morgen!« So bewegen sich Nutzer_innen digitaler Netzwerke zwischen eigenen Drehbüchern, über die sie die Follower_innenschaft binden und ausbauen, und dem Leben als Fan oder zumindest als Beobachter_in von Familienmitgliedern, Freund_innen, Bekannten und klassischen Prominenten wie Schauspieler_innen oder Musiker_innen.
Als Beobachter_in nehmen wir wahr, ob andere beschäftigt sind oder ob ihr Alltag dröge erscheint. Ob sie bereits Neues planen oder bei ihnen gerade wenig passiert. Auf das digitale Leben der anderen reagieren wir mit Emotionen und Bewertungen. Abschätzig oder beeindruckt, gelassen oder auch sorgenvoll (»Das ist nicht durchzuhalten!«). Dann wieder mit Neid und Selbstkritik, weil wir selbst weniger geschafft zu haben meinen als andere. Die digitale Erweiterung unseres Nahraums erhöht den Druck, viel zu erleben oder zumindest die wenigen Erlebnisse aufwendig zu inszenieren, damit wir teilhaben können an der großen Erzählung.
In der partizipativ geschaffenen Unterhaltungskultur mitzumischen, erfordert Zeit. Sich durch soziale Netzwerke zu scrollen, kann entspannend sein und Freude machen, aber auch zu einer neuen Form von Arbeit werden, die zusätzlich erschöpft. Das Beschäftigtsein hat zudem soziale Funktionen: Es dient der Selbstvergewisserung und der Abgrenzung von anderen.36 Zum einen beweisen wir uns damit, dass wir die eigene Zeit gekonnt einsetzen, wenn wir viel Erzählenswertes erleben. Zum anderen ist es eine Demonstration nach außen: »Seht her, wie viel ich in meiner Zeit unterkriege. Mehr als andere!« Dieses Lebensmuster ist nicht erst in sozialen Netzwerken entstanden und wird auch außerhalb davon praktiziert, über die digitale Vernetzung hat es jedoch an Sichtbarkeit gewonnen und konnte sich als Statussymbol leichter etablieren. Das Beschäftigtsein ist im Vergleich zu anderen Statussymbolen wie teuren Besitztümern und hohen beruflichen oder gesellschaftlichen Positionen auch leichter zugänglich, da es nicht so viel kostet, man direkt damit beginnen und den eigenen Beitrag größtenteils unabhängig von anderen gestalten kann. Busy zu sein ist als Statussymbol so attraktiv, weil es für mehr Menschen erreichbar ist und man die versteckten Kosten nicht unmittelbar sieht. Wir bezahlen dafür mit unserer Zeit und Aufmerksamkeit.
Die soziale Norm des Beschäftigtseins wertet Zeiten ab, die nicht mit absichtsvollen Tätigkeiten gefüllt werden, zum Beispiel Zeiten der Langweile oder des Faulseins. Man hätte glauben können, die Sicht auf Zeit, die mit unspektakulären Dingen verbracht wird, hätte sich in den vergangenen Jahren durch den eingeschränkten Alltag der Pandemie verändern können. Sicherlich hat ein Teil der Menschen das Zuhausebleiben genossen. Auf der anderen Seite entstand jedoch auch neuer Druck, sich ungewöhnliche Lockdown-Projekte zu überlegen oder etwas Neues zu lernen, um der Zeit durch das Beschäftigtsein einen Wert zu geben.
Ein Kennzeichen der gegenwärtigen dominanten Zeitkultur ist es, dass die restlose Nutzung der eigenen Zeit zu einer ethischen Frage geworden ist. Wer nicht das meiste aus der eigenen Zeit herausholt, versagt. In gesellschaftlichen Gruppen mit einem hohen sozialen Status reicht es nicht aus, wenn man nur beruflich erfolgreich ist, nur sportlich, nur kulturinteressiert oder nur kulinarisch gebildet. Man braucht vielerlei Fertigkeiten und ein umfassendes Wissen über nahezu alles, um dazuzugehören, und man muss die entsprechende Zeit aufbringen können, um diese Voraussetzungen zu schaffen. In Kulturen, die das ständige Beschäftigtsein aufwerten, verfehlen geruhsame oder fokussiert-interessierte Menschen die soziale Norm. »Gebildet zu sein, bedeutet, ein kultureller Allesfresser zu sein – egal, wie viel Zeit man dafür braucht«, beschreibt die US-Autorin Anne Helen Petersen den Freizeitstress von jüngeren Erwachsenen.37 Sie hat beobachtet, dass Kultur oftmals nicht mehr konsumiert wird, weil Menschen sie genießen, sondern weil sie den gesellschaftlichen Druck spüren, sich als Personen darzustellen, die hart arbeiten, hart konsumieren und hart chillen. Dahinter verbirgt sich vor allem die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Unsere Kultur lehre uns, dass »Menschen, die mehr tun, mehr wert sind«, schreibt der Psychologe Devon Price in seinem Buch Laziness Does Not Exist, in dem er die Angst davor, als faul zu gelten, analysiert.38 Wer in der Beschleunigungsgesellschaft zu langsam lebt, gilt als abgehängt.
Es reicht nicht einmal aus, die eigene Zeit möglichst vielfältig zu nutzen. Die Klasse der Immer-Beschäftigten muss ihre Zeiten zudem »sinnhaft« füllen. Das bedeutet, innerhalb der eigenen Zeit stets nach mehr zu streben, die richtigen Leute zu treffen und bewusste und optimierte Pausen zu machen, die maximal erholsam sind. Wer die eigene Zeit ohne Vorhaben betritt, vergeudet sie. Das Schlagwort Having it all, das die Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter im Kontext des Diskurses über gleichberechtigte Frauenleben setzte,39 meint mittlerweile nicht mehr nur den Wunsch nach einem erfüllten Berufsleben und einer Familie, sondern darüber hinaus die ideale Gestaltung der Freizeit, die eben nicht frei ist, sondern bestimmten Zwecken folgen soll. Die ideale Freizeit erfüllt nicht mit Zufriedenheit, sondern sie erfüllt kulturelle Normen. Die Nutzung unserer Zeit soll etwas produzieren, sie soll ein Ergebnis hervorbringen, auf das man sich später beziehen kann. Der Lebensstil, busy zu sein, die eigene Zeit möglichst dicht mit Erwerbsarbeit und Freizeitaktivitäten zu füllen, gilt damit als neuer Skill, den man beherrschen muss.
Jede Aktivität als sinnhaft zu labeln, hat auch die Funktion, die eigenen Zweifel am dauernden Beschäftigtsein zu reduzieren. Wenn etwas sinnvoll ist, gibt es weniger Gründe, es nicht zu tun. Es ist ja gut für etwas. Darüber, dass wir all unseren Tätigkeiten einen Sinn zuweisen, vergessen wir zudem, dass nicht alles, was selbst gewählt erscheint, das auch wirklich ist. Denn unsere als frei wahrgenommenen Entscheidungen finden innerhalb der akzeptierten Möglichkeiten unserer Kultur statt. Überstunden mögen den Sinn haben, schneller befördert zu werden, aber wie freiwillig sind sie damit? In der dominanten Zeitkultur verwechseln viele Menschen die schiere Dichte ihres Lebens mit Anerkennung, Erfolg oder Freiheit. Wirkliche Freiheit würde jedoch bedeuten, dass wir auch weniger tun, weniger wissen und weniger mitteilen könnten und trotzdem noch jemand wären.
Die kulturelle Praxis, das Leben mit zahlreichen unterschiedlichen Erfahrungen anzureichern, stattet Menschen mit Macht aus. Besonders in kapitalistischen Gesellschaften, in denen ein schnelles Lebenstempo als erstrebenswert gilt, ist die Verdichtung der eigenen Zeit ein Ausdruck von kulturellem Kapital. Neu erworbenes Wissen, neue Kontakte sowie die Zuschreibung bestimmter Qualitäten, die mit dem Beschäftigtsein assoziiert werden, festigen den hohen sozialen Status, den die unersättlich Beschäftigten ohnehin bereits besitzen. Fähigkeiten und Möglichkeiten werden zu mehr Fähigkeiten und mehr Möglichkeiten für wirtschaftliche, politische und kulturelle Partizipation.
Beschäftigtsein ist eine immaterielle Währung, die schließlich auch die ökonomische Verhandlungsmacht stärken kann. Besonders deutlich wird das im Beruf. Schon die Bereitschaft, mehr zu machen, kann hier von Vorteil sein: Das nennt sich Flexibilität und kann zum Beispiel bedeuten, dass man länger arbeitet, für andere einspringt oder Termine wahrnimmt, die außerhalb der regulären Arbeitszeiten liegen, wie Abendveranstaltungen oder Wochenendtermine. So konkurrieren Menschen in Angestelltenverhältnissen und auch Selbstständige miteinander, indem sie größere Zeitspannen für berufliche Zwecke zur Verfügung stellen als andere, deren Zeit beispielsweise durch Sorgeaufgaben stärker gebunden ist oder die ihre Zeiten für Erwerbsarbeit klarer begrenzen wollen.
In der Overwork-Kultur wird die Bereitschaft, Eigenzeit aufzugeben zugunsten von zusätzlichen Stunden, die man mit beruflichen Aufgaben verbringt, zu einem Wettbewerbsvorteil und mutiert sogar zu einer Art Qualifikation, die sich jedoch von klassischen Kompetenzen insofern unterscheidet, als es sich dabei nicht um etwas Gelerntes, sondern um Akzeptanz von oder auch Unterordnung unter informelle Normen und offizielle Anforderungen handelt. Flexibilität und Mehrarbeit kann man nicht, man willigt in sie ein und ermöglicht sie über Verzicht in anderen Lebensbereichen. So vermischen sich konkrete fachliche Kompetenzen mit zeitlichen Möglichkeiten, über die nicht alle Menschen gleichermaßen verfügen.
Die Ausweitung der Erwerbsarbeit wird mit der Formulierung, man sei gerade sehr busy, auch verharmlost. Denn busy zu sein, meint hier Überstunden, Arbeitsverdichtung und irreguläre Arbeitszeiten, die langfristig krank machen können. Über diese Begriffsverschiebung werden zusätzliche zeitliche Belastungen als eher freiwillig empfunden und auch positiv bewertet, da ideale Mitarbeiter_innen in der heutigen Arbeitskultur mehr leisten müssen als 100 Prozent. Zeitknappheit und Zeitdruck aushalten zu können, ist Teil des Deals, wenn man beruflich mehr Anerkennung bekommen will als andere.
Fortwährendes Beschäftigtsein wird jedoch nicht allen Menschen auf gleiche Weise ausgelegt. Überlange Arbeitszeiten gelten eher in besser bezahlten, hoch qualifizierten Berufen als freiwillige Leistung und karriereförderlich. In schlecht bezahlten Branchen, in denen Menschen oft weniger formale Bildung besitzen, oder in körperlich anstrengenden Berufen bringen Überstunden meist keine beruflichen Vorteile mit sich und werden auch subjektiv nicht als positiv empfunden. In prekären Einkommensgruppen spricht man hier von Ausbeutung. Ausbeutung und Selbstausbeutung finden jedoch auch in besser bezahlten Berufen statt.
Viele Menschen akzeptieren sowohl im privaten als auch beruflichen Kontext, zeitlich stark eingebunden zu sein, um einen höheren gesellschaftlichen oder finanziellen Status zu erreichen oder den einmal erreichten zu halten. Je mehr das private Beschäftigtsein oder ein hohes Arbeitspensum innerhalb einer Kultur belohnt wird, desto mehr Kraft erfordert es, sich anders zu verhalten. Ganz allein schaffen das die wenigsten Menschen. Leichter fällt es, wenn man Teil einer Gemeinschaft mit anderen Werten ist. Freie Entscheidungen setzen den Rückhalt von anderen Menschen voraus.
Zeitknappheit wird paradoxerweise besonders häufig und stark in den sozioökonomischen Gruppen empfunden, die sich aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten eigentlich am ehesten von Zeitdruck befreien können sollten. Da diese Gruppen die gesellschaftlichen Diskurse zu einem großen Teil bestimmen, wird das Problem der Zeitknappheit oft als Luxusproblem dargestellt, da – wenn man sich davon freikaufen könnte – es als etwas Selbstgewähltes erscheint. Allerdings setzen selbst Menschen aus einkommensstarken Gruppen ihre Kritik an der sogenannten Beschleunigungsgesellschaft nicht um in individuelle Alternativen, wie weniger zu arbeiten, mit weniger Geld auszukommen oder privat weniger zu unternehmen, da solche Verhaltensänderungen einen Statusverlust bewirken würden. Dazu sind viele (noch) nicht bereit.
Der Glaube, dass beruflicher Erfolg und gesellschaftlicher Fortschritt wesentlich von der dafür aufgewendeten Zeit abhängen und es dazu keine Alternativen gibt, ist in unserer Kultur tief verankert. Wer etwas erreichen will, so haben es die meisten Menschen vermittelt bekommen, muss dafür viel Zeit investieren. Wer nicht hart, das heißt: lange genug arbeitet, meint es nicht ernst. Solange das Beschäftigtsein identitätsstiftend ist, ist es schwierig, die Zeitnot ernsthaft zu bekämpfen.
Da das Beschäftigtsein eine kulturelle Praxis ist, kann man sich nicht davon freikaufen, indem man Aufgaben anderen zuteilt, sondern man muss neue Verhaltensweisen erlernen. »Letzten Endes verstehen alle, dass Zeit das einzig wahre rare Gut ist: Niemand kann sie herstellen; niemand kann sie verkaufen, und niemand kann sie auf Vorrat speichern«, schreibt die international renommierte Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny in Eigenzeit Revisited.40 Das ist für Menschen in kapitalistischen Kulturen fremd, da wir uns daran gewöhnt haben, nahezu für jedes Problem eine Lösung kaufen zu können sowie unser Verhalten zu optimieren. Zeit widersetzt sich diesem individualistischen Lebensmodell, weil sie etwas ist, das im Zusammenspiel mit anderen Menschen entsteht. Daher, und das wird unterschätzt, wirkt der eigene Umgang mit Zeit auf umfassende und komplexe Weise auf die Zeit anderer Menschen. Wir können uns nicht aus diesen Zusammenhängen lösen.