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In den sterilen Gängen des Blatikmünder Universitätsklinikums, besser bekannt als der "Bunker", entfaltet sich die Geschichte einer jungen Frau, die zwischen Berufung und Selbstbehauptung ihren Weg sucht: Luciana, frisch im ärztlichen Dienst, meistert den Alltag der neurologischen Normalstation mit Witz und Charme. Doch der Wechsel zur Schlaganfallstation und in die Notaufnahme bringt einen wahren Sturm an Zeitdruck, Leistungsansprüchen und emotionalem Stress mit sich. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge versucht Luciana, sich inmitten des Chaos zu behaupten. In "Alles hat seine Geschichte" erleben LeserInnen eine aussagekräftige Reise durch die Absurditäten des Krankenhausalltags. Mit scharfem Blick und einfühlsamer Feder entführt Autorin Deyanira Vollgas hinter die Kulissen des Gesundheitssystems. »Alles hat seine Geschichte ist richtig schön zu lesen, auch wenn man wie ich keinen medizinischen Hintergrund hat. Die Kapitel sind wie Reels, die man auf Instagram anschaut und bei denen man sich immer gleich das nächste genehmigen will. Es ist kurzweilig, lustig und mit sehr viel Liebe zum Detail. Ich bin begeistert und will mehr!« (Annika F., langjährige Schulfreundin der Autorin)
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Seitenzahl: 154
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Deyanira Vollgas schreibt seit dem neunten Lebensjahr Gedichte, Fabeln und Kurzgeschichten. Sie liebt Redewendungen, besonders wenn sie zwar noch erkennbar, aber doch irgendwie falsch sind. Sie führt eine Liste mit vom Aussterben bedrohten Wörtern und versucht, diesen in ihrem täglichen Sprachgebrauch wieder Leben einzuhauchen. Ihr Lieblingswort ist Pfropf.
Sie ist promovierte Ärztin und lebt an der Ostsee.
Hay sonrisas que no son de felicidad, sino una manera de llorar con bondad.Gabriela Mistral (poeta chilena con premio de nobel de literatura)
Es gibt ein Lächeln, das kein Lächeln des Glücks ist, sondern eine Art, mit Güte zu weinen.Gabriela Mistral (chilenische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin)
1. Die Geschichte des verlorenen Weins
2. Die Geschichte der richtigen Denkhaltung
3. Die Geschichte des all montäglichen Blickduells
4. Die Geschichte des Erngos
5. Die Geschichte der zweisekündigen Verwirrtheit
6. Die Geschichte der heiligen Kombinationen
7. Die Geschichte der Maultasche
8. Die Geschichte des Dankes und des Undankes
9. Die Geschichte des einstweiligen Stationsabschieds
10. Die Geschichte der saisonalen Depression
11. Die Geschichte der gestohlenen sechzig Jahre
12. Die Weihnachtsgeschichte
13. Die Geschichte des Teslas
14. Die Geschichte der blauen Kaffeemaschine
15. Die Geschichte des Laserkampfs
16. Die Geschichte des Benjamins
17. Die Geschichte des passenden Abgangs
18. Die Geschichte des Feierabends
19. Die Geschichte der Telefon-Kaffee-Dates
20. Die Geschichte des Feuers und der FOMO
21. Die Geschichte wie der Stift zu seinem Namen kam
22. Die Geschichte des heiligen Antonius
23. Die Geschichte des Kommunikationsfehlschlagsberichts
24. Die Geschichte um Leben und Tod
25. Die Geschichte der M&Ms
26. Die Geschichte des Extra-Käses
27. Die Geschichte des Multi-Taskings
28. Die Geschichte der Wirtschaftlichkeit
29. Die Geschichte der Softskills
30. Die Geschichte der Ruhe vor dem Sturm
31. Die Geschichte des Sturms
»Kennen Sie die Geschichte?«, fragte der schwedischdeutsche Patient in Zimmer sechs die chilenisch-deutsche Ärztin Luciana. Sie nickte bedächtig und mit einem Lächeln auf den Lippen, welches – wie sie hoffte – trotz ihres Mundschutzes zu erkennen war.
»Kennen Sie die Geschichte vom verlorenen Wein?«, hakte Herr Eriksson erneut nach. Natürlich kannte Luciana die Geschichte. Schon von klein auf hatte ihr Vater Artemio Vallejos Mella, ein chilenischer Flüchtling des Pinochet-Regimes, ihr die Bedeutung der Herkunft oder auch der Geschichte von Dingen klar gemacht. Er hatte ein Faible für solche Fun-Fakts, auch wenn er selbst dieses Wort noch nie benutzt hatte. Konträr zu den unzähligen Anglizismen, die in der deutschen Gesellschaft kursieren, war sein Wortschatz eher romanisch oder gar chilenisch geprägt. So bezeichnete er sich selbst zum Beispiel als "cosista", also als jemanden, der zwar nur wenige materielle Dinge besitzt, aber sehr an diesen hängt und ihnen eine besondere Bedeutung zumisst. Und wie könnte man eine solche Bedeutung besser verpacken als in einer Geschichte?
Die Geschichte des verlorenen Weins war eine seiner Lieblingsgeschichten, die Artemio Vallejos Mella bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Besten gab. Und die Gelegenheit ergab sich jedes Mal, wenn im Hause Vallejos Mella eine Flasche Carménère geöffnet wurde.
Der Carménère ist eine sehr alte und ursprünglich französische Weinrebe, welche ihren Weg Mitte des 19. Jahrhunderts bis nach Chile fand. Wie es der Zufall so will, wurde nur wenige Jahre später der gesamte Carménère-Bestand Europas vollständig durch Schädlingsbefall zerstört. Diese Katastrophe sollte später als Reblausplage in die europäische Weingeschichte eingehen. Indes begann die verzweifelte Suche nach den südamerikanischen Überlebenden der Rebe, doch vergebens. Der Carménère war in Chile in Mischkultur mit der ihm zum Verwechseln ähnelnden Merlot-Rebe angebaut worden und wurde nun für ebendiese gehalten. Er schien endgültig verloren. Gleichzeitig konnte sich keiner den außerordentlichen Geschmack des chilenischen Merlots erklären…
Erst neunzehnhundertvierundneunzig, ein Jahr nach Lucianas Geburt, konnte ein französischer Rebenkundler mittels DNA-Analyse den Carménère und den Merlot in Chile voneinander unterscheiden und der verlorene Wein ward gefunden.
»Der verlorene Wein, wie hieß er noch mal? Ich habe ihn so oft in meinem Urlaub dort unten getrunken.«
Herr Eriksson ließ nicht locker.
»Carménère«, half Luciana dem Patienten weiter, »und ja, ich kenne die Geschichte«.
»Ah der Carménère, richtig. Einfach fantastisch...«
In diesem Moment betrat Frau Eriksson den Raum und sah sich in Zimmer sechs um.
»Mein Liebling, wie schön, dass du hier bist«, wurde sie von ihrem Mann begrüßt. »Sieh nur, dies hier ist Frau Vallejos, meine chilenische Ärztin.«
Luciana sah über die etwas seltsame Vorstellung hinweg und begrüßte Frau Eriksson mit einem freundlichen Nicken.
»Dann lasse ich Sie mal mit Ihrem Besuch allein«, nutzte sie die Gelegenheit, um sich aus Zimmer sechs zu schleichen. Sie hatte noch einiges zu tun.
Seit circa einem halben Jahr arbeitete Luciana nun schon als Assistenzärztin in der Klinik für Neurologie am Blatikmünder Universitätsklinikum, liebevoll auch "BUnK" oder – etwas weniger liebevoll, dafür jedoch treffender – "Bunker" genannt. Sie hatte sich nach einer Reihe an Bewerbungen für den Bunker entschieden, da er trotz der beachtlichen Größe von insgesamt fünfzehntausend Betten ein familiäres Miteinander ausstrahlte. Dass diese Familie eher dysfunktional war, würde sie erst im Verlauf einsehen.
Luciana überflog mit geübtem Blick ihr Klemmbrett. Sie hatte noch zwei Lumbalpunktionen1, eine Neuaufnahme und mehrere Angehörigengespräche zu erledigen. Außerdem wartete sie noch auf die Durchführung einiger Konsile, also Beurteilungen und Beratungen durch Ärztinnen anderer Fachrichtungen, die sie für ihre Schäfchen angefordert hatte.
Insgesamt war sie für elf Patientinnen zuständig, und wenn sie mit ihren Freundinnen aus der Studienzeit sprach, war das im Vergleich relativ wenig. Auch dies war einer der Gründe, warum sie sich für genau diese Stelle als Berufsstart entschieden hatte.
Nachdem sie das Standardprogramm für Neuaufnahmen (ein eher knappes Aufnahmegespräch, ausführliche körperliche Untersuchung und Blutentnahme) mit Herrn Leipold aus Zimmer drei durch hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass er an vasovagalen Synkopen litt. Er zeigte die klassischen Symptome mit Schwarz vor den Augen werden und kurzer Bewusstlosigkeit, häufig nach dem Aufstehen. Normalerweise hätte sie nun einen Medizinstudenten im praktischen Jahr, einen so genannten PJler, darum gebeten, einen Schellong-Test2 durchzuführen, doch leider gab es aktuell keine PJler. Sie beschloss, den Test auf morgen zu verschieben, die Lumbalpunktionen gingen eindeutig vor.
»Na, Frau Vallejos? Wie ist die Lage?«
Luciana wurde aus ihrer strategischen Planung gerissen und sah den Chef auf sich zu kommen. Seine eisblauen Augen fixierten eine Stelle knapp links an Lucianas Ohr vorbei. Sie schluckte. Aus unerfindlichen Gründen machte seine Anwesenheit sie noch immer nervös.
»Ganz gut soweit, schätze ich«, antwortete sie, »ich war eben bei unserem neuen Privatpatienten Herrn Leipold.«
Lucianas dunkelbraune Augen suchten den Kontakt zu ihrem Chef, doch der starrte weiter an ihr vorbei. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen können. In der Assistentinnenschaft munkelte man, er sei Autist.
»Ah ja, sehr gut, dann gehen wir doch gleich zu ihm.«
Flotten Ganges marschierte ihr Chef los, während Luciana angestrengt versuchte, sowohl mit ihm Schritt zu halten als auch seinen Weg zum richtigen Zimmer zu lenken.
»Zimmer drei«, erklärte sie und hob zu einer kurzen Patientenvorstellung an, als der Chef sie, die Hand bereits auf der Türklinke, unterbrach:
»Also der Mann ist ganz klar verrückt. Der hat nichts. Aber er ist überzeugt davon, dass es epileptische Anfälle sind. Also machen wir eine Epilepsieabklärung mit allem Drum und Dran: Drei Tage Video-EEG3, Magnetresonanztomographie und so weiter. Da wird nichts bei rauskommen. Und dann nennen wir es Ausschluss epileptogenes Geschehen.«
Der Chef hielt kurz inne und fügte dann nachdenklich hinzu:
»Ich weiß gar nicht mehr genau, warum er hier ist. Seine Frau ist, glaube ich, irgendwas Wichtiges. Vielleicht von der Presse? Na gut, egal, dann sagen wir ihm mal Hallo.«
Er drückte die Türklinke herunter und nacheinander traten sie ein.
1 Lumbalpunktion: Untersuchung, bei der mit einer Kanüle in den unteren Bereich der Wirbelsäule gestochen wird, um Nervenwasser zu erhalten.
2 Test zur Untersuchung der Kreislauffunktionen. Hierbei wird in engen Zeitabständen Blutdruck und Herzfrequenz zunächst im Liegen und direkt nach dem schnellen Aufstehen gemessen.
3 Video-Elektroenzephalographie: kontinuierliche Messung der Hirnstromkurven zeitgleich mit videographischer Aufnahme der Patient*innen.
Luciana Vallejos Mella war froh. Endlich hatte der Bunker es geschafft, PJler einzustellen. Wobei "einstellen" vermutlich das falsche Wort war, immerhin wurden die Studierenden weder bezahlt, noch hatten sie Urlaubsanspruch oder die Möglichkeit, sich krank zu melden.
Sie selbst erinnerte sich noch gut an ihre Zeit im praktischen Jahr. Der trockene Teil des Humanmedizinstudiums war geschafft gewesen: Zehn Semester lang auswendig lernen, aus fünf Antwortmöglichkeiten die richtige ankreuzen und ab und zu Übungen mit allerlei Selbstversuchen… all das hatte endlich hinter ihr gelegen.
Stattdessen ging es ans Eingemachte: Echte Patientinnen. Ein Jahr lang Praktikum; Vollzeit in der Klinik; unbezahlt. Na gut, bei den meisten gab es das Mittagessen umsonst. Und natürlich hatte Luciana sich vorab schlau gemacht und Kliniken mit einer so genannten Aufwandsentschädigung für ihr praktisches Jahr ausgewählt. So hatte sie immerhin circa vierhundert Euro im Monat für ihre Arbeit bekommen.
Und Arbeit gab es zu genüge: Blutentnahmen, Anlage von Venenverweilkanülen, jede Menge verschiedener nicht-invasiver diagnostischer Tests und alles was den Ärztinnen sonst noch so an Aufgaben einfiel.
Wer hätte gedacht, dass Luciana nun selbst einen PJler zur Hand haben würde? Sie war richtig aufgeregt. Der PJler hieß Lars Roge.
Luciana war es wichtig, dass sie seinen Namen kannte und benutzte, um ein Zeichen zu setzen und sich von ihren Kolleginnen abzuheben.
PJler hatten nämlich eigentlich keine Namen. Das hatte Luciana in ihrem eigenen praktischen Jahr sehr früh gelernt. Zwar hatte sie sich, höflich wie sie war, mehrmals namentlich vorgestellt, aber die wenigsten kümmerte es, wie sie hieß. Geschweige denn, dass sie sich die Mühe machten, sich ihren Namen zu merken. Für die meisten war Luciana einfach nur ein weiteres unbezahltes namenloses Rädchen im großen Getriebe der Klinik gewesen.
Gängige Umschreibungen für Studierende im praktischen Jahr waren "der Student", "der angehende Kollege", "der PJler" oder "der Studiosus". Einmal hatte Luciana zu ihrer PJ-Zeit beim Mittagessen neben einem Kommilitonen gesessen, als dessen Diensttelefon klingelte. Er hatte sich folgendermaßen gemeldet:
»PJler, Chirurgie.«
Das war für Luciana der Inbegriff von "sich seinem Schicksal ergeben" gewesen.
Nein, dachte sie bei sich, mein PJler hat einen Namen. Er heißt Lars Roge.
Lars Roge war ein aufgeweckter, energiegeladener und selbstbewusster Student mit blonden Haaren, grünen Augen und buschigen Augenbrauen. Die untere Hälfte seines Gesichts war vom Mundnasenschutz bedeckt, so dass Lucinas Gehirn sein Gesicht automatisch zu der für sie ansehnlichsten Version ergänzte. Diese Marotte hatte Luciana schon früh an sich festgestellt und hatte dementsprechende Coping-Strategien entwickeln müssen. Es war nämlich eine empirische Feststellung, dass wenn ihr Gehirn sich erst einmal für eine Version entschieden hatte - was meist innerhalb von dreißig bis sechzig Minuten der Fall war - sie jedes Mal herbe Enttäuschung überfiel, wenn die Person schließlich ihre Maske abnahm und ihr "wahres Gesicht" offenbarte. Lucianas ausgedachte Vision war einfach immer besser als das Original.
Luciana Vallejos Mella machte einen Schritt auf Lars Roge zu. Er war etwa gleich groß wie sie, also circa ein Meter siebzig und trug – wie alle im ärztlichen Dienst – eine weiße Hose, die leicht durchsichtig war sowie ein weißes Poloshirt, ebenfalls durchscheinend.
Er stellte sich vor und murmelte etwas davon, dass die Dienstkleidung ja eher unvorteilhaft sei, vor allem für Leute, die dunkle Unterwäsche trugen. Luciana teilte diese Meinung und reichte ihm zur Begrüßung einen ihrer Kittel, mit dem er sich etwas bedecken konnte, sowie eine Tasse Kaffee. Lars nahm beides dankend entgegen und schlüpfte eilig in den Kittel. Als er zum Trinken seinen Mundschutz abnahm, entblößte er eine leicht schräg verlaufende Nase und ein glatt rasiertes, markantes Kinn.
Aha, dachte Luciana zufrieden, der gute alte Trinktrick funktionierte also nach wie vor.
Während Lars den brühend heißen Kaffee schlürfte, sprangen Lucianas Gedanken – angekurbelt von dem köstlichen Kaffeeduft - zu dem Problem der durchsichtigen Dienstkleidung zurück. Was hatte der Bunker sich dabei nur gedacht? Wer war verantwortlich für dieses Malheur? Gleich zu Beginn ihrer Anstellung hatte sie sich auf Grund dieser Fehlentscheidung mehrere hautfarbene Unterhemden und Unterhosen kaufen müssen, damit sie sich nicht gar so entblößt fühlte. Nur allzu gerne würde Luciana der verantwortlichen Person die Rechnung zusenden. Schließlich wäre sie sonst nie auf die Idee gekommen, sich hautfarbene Unterwäsche zu erstehen.
"Hautfarben", dachte sie und ertappte sich dabei, mal wieder darüber zu sinnieren, dass "Hautfarbe" eigentlich ein klassisches Unwort sein sollte. Welche Farbe hat Haut denn? Das ist ja wohl ein ziemlich breites Spektrum von weiß über beige, braun bis hin zu schwarz. Ihren eigenen Teint schätzte sie in etwa bei mittelbraun ein. Trotzdem wurde unter hautfarben meist ein helles Rosa verstanden. Entweder müsste Hautfarbe ein Überbegriff für alle Farben des Hautspektrums sein oder der Begriff müsste ganz abgeschafft werden, schlussfolgerte sie. Es gab ja auch keinen Buntstift mit "Augenfarbe".
Nach ein paar Einarbeitungstagen mit Lars lief die gemeinsame Visite wie geschmiert. Luciana sprach mit den Patientinnen und untersuchte diese, während Lars an dem mit einem Laptop ausgestatteten Visitenwagen die Runde dokumentierte.
Dokumentation war bekanntlich das A und O einer jeden Ärztin. Was nicht dokumentiert wurde, war nicht geschehen. Deswegen überprüfte Luciana zu Beginn auch sehr gewissenhaft, was Lars Roge da so Schönes tippte.
Das Ganze wurde immerhin in ihrem Namen für die Nachwelt verewigt.
Doch wie gesagt: Es lief wie geschmiert. Bei einem der Doppelzimmer, Zimmer acht, tauschten sie die Rollen: Lars untersuchte und Luciana dokumentierte. Sie hatte Lars gleich zu Beginn seines Praktikums zwei "eigene Patientinnen" zugeteilt, damit er sich für sein späteres Leben als Arzt besser gewappnet fühlte. Selbstverständlich wurde jede seiner Handlungen und Entscheidungen von ihr supervidiert4.
Bald schon wurden Lars und Luciana zum Dream-Team auf Station 5B und Luciana hoffte ehrlich, dass nicht nur sie das so empfand. Es gab lediglich ein einziges Problem: Den sehr begrenzten Raum im Arztzimmer. Da es keinen vorgesehenen Platz für PJler gab, hatten sie provisorisch zusätzlich zu Lucianas Drehstuhl und dem Oberarztstuhl, der immer frei bleiben musste, falls ein Oberarzt das Zimmer betrat, einen weiteren Stuhl an Lucianas Schreibtisch gestellt. Tatsächlich stand auch noch ein alter Rechner mit Monitor im Arztzimmer rum, so dass sich fast ein echter Arbeitsplatz für Lars ergab. Nur eben sehr beengt.
Die Arztbriefe seiner zwei Patientinnen bearbeitete Lars nach bestem Wissen und Gewissen, allerdings konnte er anscheinend nur tippen, wenn er gleichzeitig laut vorlas, was er schrieb.
»Die Patientin wurde mit starken Kopfschmerzen aufgenommen. In der Computertomographie sahen wir… hm jetzt muss ich mir die Bildgebung doch noch mal anschauen. Der Radiologe meinte doch er hätte da was gesehen…«, faselte Lars Roge geschäftig vor sich hin.
Man kann ja seine eigenen Gedanken nicht mehr hören, dachte Luciana und machte sich eine innere Notiz, dass sie alsbald eine Strategie entwickeln musste, um dieses nervige Hintergrundgeräusch zu minimieren.
Am nächsten Tag gab Luciana Lars also mehr praktische Aufgaben, die ihn aus dem Arztzimmer locken sollten: Blutentnahmen, Anlage von Venenverweilkanülen, jede Menge verschiedener nicht-invasiver diagnostischer Tests und alles, was ihr sonst noch so einfiel.
Doch Lars war schnell. Zu schnell. Noch bevor Luciana ihre eigenen Arztbriefe abschließen konnte, saß er auch schon wieder neben ihr und plapperte vor sich hin.
Doch so schnell schmiss Luciana Vallejos Mella nicht das Handtuch ins Korn. Immerhin hatte sie sich fest vorgenommen, ihrem PJler gegenüber eine gute Ärztin zu sein.
Ubi pus, ibi evacua, dachte sie bei sich – wo Eiter ist, dort räume aus – und hatte am darauffolgenden Tag Denkaufgaben sowie kleine, eigens ausgedachte Patientenfälle für Lars vorbereitet. Diese würden ihn zwar nicht aus dem Arztzimmer holen, aber immerhin machte er beim Nachdenken kein Hintergrundgeräusch. Außerdem lernte er noch etwas dabei. Die berühmten zwei Fliegen mit einer Klappe.
So kam es, dass Lars immer öfter mit beiden Ellenbogen auf dem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt, dicht neben Luciana saß und grübelte. Die hellen Augenbrauen hatte er dabei bis auf Anschlag zusammengezogen, so dass Luciana nicht umhinkam, sich zu wundern, ab welchem Alter solch eine Haltung wohl irreversible Falten erzeugte. Sie musste sich eingestehen: Sein kritischer Blick brachte sie ganz schön aus der Fassung. Schon wieder eine Ablenkung von ihrem eigentlichen Arbeitspensum.
»Was ist?«, fragte sie ihn gereizt. Ihr Ton war etwas unwirscher, als sie es vorgehabt hatte.
Erstaunt sah Lars sie an.
»Na, ich denke über deinen fiktiven Fall nach.«
Luciana atmete tief ein, wieder aus und nickte bedächtig. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie um der guten Zusammenarbeit und um Lars‘ Gesichtshaut willen, eine neue Denkhaltung für ihn finden musste.
»Sag mal… kennst du die Studie, dass Chirurgen besser operieren, wenn sie vor der Operation in der Superman-Pose stehen?«, fragte sie ihn. Lars nickte eifrig.
»Gut«, fuhr sie fort, »da gibt es jetzt eine Neue, zur Denkhaltung: Anscheinend haben Probanden Rätsel schneller und präziser gelöst, wenn sie sich beim Nachdenken zurücklehnten, ihre Hände am Hinterkopf ineinander falteten und an die Decke starrten.«
Na gut, die Studie war natürlich frei erfunden, aber das Ergebnis ließ sich auf jeden Fall sehen: Lars lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte den Kopf in seine verschränkten Hände und blickte nachdenklich an die Decke. Zwischen seinen buschigen Augenbrauen war keine Furche mehr zu entdecken. Luciana lächelte beseelt.
Der guten Zusammenarbeit schien nichts mehr im Wege zu stehen.
4 Supervidieren: Überwachen oder beaufsichtigen.
Montagmorgen. Oberarztvisite. Privatdozent Doktor Ernst Hartmanns schwarze Anzugschuhe klapperten über den in Holzoptik gestalteten Linoleumboden des Blatikmünder Universitätsklinikums. Er mochte die Neugestaltung des fünften Stocks nicht sonderlich. Zugegeben, die Holzoptik war um einiges einladender als das triste Grau der anderen Stockwerke, doch trotzdem, irgendetwas störte ihn.
Vielleicht war es die Tatsache, dass die fünfte Etage bald ausschließlich Privatpatienten beherbergen sollte und er sich selbst überhaupt nicht in der Rolle als Privatoberarzt sah. Vielleicht lag es aber eher daran, dass er die Auffassung vertrat, dass Krankenhäuser gar nicht erst einladend aussehen sollten. Die Menschen sollten sich nicht eingeladen fühlen. Sie kamen, weil sie krank waren. Auf keinen Fall sollten sie sich allzu wohl fühlen; nicht, dass sie gar ihre Entlassung herauszögern wollten.
Privatdozent Doktor Ernst Hartmann grübelte. War es wirklich das, was ihn an der Renovierung störte? Wenn er ganz ehrlich war, war es wohl doch eher so, dass er generell keine Veränderung mochte. Er kannte den Bunker schon seit Studienzeiten, er hatte in Blatikmünde studiert und mit sechsundzwanzig Jahren als Arzt im Praktikum im Bunker angefangen. Das war nun zweiundzwanzig Jahre her.