6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Wie ist sie bloß in diese Situation geraten? Juli, dreizehnjährige zukünftige Filmemacherin mit Tierphobie, findet sich in einem uralten Faltboot auf dem Fluss wieder – mit Jonte, den sie kaum kennt, dessen kleinem Bruder Per und einem hässlichen Kater namens Puma. Was spielerisch mit Jontes Behauptung beginnt, er könne es locker bis zum Meer schaffen, wird zur Herausforderung: Nicht nur, weil sie plötzlich auf der Flucht sind, sondern auch, weil die beiden Älteren nun für den Jüngeren sorgen müssen. Als Jonte etwas zustößt, ist Juli plötzlich ganz auf sich gestellt ... Anna Herzog erzählt ihren "Boattrip" realistisch und mit großartiger Beobachtungsgabe, gleichzeitig leicht, voller witziger Schlagabtäusche zwischen den Jugendlichen – und zarter erster Gefühle.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 289
Für Gesine und Telje
eISBN 978-3-649-62704-3
© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Anna Herzog
Covergestaltung: Irmela Schautz
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: FSM Premedia
www.coppenrath.de
Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62350-2.
Anna Herzog
ODER: DIESE EINE SOMMERNACHT
Also, was brauchst du, wenn du einen Film drehen willst? Eine Kamera natürlich. Eigentlich ist es egal, was für eine, solange sie funktioniert. Und solange der Akku lädt. Glaub mir, das ist sehr wichtig! Cool ist natürlich EINE RICHTIG GUTE KAMERA. Aber die kostet auch RICHTIG VIEL GELD.
Wenn du fertig bist mit dem Filmen, musst du dir ein Videobearbeitungsprogramm organisieren, zum Schneiden und für die Filmmusik und so. Kannst du dir kostenlos aus dem Internet runterladen. Oder du kaufst dir EIN RICHTIG GUTES, das aber natürlich … ja, genau.
Und du brauchst ein Drehbuch. Besonders wenn du gerade keine Kamera dahast. Oder dein Akku abschmiert. Dann kannst du auf jeden Fall schon mal ein Drehbuch schreiben. Was leider gar nicht sooo einfach ist, wollte ich dir nur sagen. Manches muss man in Großbuchstaben tippen und andere Sachen wieder nicht, man muss ganz bestimmte Abstände einhalten nach unten oder zur Seite, solche Sachen. Zum Beispiel so:
AUSSEN. WALD - NACHT
Ein MÄDCHEN rennt durch die Dunkelheit. Seine Gedanken hört man aus dem Off.
MÄDCHEN
Wie schwarz die Nacht ohne Mond ist! Ausgerechnet jetzt, wo ich ihn so dringend brauche. All das wäre nie passiert, wenn meine Mutter mich nicht zu Marthe gebracht hätte. Ich wäre nicht hier, ich würde nicht …
(stolpert, fängt sich wieder, flüstert)
Oh, ich muss auf die Wurzeln aufpassen, ich darf nicht hinfallen …
Jedenfalls ist ein Drehbuch so eine Art trockener Film. Das Wichtigste aber, was du dafür brauchst, ist … tadaaa: Eine gute Geschichte!
Zum Beispiel eine Geschichte über … DIESE EINE SOMMERNACHT.
EINS. Der Hof
ZWEI. Fleygur
DREI. Der Bach
VIER. Die Haut des Dinosauriers
FÜNF. Die Insel
SECHS. Die Geister
SIEBEN. Die Trauerweide
ACHT. Die Jagd
NEUN. Mondmilchbrötchen
ZEHN. Flusstiere
ELF. Das Bierdeckelspiel
ZWÖLF. Hexen
DREIZEHN. Klappe
VIERZEHN. Irmeladenbrot
FÜNFZEHN. Sturm
SECHZEHN. Ende?
SIEBZEHN. Frei sein
ACHTZEHN. Diese eine Sommernacht
NEUNZEHN. Das Meer
Danke …
Die Schwalben fliegen tief, als Juli und Mama den buckligen Hof betreten. Zwei rote Backsteinhäuser werfen lange Schatten und die Luft hängt durch wie eine alte Wäscheleine nach all der Tageshitze. Die Mülltüten fliegen auch tief. Juli starrt dem blauen Plastiksack nach, der gerade quer über den Hof segelt. Puff, gelandet. Freundlicherweise, ohne aufzuplatzen. Wenn alle möglichen Gegenstände tief fliegen, gibt es dann nicht ein Gewitter?
»Marthe?!«
Eine Haustür wird aufgerissen, und irgendwo in Juli drin zersplittert eine letzte Hoffnung, nämlich die, dass es sich hier um einen großen Irrtum handelt.
Tut es nicht.
Dass die Frau, die jetzt ihren Kopf aus der Haustür steckt, mit Mama verwandt ist, sieht man nicht sofort. Sie sind allerdings auch nur halb verwandt, Halbschwestern. Fragt sich bloß, welche Hälfte, denkt Juli. Die obere ist es schon mal nicht. Denn ihre Mutter hat dunkle Haare und diese Marthe hat rote.
Sie kennt Marthe kaum, vielleicht haben sie sich zwei oder drei Mal gesehen, vor Jahren auf irgendwelchen Familientreffen. Mama hat echt einen Knall! Manchmal ist das lustig, aber gelegentlich beneidet Juli auch Menschen, die ganz gewöhnliche Mütter haben. Zum Beispiel solche, die nicht auf die Idee kommen, ihre Tochter einer fast Unbekannten für einen Teil der Sommerferien anzuvertrauen. Noch dazu einer Fast-Unbekannten, die alles um sich herum versammelt, was Juli nicht interessiert. Beziehungsweise abstößt, verschreckt und beunruhigt, also: Pferde, Schwalben, superschädliche Plastikmülltüten, stinkende Misthaufen voller … Moment, wahrscheinlich Fliegen, Wäscheleinen mit Putzlappen und irgendwelchen Pferdedecken drauf – solche Sachen.
Dafür, dass sie nur Halbschwestern sind, kichern sie ziemlich viel zusammen. Juli wendet sich ab und schlendert zu einem der Häuserschatten hinüber. Sie sieht den hirnlosen Schwalben beim Durch-die-Luft-Rasen zu. Mit dem Fuß ritzt sie Linien in die Schicht aus Sand und Erde vor dem Gebäude, das offensichtlich ein Stall ist. Jedenfalls stapeln sich direkt neben dem Eingang eine Menge Strohballen. Das Gespräch hinter ihr dringt an ihr Ohr.
»Du hast alles hier, oder?«
»Was meinst du mit ›alles‹? Essen, ein Bett, ein Klo?«
»Nein, Marthe, Pferde, Hunde, Katzen …«
»Hühner, Kaninchen und die üblichen Wildtiere, klar.«
»Moment. Wild? Tiere?«
»Ja: Eichhörnchen, Igel, Wespen …«
»Ach so. Also keine Löwen, Gorillas, Nashörner …?«
Die Schwestern lachen.
»Du weißt, dass sie in der Stadt bei jedem Hund …?«
Keine Antwort. Juli nimmt an, dass diese Marthe jetzt nickt. Und möglicherweise die Augen verdreht.
»Wie viele Pferde hast du denn?«
»Sind nur Ponys, Jana. Vier.«
»Oje. Das klingt nach Arbeit.«
Ja, danke. Juli soll hier natürlich nicht nur die Hälfte ihrer Sommerferien mit lauter (Anführungszeichen mit den Fingern) lieben Tieren verbringen, sondern … wie nannte Mama das? »Ein bisschen helfen, anpacken eben«, flüstert Juli und verzieht das Gesicht. Und »ein bisschen therapiert werden«, aber daran möchte sie nicht denken.
Die Frauen lachen wieder. Marthes Stimme ist viel tiefer als die von Mama.
Pferde – puh. Im Moment allerdings keine zu sehen. Auch kein Hund. Noch mal puh. Nur eine Sitzgruppe macht sich vor einer Mauer breit – ein Holztisch mit zwei daran befestigten Holzbänken und ein paar von diesen weißen Plastikstühlen. Daneben steht ein ausgeblichener Coca-Cola-Sonnenschirm und wirft seinen rötlichen Schatten über den Tisch. Die Wasserflasche, halb ausgetrunken, ist von innen ganz beschlagen. Nach vorne, zu dem asphaltierten Weg hin, also Richtung Freiheit, ist der Hof offen; das Mädchen im Schatten zieht die Schultern zusammen.
»Trinken wir noch einen Kaffee, Jana? Dann können wir noch tratschen und du kannst mir noch ein wenig erzählen …« Marthe bricht ab.
Bestimmt sieht sie jetzt zu ihr herüber. Juli senkt den Kopf und schnaubt durch die Nase, schon klar, was Marthe noch betratschen will.
Die Frau mit den dunklen, kurzen Haaren scheint immerhin zu überlegen.
Bitte, Mama, sag Ja, lass mich hier noch nicht allein … auch wenn …
»Juli?«
Sie dreht sich nur langsam um, widerwillig. »Ja?«
»Sollen wir noch einen Kaffee trinken?«
Sehr witzig, Mama, ich trinke keinen Kaffee, du weißt, dass ich nasse Hände bekomme und ein totales Flatterherz …
Schulterzucken. »Können wir machen.«
Aber, Mama, sprecht nicht darüber, bitte … nicht über Papa. Ihre Blicke treffen sich in der Mitte des Hofes.
Julis.
Und Mamas.
Dann blinzelt ihre Mutter gegen die Sonne und wendet sich an ihre Schwester. »Aber einen Eiskaffee, Marthe. Bei der Hitze … Hast du Eis?«
»Muss mal nachsehen. Neulich war noch welches da. Du meinst sicher Vanille, oder? Wenn du nämlich Eiskaffee mit Erdbeereis nimmst, muss ich dich enttäuschen.«
Mama lacht schon wieder. Sie schleimt sich total ein bei Marthe. Als wolle sie Juli verkaufen und könne froh sein, wenn Marthe sie ihr abnimmt.
Juli beißt sich auf die Unterlippe, bis es wehtut. Es hilft wenigstens ein bisschen, wütend zu sein auf ihre Vorderzähne; ist auf jeden Fall besser, als …
Juli schluckt.
Es ist kühl drinnen. Juli schlüpft unter dem Küchentisch aus den Trekkingsandalen und setzt ihre glühenden Fußsohlen auf die alten Steinfliesen, ziegelrot und weiß und tausendfach geborsten. Die Kälte kribbelt von ihren Füßen hinauf bis in ihre Haarwurzeln.
Die Sandalen hat Mama ihr aufgeschwatzt. Juli trägt eigentlich Flip-Flops und Chucks. Punkt.
Juli betrachtet ihre kleinen Zehen unter dem Tisch, der linke ist etwas krumm gewachsen; er kann nichts dafür, sie hat ihn von ihrer Mutter geerbt. Geschirr klappert, die beiden Frauen trinken ihren Kaffee schweigend. So, als wolle Marthe am liebsten fragen, wie dieser Enno, der Neue ihrer Halbschwester, sich denn so anlässt. Und so, als wolle ihre Mutter nicht darauf antworten. Danke, Mama …
Sie fliegen zusammen weg, Mama und Enno, das weiß Marthe doch, das hat Mama ihr doch erzählt am Telefon. Juli hat nämlich zugehört. Sie wollen ausprobieren, ob sie es miteinander aushalten, bevor sie ausprobieren, ob Enno auch eine Familie aushält.
Oder genau betrachtet: eine Juli.
»Gibt es hier Gleichaltrige, Marthe? Andere Jugendliche oder Kinder?«
Juli schreckt hoch. An einer der Türen kratzt ein Tier, wahrscheinlich der Hund.
»Hmm. Also, ich habe ein paar Reitkinder. Die sind deutlich jünger. Grundschule. Und natürlich die Kinder, die zu mir als Tiertherapeutin kommen. Aber nicht jetzt in den Ferien.«
Juli schaut zur Tür hinüber und verdreht die Augen. Die Tür wackelt, aber das Schloss scheint zu halten.
»Und in der Nachbarschaft?«
Marthe kratzt sich im Nacken. Dann schüttelt sie den Kopf. »Der alte Paul hat inzwischen Arthrose in den Knien«, stellt sie fest, als wäre das eine Erklärung.
»Wer ist denn der alte Paul?«
»Mein nächster Nachbar, Paul Matthiessen. Wohnt hinter meinen Weiden. Hat eine Menge Enkel, ich weiß gar nicht, wie viele. Aber dieses Jahr wird wohl keiner kommen.«
Drei … Wochen.
Und nur Tiere und Babys.
Marthe steht auf und sammelt die Tassen ein. »Kommt, ich zeige euch Julis Zimmer.«
»Du hast wohl nicht so was wie einen Schminkkoffer?«, fragt Marthe auf der engen Treppe zum Dachboden. Sie stapft hinter Mama und Juli die Stufen hinauf, wahrscheinlich, um sie aufzufangen, wenn sie die Steigung nicht schaffen.
Mama trägt Julis Rollkoffer und Juli das übrige Zeug: ihren Schulrucksack (»Nur für alle Fälle … Hast du auch das Übungsbuch für Englisch nicht vergessen?«), geliehene Reitstiefel (»Nachher hat Marthe keine in deiner Größe!«), ihr Anti-Hausstaubmilben-Bettzeug (»Vergiss trotzdem nicht, das Fenster nachts zu öffnen«) und ihren Zeichenblock (»Die hat da nie im Leben so große Blätter, vergiss es, Mama, ich gehe nicht ohne den Block!«).
»Schminkkoffer. Ha. Ha«, sagt Juli. Also beinahe. Stattdessen denkt sie es, so laut sie kann.
»Juli schminkt sich nicht, Marthe«, sagt ihre Mutter.
»Das ist gut. Hier sieht dich ja auch niemand außer Ponys und Hühnern. Was ist denn dein Lieblingsessen?«
Juli rollt mit den Augen. Ganz mieser Einschleimversuch.
Und – klar: »Linsensuppe«, sagt Mama doch tatsächlich.
Darf Juli vielleicht mal selber antworten?
Die Dielen quietschen unter drei Paar Füßen und einem mittelschweren Rollkoffer. Es ist so heiß hier oben, dass Juli nun endgültig der Schweiß den Rücken hinunterläuft.
Auch Mamas Kopf ist ziemlich rot.
»Kann man hier eigentlich irgendwo baden gehen?«, schnauft sie.
Marthe bleibt stehen und wischt sich die Haare aus der Stirn. »Wir haben zwei schöne Badestellen am Bach«, sagt sie und lächelt Juli zu. Einschleimversuch Nummer zwei? »An den Weiden vorbei und dann durch das Wäldchen – das ist die nächste.« Marthe setzt sich wieder in Bewegung. »Da gehen wir auch mit den Pferden schwimmen. Das zeige ich dir dann, Juli.«
Von dem stickigen kleinen Flur gehen drei Türen ab.
»Die da rechts ist die richtige«, sagt Marthe von hinten.
Juli zögert. »Lechts und rinks kann man nicht velwechsern, werch ein Illtum«, hat Mama früher immer ein Gedicht zitiert, wenn Juli mal wieder in die falsche Richtung gerannt ist.
Eine Zeit lang hat Papa ihr Punkte auf die Daumen gemalt, einen grünen rechts und einen roten links. Es hat alles nichts geholfen, Juli hat eine Links-Rechts-Schwäche.
Schließlich drückt sie die Klinke der ihr am nächsten gelegenen Tür herunter, und da niemand protestiert, ist es wohl die richtige. Sie quietscht genauso wie die Dielen, wahrscheinlich sind sie verwandt.
Immerhin: Die Kammer unter dem Dach ist total süß. Sie gehört zu einer kleinen Wohnung, in der bis letztes Jahr Walter gewohnt hat, der ihr auf dem Hof geholfen hat, erklärt Marthe. Jetzt hat er geheiratet und ist zu seiner Frau gezogen, was Juli gar nicht verstehen kann. Die Wohnung hat ein winziges Bad mit … ähm … kotzgrünen Kacheln, außerdem so eine Art Küche, bloß eine Spüle und zwei Kochplatten, und ein Wohnzimmer mit einem Sofa, einem niedrigen, dunklen Tisch mit einer Glasplatte und darunter einem Spitzendeckchen. Darauf ein Strauß kleiner, frischer Rosen.
Julis erste eigene Wohnung. Sozusagen.
An der Wand zur Küche steht eine kleine Anrichte aus hellem Holz und darauf, Juli tritt näher, eine alte Schreibmaschine. Klein und rot und total retro.
Juli schlägt ein paar Tasten an. Aber da kein Papier in der Maschine steckt, passiert nichts, außer dass Juli ein unsichtbares Juli auf die schwarze Gummirolle getippt hat.
»Ach, die alte Reiseschreibmaschine«, sagt Marthe. »Die hat Walter hier stehen lassen. Der liebt so Zeug.« Sie sieht Juli prüfend an. »Wenn du möchtest, kann ich dir nachher Papier geben. Dann kannst du sie mal ausprobieren.«
Die Frau mit den kurzen, dunklen Haaren wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt leider los.«
»Klar«, sagt Juli und nickt. Trotz all der Hitze gefriert ihr Herz in Sekundenschnelle.
»Darf ich dir noch ein Küsschen geben?«
»Küsschen: Vergiss es!«, sagt Juli. »Umarmung ist vielleicht okay.«
»Bis in drei Wochen, Süße«, flüstert die Dunkelhaarige Juli ins linke Ohr, es kitzelt und Juli beißt sich auf die Unterlippe.
Weinen: Vergiss es!
Jetzt gibt Mama ihr in einem unbewachten Moment doch ein Küsschen und eine Sekunde, eine besonders kleine Sekunde lang, klammert Juli sich an ihre Mutter und fühlt ihrer beider Herzen pochen.
Als sie Marthe und Mama die Treppe hinunterpoltern hört, wischt sich Juli mit den Handballen die Augen ab. Mist! Bringt natürlich nichts. Sie wird sich im Bad das Gesicht kalt waschen müssen, damit Marthe nichts merkt.
Sie stellt sich ans Fenster, aber so, dass niemand sie sehen kann. Von hier aus kann man den Hof überblicken, den ihre Mutter gerade überquert. Man kann auch, wenn man gute Augen hat, erkennen, was jemand in den Staub dort unten hineingeritzt hat, nämlich:
Aliens!
Bitte!
Holtmichraus!
Eure Juli
AUSSEN. WALD – DIESE EINE SOMMERNACHT
Das MÄDCHEN rennt. Man sieht es nur wie einen hellen Geist immer wieder zwischen den Bäumen auftauchen. Es kommt an eine Kreuzung, bleibt stehen. Aus dem Off.
MÄDCHEN
Der Boden unter meinen Füßen federt. Die Nacht riecht. Feucht und pilzig, sie raschelt und lebt. Sie riecht so gut, jetzt, wo ich sie kenne. Moment, hier sind wir ja schon langgekommen! Echt blöd, dass es so dunkel ist.
(schaut nach rechts und nach links und hüpft dabei auf der Stelle)
Da – die Bank da, an die erinnere ich mich! Daran sind wir vorbeigekommen.
Das Mädchen rennt wieder los in Richtung Bank. Rennt an ihr vorbei, verschwindet aus dem Bild.
Es ist so heiß, dass die Blätter der Kastanie auf Marthes Hof schon braun werden. Juli rinnt der Schweiß in Strömen herunter. Ihr Top klebt ihr am Rücken und am Bauch und ihre Arme tun weh von der schweren Schippe.
Sie hat es Mama versprochen. »Versuch es wenigstens, Juli«, hat Mama gebeten.
Außerdem hat sie ihr versprochen, »mit anzupacken«. Und das tut sie jetzt alles beides: versuchen, mit anzupacken.
Wie nannte Marthe das noch gleich? Paddock abäppeln. Juli lässt die Schippe fallen und macht zwei Häkchen mit den Fingern um das ›Paddock‹ und das ›Abäppeln‹. Sie würde es eher ›Scheiße schippen‹ nennen.
Juli schaut sich um. Niemand zu sehen, jedenfalls niemand Menschliches. Marthe ist mit zwei Kindern ausgeritten. Zwei kleinen Kindern, die sie vorher lange angestarrt und gekichert haben. Juli kann sich nicht daran erinnern, in der Grundschule so blöd gewesen zu sein.
Der Dackel ist eingesperrt.
Der alte Fleygur auf dem Nachbarpaddock schaut ihr teilnahmslos zu und wedelt nur ein wenig mit dem grauen Schwanz. Sein Rücken sieht aus wie eine Halfpipe. Juli kneift die Augen zusammen. Eine Spatzen-Halfpipe vielleicht. Ob sie eine Pause macht? Juli starrt eine Weile in den blau verschleierten Himmel. Dann hebt sie die Schippe wieder auf.
Pferdekacke stinkt, sowohl auf dem Boden als auch in der Schubkarre. Besonders wenn es so heiß ist, dass … Also, wenn die Pferdeäpfel Hühnereier wären, würden längst lauter Küken im Paddock rumlaufen.
Mo-ment! Julis Augen weiten sich. Ist da etwa eine Lücke im Zaun? Ist das etwa gar nicht der Nachbarpaddock, sondern derselbe, auf dem Juli gerade steht? Juli knirscht mit den Zähnen. Sie beobachtet den alten Schimmel scharf, aber er scheint sich nicht zu rühren.
»Du bist doch Tiertherapeutin, Marthe«, hört sie Mama noch sagen. Am Telefon, vor ein paar Monaten, als Mama ihrer Halbschwester von Enno erzählt hat.
Mama saß am Schreibtisch, Juli musste Französischvokabeln lernen, und Mama hatte versprochen, sie abzufragen. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und lauschte in den Hörer. Und zuletzt wedelte sie mit einer Hand, damit Juli rausging. Was Juli auch tat – beziehungsweise ging sie bis zur Tür, denn Mama konnte nicht sehen, dass sie dort stehen blieb, um zu lauschen.
»Schaffst du das denn in drei Wochen?«, fragte Mama.
Drei Wochen? Was sollte Mamas schräge Halbschwester in drei Wochen schaffen? Leider konnte Juli Marthes Antwort nicht verstehen. Seufz.
Halt!
Hat Fleygur sich gerade etwa doch bewegt?
Man weiß ja nie, bei Pferden weiß man ja nie. Sie müsste dringend mal googeln, wie viele Mädchen schon durch irre gewordene Pferde umgekommen sind. Schließlich werden ja auch jedes Jahr viel mehr Menschen, als man so denken würde, von Kühen totgetrampelt.
Hühner. Marthe hat auch Hühner. Wenn die Hühner freihaben, also gerade nicht in ihrem Stall hocken, soll Juli ab morgen Eier sammeln gehen. Marthe hat behauptet, dass Hühner zwar neugierig, aber nicht gefährlich seien … Gänse hingegen, hat sie gemurmelt und mit den Augenbrauen gewackelt … Es ist jedoch noch keineswegs geklärt, ob es nicht auch Killerhühner gibt. Es gibt schließlich Hahnenkämpfe.
Nein, Fleygur hat sich nicht bewegt. War wohl nur eine Halluzination.
Ein weiterer stinkender Haufen landet auf der Schubkarre. Es ist so unfair! Juli ist Vegetarierin, sie würde nie Tiere essen. Also ist es echt gemein von den Tieren, wenn die trotzdem was von ihr wollen: stechen, beißen, kratzen, an ihr saugen. Gibt es überhaupt keine Vegetarier unter denen?
Moment – das war jetzt aber eine Bewegung?!
War es.
Fleygur hat einen Huf vorgestellt. Und den Kopf gehoben. Und … er … sieht … Juli … an.
Extremer Schweißausbruch.
Juli pirscht sich ganz langsam rückwärts aus dem Paddock, ohne den Schimmel aus den Augen zu lassen. Dabei eine volle, stinkende Schubkarre auf einem einzigen Rad zu balancieren – das braucht Armmuskeln. So etwas hat Juli nicht. Und Fleygur ist jetzt richtig aufgewacht. Er hört gar nicht mehr auf zu starren. Er sieht so aus, als würde er ernsthaft überlegen, ihr hinterherzulaufen.
Nur … nicht … umdrehen … Bloß Fleygur nicht aus den Augen lassen. Wann … kam noch gleich … das Tor?
Aua … da!
Juli setzt die Schubkarre aufatmend ab, und zwar so, dass sie zwischen ihr und dem Pferd steht. Das Tor hat einen komplizierten Mechanismus, aber Juli hat es vorhin ein paar Mal geöffnet und geschlossen. Nur, um sicherzugehen. Damit sie es im Notfall – also jetzt – schnell öffnen kann.
Und auch schnell wieder schließen. Puh!
»Chill mal, Digga«, flüstert sie, reibt sich die feuchten Hände an ihrer abgeschnittenen Jeans ab und grinst Fleygur zu, der an dem Haufen auf der Schubkarre schnüffelt.
Job erledigt!
Zufrieden schiebt Juli den Metallstift wieder in die dafür vorgesehene Öse, wie Marthe es ihr gezeigt hat. So! Jetzt kann die Schubkarre auf keinen Fall mehr abhauen.
Wenig später liegt Juli auf dem Bauch im Gras der Obstbaumwiese. Sie liegt völlig bewegungslos und starrt auf ihr Handy. Es ist nicht zu fassen – sie hat nicht genügend mobile Daten, um sich den »Moviecutter« herunterzuladen! Und selbst wenn, bei ihrem Uralthandy würde bestimmt auch der Speicherplatz nicht reichen. Die blöde SD-Karte hat noch nie funktioniert!
Juli reißt mit dem rechten Fuß ein paar Grashalme aus. Moment … was war das?
Jemand schleicht sich an.
Jemand schleicht sich definitiv an.
Der SCHATTEN kriecht über das von der Sonne orangen gefärbte Gras. Jetzt berührt er den Fuß des MÄDCHENS.
SCHATTEN
Spielst du was auf deinem Handy?
Das MÄDCHEN schnauft, damit der Schatten begreift, wie sehr es sich erschreckt hat, was es in Wirklichkeit gar nicht hat.
MÄDCHEN
Nee, ich filme.
Der Schatten beugt sich neugierig vor und pustet dem Mädchen seinen heißen Atem in den Nacken.
SCHATTEN
Und was filmst du?
Juli hört genau, dass der Satz eigentlich noch nicht zu Ende ist. Der Schwanz von Marthes Satz heißt nämlich: Da ist doch gar nichts.
»Einen Grashalm«, sagt Juli. »Und wenn ich jetzt meine Kamera hätte, dann würde ich zoomen. Erst nah: Grashalm. Dann weit weg: bloß ganz viel verschwommenes Grün. Wieder nah: kein Grashalm mehr, sondern … ein grüner Buntstift oder so, dann ganz weit weg, wieder nah: Grashalm … Ist ein … äh … Experiment.«
›Experimentalfilm‹ sagt sie lieber nicht. Marthe sieht nicht so aus, als würde sie sich so etwas anschauen.
»Ah«, sagt Marthe. »Interessant. Filmst du gerne?«
Juli macht ein Duckface, das allerdings nur der Grashalm sieht, und spart sich eine Antwort.
»Ist das mit der Schubkarre im Paddock auch ein Experiment?«, fragt Marthe.
»Nö«, sagt Juli. »Aber Fleygur hat sich gelangweilt. Da habe ich sie ihm dagelassen.«
Das verschlägt Marthe erst mal die Sprache. Dann hockt sie sich plötzlich zu Juli und legt ihr die Hand auf die Schulter. »Immerhin, du hast dich getraut. Du hast den ganzen Paddock abgeäppelt, das finde ich großartig. Das ist doch schon der erste Schritt!«
Etwas verkrampft sich tief in Juli drin.
Sie verdreht den Kopf und lächelt Marthe an. »Klar.«
Sie lächelt so, dass ihre Mundwinkel wehtun.
»Ich dachte«, sagt Marthe, »wenn du es morgen noch einmal schaffst, mit dem alten Fleygur neben dir den Paddock abzuäppeln, dann könnte ich dir am Mittag die erste Reitstunde geben. Was hältst du davon?«
»Klar«, sagt Juli wieder und zieht mit den Daumen Linien auf ihrem Display.
Reitstunden.
Was hat Mama Marthe eigentlich erzählt? Und was nicht?
Natürlich hat Marthe kein Internet, das hat sie ihr gleich am ersten Tag erklärt. Leider hat Juli auch keine Flat. Die Frage ist also, wie Juli unauffällig herausfinden kann, wo sich in dieser Wildnis hier die nächste Bushaltestelle befindet. Sie hat zwar keinen Wohnungsschlüssel mitgenommen (»Sonst verlierst du den noch im Stroh«), aber Herr Bley ein Stockwerk über ihnen hat einen. Und Herr Bley ist so alt, dass er praktisch nie seine Wohnung verlässt, der ist ganz sicher zu Hause. Falls es keine Bushaltestelle gibt, ist die Frage, wie Juli verhindern kann, dass sie Marthe spätestens morgen beißt.
Marthe legt ihr schon wieder die Hand auf die Schulter.
Juli erstarrt.
»Möchtest du mir noch mit den Hühnern helfen?«
Juli denkt nach. »Nein«, will sie sagen. »Versuch es wenigstens«, drängt Mama in ihrem Kopf.
Juli seufzt. »Wenn ich die nicht abäppeln muss?«
Feierabend.
Es ist still auf dem Hof, niemand steht mehr auf dem Sandplatz direkt hinter dem Stall, um kleinen Kindern auf dem alten Fleygur Reitstunden zu geben. Kein Dackel bellt mehr fremde Menschen an. Zum Beispiel Juli.
Juli sitzt am Fenster ihres Wohnzimmers und zeichnet. Sie zeichnet aber nicht die Wolken, die sich draußen über dem Stall dunkel zusammenballen, sie lässt ihre Hand einfach zeichnen, was ihr einfällt, und das wird zunehmend ein Mädchen. Das Mädchen trägt einen grauen Anzug, der bei jeder Bewegung schimmert und im Dunkeln schwach leuchtet, als sei er aus Mondstrahlen gewebt. Das kann man auf der Zeichnung nicht erkennen, aber Juli sieht es, sie spürt es.
Die Haare des Mädchens sind hüftlang und strahlend blau. Dunkelheit, tiefste Dunkelheit zeichnet sie um das Mädchen herum. Eine Finsternis, die sich näher schleicht, das Mädchen umzingelt, sie besiegen will. Schatten, jede Menge schwarze, dunkelgraue, dunkelblaue Schatten. Doch das Mädchen ist bewaffnet: Sie trägt das Licht mit sich – ihre schimmernde, elfenweiche Rüstung, ihre knisternden, funkelnden Haare.
»Hallo, Lichtblaue«, sagt Juli und einen Moment lächelt das gezeichnete Mädchen ihr zu. »Weißt du, ich habe noch nicht mal meine Kamera hier. Den Scheißakku kann man nicht mehr aufladen. Und die Scheißpost hat den neuen nicht rechtzeitig geliefert.«
Die Luft knistert elektrisch. Ein Rosenblatt fällt auf den Sofatisch mit der Glasplatte. Es ist so leise in der Kammer hier oben, dass Juli davon erschrickt.
Mama hat versprochen, ihr die Kamera nachzuschicken. Wenn der Akku rechtzeitig auftaucht, zumindest. Und wenn sie es nicht vergisst, bevor sie selbst in den Urlaub fliegt …
Juli wischt sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Sie zieht die Wangen ein. »Ich bin Juli«, flüstert sie dem Mädchen zu. »Ich will Filme machen. Es sind Sommerferien. Und ich hänge hier fest. Ich hab bloß mein Handy zum Filmen.«
Von tief unten aus dem Haus kommt eine Stimme die Treppe hinauf und fädelt sich durch alle Türritzen bis zu Julis Ohr: »Essen!«
Als Antwort grummelt es in Julis Bauch. Ihr Bauch ist ein mieser Verräter!
»Ich weiß was«, wispert Juli der Lichtblauen zu. »Ich filme einen Horrorfilm mit Fleygur und diesen anderen Viechern, das krieg ich mit dem Handy hin, problemlos. Den stelle ich dann online. Und dann … dann hat Marthe ein Problem. Besonders, wenn im Abspann steht, woher die Hauptdarsteller kommen. Ich meine, wer lässt sein Kind denn reiten lernen auf einem Hof, wo es vor fleischfressenden Ponys nur so wimmelt?«
Sie lächelt. Tja, dann hätte Marthe tatsächlich ein großes Problem, denkt sie. Ich aber auch. Unter anderem mit Mama.
»Juliiii?«
Juli seufzt schwer.
»Ich muss zum Essen«, teilt sie der Lichtblauen mit. »Soll ich dir was mitbringen? Magst du Pferd?«
In der Nacht bricht das Gewitter aus, das schon seit zwei Tagen in der Luft hängt. In der Nacht sitzt Juli aufrecht in ihrem schmalen, kurzen Opabett direkt unter dem Trommeln des Regens. Noch nie hat sie so viele Blitze so schnell hintereinander gesehen.
AUSSEN. WALD – DIESE EINE SOMMERNACHT
Der blöde Mond ist kein bisschen lebendig geworden, vielleicht ist er ja wirklich gestorben und die Welt muss ab jetzt ohne ihn auskommen. Vielleicht erfinden die Menschen ja auch einen elektrischen Mond oder so was. Zum An- und Ausknipsen. Jedenfalls Wegkreuzung, kann man gerade eben erkennen, weil: Es ist dunkel! Okay, das schreibt man alles nicht in ein Drehbuch, ist schon klar. Das MÄDCHEN steht also schon wieder an einer Kreuzung, schaut nach links und nach rechts und wieder nach links. In beide Richtungen führen Sandwege.
MÄDCHEN
(flüstert)
Eigentlich müsste ich den Weg doch kennen … Es sieht alles so anders aus! Oh, Mann!
(wischt sich mit der Hand über die Augen)
Ich muss mich entscheiden. Schnell … Ich glaube, es war hier lang.
Das Mädchen rennt wieder los. Und merkt es nicht, noch nicht: Doch diesmal ist es die falsche Richtung.
Es ist so früh. Juli weiß nicht, ob sie je so früh aufgestanden ist. Hat je ein Morgen so geschmeckt wie dieser? Hat sie je die Vögel so laut singen gehört? Ihr Herz hämmert und das kommt nicht nur vom schnellen Laufen. Niemand weiß, wo sie ist. Niemand soll es wissen. Milchige Tropfen hängen im Zwielicht an den Zweigen, wie Mondsteine. Wie Juwelen.
Der Tausend-Juwelen-Wald, denkt Juli. Der Tausend-Juwelen-Wald liegt in der ersten Morgenröte. Juli lächelt. Sie bleibt stehen und hebt die Arme, als trüge sie ihre Kamera. Ihr Stirnband rutscht hoch, sie schiebt es zurück Richtung Ohren.
Als sich die Sonne ganz langsam hebt, streicht durch den Wald ein Wind und bringt die Juwelen zum Klingen. Die Vögel zwitschern allerdings so laut, dass Juli Mühe hat, sich den Gesang der Juwelen vorzustellen: Überirdische Musik wispert zwischen den Bäumen. Vielleicht eine Harfenmusik. (Irgendwas, das man frei aus dem Internet herunterladen kann. Ohne Rechte, sonst wird es teuer. Oder Veeh-Harfe und selbst ausgedacht.)
Die Schatten schlafen noch, denkt Juli und wirft den dunklen Stellen unter den Bäumen einen warnenden Blick zu. Die Harmlosen und die Gefährlichen. Jedenfalls die, die noch leben. Und plötzlich …
Ein scharfer Schrei!
Juli formt mit den Händen einen Trichter und schreit. Probehalber.
Irgendetwas raschelt zwischen den Bäumen und Juli zuckt zusammen. Es gibt keine gefährlichen Tiere in diesem kleinen Stück Wald, hat Marthe ihr versichert.
Im Film in Julis Kopf streicht jetzt ein Schatten über die Bäume. Er wird größer und größer. Riesig. (Musik ausfaden, Herzklopfen einspielen, laut, immer lauter.)
Juli rennt den Waldweg entlang, ihre Füße pochen dumpf, wie Herzschlag. Die Lichtblaue, sie ist die Lichtblaue. Doch noch gehört der Wald der Dunkelheit. Und der grausame Schatten über den Bäumen wird schneller, gieriger.
Aber jetzt … jetzt … erwacht das Licht … Und der Wald beginnt zu funkeln. (Hier muss die Musik sich ändern, was mit Trompete, total laut und triumphierend.) Alle seine Millionen Diamanten brechen das Licht, das da unten über den Waldboden läuft. Der Schatten über den Bäumen scheint zu zögern. Und dann … genau in dem Moment erreichen die ersten Sonnenstrahlen die Wipfel (besonders lauter Trompetenstoß) und der ganze Wald strahlt und funkelt, dass man sich die Augen zuhalten muss.
Die Schatten, die unter den Bäumen lauern, verschwinden, sie rutschen in Kaninchenlöcher und Ritzen, in tote Bäume und gesprungene Steine (ein Geräusch wie gluckerndes Wasser oder so). Auch der schreckliche Schatten hoch oben in der Luft dreht ab, man sieht, wie er gegen den immer blaueren Himmel immer kleiner wird.
Unten im Wald aber läuft Juli, die Lichtblaue, in ihrem schimmernden Anzug, der eng anliegt wie eine zweite Haut. Ihre blauen Haare glühen. Und es ist klar, dass das Licht im Wald von ihr kam. (Jetzt muss da ihre Musik rein, ihr Thema. Keine Ahnung – vielleicht etwas mit Geige. Kenn ich jemanden, der Geige spielt?) Sie läuft weiter, langsamer jetzt. Sie keucht kaum, denn sie ist gut trainiert. Durch ihren matt leuchtenden Anzug kann man ihre Muskeln sehen.
Nun wird der Weg enger, Brombeerranken versperren ihn. (Musik fadet aus, man hört Wellen.) Hinter dem Wald liegt das Meer. Der Anzug folgt all ihren Bewegungen und …
RATSCH!
CUT! CUT!
Juli lässt sich vornüber hängen. Von wegen: keucht kaum. Von wegen silberner, elastischer Anzug, von wegen, folgt all ihren Bewegungen. Mist-Brombeerranken! Papas altes, riesiges Che-Guevara-Top kaputt, richtiger Dreieckriss, und der Ratscher auf ihrem Oberschenkel ist auch nicht schlecht. Sie leckt ihren Zeigefinger an und wischt das Blut ab.
Es dauert bestimmt eine Minute, bis sie wieder ruhiger atmen kann. Sie richtet sich auf und sieht sich um. Von wegen: Meer. Aber es muss zumindest Marthes Bach sein. Er ist tief und breit, beinahe ein Fluss. Ein Blatt treibt rasch vorbei, strudelt eine Weile am Ufer und wird dann von der Strömung mitgenommen.
Leichter Nebel liegt über der Weide auf der anderen Seite des Wassers, die Bäume bekommen gerade erst wieder Farbe nach dem Grau der Nacht.
Und wo ist jetzt die Badestelle, von der Marthe behauptet hat, dort sei es so tief, dass auch ihre Pferde schwimmen könnten? Juli schaut die Strömung hinauf und hinunter. Ein Stück aufwärts, am Waldsaum entlang, treten die Ufer weiter auseinander. Dort ragt ein alter Steg in den Bach, graues Holz, ziemlich abgebröckelt, am Ende neigt er sich ins Wasser, als wolle er untertauchen.
Im Ufergras werden ihre Chucks dunkel vor Nässe. Egal, sie werden schon wieder trocknen, der Tag soll heiß werden. Einige Schritte vor dem Steg ist eine Matschstelle, rechts und links wachsen Schilfbüschel. Hier geht es sanft ins Wasser hinab, die Erde ist voller Hufspuren.
Schilf biegt sich über den Steg. Juli setzt den rechten Fuß auf das Bröckelholz. Mal sehen, wie gut es hält. Man muss ganz vorsichtig über die Planken balancieren. Damit man rechtzeitig zurückspringen kann, wenn sie nachgeben. Man muss sich auch ganz vorsichtig hinsetzen. Juli schlüpft aus ihren Schuhen. An der linken Ferse hat sie eine Blase.
Der Steg ist feucht. Ihr Po jetzt auch. Man könnte es auch nass nennen, denkt sie und lässt ihre Füße ins Wasser hängen. Das Wasser ist auch nass und ziemlich kalt.
Wahnsinn, wie laut die Vögel singen, wenn die Sonne aufgeht.
Juli legt sich langsam auf den Rücken und verschränkt die Arme unter dem Kopf. Sie lächelt zum Himmel hoch.
Irgendetwas knackt im Wald. Juli schreckt auf.
Pferde? Kühe? Schafe? Hunde??
Klingt eher nach einer Herde fröhlicher Dinosaurier!
Julis Herz klopft schmerzhaft. Notfalls könnte man sich ja ins Wasser schmeißen. Aber da kann einem das Herz stehen bleiben und …
Als er aus dem Wald tritt, kneift er die Augen zusammen. Juli sitzt still. Ganz still. Vielleicht verschwindet er ja wieder.
Der Junge sieht nicht zu dem alten Steg herüber. Er trottet zur Pferdebadestelle am Ufer, hockt sich nieder, wippt auf seinen Fersen und scheint auszuprobieren, wie kalt das Wasser ist. Das könnte Juli ihm auch so sagen: kalt.
Der Junge hat halblange braune Haare. Wie Kastanien, denkt Juli. Scheint keine Bürste zu haben. Aber dafür ziemlich kleine Ohren. Und ziemlich helle Augen. Seine Jeans schlabbert und er hat total braune Arme. Mit so einem Faden dran, vielleicht einem Freundschaftsarmband, das ist schon ganz blass geworden.
»Bist du eigentlich ein Junge oder ein Mädchen?«, ruft der Junge plötzlich herüber. Er steht jetzt im Sonnenlicht, seine Haare leuchten und er sieht sie direkt an. Er wusste also die ganze Zeit, dass Juli da ist! Und schon wird sie rot, so ein Mist. Sie legt den Kopf auf ihre Knie.
Wenn er redet, sieht man, dass er etwas schiefe Vorderzähne hat, der eine schiebt sich vor den anderen. Auch seine Nase sitzt etwas schräg im Gesicht. Aber die ist in die andere Richtung schief, denkt Juli, wie ein Zickzack im Gesicht.
Sie hebt den Kopf. »Und du?«
»Ist doch wohl klar, oder?«
»Aso?«, ruft Juli zurück. »Okay, lass mal überlegen: weil deine Schuhe offen stehen? Weil du Vegetarier wahrscheinlich für Aliens vom Planeten Vega hältst? Weil in deinen Chats immer nur steht:
Hi.
Hi.
Wmd.
Hi.
Hi?«
Der Junge rollt mit den Augen. »Nee, weil ich ein Junge bin!«
»Okay, ich glaub dir. So eine blöde Antwort kann nur ein Junge geben.«
Der Junge mit der blöden Antwort starrt Juli an. »Du bist ein Mädchen, auch wenn du nicht so aussiehst. Du laberst nämlich so. Und ihr schickt euch übrigens ständig Voicemails.«
»Ach. Echt?«
Er hat eine heisere, schon ziemlich tiefe Stimme wie manche Jungen aus Julis Klasse.
»Was machst du hier?«, ruft Juli hinüber.
»Und du?«
Schwach! So ein Nachmacher!
»Ich führe ein Forschungsprojekt durch. Wir beobachten Wilddruden. Im Wald. Waldwilddruden. Eine Woche lang.« Juli starrt an dem Braunhaarigen vorbei. »Oh, mein Gott! Du hast sie aufgeweckt! Da … hinter dir …!«
Er sieht nicht einmal hin. »Ha. Ha. Und daneben steht ein Graugnom.«
Julis Herz klopft schneller. Er kennt Ronja Räubertochter, ihr absolutes Lieblingsbuch – also, in ihrer Kindheit natürlich.
Er grinst, als er sieht, dass sie auch grinst. Der Nebel über der Weide hat sich inzwischen gelichtet, Himmel und Bäume glühen.
»Und was machst du jetzt hier?«
»Schwimmen.«
»Ist aber noch ganz schön kalt.«
Er zuckt die Schultern, kneift die Augen zusammen und schaut auf das rennende, strudelnde Wasser. Und dann watet er langsam in den Bach hinein. Ohne sich umzudrehen.
Mit allen Kleidern.
Julis Mund klappt auf. Er kann doch nicht …
Der Bach zerrt an ihm, sein Hemd flattert um ihn herum, als wolle es ihn bachabwärts ziehen. Jetzt stößt er sich ab. Er krault. Juli kann nicht kraulen.
»He! Schwimmst du jetzt zum Nordpol?«, ruft sie.
Wenn man krault, hat man sicherlich Wasser in den Ohren. Kurz schwimmt er gegen den Strom, in den aufblühenden Morgen hinein. Dann taucht er ab.
Und – nicht wieder auf.
Juli beißt sich auf die Fingerknöchel.