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Mit Mitte 20 war es wild, mit Mitte 40 wird es ernst, mit Mitte 30 ahnt man zum ersten Mal: Wenn nicht jetzt, wann dann? Es ist ein Wendepunkt, der Fragen aufwirft. Bin ich glücklich in diesem Job, in dieser Beziehung, an diesem Ort? Will ich Kinder? Mehrere? Mit Mitte 30 haben sich die meisten Frauen für einen Weg entschieden. Sie sind irgendwie angekommen. Aber wollten sie da auch hin? Die biologische Uhr wird nicht leiser, der Neuanfang nicht leichter.
Die Frauen in diesem Buch sprechen über Kompromisse in der Liebe, über Sexualität, berufliche Selbstverwirklichung oder über den Kinderwunsch. Sie erzählen offen und ehrlich von den Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen mit Mitte 30. Ihre Geschichten machen Mut und Lust, neue Wege zu gehen. Hier und jetzt.
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Seitenzahl: 267
Christine Färber, Simone UngerAlles auf Jetzt
Christine FärberSimone Unger
Frauen Mitte 30
über Kinder, Sexund Selbstverwirklichung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, März 2017
entspricht der 1. Druckauflage vom März 2017
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Cover: Stephanie Raubach, Berlin
eISBN 978-3-86284-380-0
ALLES AUF JETZT
Man muss mutig sein, selbst wenn man sich Mutnicht leisten kann.
Katarina, Galeristin, über Zweifel und Ängsteauf dem Weg zum Traumberuf
Ich bin nicht gut darin, eine Frau zu sein.
Inge, selbstständig, über die Entdeckung,attraktiv zu sein
Wenn ich morgens meine Katze anschaue,geht mein Herz auf.
Juliane spricht über die schwierige Entscheidung,auf eigene Kinder zu verzichten
Wuppertal ist nicht Indonesien.
Luiza will nur noch dort arbeiten, wo sie auchsurfen gehen kann
ZWISCHENSTATION
Es turnt mich an, wenn mein Mann mit eineranderen Frau schläft.
Edda, Lehrerin, über sexuelle Abenteuer im Familienalltag
Leggings waren mein Leuchtturm.
Stefanie, IT-Administratorin, über den Umgangmit dem falschen Körper
Raus aus Schmalkalden
Annika, Kulturwissenschaftlerin, über den Mut,als Karrierefrau das private Glück zu suchen
Mit Mitte 30 verliebt man sich anders.
Sarah, alleinerziehend, über die Herausforderung,aus zwei Familien eine zu machen
Und dann habe ich einfach losgelassen.
C., Inhaberin einer Modeboutique, fühlt sich inihrem Körper endlich zu Hause
Das hat sich angefühlt wie Folter.
Anne, Gynäkologin, über die Entscheidung,Nein zur Reproduktionsmedizin zu sagen
DIESE EINE HALTESTELLE
Ich dachte immer, ich hätte einen Plan B.
Steffi, freie Projektmanagerin, über den Mut,Schwächen anzunehmen
Ich möchte auch nicht den ganzen Tagmit meiner Mutter zusammen sein.
Anne erzählt vom Mutterdaseinin der westdeutschen Provinz
Ich renne oft herum wie Falschgeld.
Martina, Altenpflegerin, über den Alltag mitzwei Kindern, Schichtdienst und Baustelle
Ich wusste nicht, was es bedeutet, wenn jemand stirbt.
Lia, Stadtführerin in Marseille, hat ihre Schwester verlorenund den Mann fürs Leben gefunden
Ich fühle mich von der Welt getragen.
Katharina, Kunsttherapeutin, über das Glück der Veränderung
IM BAUMARKT
Dank
Über die Autorinnen
Eine leere Straße kurz nach Mitternacht: Der Asphalt ist an manchen Stellen aufgerissen, wir buckeln unsere Räder über die brüchigen Kanten. Wir mögen es, unsere Fahrräder zu schieben. Manchmal verhaken sich die Lenker, und wir straucheln. Doch wir sind Komplizinnen des Schiebens – egal wie misstrauisch man uns dabei beobachtet. Wir sind Mitte 30. Und wir mögen diese Art von Verspieltheit, die nichts Kindliches mehr an sich hat. Auf leichte Weise sind wir bereits verschroben, auch wenn man uns das noch nicht ansieht.
»Die 35 ist ein Drachen«, sagt die Komplizin. Wir sind auf dem Heimweg von einer Geburtstagsfeier. Wir waren fast die Letzten. Kaum jemand hat sich stark betrunken, niemand, der die Chips auch nur angerührt hätte. Geraucht haben wir schließlich in Socken im Hausflur. Ist der 35. Geburtstag das heimliche Ende unserer Jugend? Sollten wir ab jetzt keine kurzen Röcke mehr anziehen, bevor es peinlich wird? Uns vernünftig schminken, mehr Schmuck tragen und endlich heiraten, wen auch immer? Erwachsenwerden, meint sie das? Die Komplizin schüttelt den Kopf, dann hält sie plötzlich an und beugt ihn in meine Richtung. Siehst du das? Na klar. Wir haben schon mehr als ein paar graue Haare. Die Erfahrungen beginnen ihre Spuren zu hinterlassen. Wenn wir morgens aufstehen, braucht die Müdigkeit ein wenig länger, bis sie sich aus unseren Gesichtern schleicht. Und manchmal bleibt sie neuerdings den ganzen Tag. Wir sind noch nicht alt, und doch ein sichtbares klein wenig gealtert. Anders als noch mit Mitte 20, als wir die Grenzen unserer Körper genauso wenig spürten wie die Grenzen unserer Möglichkeiten, packt uns nun ein bislang unbekanntes Verlangen – eine Sehnsucht nach Entscheidungen. Weil wir zum ersten Mal begreifen, dass wir nicht mehr jung sind. Wir vertrauen nicht mehr darauf, dass sich alles von allein ergeben wird. Wir überlassen uns nicht mehr leichtfüßig dem Schicksal. Wir fürchten, andere könnten über unser Leben entscheiden, wenn wir die Dinge einfach laufen lassen. So kommt es, dass uns in dieser Herbstnacht ein kühler Hauch im Nacken streift bei dem Gedanken, dass unser Leben rein rechnerisch betrachtet schon fast zur Hälfte vorbei ist. Und wenn wir es jetzt nicht endlich in die Hand nehmen, wann dann?
Es war eine typische Pärchenparty. Manche von ihnen haben inzwischen ein Kind, andere sind gerade dabei, eins zu planen: »Wir passen einfach nicht mehr auf!« Wir fragen uns, ob es sich in diesem Kreise schickt, von Sex auch ohne Reproduktionsabsicht zu sprechen, und bleiben still. Andere haben ihre Wohnung vergrößert und erzählen, wie sie die Wand zur Nachbarwohnung durchbrochen haben. Das Geld reicht nicht, aber darüber wird nicht gesprochen. Ein anderes Paar, das sich vergangenes Jahr getrennt hat, ist offensichtlich wieder zusammen. Sie haben sich in der Sauna wiedergetroffen. Ich bin mir nicht sicher, ob die beiden Liebe mit Sicherheitsbedürfnis verwechseln. Aber wer kann das schon voneinander trennen: Gefühle und Bedürfnisse. Am Ende reden alle über selbstgemachte Marmelade. Vielleicht ist es nichts weiter als die ständige Angst, das echte, verdiente Leben zu verpassen, wenn wir jetzt keine Entscheidung fällen. Was uns auch antreiben mag: Vermutlich sind es doch die Taten, die zählen, und nicht die Motive.
Die Komplizin schiebt in Richtung Bordsteinkante. Wir sind fast zu Hause. Seit geraumer Zeit überlegt sie, ob sie noch einmal studieren soll. Psychologin wollte sie werden, mit Anfang 20, als sie Sigmund Freud gelesen hat. Sie studierte dann Germanistik, arbeitet jetzt als freie Journalistin und fühlt sich unterfordert. Das Gefühl, die wahren Talente noch gar nicht entdeckt zu haben, lässt sie schlecht schlafen im Moment. Aber jetzt noch einmal zur Uni gehen? In Seminarräumen hocken, Hausarbeiten schreiben, für Prüfungen lernen, immer umgeben von wesentlich Jüngeren? Von ihrem Traum bleiben im Moment nur die Zweifel übrig. Sie fragt sich, ob sie genug Willenskraft, Ausdauer und Geld aufbringen könnte für so einen zweiten Start. Man liest zwar ständig von verheißungsvollen Neuanfängen. Doch was passiert, wenn sie nicht gelingen? Darüber spricht niemand. Was also tun?
35 zu werden heißt, unsere Träume und Wünsche noch einmal genau anzuschauen. Es ist eine Zeit der Selbstfindung, die nichts mehr gemein hat mit jener jugendlichen Emphase Anfang 20, als die Zukunft groß, wild und vor allem sehr weit weg zu sein schien. Das Leben hatte da noch gar nicht richtig angefangen. Doch jetzt, mit Mitte 30, haben wir schon ein Stück des Weges hinter uns gebracht. Wir haben Entscheidungen getroffen und spüren deren Konsequenzen. Wir haben uns für einen Beruf entschieden, ein paar Reisen gemacht, mehrere Menschen geliebt, Freunde gefunden und manche aus den Augen verloren. Wir wissen, wie man umzieht und wo man anruft, wenn die Spülmaschine kaputt ist. Wir wissen, dass die Zeit erbarmungslos vergeht und mit ihr der Kummer, und können uns dennoch nie darauf verlassen. Wir haben uns vor Krankheit gefürchtet und vor permanenter Einsamkeit. Wir haben ein paar Chancen verpasst und ein paar genutzt. Und wir haben ziemlich genaue Vorstellungen davon, was wir auf keinen Fall sein wollen: abhängig.
Aber wie gelingt es uns, Verantwortung für unser Glück zu übernehmen? Diese Frage stellt sich mit Mitte 30 auf eine aufregend pragmatische Art. Denn »verantwortlich« zu sein heißt, sich selbst inzwischen gut genug zu kennen, um zu wissen, dass der Traum vom selbst ausgebauten Gemeinschaftshaus besser ein Traum bleibt, wenn man keine Lust hat, in den besten Jahren zwischen Gipsplatten und Dixiklo zu hausen. Verantwortlich zu sein bedeutet einschätzen zu können, ob man auch in fünf Jahren noch gern in eine Wohnung nach Hause kommt, in der niemand wartet. Und es heißt auch einzuschätzen, wie glücklich wir sein können, gerade wenn sich unser individueller Lebensentwurf von der konventionellen Glücksvorstellung einer harmonischen Kleinfamilie unterscheidet. Natürlich klingt es verlockend, mit 35 die Koffer zu packen und nach New Orleans zu ziehen. Natürlich kann es toll sein, einen Neuanfang zu wagen, sich den Traum vom eigenen Modelabel oder vom Leben als Reisejournalistin zu verwirklichen. Doch sind wir diesen Träumen überhaupt gewachsen? Welche Träume wollen wir verwirklichen und welche sollten wir besser weiter träumen? Oder sollten wir doch alles wagen, ohne Rücksicht auf die Angst vor dem Scheitern? Nur: Wie greift man nach den Sternen?
Natürlich liegen all diese Fragen mehr oder weniger immer auf dem Tisch, unabhängig vom Alter. Doch als wir in dieser Novembernacht auf dem Weg nach Hause sind, spüren wir eine bislang unbekannte Dringlichkeit. Zum ersten Mal packt uns das Gefühl, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, wenn wir unsere Träume erfüllen wollen. Das klingt apokalyptisch und übertrieben und ja, vielleicht sind wir auch noch ein wenig berauscht vom Wein. Doch wir können nicht verleugnen, dass uns allmählich eine der wichtigsten Fragen im Leben einer Frau bedrängt: Wollen wir Mütter sein?
Jede Frau, die jetzt noch keine Kinder hat, wird mit dieser Frage konfrontiert. Egal ob sie beim Frauenarzt zur Routineuntersuchung gehen muss oder mit ihren Kolleginnen in der Kantine sitzt. Ohne Kinderwunsch befinden sich Frauen mit Mitte 30 langsam jenseits der gefühlten Norm. Und die Situationen, in denen die Gesellschaft uns dieses Anderssein spiegelt, häufen sich jetzt merklich. Die Eltern hoffen, die Kolleginnen ermuntern, die Freundinnen zweifeln vielleicht auch, sind unsicher. Auch wenn sie nicht ausgesprochen werden, so sind sie doch präsent, die Erwartungen, die an das »natürliche Wesen der Frau« gestellt werden. Schließlich nimmt die Fruchtbarkeit ab 35 rapide ab, der Stoffwechsel verlangsamt sich. Der Körper produziert weniger Hormone. Wer jetzt noch kinderlos ist, muss sich Gedanken machen, wie stark der Wunsch wirklich ist oder wie er sich ganz konkret erfüllen lässt.
Am Anfang dieses Projektes stand die These, dass die meisten Frauen mit Mitte 30, unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungs- und Familienstand, an einem ganz besonderen Punkt in ihrem Leben stehen. Denn die Themen, die verhandelt werden, sind weniger individuell, als die Biografien vermuten lassen. Und dabei geht es nicht nur um die Frage, ob wir unser Leben mit Kindern oder ohne gestalten, sondern auch darum, wie wir uns in den besten Jahren wahrnehmen und fühlen. Wir haben Frauen getroffen, die sich mit Mitte 30 erst von ihren Eltern und deren Erwartungen gelöst haben. Frauen, die sich vom Idealbild als Mutter und erfolgreiche Karrierefrau verabschiedet haben. Frauen, die nicht länger auf einen günstigen Moment hofften, sondern ihren beruflichen Traum in Angriff genommen haben – obwohl er finanzielle Unsicherheit bedeutet. Wir haben Frauen kennengelernt, die im falschen Körper geboren wurden, und Frauen, die mit Mitte 30 auf ein zweites Wunder hoffen.
In diesem Buch kommen 15 Frauen aus ganz Deutschland zu Wort. Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und mit unterschiedlicher Herkunft. Egal ob aus Halle oder Hannover, als kinderlose Akademikerin oder alleinerziehende Versicherungsangestellte. Wichtig war allein, dass unsere Gesprächspartnerinnen von einer Veränderung erzählen: Sei es im Beruf oder in der Familie. Sei es das Verhältnis zu den Eltern oder das Gefühl für den eigenen Körper. Sei es das Jahr der Trennung oder der Versöhnung. Wir haben keine feste Vorauswahl getroffen und keinen standardisierten Fragenkatalog entworfen. Wir haben nur darauf geachtet, dass alle Frauen tatsächlich genau Mitte 30, also 35 Jahre alt sind, aus verschiedenen Regionen kommen und verschiedene Berufe erlernt haben. Dass es am Ende gerade diese 15 geworden sind, hat vor allem mit dem Vertrauen zu tun, das sie uns entgegengebracht haben. Ein Vertrauen, das entweder über den persönlichen Kontakt entstanden ist oder auch über den Wunsch, mit einem solchen Buch andere Frauen spüren zu lassen, dass man mit den Ängsten und Zweifeln in diesem Lebensabschnitt nicht allein ist.
Egal welche Aspekte es sind, die jene Frauen beschäftigen, hier sollen sie sich äußern, wie sie ihr Leben mit Mitte 30 wahrnehmen und welche Herausforderungen auf sie gewartet haben. Diese Gespräche sollen nichts beweisen und nichts aufklären, sondern ein vielschichtiges Bild von Frauen in dieser Umbruchzeit zeigen. Es ist ein Buch, dem man beim Lesen insgeheim die eigene Geschichte hinzuzufügen beginnt und so in Resonanz tritt zu den persönlichen Vorstellungen von einem gelingenden Leben.
Wir sind nur zwei von vielen. Von knapp 500 000 Frauen, die laut Statistischem Bundesamt gerade 35 Jahre alt sind. Unsere Lebenswege, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste sind nicht repräsentativ für eine gesamte Generation. Und dennoch haben uns viele Frauen, mit denen wir gesprochen haben, zu diesem Buch ermutigt. Die meisten von ihnen teilen die Erfahrung, dass gerade das 36. Lebensjahr ein besonderes ist. Es ist vielleicht eine Art Schwitzhütten-Jahr, ein Jahr der Einkehr in die eigene Gefühlswelt, zurück zu den Träumen, die wir als Jugendliche hatten, hin zu jenen Wünschen, mit denen wir uns bis jetzt kaum befasst haben, weil die Zeit dafür noch nicht reif war. Es ist eine Phase des Nachdenkens darüber, was wir vorhaben in einem Leben, das in diesem Moment so prächtig vor uns liegt wie vielleicht niemals zuvor und niemals wieder.
Katarina wohnt allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung in München. Als sie hier eingezogen ist, war sie noch mit ihrem Freund zusammen. Es war die erste gemeinsame Wohnung. Jetzt ist das Wohnzimmer ein Show-Room, denn statt Fenstern hat der große Raum ein Schaufenster und eine Glastür, die direkt vor das Haus auf den Gehweg führt. Im Sommer stellt sich Katarina eine Bank dorthin. Hier sitzt sie dann in der Sonne und raucht. An einem Samstag im Winter unterhalten wir uns lange in der kleinen Küche, drehen dabei viele Zigaretten, trinken Tee und essen Bananen. Katarina hat sich für das Interview ausnahmsweise frei genommen. Sie trägt Brille und einen hellgrauen Kapuzenpullover. Während wir sprechen, klingelt zwei Mal ihr Handy. Auch am Wochenende muss sie jederzeit ansprechbar sein. Es ist das erste Mal, stellt Katarina während unseres Gesprächs mehrfach erstaunt fest, dass sie ihren Werdegang chronologisch erzählt. Auch sie ist überrascht, in wie vielen verschiedenen Jobs sie schon gearbeitet hat. 1989 ist sie mit ihren Eltern und zwei Koffern aus Polen nach Deutschland eingewandert. Als erste Frau in der Familie schrieb sie sich nach dem Abitur an der Universität ein. Doch schnell merkte sie, dass sie das Übersetzungsstudium nicht glücklich machte. Sie brennt für die Kunst. Kurz vor ihrem 35. Geburtstag kündigt sie ihren sicheren Job und macht sich mit einer eigenen Galerie selbstständig.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wollte ich Balletttänzerin werden. Ich habe meine Eltern regelrecht dazu getrieben, dass sie mich mit vier Jahren in die Ballettschule geschickt haben. Wir hatten eine sehr strenge Ballettlehrerin, so wie man sie sich aus Filmen vorstellt. Ich hatte totale Angst vor ihr, bin aber trotzdem gern hingegangen. Dreimal die Woche. Als wir dann im April 1989 nach Deutschland gekommen sind, konnten sich meine Eltern den Ballettunterricht nicht mehr leisten. Da habe ich gelitten.
Ich komme aus Südpolen, Schlesien, aus einem 2000-Seelen-Dorf. Es ging uns gut dort. Wir hatten ein wunderschönes Haus mit einem großen Anwesen, viele Tiere. Ich hatte eine sehr unbeschwerte Kindheit. Meine Eltern waren beide beruflich aktiv. In Deutschland haben sie bei null angefangen. Wir konnten ja nichts mitnehmen. Das war vor der Wende, und es durfte niemand mitkriegen, dass wir dauerhaft auswandern. Wir sind mit dem Nötigsten nach Deutschland, nach Bocholt, gekommen. Mein Vater hat jeden Job angenommen, damit Geld reinkommt. Am Anfang haben wir bei meinen Großeltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung gewohnt. Meine Großeltern waren Deutsche, und wir waren sogenannte Spätaussiedler. In unserer ersten Wohnung war nichts außer einem Teppich. Geld spielte eine wahnsinnig große Rolle, weil es nie da war.
Meine Mutter hat als Übersetzerin gearbeitet und vorgeschlagen, dass ich das auch machen könnte. Ich fand das sehr reizvoll, eine Sprache und Landeskunde zu studieren. Die Sprachen waren klar: Polnisch und Englisch. 1999 konnte man das in drei Städten studieren. Ich wollte nach dem Abitur so weit weg wie möglich. Die Wahl fiel auf Leipzig. Ich erinnere mich noch, wie ich in Leipzig aus dem Zug gestiegen bin und gedacht habe: Ich will in diese Stadt.
Bei uns in der Familie war es meine Großmutter, die den Clan zusammengehalten hat. Das hat sie auch gut gemacht. Sie war diejenige, die ganz konkrete berufliche Vorstellungen für mich hatte. Ich sollte Krankenschwester oder Altenpflegerin werden. Und da hat sie vor allem an sich gedacht, denn das wäre praktisch gewesen, jemanden in der Familie zu haben, der sich um die Alten kümmern kann. Und als ich aus Bocholt weggegangen bin, hat das zum Bruch geführt. Dieses Studium. Als ich im zweiten Semester gemerkt habe, dass das Übersetzen nicht das Richtige ist, war ich in der Klemme. Meine Eltern haben mich ja finanziell unterstützt. Mein Vater hatte noch einen zweiten Job angenommen. Da bricht man das Studium nicht einfach so ab. Ich war unheimlich desillusioniert. Das Studium war sehr ernüchternd, weil vor allem Vertragstexte übersetzt wurden. Autohandbücher oder Vertragstexte. Ich hätte diese Kurse eher bestanden, wenn ich ein Praktikum in der Autowerkstatt gemacht hätte. Und dann gab es für mich eine schicksalhafte Begegnung im Polnisch-Kurs. Das war mit einer Kommilitonin, die eigentlich Schauspielerin werden wollte. Sie hatte diesen ganzen Marathon an Vorsprechen hinter sich und wurde nicht genommen. Also hat sie angefangen, Slawistik zu studieren. Wir hatten beide das Gefühl, wir sind hier falsch. Und über sie habe ich Leute kennengelernt in Leipzig, die an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert haben. Und plötzlich habe ich die Abende mit Leuten verbracht, die eine ganz andere Sicht auf die Dinge und eine andere Lebensweise hatten. Für mich, die aus einem kleinen polnischen Dorf kam, war das wie eine Offenbarung.
Ich war wie ein Schwamm, der alles aufgesogen hat. Ich fand ihren Blick aufs Leben faszinierend, nicht in geordneten Bahnen zu denken, mit Bausparvertrag ab der zehnten Klasse. Das waren Leute, denen andere Sachen wichtig waren, ohne Statusdenken, es ging um Intellektualität, um Kunst. Und das hat mich zutiefst beeindruckt, weil ich in dem Moment wusste: Diese Leute will ich in meinem Leben, an diesen Menschen will ich mich orientieren.
Als ich 2000 zum Studium nach Leipzig kam, war die Stadt noch nicht sehr populär. Von meinen ehemaligen Mitschülern hatte ich eine Kiste Bananen zum Abschied gekriegt. Niemand konnte nachvollziehen, warum man in den Osten geht. Aber hier gab es diese wunderschönen Altbauwohnungen: 160 Quadratmeter, teilsaniert für eine lächerliche Miete, und natürlich konnten sich dann zwei Kunststudenten so eine Wohnung leisten. Ich habe zum ersten Mal Designermöbel gesehen, die zusammengekauft worden waren für ganz wenig Geld. Habe zum ersten Mal Wände ohne Raufasertapete angefasst. Und so absurd und albern das klingen mag: Das hat mich total beeindruckt. Ich kannte ganze Wohnzimmerlandschaften, in denen alles aus einem Guss war. Und plötzlich sah so eine eklektische Mobiliar-Zusammenstellung total gut aus.
Nach der Begegnung mit dieser Kommilitonin und den ersten Kontakten mit den Künstlerkreisen fingen auch die Ausstellungsbesuche an. Mir war sofort klar, dass ich einen Ausgleich zu diesem unheimlich uninspirierten Studium finden musste. Also fing ich an, Praktika zu machen. Ich habe mein erstes Erasmusjahr genutzt, um nach Krakau zu gehen, und war in dem Jahr drei Mal an der Uni, denn ich habe die ganze Zeit ein Praktikum im Goethe-Institut gemacht. Das war eine sehr wichtige Zeit für mich. Ich habe mich ja nie damit auseinandergesetzt, was man in diesen Bereichen beruflich machen könnte. Ich kannte nur das Bild des brotlosen Künstlers. Aber dass es da Kunsthistoriker gibt, dass es da Museums- und Institutsleute gibt, das war mir nicht klar. Und der Leiter des Goethe-Instituts hat mich zum Glück sehr bestärkt, diesen Weg weiter zu gehen. Er sagte: »Mach dein Studium weiter, aber versuche parallel deine Fühler auszustrecken.« Und als ich dann aus Krakau wiedergekommen bin, war klar, dass ich das weitermachen will.
Für mich hat sich nie die Frage gestellt, ob ich Künstlerin werde. Nie. Da fehlt mir echt was. Das einzig Kreative, was ich jemals gemacht habe, war Seidenmalerei. Ich bin zwar ein kreativer Mensch, aber um wirklich mit Leib und Seele Künstler zu sein, reicht es nicht. Das ist nichts, was man annimmt, sondern das ist da, naturgemäß gegeben. Ein Künstler hat keine Wahl. Das sind hochbegabte, hochsensible Menschen. Ich bin tatsächlich eher unaufgeregt.
Zurück in Leipzig hatte ich noch ein halbes Jahr Erasmus übrig. Italien hatte mich immer fasziniert, und da dachte ich dann: Gehst du nach Italien, lernst du Italienisch. Dort habe ich ein Praktikum in der Villa Massimo gemacht. Das war schon ziemlich am Ende des Studiums, ich hatte bereits die ersten Diplomprüfungen abgelegt. Nach zwei Monaten haben wir erfahren, dass die Chefsekretärin der Villa Massimo schwanger war und auf Grund von Komplikationen nicht mehr arbeiten konnte. Ihre Stelle wurde ausgeschrieben, und ich wurde auf ihren Stuhl gesetzt. Da habe ich natürlich auch die Bewerbungen für diese Stelle gesehen. Die Frist verstrich aber, und ich habe mich gewundert, warum niemand eingeladen wurde. Bis die stellvertretende Direktorin zu mir kam und mich ganz salopp fragte, wo meine Bewerbung bliebe. So habe ich die Stelle bekommen und zwei Jahrgänge der Stipendiaten mitverfolgt: Architekten, Literaten, Musiker, bildende Künstler. Das war eine tolle Zeit für mich, in der ich viele interessante Menschen kennengelernt habe. Auch das habe ich wieder wie ein Schwamm aufgesogen, weil sich plötzlich für mich ein Berufsfeld ausgebreitet hatte, das ich auch nicht auf dem Schirm hatte – und das war der Beruf des Galeristen.
Ich bin nach Leipzig zurückgegangen, habe mir eine Wohnung gesucht und wollte wieder studieren. Nach vier Monaten bekam ich einen Anruf aus Rom vom Leiter der Villa Massimo. Er sagte, dass ein befreundeter Galerist nach Berlin zieht und Mitarbeiter sucht. Und wenn mir das wirklich ernst wäre mit dem Job, sollte ich da hingehen, egal wo ich gerade in meinem Leben stehe. Ich habe aufgelegt und mich gefragt, wie ich diese Entscheidung meiner Familie mitteilen kann. Ich war wahnsinnig aufgeregt vor dieser Konfrontation, hatte große Angst. Ich hatte dieses Gespräch acht Jahre vor mir hergeschoben. Das war für mich wirklich sehr schwer. Aber das Gute war, dass meine Eltern schon bemerkt hatten, dass mein Herz für etwas anderes schlägt als für den Beruf des Übersetzers. Die sind also nicht schockiert vom Glauben abgefallen, aber sie waren natürlich besorgt. In Polen ist es ja so, dass das Studium ein unglaubliches Ansehen hat. Es gab die Arbeiter der Faust und die der Stirn, und zu den Arbeitern der Stirn hat man immer hochgeschaut. Die hatten so eine Aura der Autonomie und des Respekts. Und meine Eltern haben gedacht »wenn sie das Studium in der Tasche hat, hat sie ausgesorgt«. Und ich habe ihnen immer erklärt, dass die Situation hier nicht die ist, die sie kennen. Und jetzt war ich plötzlich nur eine Abiturientin ohne Abschluss. Aber ich hätte das Studium keinen einzigen Tag länger ausgehalten. Meine Eltern waren für mich überraschend verständnisvoll, aber als meine Entscheidung der ganzen Familie mitgeteilt wurde, war das unschön. Trotzdem war das ganz wichtig für mich. Denn zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich für etwas einstehe, was ich unbedingt will. Und da war ich schon 27 Jahre alt. Ich hatte endlich für mich etwas gefunden, das ich wirklich machen wollte: Selbst wenn ich auf kein Familienfest mehr hätte kommen dürfen, ich hätte es riskiert.
Und dann bin ich nach Berlin gegangen und habe angefangen in dieser Galerie zu arbeiten. Die ersten Wochen und Monate waren sehr turbulent, weil ich mich da erst mal zurechtfinden musste. Ich musste quasi privat nebenbei noch Kunstgeschichte studieren, denn es kam am Anfang oft vor, dass die Besucher der Ausstellungen mehr über den Künstler wussten als ich. Ich musste mir sehr viel anlesen. Aber bei allen Schwierigkeiten, die ich im Job hatte, ist das nicht ins Gewicht gefallen. Ich habe mich in dieser Zeit wunschlos glücklich gefühlt. Es war klar, dass ich damit endlich die Möglichkeit bekam, das zu machen, was ich toll finde. Dabei war das ein riskanter Schritt. Es hätte auch sein können, dass mir nach zwei Wochen gekündigt wird, weil ich für die Arbeit ungeeignet bin. Ich hatte das vorher noch nie gemacht, das war alles vollkommen offen. Und dann hätte ich dagestanden – ohne alles. Das war ein Risiko, das war mir die ganze Zeit bewusst.
Ich habe knapp zwei Jahre dort gearbeitet. Ich hatte so eine große Freude daran entwickelt, mit Leuten über Kunst zu reden und auch zu sehen, wie Leute auf Kunst reagieren. Ich habe in den Jahren gemerkt, dass es kein Qualitätskriterium ist, ob jemand alles weiß oder nicht. Entscheidend ist, mit welcher Neugier und Wissbegierde man an eine Sache herangeht. Die wenigsten wissen, was gesunde Demut ist. Einen Respekt gegenüber den Dingen zu haben, die jemand schon geleistet hat, und zu wissen, wer man ist, was man kann und was man nicht kann und sich für eine Sache zu interessieren.
Warum bin ich gut in dem, was ich tue? Diese Frage habe ich mir so noch nie gestellt. Ich bin unglaublich empathisch – ich kann sehr sensibel auf Menschen reagieren. Ich kann sehr schnell Stimmungen und Schwingungen wahrnehmen, ich kann schon im Vorfeld erkennen, wo ein Konflikt entstehen könnte, und das ist in der Zusammenarbeit mit Künstlern von Vorteil. Denn so lässt man gar keine Situationen entstehen, in denen sie überfordert sind. Das garantiert aber natürlich nicht die Freude am Beruf. Nur weil man empathisch ist, heißt das ja nicht, dass man etwas zurückgewinnt. Für mich garantiert die langfristige Freude, dass Künstler etwas machen, was ich für mein Leben unglaublich bereichernd finde. Das hat sich entwickelt, das ist eine gewachsene Liebe, und ich bin so dankbar dafür, dass ich diese Möglichkeit bekommen habe, mir das zu erschließen.
Dass ich eine Frau bin, ist in dieser Branche nicht von Vorteil. Charme und Sexappeal sind vielleicht verkaufsfördernd, aber im Alltag eher ein Nachteil. Es ist schon erschreckend zu sehen, wie identisch die Galerien überall strukturiert sind: Es gibt den Galeristen und um ihn herum eine Schar von Frauen, die Mitarbeiterinnen. Wenn du als Frau in einer Galerie arbeitest, fragst du dich automatisch: »Was ist meine berufliche Perspektive?« Denn in jungen Galerien hast du in einem bestimmten Alter nichts mehr verloren. 2012 habe ich mich entschieden, nach München zu ziehen. Aus privaten Gründen. Da sind meine Eltern auf die Barrikaden gegangen, und wir haben uns wirklich gestritten. Das war natürlich zum einen die finanzielle Unsicherheit, und zum anderen entschied ich mich für einen Mann, mit dem sie nicht einverstanden waren. Ich bin auf keinen Fall mit einem leichten Gefühl gegangen. Zum ersten Mal habe ich keine berufliche, sondern eine private Entscheidung getroffen, und das war mit massiver Verunsicherung verbunden. Ich hatte zwar eine bestimmte Selbstsicherheit im Beruf erlangt, aber überhaupt keine Selbstsicherheit bei privaten Entscheidungen. Davor hatte ich große Angst.
Ich habe alles auf eine Karte gesetzt. Ich hatte gekündigt, ohne in München einen Job in Aussicht zu haben. Mein Beruf war mir auch zu diesem Zeitpunkt wahnsinnig wichtig, aber ich hatte jahrelang eine Fernbeziehung geführt. Der Klassiker München – Berlin. Ich hatte gemerkt, dass die Beziehung an einem Punkt angekommen war, an dem es nicht weiterging. Wir hatten zwar als Paar alles ausgeschöpft, was innerhalb so einer Fernbeziehung möglich ist, aber bestimmte Sachen waren nie möglich. Dieser Zustand hielt schon einige Zeit an, und es war klar, wenn ich das auf eine ernsthafte Ebene heben möchte, komme ich nicht darum herum, diesen Schritt zu wagen. Und es war ganz klar, dass ich mich entscheiden muss. Wenn ich diese Beziehung will, muss ich nach München gehen. Er hatte zwei kleine Kinder und war gebunden.
Parallel zu meiner beruflichen Laufbahn hatte ich immer den Wunsch nach einer Beziehung und – sicher auch von zu Hause anerzogen – ein bestimmtes Familienbild, was ich auch gern in meinem Leben etablieren wollte. Ich habe mit 32 zum ersten Mal den Wunsch verspürt, beides in meinem Leben zu haben. Es ging da noch nicht um Kinder, aber wenigstens darum, für uns beide ein Zuhause zu schaffen.
Als ich dann in dem Auto Richtung München saß, war klar, dass es kein Zurück gibt. Ich fuhr nicht nur privat, sondern auch beruflich in eine unsichere Zukunft. Ich wusste überhaupt nicht, was mich erwartet, und so bin ich hier angekommen. Wir haben zusammen eine Wohnung bezogen, ich habe versucht einen Job zu finden. Das war sehr schwer, denn ich hatte keine Kontakte in München, ich konnte mit meinem Netzwerk aus Berlin und Leipzig hier nichts anfangen. In München gibt es knapp 80 Galerien, und der Großteil handelt mit moderner oder klassischer Kunst. Eher Kunsthandel. Es gibt nur wenige interessante zeitgenössische Galerien und kaum Stellenausschreibungen. Damit ich nicht in finanzielle Nöte käme und der Traum nicht schon vorbei war, bevor er überhaupt angefangen hatte, habe ich jeden nur denkbaren Job gemacht. Office, Sekretariat, auf alles habe ich mich beworben. Aber ich habe schnell gemerkt, dass alles, was man mir in Berlin als Vorteil ausgelegt hat, hier nur schlecht für mich ist. In den Bewerbungsgesprächen fand man es eher befremdlich, dass ich bisher alle zwei Jahre den Job gewechselt hatte und deshalb keine kontinuierliche Arbeitspraxis nachweisen konnte. Ich hatte keinen Studienabschluss. Und da habe ich schnell gemerkt, dass München anders funktioniert.
In der Zeit habe ich natürlich meine Entscheidung massiv hinterfragt. Klar hatten mein Freund und ich einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt, aber ich wusste nicht, wovon ich die Rechnungen bezahlen sollte. Plötzlich haben unsere Gespräche eine andere Schärfe und Dringlichkeit bekommen. Da hat man sich relativ schnell und instinktiv positionieren müssen. Das war für mich in der Rückschau der Anfang vom Ende meiner Beziehung. Ich habe gemerkt, dass meine Erwartungen und Hoffnungen, die ich mit meinem Umzug verknüpft hatte, nicht mit mir Fuß fassen konnten.
In diesen ersten Monaten in München war ich total isoliert. Ohne Familie, Freunde und Job. Das war eine Einsamkeit, die offenbar auch mehr und mehr in meiner Beziehung herrschte. Das hat sich etwas entspannt, als ich nach fünf Monaten durch Glück und Zufall einen Job in einer Galerie gefunden habe, die es schon seit den siebziger Jahren gibt. Dort wurde tatsächlich noch auf der Schreibmaschine getippt. Es gab keine Datenbank, alle Adressen waren auf Karteikarten notiert, jegliche Korrespondenz wurde auf der Schreibmaschine mit Durchschlag geschrieben. Ich mochte das Geräusch, wenn die Schreibmaschine geklackert hat, es hat mich immer sehr beruhigt, aber ich wusste natürlich auch, was da die Herausforderung und meine Aufgabe ist.
In dieser Galerie stand damals die Unternehmensnachfolge im Raum. Je länger ich dort gearbeitet und diese Umstrukturierung vorangetrieben habe, desto mehr bin ich in das Blickfeld als potentielle Kandidatin geraten. Da war ich 34 Jahre alt. Und das hatte dann tatsächlich auch etwas mit meinem Alter zu tun. Ich fragte mich plötzlich: »Wo siehst du dich in fünf Jahren?« Das hatte ich zuvor nicht gemacht, da war es immer nur ums Lernen gegangen. Aber bei diesem Job habe ich gemerkt, dass ich zum ersten Mal alles Gelernte anwende. Ich habe gespürt, dass ich am Ende meiner Ausbildung bin. Ich habe plötzlich eine neue Selbstsicherheit in meinen Entscheidungen gefühlt, auch wenn das teure Entscheidungen waren. Aber ich habe gemerkt, dass ich kompetent bin. Ich habe nicht mehr nur alles wie ein Schwamm aufgesaugt, sondern aktiv gestaltet, und es hat sich die Frage gestellt, was ich damit machen will. Es war klar, dass ich das zeitnah entscheiden muss. Denn etwas Neues aufzubauen, bedarf Zeit und vor allem Energie. Und zu dem Zeitpunkt war ich noch in meiner Beziehung. Und ich musste auch die Kinderwunschfrage berücksichtigen. Denn anders als mit 20 fühlt sich mit Mitte 30 nicht mehr alles ewig an. Man hat plötzlich ganz konkrete Zahlen im Kopf und weiß, man muss sich jetzt entscheiden, wo man seine Energie reinstecken will.
All die Jahre war ich immer der Jungspund gewesen, und plötzlich merkte ich, dass es eine Generation unter mir gab. Leute, die jünger sind, die am gleichen Punkt im Leben stehen, beruflich oder privat, und die schon an mir vorbeigezogen sind. Das hatte ich vorher nie bewusst wahrgenommen. Hinzu kam, dass ich beruflich und privat nicht zufrieden war. Es war eine Zeit, in der ich nicht mehr bereit war, ungeachtet meiner eigenen Ressourcen und Kräfte nur noch zu investieren. Es musste etwas dazukommen, sonst wären