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Weihnachten ist weg. Urplötzlich. Keiner kann sich mehr daran erinnern. Keiner außer drei Geschwistern: Myri, Joseph und Yule. Ihnen steht eine schwierige Aufgabe bevor. Schaffen sie es, Weihnachten rechtzeitig wieder zurückzuholen?
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Seitenzahl: 97
Meiner Mutter
Als Ravensburger E-Book erschienen 2014
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© Ravensburger Verlag GmbH
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
Umschlag- und Innenillustrationen: Joëlle Tourlonias
Lektorat: Emily Huggins
ISBN 978-3-473-47554-4
www.ravensburger.de
Der Himmel hing über der kleinen Stadt wie eine alte, müde, an einigen Stellen schon brüchige Decke. Durch die Straßen trieb Schneeregen, die nackten Äste der Bäume glänzten vor Nässe und selbst die Straßenlaternen zitterten ein wenig im Wind.
Überall wimmelte es von Menschen. Alle hetzten. Als jage der Winter die Stunden vor sich her und nun müsse man rennen, um die Zeit wieder einzuholen.
In der Bäckerei neben der alten Schule waren die Schaufensterscheiben beschlagen, so viele Menschen warteten drinnen auf Brot und Kuchen.
»Jedes Jahr der gleiche Ärger«, seufzte die junge Bäckerin und wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.
Die alte Dame vor ihr nickte.
»Weihnachten ist nur noch lästig«, sagte sie leise und die Bäckerin zuckte die Achseln.
Der hochgewachsene, hagere Herr hinter ihr zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Dann bückte er sich, um seinen linken Stiefel wieder zuzuschnüren, und die Bäckerin sah, wie sich ein langer grauer, geflochtener Zopf aus seinem Mantel löste.
Mit Schwung hielt der 27er-Bus in einer Schneematsch-Pfütze direkt vor der Bäckerei. Murrend stiegen die Menschen ein, unter ihnen der alte Herr. Ein Mann im Anzug schimpfte den Busfahrer aus, der seine müden Augen auf das Wechselgeld senkte und etwas murmelte, das niemand verstand.
Wirklich niemand?
Der große Alte zog die Augenbrauen ein weiteres Mal zusammen. Vielleicht fragte er sich, ob es wirklich keinen Menschen gab, der sich auf Weihnachten freute.
Dabei leuchteten die Schaufenster wie sonst nie im Jahr und überboten einander an Farben.
Dabei schwebte ein herrlicher Duft aus dem Glühweinkessel auf dem Markt durch die Luft: Es roch nach Zimt und Nelken.
Und vom Lebkuchenstand wehte es wie Lakritze herüber – Anis, und dazu das scharfe Aroma von Muskat, Kardamom und Koriandersamen.
Aber niemand blieb stehen, um zu schnuppern.
Kerzenpyramiden schimmerten in den Fenstern, doch kaum einer sah an den Fassaden hinauf.
Nicht nur auf den Straßen nahm das Gewimmel zu – nein, auch hoch oben über der Stadt donnerten Flugzeuge nun, wenige Tage vor Weihnachten, hin und her, als hätten sie etwas verloren und würden es am ganzen Himmel suchen.
In einem dieser Flugzeuge, knapp über den blendend weißen Wolkengebirgen, saßen drei Kinder und in dem Moment, in dem unsere Geschichte beginnt, sagte der Flugkapitän gerade durch, dass sie sehr bald landen würden. Nun raschelten die Menschen mit ihren Zeitungen, bückten sich nach ihren Taschen und ein paar der ganz kleinen Menschen fingen an zu weinen.
Joseph versuchte schon eine ganze Weile, an Myriams Lockenkopf vorbeizuschielen. Dies war seine letzte Chance, die strahlend schöne Wolkenlandschaft dort draußen zu sehen. Es war einfach ungerecht: Er war noch nie geflogen – und trotzdem saß Myriam am Fenster.
Klar, sie war die Älteste, sie war schon zwölf. Aber war das etwa Grund genug, dass sie immer den besten Platz bekam? Und noch dazu mit ihrem Wuschelkopf die ganze Sicht versperrte?
»Gleich«, hatte sie nun schon zum fünften Mal gesagt.
In diesem Moment wackelte das Flugzeug ein wenig und dann legte es sich in eine prächtige Linkskurve, woraufhin Joseph auf den Schoß seiner Schwester plumpste.
»Mann, bleib auf deiner Seite!«
Joseph rappelte sich wieder auf. »Das war ich nicht, das war das Flugzeug!«
»Und er darf doch wohl maaal rausgucken, oder, Myri?«, sagte Yule, ihre kleine Schwester auf dem Platz am Gang, und schlug die großen braunen Augen bittend auf.
»Das kann er aber auch von seinem Platz aus.«
Yule malte mit dem Zeigefingernagel kleine, spitze Häuser auf ihre Flickenjeans.
»Myri, Papa kommt doch an Weihnachten nach Hause?«, fragte sie plötzlich leise.
Ihre große Schwester antwortete nicht. Stattdessen schien sie die Wolkenfetzen zu beobachten, die vor dem Fenster entlangstrudelten.
Joseph knibbelte an seinem Daumennagel; dann drehte er sich zu Yule um.
»Klar«, sagte er beruhigend. »Ich meine, Weihnachten alleine in München zu feiern ist doof.«
»Aber er war … wie lange ist Papa jetzt schon in München, Joseph? Und er hat überhaupt nicht gesagt, dass er sich auf Weihnachten freut.«
Joseph starrte auf seine Schuhspitzen. »Zwei Monate«, murmelte er.
Ja, ihr Vater wohnte seit zwei Monaten in einer Einzimmerwohnung mitten in München. Sie hatten auf Isomatten auf dem Fußboden geschlafen. Und … Joseph begann, an seinem Daumennagel zu kauen. Einerseits hatte Papa wissen wollen, ob Joseph sich zu Weihnachten immer noch eine gute Kamera wünschte und Yule das Playmobil-Schloss. Aber andererseits …
»Wann kommst du nach Hause?«, hatte Myriam gestern gefragt.
»Habt ihr denn schon einen Weihnachtsbaum?«, hatte Papa entgegnet und Joseph war kalt geworden: Wie konnte er so fragen? Es war doch seit jeher Papas und Josephs Aufgabe, den Baum zu kaufen!
Joseph setzte sich gerade hin. Egal, er würde Yule garantiert nicht erzählen, was er dachte. Sie war noch so klein – gerade erst sieben.
Joseph blickte sich im Flugzeug um. Überall murmelte und raschelte es. Was war das denn? Schnitt der alte Mann in der Reihe hinter ihnen sich wirklich die Fingernägel? War das etwa der Hippie mit dem geflochtenen Zopf und der Fransenweste, der Joseph schon beim Einsteigen aufgefallen war? Er hatte bei jedem Schritt gewippt wie ein Flummi. Ob der sich danach auch noch die Fußnägel …?
Der Hippie sah hoch und Joseph wandte sich schnell um.
Uh, wie peinlich!
Merkwürdige grüne Augen hatte der alte Mann … aber sie sahen freundlich aus …
»Papa kommt nicht.«
Joseph zuckte zusammen. Myriam, die einfach so Josephs schlimmste Befürchtung ausgesprochen hatte, starrte ungerührt aus dem Flugzeug-Bullauge. Er fuhr zu Yule herum.
Und natürlich: In Yules großen Augen standen die Tränen schon bis zum Rand.
»Echt, Myri?«, flüsterte sie. »Papa kommt nicht?«
Joseph krümmte die Zehen zusammen. »Mann, Myriam«, fauchte er. »Das weißt du überhaupt nicht! Hat er das etwa gesagt? Und wenn er wirklich nicht kommt, kriegt sie das doch noch früh genug mit!«
Jetzt drehte seine große Schwester sich um und sah ihm gerade in die Augen.
»Du bist blöd! Soll sie sich die ganze Zeit auf Papa freuen, bloß damit er Weihnachten nicht auftaucht, oder was?«
»Sie freut sich auch auf den Weihnachtsmann, oder?«
»Ja. Genau wie du, du Baby!«
Myriam ließ sich in den Sitz zurückfallen und trat dabei so heftig gegen den Vordersitz, dass die Dame vor ihr zwischen den Sitzen hindurchspähte.
»Weihnachten ist doch blöd! Das finden sogar die Pinguine im Zoo. Die sind jedes Jahr gestresst. Und die meisten Weihnachtsbäume fallen um, weil abgenervte Katzen hineinspringen. Das ist doch krank! Dieser ganze Konsumterror und so!«
Ein merkwürdig zähes Gefühl breitete sich in Josephs Brust aus. Er biss sich auf die Unterlippe. »Das sagst du bloß, weil du noch kein einziges Weihnachtsgeschenk hast!«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Yule ihr Gesicht abwandte. Myriam aber starrte ihren Bruder mit ihrem besten Horrorblick an, und Joseph hielt vorsichtshalber die Luft an.
»Weihnachten … ist … krass überflüssig, falls du es immer noch nicht begriffen hast. Es … gehört … abgeschafft!«
»Da hast du vollkommen Recht«, meldete sich die Dame vor ihnen. Sie warf Myriam einen mürrischen Blick zu. »Weihnachten ist überflüssig! Aber ich wäre dir dennoch überaus dankbar, wenn du nicht ständig gegen meinen Sitz treten würdest!«
Was dann passierte, daran konnte Joseph sich später noch genau erinnern. Erstens legte sich das Flugzeug in eine besonders prächtige Rechtskurve, woraufhin Myriam diesmal fast auf Joseph purzelte.
Zweitens brach Myriam in Tränen aus und legte den Kopf auf ihre Knie. Joseph hatte endlich freien Blick auf die Wolken.
Und drittens?
War das Licht so komisch oder waren die Wolken tatsächlich lila?
Joseph blinzelte.
Ach, Quatsch: Der dichte Wolkennebel, durch den sie jetzt unaufhörlich sanken, war einfach … schneematschgrau.
Als das Flugzeug über der Landebahn schwebte, schwiegen die drei Geschwister. Joseph schloss die Augen und genoss das Kitzeln in seinem Bauch. Das Flugzeug landete wie eine Katze, sanft und weich auf seinen zwei Pfoten, äh, Rädern. Ein paar Leute klatschten, draußen schien die Sonne.
Die Sonne? Waren sie nicht gerade durch ein Meer von Wolken getaucht?
Außerdem musste irgendjemand das ganze Rollfeld geputzt haben: Nirgendwo lag auch nur das kleinste Häufchen Schneematsch.
Die Turbinen fauchten ein letztes Mal, man durfte die Anschnallgurte öffnen, die Leute drängelten zum Ausgang.
Myriam, Joseph und Yule waren die Letzten.
Dann standen sie in der offenen Tür. Yules Augen weiteten sich und Joseph wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.
Warmer Wind blies ihnen entgegen.
Und aus dem Wäldchen, jenseits des Flughafenzauns, hörte er einen Kuckuck rufen.
Sie gingen durch das Flughafengebäude, durch dessen riesige Fenster die Sonne fiel und die blassen Fliesen auf dem Boden in Licht badete, hinter ihrer Mutter her, stumm, wie in einem hässlichen Traum.
Kein Weihnachtsbaum.
Nirgendwo.
Auch kein Adventskranz. Weder auf den Theken der verschiedenen Fluggesellschaften noch in den Geschäften.
Keine einzige Kerze im ganzen Flughafengebäude.
»Warum habt ihr euch so warm angezogen?«, fragte ihre Mutter lachend über die Schulter hinweg. »Ist das irgendein Spiel?«
Joseph sah, wie sich Myriam langsam ihren Loopschal vom Hals wickelte.
Was war hier eigentlich los? Wurde hier irgendein verrückter Film gedreht? Und woher kam diese irre Hitze?
Da blieb Yule plötzlich stehen. Und ihre braunen Augen waren voller Wut.
»Warum sind alle so komisch? Ich will, dass endlich alle aufhören! Es ist viel zu heiß für Weihnachten!«
Ihre Mutter blieb stehen. Erschrocken sah Joseph, dass ihr Blick verständnislos war.
»Weihnachten?«, fragte sie und zog die Brauen zusammen. »Wer ist denn Weihnachten?«
Yule klappte der Mund auf.
»Mama!«, rief Myriam. »Weihnachten ist kein Mensch, sondern ein … ein Fest!«
»Ach, Kinder!« Ihre Mutter lachte. »Ihr wisst doch, dass wir hier im Norden nicht diese komischen Feste der Bayern feiern.«
Jetzt wurden Yules Augen riesig. »Aber Mama …«
Doch ihre Mutter schnitt ihr das Wort ab. Sie runzelte die Stirn. »Klingt sehr nach ›Wein achten‹ – ich muss dringend mal mit eurem Vater sprechen!«
Joseph sah, wie Myriam in ihrer Jeanstasche wühlte und ihr Handy herausfischte. Sie tippte den Code ein und dann … wurden ihre Augen weit.
»Was ist?«
Stumm hielt sie ihm das Smartphone entgegen. Auf dem Display stand nur: »Meinten Sie Wein achten?«
Joseph fühlte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterlief.
Wie immer saß er hinten in der alten, stinkenden Familienmöhre und Myriam vorne. Weil … ja … weil es eben so war.
Alle drei Geschwister schwiegen. Yule starrte aus dem Fenster, aber Joseph konnte sehen, dass ihre Augen in Tränen schwammen.
Er grub seine Finger in die alte Katzendecke. Was war bloß passiert?
Das Auto brauste aus dem Parkhaus in das blendende Licht eines schönen Sommernachmittages und bog dann blinkend auf die Autobahn ab. Sie fuhren an einigen Einkaufszentren vorbei, dann tauchte die erste Kuhweide auf. Die schwarz-weißen Kühe standen dicht gedrängt unter dem einzigen Baum und das Gras war vertrocknet.
War der Flug vorher bloß ein Traum gewesen? Der Schneematsch? Oder der unfreundliche Weihnachtsmann vor dem Rathaus in München, der Yule nicht mehr in seinen Sack greifen lassen wollte, weil er schon Feierabend hatte?
Jetzt rollten sie die Ausfahrt hinunter auf die Landstraße, die zu ihrem alten Städtchen hinüberführte.
Oder war das hier der Traum – die pinken Rosen in der Mitte des ersten Kreisverkehrs, Mamas tintenblaue Sandalen, die Abgase der Motorräder, die durch das Autofenster wehten?
Ob die Erde einfach so einen Sprung gemacht hatte und blitzschnell einen halben Kreis um die Sonne weitergeschossen war?
Aber warum hatten sie das nicht gemerkt?
»Was ist heute wohl für ein Tag?«, flüsterte Joseph Myriam zu.
»Keine Ahnung«, brummte Myriam.