Allgemeine Staatslehre - Alexander Thiele - E-Book

Allgemeine Staatslehre E-Book

Alexander Thiele

0,0
24,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Vor welchen Herausforderungen steht der Staat? Was macht den modernen Staat aus? Vor welchen Herausforderungen steht er im 21. Jahrhundert? Ist eine Allgemeine Staatslehre in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates überhaupt noch zeitgemäß? Das vorliegende Lehrbuch möchte Fragen mit einem Fokus auf den demokratischen Verfassungsstaat beantworten. Es richtet sich an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie an alle, die am „Wesen des Staates“ interessiert sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 775

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexander Thiele

Allgemeine Staatslehre

Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert 2. Auflage

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

VorwortA. Begriff und Verortung der Allgemeinen StaatslehreI. Der Staat als GegenstandII. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre WissenschaftIII. Über einen bestimmten Staat hinausreichendes ErkenntnisinteresseIV. Ein DefinitionsvorschlagB. Zur Möglichkeit einer Allgemeinen Staatslehre im 21. JahrhundertI. Verliert die Allgemeine Staatslehre ihren Gegenstand?II. Fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an einer adäquaten Methode?III. Mangelt es der Allgemeinen Staatslehre an der notwendigen Problemnähe?C. Zehn Fragen an eine Allgemeine Staatslehre im 21. JahrhundertI. Was ist der „moderne Staat“ und wie ist sein Verhältnis zur Gesellschaft?1. Der moderne Staat als Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie3. Der demokratische Verfassungsstaat4. Der völkerrechtliche Staatsbegriff5. Weitere Staatsbegriffe6. Das Verhältnis von Staat und GesellschaftII. Wie entstehen Staaten, welche staatlichen Wandlungsprozesse lassen sich unterscheiden und wie und wann gehen Staaten unter?1. Entstehung von Staaten2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung3. Untergang von Staaten beziehungsweise „Failed States“III. Wie lässt sich Herrschaft rechtfertigen und wann ist Herrschaft legitim?1. Zur Rechtfertigung von Herrschaft2. Die Legitimität staatlicher Herrschaft3. Exkurs: Widerstandsrecht, ziviler Ungehorsam und ProtestIV. Welche (politischen) Regierungssysteme lassen sich unterscheiden?1. Klassische Typologien2. Moderne Typologie3. Die demokratischen Regierungssysteme4. Demokratieindizes5. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreV. Was sind die Grundelemente demokratischer Verfassungsstaaten und wie finanzieren sich diese?1. Gewaltenteilung2. Elemente der Herrschaftsteilhabe (Demokratieprinzip)3. Elemente der Herrschaftsbegrenzung (Rechtsstaatsprinzip)4. Elemente der Leistungsfähigkeit: Staatsaufgaben (Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip)5. Exkurs: Die Finanzierung des demokratischen VerfassungsstaatesVI. Welches sind die staatlichen Herrschaftsträger im politischen Prozess?1. Das Staatsvolk2. Das Parlament3. Staatsleitende Organe der Exekutive4. Die Bürokratie5. Rechtsprechung6. Kultur der Kooperation und ZurückhaltungVII. Welches sind die gesellschaftlichen Herrschaftsträger im politischen Prozess?1. Politische Parteien2. Interessenverbände3. Kirchen und Religionsgemeinschaften4. (Internationale) Unternehmen und Superreiche5. Finanzmarktakteure6. Öffentliche Meinung7. ExpertInnen („Expertokratie“)8. Das Problem des GeldesVIII. Welche föderalen und kommunalen Untergliederungen lassen sich im demokratischen Verfassungsstaat unterscheiden?1. Bundesstaatlichkeit2. Kommunale und regionale Selbstverwaltung3. Städte und „Megacities“4. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreIX. Wie ist die internationale und supranationale Kooperation demokratischer Verfassungsstaaten ausgestaltet?1. Völkerrechtliche Kooperationen2. Supranationale Kooperation3. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreX. Sollte der moderne Staat eine Zukunft haben?1. Denationalisierung der Staatenwelt2. Die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates3. Die Sicherung eines interstaatlichen MindestschutzesD. AusblickLiteraturverzeichnisSach- und Namensregister
[Zum Inhalt]

Vorwort

Moderne Staatlichkeit befindet sich in stetem Wandel, sieht sich fortdauernd vor neue Herausforderungen gestellt. Selten hat sich das so eindrücklich gezeigt, wie in den zwei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage, in denen allein aufgrund der Coronapandemie zahlreiche Fragen staatlicher Organisation und Handlungsfähigkeit (Regierungssystem, Föderalismus, Exekutivlastigkeit, Parlamentsbeteiligung, Grundrechte) und der Legitimität von Herrschaftsordnungen in besonderer Weise auf die (politische und wissenschaftliche) Tagesordnung gerückt sind. Weltweit wurden die Gesellschaften in den Lockdown geschickt, Ausgangssperren verhängt und Kontaktverbote ausgesprochen. Der sich vermeintlich in Auflösung befindliche moderne Staat war zurück und zeigte mit großer Wucht, wozu er im Ausnahme- und Krisenfall (selbst gegenüber der scheinbar so autarken „Wirtschaft“) in der Lage ist. Dabei offenbarten sich zugleich Unterschiede im Umgang mit der Pandemie: Einerseits zwischen demokratischen und autokratischen Systemen, anderseits aber auch zwischen etablierten demokratischen Verfassungsstaaten, die auf diese Herausforderung mit eigenen Strategien reagierten – wobei in populistisch regierten Staaten eine Strategie bisweilen kaum erkennbar war (man denke an das Vorgehen Donald Trumps, Jair Bolsonaros, Boris Johnsons oder Narendra Modis, das, wie Adam Tooze festhält, teilweise schlicht auf Leugnung der Gefahren beruhte). Die Allgemeine Staatslehre hat die Aufgabe, diese aktuellen Entwicklungen bei ihrem ganzheitlichen Versuch, den Staat „in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion zu begreifen“ (Hermann Heller) aufzunehmen, ohne ihre historischen Wurzeln zu vernachlässigen oder in tagesaktuelle Nacherzählungen zu verfallen. Die Coronapandemie hat daher an zahlreichen Stellen Eingang in die zweite Auflage gefunden, zudem wurden weitere Aspekte aufgenommen oder eingehender behandelt (Digitalisierung, die Rolle von ExpertInnen, „Modern Monetary Theory“, die Funktion von Protest). Allgemeine Staatslehre ist – das bestätigt sich einmal mehr – ein dynamisches Lehr- und Forschungsfeld, das Erklärungsangebote für zahlreiche, auch jüngere Entwicklungen machen will und machen kann. Wie Martin Kriele treffend betont, ist damit zugleich jede Generation aufgerufen, ihre eigene Allgemeine Staatslehre zu verfassen. Ältere Werke werden dadurch nicht obsolet. Ihre grundlegenden Ergebnisse und Einsichten bleiben relevant – man denke an die bedeutenden Werke von Georg Jellinek, Hermann Heller, Hans Kelsen oder Herbert Krüger. Für die |VI| Beschreibung aktueller Problemlagen (Supranationalisierung, Digitalisierung, Populismus, Urbanisierung, Coronapandemie), ihre systematische Erfassung sowie für die Entwicklung von Lösungsangeboten können sie aber zwangsläufig weniger beitragen.

Vor diesem Hintergrund formuliert diese Einführung nach einer Verortung und generellen Rechtfertigung des Forschungsfeldes weiterhin zehn Fragen an eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet – das wäre auch gar nicht möglich. Gleichwohl geben die Antworten einen Überblick nicht nur über den Forschungsstand, sondern zeigen zugleich neue Aspekte auf, denen sich eine moderne und interdisziplinär ausgerichtete Allgemeine Staatslehre meines Erachtens widmen sollte. Sie wollen auf diesem Wege zum eigenen Weiterdenken und Vertiefen anregen. Das Buch richtet sich damit nicht nur an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die sich einen ersten Eindruck von der Materie verschaffen wollen. Es adressiert vielmehr auch diejenigen, denen es um eine intensivere Behandlung dieser Thematik geht. Die Fragen (und Antworten) bauen zwar aufeinander auf, müssen aber nicht am Stück und nacheinander gelesen werden. Sie können und sollen auch als Anregung für diejenigen dienen, die nach interessanten Forschungsprojekten suchen. Der Fußnotenapparat ist daher umfangreich, wurde für die zweite Auflage noch einmal um aktuelle Beiträge ergänzt und umfasst nicht nur (deutsche) rechtswissenschaftliche, sondern auch politik-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Literatur, um eine angemessene (erste) Vertiefung zu ermöglichen. Das Konzept unterscheidet sich dadurch partiell von anderen Lehrbüchern. Kritik ist damit ebenso erwartbar wie willkommen (Dank daher nicht zuletzt an Thomas Vesting für seine kritische Besprechung der ersten Auflage).

Auch für die zweite Auflage habe ich mich bei vielen Personen zu bedanken, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Das betrifft zunächst Jona Buhrke, Tabea Nalik, Victoria Kautzner, Johanna Kramer, Katharina Kriebel, Cederic Meier, Lara Schmidt, Karolin Schwarz, Clara Wolf und Felicitas Wolf. Sie haben das Manuskript nicht nur (mehrfach) Korrektur gelesen, sondern zudem wertvolle Hinweise zu seiner Verbesserung gegeben. Sarah Ehls hat wesentliche Impulse für das Design des Umschlagmotivs geliefert, das bei der zweiten Auflage unverändert geblieben ist. Pia Lange hat in unzähligen Gesprächen und mit ihren Anmerkungen und Anregungen erneut zum Gelingen beigetragen. Daniela Taudt vom Verlag Mohr Siebeck hat das Manuskript gemeinsam mit Rebekka Zech und Lisa Laux wie stets hervorragend betreut. Vielen Dank!

Gewidmet ist auch diese Auflage meinem viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Vor mittlerweile mehr als zwanzig Jahren saß ich an der Universität Göttingen erstmals in seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre und war von Anfang an fasziniert – nicht nur vom |VII| Thema, sondern insbesondere von den (historischen) Kenntnissen und der Belesenheit des Dozenten. Dass ich Jahre später ausgerechnet an seinem ehemaligen Schreibtisch ein einführendes Lehrbuch zur Allgemeinen Staatslehre verfassen würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

Berlin, im Dezember 2021 Alexander Thiele

[Zum Inhalt]

A. Begriff und Verortung der Allgemeinen Staatslehre

„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“

Georg Jellinek[1]

 

„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“

Hans Peters[2]

Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, zur (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, zur Staats-, Politik- aber auch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?

Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine |2|allgemeingültige Definition „dieses in die Jahre gekommenen Disziplinformats“[7] fehlt weiterhin, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt, Aufbau und Konzeption. Anders ausgedrückt: Allgemeine Staatslehre ist nicht gleich Allgemeine Staatslehre. Der Großteil der Lehrbücher – und das gilt gleichermaßen für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[8] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[9] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und es variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[10] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.

|3|Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[11] was allerdings nicht zwingend als Defizit angesehen werden muss, sondern auch als wissenschaftliche Offenheit einer sich entwickelnden Programmatik im (globalen) Kontext interpretiert werden kann. Wichtiger als wissenschaftlicher Konsens, so ließe sich formulieren, ist dann die konstante Debatte über Begriff und Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre. Diese Debatte hält die Allgemeine Staatslehre am Leben; käme sie an ihr Ende, dürfte das das Ende der Allgemeinen Staatslehre in ihrer bisherigen „experimentellen“ Form sein.

Auf den folgenden Seiten soll vor diesem Hintergrund ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet und ein Vorschlag gemacht werden, was unter einer modernen Allgemeinen Staatslehre zu verstehen sein könnte, welche Aufgaben eine solche im 21. Jahrhundert sinnvollerweise (noch) wahrnehmen kann und an welchen Stellen sich konkreter Forschungsbedarf entdecken lässt. Anders formuliert: Es geht um die Beantwortung der an die Schiller’sche Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1789 anknüpfenden Frage: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Allgemeine Staatslehre?

Betrachtet man die bestehenden Vorstellungen von und Beschreibungen der Allgemeinen Staatslehre vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Gemeinsamkeiten herausschälen, die – bei allen Unterschieden im Detail und in der Gewichtung – das weitgehend konsentierte Fundament der Allgemeinen Staatslehre bilden. Sie werden im Folgenden skizziert (I–III) und liegen der knappen Definition zugrunde, die anschließend vorgeschlagen wird (IV).

Fußnoten

1

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 4.

2

H. Peters, in: Verwaltungsakademie Berlin, Gegenwartsfragen der Kommunalverwaltung, S. 139 (140).

3

Dazu etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.

4

Vgl. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9 f.

5

Eine entsprechende Disziplin findet sich allein im deutschsprachigen Raum (also in Deutschland, Österreich und der Schweiz), vgl. A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2). Siehe knapp zur historischen Entwicklung auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 5. Relativierend allerdings C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (359 f.).

6

Siehe auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15: „Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“

7

M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1, Rn. 5.

8

Vgl. etwa H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1: „Abstrakt-begriffliche Definitionen wären hier allerdings wenig fruchtbar.“

9

Ob das vor dem Hintergrund der im Jahr 2012 veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für das juristische Studium sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, gerade weil die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft geeignet ist, Erklärungsansätze für die vielfältigen globalen Entwicklungen anzubieten.

10

Das schließt Unterschiede im Detail und in den Schwerpunktsetzungen natürlich nicht aus. Gerade bei den klassischen Lehrbüchern „weiß“ man aber als LeserIn was einen erwartet. Und auch die Vorlesungen sind in diesen Bereichen zumindest inhaltlich ähnlich aufgebaut.

11

Siehe auch O. Lepsius, Besprechung von Thomas Vesting, Staatstheorie, JZ 2019, 991 (992): „Wie immer bei Staatslehren ist unklar, was eigentlich genau mit dem Erkenntnisgegenstand ‚Staat‘ erforscht werden soll.“

I.Der Staat als Gegenstand

Bei der Allgemeinen Staatslehre geht es erstens um eine Betrachtung des kulturellen, sozialen und normativen Phänomens „Staat“ beziehungsweise „Staatlichkeit“: „Der Untersuchungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre ist der Staat“, heißt es bei Burkhard Schöbener und Matthias Knauff[12] gleich zu Beginn ihres Werkes, für Georg Jellinek ist Aufgabe der Staatslehre „Erkenntnis der Erscheinung des Staates nach allen Richtungen seines Daseins“[13], Roman Herzog zählt die Staatslehre zu den Wissenschaften, „die sich mit dem Staat befassen“[14] und Hans Herbert von Arnim sowie Herbert Krüger|4|streben gar die Entwicklung einer „Theorie des Staates an sich“[15] respektive eine „wahrhaft(e) Lehre vom Staate“[16] an. Zwar lehnt Hermann Heller eine Untersuchung des „Wesens“ des Staates insoweit ab, als eine solche vom Staat als eines „unveränderlichen Ding[s] mit zeiträumlich konstanten Merkmalen“[17] ausgeht. Gleichwohl will aber auch er „den Staat begreifen in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion.“[18]

Die Feststellung der Staatszentriertheit der Allgemeinen Staatslehre mag auf den ersten Blick banal erscheinen – wie sollte es bei einer Wissenschaft anders sein, die den Staat schon im Namen trägt? Gleichwohl geht mit ihr eine Begrenzung des zu behandelnden Gegenstandes einher, gerade im Vergleich zu den Wirtschafts-, Politik- sowie anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Diese können und müssen Teil einer Allgemeinen Staatslehre nur sein oder tragen zu dieser nur bei, soweit es um Fragestellungen geht, die in einer Nähebeziehung zum modernen Staat oder zur Staatlichkeit stehen. Diese Wissenschaften weisen zur Allgemeinen Staatslehre also Schnittmengen auf, überlappen sich mit dieser aber nicht vollständig. Welcher Art und wie konkret diese Nähebeziehung ausgestaltet sein muss, bleibt offen und lässt sich nicht abschließend angeben. Tatsächlich gibt es – wie Georg Jellinek treffend formuliert – kaum ein „Gebiet menschlicher Gemeintätigkeit, das nicht in Beziehungen zum Staate stünde“.[19] Hier dürfte ein Grund für die abweichenden Inhalte der Lehrbücher zur Allgemeinen Staatslehre und die divergierenden Forschungsfragen liegen. Welche Nähebeziehung als ausreichend, welche Berührungspunkte als unerheblich eingeordnet werden, wird nicht einheitlich beurteilt. An der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Allgemeinen Staatslehre von den anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ändert dieser Befund jedoch nichts, oder anders: Die Allgemeine Staatslehre geht nicht vollständig in diesen anderen Wissenschaften auf,[20] so wie auch diese nicht in der Allgemeinen Staatslehre aufgehen. Es ist vor diesem Hintergrund kein Widerspruch, wenn das zu skizzierende Forschungsprogramm auch gesellschaftliche Gruppierungen und Phänomene (etwa Gewerkschaften, internationale Unternehmen und Investmentfonds, Geschäftsbanken, Bürgerinitiativen [„Fridays for Future“] oder Rundfunk, Fernsehen und soziale Medien) in den Blick nimmt, solange zu jedem Zeitpunkt verdeutlicht wird, woraus sich – nach Ansicht des Verfassers – die spezifische Nähebeziehung zum Staat oder zum Phänomen Staatlichkeit ergibt.

|5|Die Untersuchung des Staates erfolgt nicht nur empirisch betrachtend, sondern zugleich normativ bewertend; es geht mit Hans Herbert von Arnim darum, zu beschreiben, zu erklären, zu bewerten und zu kritisieren sowie um das Entwickeln von Verbesserungsvorschlägen.[21] Die Allgemeine Staatslehre ist Seins- und Sollenswissenschaft zugleich.[22] Die ausschließliche Beschreibung des Bestehenden, gewissermaßen der „staatlichen Tatsachen“, wäre zwar möglich. Und es steht außer Frage, dass mit der damit einhergehenden Systematisierung der weltweiten Staatenvielfalt und der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ein Mehrwert verbunden wäre. Die unterschiedlichen Formen moderner Staatlichkeit und die historisch-pfadabhängigen Wandlungsprozesse (nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent)[23] sind auch für ExpertInnen kaum noch zu überblicken. Der Staat ist nicht statisch, sondern „Prozess“,[24] mehr „atmende(s) Wesen als statische Konstruktion“,[25] was sich in der Coronapandemie in besonderer Weise gezeigt hat. Eine solche, rein beschreibende und ordnende Allgemeine Staatslehre verlöre aber ihren Charakter als kritische Wissenschaft, schrumpfte zur „positivistischen Begleitwissenschaft“ und wäre in einer solchermaßen faden und blutleeren Form nicht in der Lage, Impulse für die Entwicklung der Staaten zu liefern und Fehlentwicklungen zu thematisieren. Eine solche Allgemeine Staatslehre könnte mit jeder Ausprägung von Staatlichkeit leben – der Staat und die Staatenwelt wären wie sie sind: Der Hobbes’sche Leviathan mal mehr und mal weniger gebändigt, mal gewalttätig, mal schwach bis zur Bedeutungslosigkeit. Für eine neutrale Allgemeine Staatslehre stellten sich daran anknüpfende Fragen nicht. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Erosion des demokratischen Verfassungsstaates,[26] ja sogar die Entstehung neuartiger autoritärer Staatsformen wäre für sie lediglich Anlass zur Anpassung der gefundenen Ergebnisse aber niemals Ausgangspunkt für Kritik oder (lautstarke) Empörung. Eine solche Allgemeine Staatslehre aber kann es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) geben:[27] „Staatslehre muss auch kritisch sein“.[28] Ähnlich |6|formuliert Herbert Krüger: „Eine Staatslehre lässt sich gewiss nicht ohne inneres Beteiligtsein schreiben, um von dem Sinn für Staatlichkeit und ihre Würde ganz zu schweigen.“[29] Wo Menschen gefoltert, Meinungen unterdrückt, JournalistInnen inhaftiert, Medien behindert und Oppositionelle gegängelt werden, darf eine moderne Allgemeine Staatslehre nicht in unparteiischer Lethargie, Langeweile und Beliebigkeit verharren. Auch die Auswirkungen des vorherrschenden Wirtschaftssystems auf den sozialen Zusammenhalt wird sie nicht unkommentiert lassen können. Allgemeine Staatslehre ist nicht wertneutral, ohne dass dazu Übereinstimmung in der Ausgestaltung des normativen Referenzmodells bestehen müsste, an dem die reale Staatenwelt gespiegelt wird. Es ist aber Aufgabe einer jeden Allgemeinen Staatslehre ein Referenzmodell anzubieten und zur Diskussion zu stellen.[30] Nach hier vertretener Ansicht kommt allein der (denationalisierte)[31] demokratische Verfassungsstaat[32] als Referenzmodell in diesem Sinne in Betracht.[33] Nur dieser geht von der gleichen (politischen) Freiheit aller – dem demokratischen Grundversprechen – sowie der unveräußerlichen Menschenwürde jedes Individuums unabhängig von Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung oder sexueller Orientierung aus.[34] Seine Struktur, Ausgestaltung und Charakteristika sollten daher auch im Forschungsprogramm der Allgemeinen Staatslehre im Zentrum stehen. Beide Ebenen – also die tatsächliche und die normative Ebene – gilt es freilich in der Darstellung durchgehend und deutlich erkennbar voneinander zu scheiden: „Stets sollte also klar sein, ob eine Aussage die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt oder sie kritisch bewertet und eine bessere Alternative vorschlägt, kurz, ob man von dem spricht, was ist, oder von dem, was sein soll.“[35]

Die Einigkeit im Hinblick auf ihren zentralen wissenschaftlichen Gegenstand – den Staat – darf nicht mit einer wissenschaftlichen Einigkeit hinsichtlich des zugrundeliegenden Staatsbegriffs verwechselt werden. Angesichts „der Mannigfaltigkeit, die der Staat darbietet“[36] ist dieser Befund nicht |7|überraschend – „der Staat“ kann nicht nur auf unterschiedliche Weise betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Art definiert werden:[37] „Man kann sehr Verschiedenes als ‚Staat‘ bezeichnen.“[38] Tatsächlich bildet die Frage nach dem Wesen des modernen (neuzeitlichen) Staates und den diesen prägenden Merkmalen einen zentralen Diskussionspunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre.[39] Sie bleibt ein zentraler Forschungsbereich und dürfte es angesichts des steten Wandels von Staatlichkeit und neuartiger Herausforderungen (Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung) dauerhaft bleiben.[40] Auch die unten (und zuvor bereits an anderer Stelle)[41] präsentierten historischen Wesensmerkmale, die den modernen Staat der Neuzeit prägen und von vorherigen staatlichen (oder staatsähnlichen) Gemeinwesen unterscheiden, sind nur eine Momentaufnahme. „It may seem curious that so great and obvious a fact as the state should be the object of quite conflicting definitions, yet such is certainly the case.“[42] Auch insoweit ist es dem Verfasser überlassen, sich „seinen modernen Staat zu schaffen“ oder (in den Worten Egon Friedells) gerade im Hinblick auf die staatliche Entwicklungsgeschichte seine „Legende“ über den modernen Staat zu erzählen[43] und in den Diskurs einzupflegen – stets in kritischer Auseinandersetzung mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart vorzufindenden Vorschlägen, Ansätzen und Ideen.[44]

Fußnoten

12

B. Schöbener/M. Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1, Rn. 1.

13

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9.

14

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16.

15

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.

16

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Vorwort, S. V.

17

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3.

18

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3. Ein solchermaßen statischer Staatsbegriff liegt freilich auch den Staatslehren Krügers und von Arnims nicht zugrunde.

19

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

20

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

21

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2.

22

Vgl. auch K. Doehring, Allgemeine Staatslehre, Rn. 23; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 121.

23

Siehe dazu M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, 2021.

24

G. F. Schuppert, Staat als Prozess, 2010.

25

M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, S. 127.

26

Siehe dazu etwa S. Levitsky/D. Ziblatt, How Democracies Die, 2018, Y. Mounk, The People vs. Democracy, 2018; A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Auflage 2018; A. Przeworski, Krisen der Demokratie, 2020; A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, 2021.

27

Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 34: „Die Staatslehre zumindest darf sich eines Schweigens gegenüber der Gegenwart nicht schuldig machen.“

28

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 2. Siehe auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 4.

29

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. IX.

30

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1; P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 122.

31

Bei der Denationalisierung handelt es sich freilich um eine in die Zukunft gerichtete Forderung, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285 ff. Siehe auch unten bei Frage X.

32

Zur historischen Entwicklung A. Thiele, Der konstituierte Staat, 2021 sowie – aus deutscher Perspektive – H. Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, 2020.

33

Siehe dazu auch A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 31 ff. Zentrale Elemente des demokratischen Verfassungsstaates finden sich bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 235 ff. Siehe auch ders., Der konstituierte Staat, S. 92 ff.

34

Vgl. auch P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 28 f.

35

R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

36

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 5.

37

Siehe auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 117 sowie H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 3 ff.

38

N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 14. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9: „Das bedeutet, dass sich auf die Frage, was eigentlich damit gemeint ist, wenn das Wort ‚Staat‘ verwendet wird, keine Antwort von selbst versteht.“

39

Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 4 ff.

40

Aus der Perspektive der Bankenregulierung A. Busch, Staat und Globalisierung, 2003.

41

Siehe A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 44 ff.

42

R. M. MacIver, The Modern State, S. 3.

43

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 32 ff., 37.

44

Dass es angesichts dieser Vielfalt an (historischen) Staatsbegriffen nicht zwingend erforderlich ist, stets eine völlig neue Definition anzubieten, versteht sich von selbst.

II.Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft

Die Allgemeine Staatslehre ist zweitens eine interdisziplinäre Wissenschaft.[45] Dieser Umstand wurde bereits erwähnt und ergibt sich daraus, dass es der Allgemeinen Staatslehre um eine umfassende Beschreibung des Staates (der |8|Staatlichkeit), des „gesamten politisch-administrativen Systems“[46] geht. Eine solche – anspruchsvolle[47] – Aufgabe verlangt, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuführen.[48] Andernfalls muss die Erfassung des Staates in seiner Gesamtheit scheitern: „Staatslehre ist heute interdisziplinär oder sie ist überhaupt nicht.“[49] Oder in den Worten von Christoph Möllers: „Die Allgemeine Staatslehre ist eine eigene Disziplin zur Zusammenführung anderer Disziplinen.“[50] Zu betonen ist freilich: In dieser Zusammenführung erschöpft sie sich nicht. Ohnehin ist auch eine solche Zusammenführung eine wissenschaftliche Leistung, die zu Ergebnissen führen kann, die über diejenigen der Einzelwissenschaften hinausgehen.[51] Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Allerdings ist mit dieser Feststellung der Interdisziplinarität noch nicht beantwortet, welche Wissenschaftsdisziplinen bei der Allgemeinen Staatslehre zusammenkommen (sollen) und mit welcher Methode, in welchem Umfang und mit welchem wissenschaftlichen Ziel eine solche Zusammenführung durchzuführen wäre. In der Forschungswelt besteht hier erneut keine Einigkeit, teilweise wird bestritten, dass die angestrebte Vereinigung zu einer „neuen wissenschaftlichen Form“[52] überhaupt gelingen kann. Das Ob und das Wie der methodenpluralistischen[53] Integration der verschiedenen Teilwissenschaften sind jedenfalls zu einem gewissen Umfang der Willkür und damit den persönlichen Vorlieben und Kenntnissen des Verfassers überlassen – ein weiterer Grund, warum sich die Lehrbücher so deutlich voneinander unterscheiden. Wer sich neben der Rechtswissenschaft auch in der Ökonomie zu Hause fühlt, wird wirtschaftswissenschaftliche Aspekte stärker integrieren[54] als jemand, der vor allem an soziologischen Fragestellungen interessiert ist. Oftmals dürfte auch der Zufall eine Rolle spielen: Schon angesichts des Umfangs der Abhandlungen, die in dem erforderlichen Näheverhältnis zum modernen Staat stehen, werden aus unbekannteren Disziplinen diejenigen herangezogen, über die man – etwa, weil |9|sie in einer Tageszeitung erwähnt wurden – schlicht gestolpert ist. Das ist wissenschaftstheoretisch unbefriedigend, in der Sache aber kaum zu ändern, wenn man an der Allgemeinen Staatslehre festhalten will.[55] Allgemeine Staatslehre ist ebenso interdisziplinär wie experimentell und individuell.[56]

Immerhin wird man zwei Dinge festhalten können, die in dieser Hinsicht allgemein anerkannt sein dürften. Da es der Allgemeinen Staatslehre um die Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse des Staates (also der staatlichen Wirklichkeit) geht,[57] kann und muss sie sich zum einen bei den Sozialwissenschaften bedienen. Dazu gehören mit Hans Herbert von Arnim die Soziologie, die Politikwissenschaft aber auch die Volkswirtschaftslehre, die Finanzwissenschaft und die Politische Ökonomie.[58] Hinzu treten die politische Philosophie[59] und die Geschichtswissenschaft, ohne die eine Beschreibung und Analyse des Status quo der heutigen (modernen) Staatenwelt und möglicher Transformationen letztlich nicht möglich ist[60] – trotz der polemischen und eher einer persönlichen Abneigung geschuldeten Bedenken, die Egon Friedell gegenüber der Geschichtswissenschaft geäußert hat.[61] Zum anderen umfasst die Allgemeine Staatslehre auch die normwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche Perspektive; sie ist auch normative Wissenschaft. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Allgemeine Staatslehre dadurch zum Aliud der Staatswissenschaften wird (denen es gerade an dieser Perspektive mangelt) oder – wofür Roman Herzog plädiert hat – sie als Unterdisziplin der umfassend zu verstehenden Staatswissenschaften[62] anzusehen ist.[63] Entscheidend ist, dass eine Untersuchung des modernen Staates ohne diese normative Perspektive keine Allgemeine Staatslehre im hier verstandenen Sinne sein kann. Die Allgemeine Staatslehre strebt vielmehr gerade an, die im Positivismus (für den der ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Verfassungsstaat im |10|Zentrum stand)[64] begründete Aufspaltung in eine soziale Staatslehre einerseits und eine normative Staatsrechtslehre andererseits rückgängig zu machen und beide Seiten der „staatlichen Medaille“ wieder zusammenzuführen – so, wie dies in der Hochphase der Allgemeinen Staatslehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinahe selbstverständlich der Fall war.[65] Angesichts dieser doppelten Ausrichtung erscheint es aber losgelöst von vermeintlichen „Fachegoismen“ wenig überzeugend, eine Umbenennung der Allgemeinen Staatslehre in „Politikwissenschaft“[66] zu einer zweitrangigen Frage zu erklären.[67] Begrifflichkeiten sind zur Abgrenzung und Systematisierung der Wissenschaftszweige ebenso wie zur Vermeidung von Verständnisproblemen innerhalb des Wissenschaftsraumes nicht beliebig und austauschbar – auch wenn zuzugeben ist, dass diese bisweilen historischen Zufälligkeiten geschuldet sind und es allein auf das materielle Verständnis und die behandelten Fragestellungen ankommen kann. Gerade der Begriff der Politikwissenschaft dürfte sich aber so etabliert und ausdifferenziert haben, dass seine Gleichsetzung mit der (sozial-normativen) Allgemeinen Staatslehre auf Seiten aller Beteiligten eher für Verwirrung, zumindest aber Verwunderung sorgen dürfte.

Dieser interdisziplinäre Ansatz, bei dem normative und sozialwissenschaftliche Vorstellungen und Kontexte zusammenkommen, grenzt die Allgemeine Staatslehre vom (vergleichenden) Staatsrecht und vom (vergleichenden) Verfassungsrecht ab, denen die normativ-dogmatisch (rechtliche) Analyse einer bestimmten Staats- und Verfassungsordnung respektive der normative (rechtliche) Vergleich mehrerer Staats- und Verfassungsordnungen obliegt.[68] Die Allgemeine Staatslehre geht in diesen normativen Verfassungsvergleichswissenschaften nicht auf, die daher auch nicht an ihre Stelle treten können. Vergleichbar ist sie im anglo-amerikanischen Raum am ehesten mit der unter anderem von Ran Hirschl wiederbelebten Disziplin „Comparative |11|Constitutionalism“,[69] die im anglo-amerikanischen Raum auch (aber nicht ausschließlich)[70] von RechtswissenschaftlerInnen betrieben wird.[71]

Fußnoten

45

Vgl. auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 16 ff.

46

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (158).

47

Vgl. C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

48

Vgl. auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

49

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 10.

50

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

51

Dass die Zusammenführung gegenwärtig mehr oder weniger methodenfrei abläuft ist allerdings ein Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Siehe dazu sogleich.

52

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

53

Vgl. M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2.

54

In zahlreichen Lehrbüchern kommen ökonomische Aspekte, nicht zuletzt die Frage nach der Finanzierung des Staates, allerdings nur sehr verkürzt oder überhaupt nicht vor. Hier besteht zweifellos Forschungsbedarf aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre. Vor allem aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Entwicklungen – etwa zur Bewertung der Staatsverschuldung – werden allenfalls rudimentär zur Kenntnis genommen.

55

Zur Methodenkritik auch gleich noch unten.

56

Vgl. T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 36.

57

Siehe auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1.

58

H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 5.

59

Einführend dazu E. Özmen, Politische Philosophie, 2013.

60

Speziell zum historischen Staatsverständnis zuletzt auch G. Metzler, Der Staat der Historiker, 2019.

61

E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 24 ff. Friedell spricht der Geschichtswissenschaft dabei im Ergebnis jede Wissenschaftlichkeit ab, aaO, S. 26: „Wir gelangen demnach zu dem Resultat: sobald die referierende Geschichtsschreibung versucht, eine Wissenschaft zu sein, hört sie auf objektiv zu sein, und sobald sie versucht, objektiv zu sein, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein.“ Diese Einschätzung wird hier nicht geteilt, sie sei aber zur nicht ernstgemeinten Provokation befreundeter HistorikerInnen gleichwohl zitiert.

62

„Staatswissenschaften“ bildet dann den Oberbegriff für alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Staat befassen.

63

Vgl. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 16 ff.

64

Überblick dazu bei A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 236 ff.

65

Vgl. auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (358).

66

So etwa der Untertitel der Allgemeinen Staatslehre von Reinhard Zippelius, der allerdings nicht näher erläutert wird.

67

H. H. von Arnim, Ist Staatslehre möglich?, JZ 1989, 157 (157).

68

Siehe beispielhaft etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010. Allerdings wird diese Entkontextualisierung und Fokussierung auf die (nationale) Dogmatik, die sich nicht zuletzt in der Zitierweise höchstrichterlicher Entscheidungen spiegelt, auch in der deutschen Rechtswissenschaft mittlerweile kritisch gesehen, vgl. O. Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, JZ 2019, 793 ff. Siehe auch A. Thiele, Der konstituierte Staat, S. 369 sowie F. Gärditz, Verfassungsentwicklung und Verfassungsrechtswissenschaft, in: M. Herdegen/J. Masing/R. Poscher/F. Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 4, Rn. 63 f. Darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.

69

R. Hirschl, Comparative Matters, 2014. Insgesamt herrscht im anglo-amerikanischen Raum bisweilen ein wenig Verwunderung über die gerade im deutschen Staatsrecht vorzufindende strikte Trennung der normativen von der sozial-politischen Sphäre, wie sie sich auch in den klassischen Lehrbüchern findet. Dort wird auch das allgemeine Staatsrecht stärker in einen interdisziplinären Kontext gebettet.

70

Ran Hirschl ist Politik- und kein Rechtswissenschaftler.

71

Vgl. auch J. Plebuch, Amerikanischer Weltdiskurs, Der Staat 60 (2021), 133 (133).

III.Über einen bestimmten Staat hinausreichendes Erkenntnisinteresse

Reicht das interdisziplinäre Erkenntnisinteresse einer „Staatslehre“ über das Wesen und die Struktur eines einzelnen Staates hinaus, handelt es sich drittens um eine Allgemeine Staatslehre; soll hingegen das Wesen eines bestimmten Staates oder einer sehr kleinen Staatengruppe beleuchtet werden, handelt es sich um eine „Besondere Staatslehre“.[72] Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, verfolgen jedoch unterschiedliche Zwecke. Eine Allgemeine Staatslehre zielt ihrer Idee nach darauf ab, Wesen und Charakter aller bestehenden Staaten zu ergründen. Sie wird sich daher der induktiven Methode bedienen und versuchen, vom Besonderen der individuellen Staaten auf das Allgemeine aller Staaten zu schließen. Der empirische „Staatenvergleich“ bildet ein zentrales Element einer jeden Allgemeinen Staatslehre. Das schließt eine deduktive Vorgehensweise nicht von vornherein aus. So ließen sich eventuell aus dem allgemeinen Wesen des Menschen abstrakte Hypothesen über das Zusammenleben im Staat entwickeln, die dann jeder staatlichen Gemeinschaft gemein sind oder sein müssten. Auch dieser Weg – den nicht zuletzt Karl Popper mit seiner Stückwerk-Sozialtechnik gewiss eingeschlagen oder bevorzugt hätte[73] – käme aber ohne den umfassenden Staatenvergleich zur |12|anschließenden Verifizierung (beziehungsweise Falsifizierung) der Hypothesen nicht aus. Im Übrigen ist es bisher allenfalls rudimentär gelungen, aus dem Wesen des Menschen sinnvolle Annahmen zu formulieren, die sich als Grundlage einer umfassenden und halbwegs realitätsnahen (nicht-utopischen) Allgemeinen Staatslehre eignen würden.[74] Auch hier wird daher die induktive Methode als „Grundsatzmethode“ vorgeschlagen, die, das sei noch einmal betont, nicht ausschließt (sondern sogar verlangt), den empirisch ermittelten Befund einer normativen Kritik zu unterziehen.

Der theoretisch-universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre bedarf in mehrfacher Hinsicht einer Einschränkung und Modifikation. Angesichts der Vielzahl an Staaten – die Vereinten Nationen haben gegenwärtig 193 ordentliche Mitglieder – ist es zunächst unmöglich, eine umfassende Allgemeine Staatslehre zu verfassen, die sämtliche bestehenden modernen Staaten mit der gleichen wissenschaftlichen Tiefe durchdringen und analysieren könnte. Schon die Sprachbarriere ist hier nicht zu überwinden. Entsprechende Versuche hat es zwar durchaus gegeben, auch Georg Jellinek ist seine Maßstäbe setzende Allgemeine Staatslehre mit diesem Anspruch angegangen.[75] Er hat diesen aber schon wenige Seiten später wieder zurückgenommen, jedenfalls aber eingeschränkt.[76] Trotz ihres beeindruckenden Umfangs und ihrer analytischen Kraft handelt es sich in ihrem Kern „doch lediglich (um) eine Theorie des europäischen Staatstypus“,[77] die nicht zuletzt asiatischen, aber auch afrikanischen Erscheinungsformen von Staatlichkeit praktisch keinen Raum bietet. In der Regel beschränken sich die Verfasser einer Allgemeinen Staatslehre auch ausdrücklich auf die Beschreibung einer bestimmten Staatengruppe, die aus ihrer Sicht einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht. Herbert Krüger konzentriert sich in seinem monumentalen Werk auf den „modernen Staat“, Roman Herzog grenzt ein wenig weiter ein und behandelt den „modernen Staat demokratischer Prägung“[78], während sich Hermann Heller ausdrücklich auf den „Staat, wie er sich seit der Renaissance im abendländischen Kulturkreis ausgebildet hat“, fokussiert (womit letztlich wie bei Herbert Krüger der moderne Staat gemeint sein dürfte).[79] Einer solchermaßen auf eine Gruppe von Staaten begrenzten |13|Staatslehre ihre Allgemeinheit absprechen zu wollen, überzeugt nicht.[80] Man wird aber verlangen müssen, dass die Gruppe der ausgewählten Staaten eine signifikante Zahl an Staaten umfasst, da sich ansonsten kaum verallgemeinerbare Aussagen treffen ließen. Notwendig erscheint zudem eine Erläuterung, worin diese (subjektive) Auswahl gründet, was also das Erkenntnisinteresse an gerade dieser Staatengruppe rechtfertigt.

Nach hier vertretener Ansicht erscheint – ähnlich wie bei Martin Kriele[81]– eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat sinnvoll.[82] Betrachtet werden sollten vornehmlich solche modernen Staaten, die sich ihrer Verfassungsordnung nach diesem Staatstypus zuordnen lassen. Der Rückgriff auf die Verfassungsordnung allein erscheint allerdings noch als zu weitgehend, da der in der Verfassung verankerte Anspruch, Demokratie zu sein, seit dem Zweiten Weltkrieg (und noch einmal verschärft seit Ende des Kalten Krieges) von einer großen Zahl an Staaten zwar behauptet, in der staatlichen Wirklichkeit aber viel seltener eingelöst wird. Die „Demokratische Volksrepublik Korea“ (Nordkorea) ist trotz ihrer Bezeichnung ebenso wenig eine materielle Demokratie, wie die Demokratische Republik Kongo oder wie es die „Deutsche Demokratische Republik“ (DDR)[83] jemals war. Eine sinnvolle Abgrenzung und Reduzierung der zu behandelnden Staaten ergibt sich damit nur, wenn man außer dem normativ-formalen noch ein faktisches Kriterium berücksichtigt und verlangt, dass der normative „Demokratieanspruch“ zwar nicht umfassend, aber doch größtenteils verwirklicht wird. Diese Auswahl setzt damit eine normative Vorstellung von den Anforderungen voraus, die ein moderner Staat erfüllen muss, um als (materiell) demokratisch in diesem Sinne angesehen werden zu können. Streng genommen kann diese erste Auswahl daher nur als vorläufig angesehen werden – ob sie sich bestätigt, zeigt sich erst nach Entwicklung des umfassenden demokratischen Referenzmodells. Welche modernen Staaten man neben den wenigen zweifelsfrei demokratischen Verfassungsstaaten[84] noch in die nähere Betrachtung einbezieht, ist dadurch zu einem gewissen Teil eine (willkürliche) Wertungsfrage – ein Umstand, der angesichts der grundlegenden Übereinstimmung in der Frage der relevanten Kriterien aber nicht sonderlich dramatisch |14|erscheint:[85] Die Allgemeine Staatslehre fängt im 21. Jahrhundert nicht bei null an. Ohnehin besteht die Möglichkeit, die eigene Auswahl zu einem späteren Zeitpunkt zu modifizieren.

Neben dem Großteil der europäischen Staaten – eine Ausnahme bilden die Türkei, Russland, Weißrussland und einige weitere ehemalige Sowjetrepubliken[86] – gehören unter anderem die USA, Kanada, aber auch zahlreiche südamerikanische Staaten wie Argentinien, Chile, Peru, Kolumbien, Uruguay oder (noch) Brasilien zu dieser Staatengruppe. Auf dem afrikanischen Kontinent sind es Südafrika, Botswana, Namibia, Ghana, partiell auch Kenia und nun vielleicht auch Äthiopien sowie (noch) Tunesien. In Somaliland funktionieren die staatlichen (demokratischen) Institutionen, allerdings genießt dieser Staat keine internationale Anerkennung.[87] In Asien wird man Indien, Südkorea, Japan und Taiwan sowie Israel nennen können,[88] zentralasiatische Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan), über die in der westlichen Welt generell wenig bekannt ist,[89] wird man sämtlich nicht dazuzählen können (wenngleich sich zumindest in Kirgistan im Vergleich deutlich „demokratischere Züge“ aufzeigen lassen). Hinzu kommen aber natürlich Australien und Neuseeland.

Diese Entscheidung für eine Fokussierung auf den demokratischen Verfassungsstaat beruht auf folgenden fünf Erwägungen: Erstens findet sich mit den demokratischen Verfassungsstaaten eine prinzipiell anerkannte Gruppe moderner Staaten, an die eine Begrenzung anknüpfen kann. Die zu analysierende Staatengruppe muss also nicht (zumindest nicht in Gänze) theoretisch konstruiert werden, sondern findet sich in der „faktischen Staatenwelt“. Das entlastet aus wissenschaftlicher Sicht erheblich und wird zudem dem Anspruch der Allgemeinen Staatslehre gerecht, auch Seinswissenschaft zu sein. Zweitens erscheint diese Staatengruppe einerseits ausreichend homogen, um eine ausführliche Analyse mit den begrenzten Kapazitäten zu ermöglichen, während die modernen Staaten dieser Gruppe andererseits doch solche Unterschiede aufweisen, die auf fruchtbare Ergebnisse der Systematisierung und des (wertenden) Vergleichs hoffen lassen. R. M. MacIver hat das treffend formuliert: „Practically all modern States are, in terms of the definition already given, to be classed as democracies, but not all are quite alike in |15|character.“[90] Schon die unterschiedlichen Regierungssysteme – vom Präsidialsystem über das parlamentarische und das semi-parlamentarische Regierungssystem bis zum Direktorialsystem bieten reichlich Analyse-, Vergleichs- und normatives Bewertungspotenzial. Drittens scheint dieser Staatentyp mittlerweile derjenige zu sein, dem der Großteil der bestehenden Staaten nach Außen und Innen entsprechen will: „Es gibt nach wie vor eine internationale und auch innenpolitische Prämie auf den Status, als Demokratie zu gelten: International bringt es Prestige wie auch handfeste wirtschaftliche Vorteile; im Inneren kann man den unterlegenen politischen Gegnern immer vorhalten, sie seien eben schlicht nicht populär und müssten sich dem erklärten Mehrheitswillen beugen.“[91] Dann aber scheint es nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig, herauszuarbeiten, was diesen attraktiven Staatentyp im Einzelnen prägt.[92] Nur dann kann fundiert dargelegt werden, dass und warum einige Staaten ihrem selbst gesteckten Anspruch nicht genügen. Erst die Entwicklung dieses normativen Referenzmodells macht es etwa möglich zu begründen, dass die türkische Verfassung nach der von Recep Tayyip Erdogan eingeleiteten Reform und entgegen den eigenen Behauptungen den Anforderungen an ein demokratisches Präsidialsystem im US-amerikanischen Sinne nicht genügt.[93] Gleiches gilt für die neue russische Verfassung, mit der Wladimir Putin seinen Machtanspruch für die nächsten Jahre gesichert hat. Für die Europäische Union kommt hinzu: Beitreten können dieser nur demokratische (europäische) Staaten, so dass man wissen muss, was solche Staaten ausmacht. Viertens erscheint es sinnvoll eine Staatengruppe zu wählen, zu der auch die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz gehören. Das ist deshalb ratsam, weil es sich bei der Allgemeinen Staatslehre um eine vornehmlich deutschsprachige Disziplin handelt – bereits eine englische Übersetzung des Begriffs „Staatslehre“ bereitet Schwierigkeiten,[94] ist vielleicht gar unmöglich. Eine Allgemeine Staatslehre, die nicht auch diese deutschsprachigen Staaten in den Blick nähme, wäre zwar möglich, aber doch ungewöhnlich. Hinzu kommt die – ein subjektives Argument – Sozialisation des Autors dieser Zeilen und die damit einhergehenden Kenntnisse der deutschen Demokratie und des Grundgesetzes. Schließlich und fünftens weist der demokratische Verfassungsstaat in den letzten Jahren gewisse Krisensymptome auf,[95] die sich im Erstarken |16|rechtspopulistischer[96] beziehungsweise autoritärer Strömungen (Donald Trump, Jair Bolsonaro, Boris Johnson, AfD, FPÖ, Tea Party Bewegung etc.),[97] in einer problematischen Streitkultur sowie in einer tendenziell sinkenden Wahlbeteiligung[98] widerspiegeln.[99] „Die liberale Demokratie des Westens ist in der Defensive“, stellte Heinrich August Winkler in seiner umfassenden Analyse aus dem Jahre 2017 fest.[100]Achim Schäfer und Michael Zürn konstatieren: „Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle“,[101]Alexander Bogner führt aus, dass der globale Drang nach Demokratie mittlerweile in eine veritable Rezession übergegangen sei[102] und Jan-Werner Müller hält lapidar fest: „Es ist ein Gemeinplatz geworden: Die Demokratie steckt in der Krise.“[103]Cristina Lafont spricht von „schwierigen Zeiten für die Demokratie.“[104] Die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten markierte demnach lediglich den vorläufigen Höhepunkt dieser (trotz dessen Abwahl nach seiner ersten Amtszeit andauernden) weltweiten Krise,[105] die mittlerweile von zahlreichen AutorInnen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben worden |17|ist.[106] Sie hat, in den Worten Manfred G. Schmidts, dazu geführt, dass die europäischen Demokratien – man denke an Ungarn, Polen, aber auch Tschechien und Rumänien – zwar „nicht todkrank, aber auch nicht kerngesund, sondern angeschlagen“ sind.[107] Als besonders erschreckend erweist sich die Tatsache, dass von dieser Entwicklung zunehmend auch etablierte Demokratien wie die USA, Großbritannien oder Indien betroffen sind. Entgegen optimistischen Modernisierungstheorien der Nachkriegszeit war und ist die Demokratisierung insofern kein unaufhaltsamer und unumkehrbarer Prozess,[108] der demokratische Status quo nicht gesichert. Die vergleichende Analyse demokratischer Verfassungsstaaten verspricht Antworten auf die Frage, inwieweit diese Krisensymptome auf ähnliche oder sogar identische Ursachen zurückzuführen sind (Axel Schäfer und Michael Zürn sprechen von einer prinzipiell vergleichbaren doppelten Entfremdung),[109] wo Unterschiede bestehen – Philip Manow hat unlängst auf die Bedeutung der jeweiligen politischen Ökonomie hingewiesen[110] – und wie mögliche Lösungsansätze allgemeiner und besonderer Art aussehen könnten. Die Fokussierung auf demokratische Verfassungsstaaten bedeutet ohnehin nicht, dass nicht auch andere Staaten in die Betrachtung einbezogen werden müssten. Eine solche Einbeziehung erfolgt dann allerdings zur Veranschaulichung der Unterschiede und damit punktuell und unsystematisch, mithin zur deutlicheren Herausarbeitung des spezifischen Charakters des demokratischen Verfassungsstaates.[111] Sie kann aber gerade dort, wo eine materielle Demokratisierung aktuell mehr oder weniger gescheitert ist (Russland, Türkei, Ukraine, Afghanistan, Libyen, Venezuela, Syrien) auch helfen, die gegenwärtig zu beobachtenden Krisensymptome zu verstehen und besser einzuordnen.

Darüber hinaus muss sich eine Allgemeine Staatslehre auf eine Untersuchung des bestehenden Staatensystems beschränken. Die Allgemeinheit auch in historischer Perspektive einlösen zu wollen und damit zugleich eine umfassende Evolutionsgeschichte des modernen Staates zu verfassen, ist |18|angesichts der Vielfalt der historischen Staaten und staatsähnlichen Herrschaftsstrukturen nicht möglich, muss daher anderen überlassen bleiben.[112] Durch die Erkenntnisse der politischen Anthropologie ist die Zahl politischer Systeme, die in einer solchen Geschichte zu behandeln wären, noch einmal erheblich angestiegen. Diese hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargelegt, dass Formen von Politik und damit auch Formen von Staatlichkeit und Herrschaft keineswegs erst mit den Hochkulturen, sondern bereits in den frühen segmentären und tribalistischen Gesellschaften im Anschluss an die neolithische Revolution zu finden sind.[113] Diese Gesellschaften waren stets auch von politischem und sozialem Wandel geprägt[114] und haben eine politische Geschichte, die zu erzählen ebenso wichtig erscheint, wie sie von einer Allgemeinen Staatslehre nicht geleistet werden kann. Martin Kriele hat also Recht, wenn er festhält, dass jede Generation ihre eigene Allgemeine Staatslehre entwickeln muss.[115] Das ist demnach nicht nur aufgrund sich verändernder politischer Herausforderungen und erkenntnistheoretischer Modelle der Fall, sondern auch weil jede Generation eine veränderte Staatenwelt vorfindet, die einer eigenständigen Beschreibung und normativ-kritischen Einordnung bedarf. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste Lehrbücher nicht selten ihren Schwerpunkt beim demokratischen Verfassungsstaat setzen, hängt insofern auch damit zusammen, dass sich dieser (erst) seitdem weltweit verbreitet hat. Damit steht zugleich fest: Keine Allgemeine Staatslehre kann zeitlose Geltung beanspruchen. Dazu hängen ihre Ergebnisse zu sehr an den sich verändernden empirischen Begebenheiten. Hier liegt der Grund, warum Hermann Heller auf den Zusatz „Allgemeine“ von vornherein verzichtete: „Dass also eine zeiträumlich ‚allgemeine‘ Staatslehre nicht erstrebt, weil gar nicht für möglich gehalten wird, soll schon im Titel dieser Arbeit zum Ausdruck gelangen.“[116] Entscheidend ist, dass man sich dieser eingeschränkten Bedeutung des Begriffs „Allgemeine“ bewusst ist, dass es also um eine Allgemeinheit im Jetzt und nicht um eine Allgemeinheit in der Zeit geht. Dann spricht nichts gegen dessen Verwendung (zumal sich diese Begrifflichkeit auch durchgesetzt zu haben scheint). Das bedeutet im Übrigen nicht, dass eine Allgemeine Staatslehre auf historische Betrachtungen jedweder Art verzichten müsste oder sollte. Sie werden allerdings nur dort erfolgen, wo es darum geht, typische Entwicklungen (etwa die Entstehung |19|und Ausbreitung des modernen Staates, den „normalen“ Ablauf von Revolutionen oder den Untergang von Staaten) durch historisch belegte Prozesse zu verdeutlichen, kurz: wo es „zum Verständnis der Gegenwart nötig ist.“[117]

Mit dieser zweiten Einschränkung hängt die letzte zusammen. Der universelle Anspruch der Allgemeinen Staatslehre sollte nicht überinterpretiert werden. Wer mit dem Ziel antritt, das Wesen des Staates zu ermitteln oder eine Theorie des Staates an sich[118] zu entwickeln, wird in einem gewissen Übereifer möglicherweise dazu neigen, bestehende Differenzen und Unterschiede zum Wohle der eigenen allgemeinen Theorie zu überspielen. Er oder sie zwängt die reale Staatenwelt dadurch in ein Prokrustesbett und verfehlt das Ziel einer empirisch zutreffenden Beschreibung des Status quo, die den Ausgangspunkt der Allgemeinen Staatslehre bilden muss. Ähnlich hält Christoph Möllers fest: „Die Rede vom ‚Staat‘ als solchem hat von vornherein Unterschiede im Namen eines vermeintlichen Idealtyps unterschlagen.“[119] Es gilt sich eine gewisse Offenheit für die Mannigfaltigkeit der heutigen Staatenwelt zu bewahren, die sich über Jahrhunderte nicht systematisch, sondern immer auch aufgrund historischer, kultureller und sozialer Zufälligkeiten und Pfadabhängigkeiten entwickelt hat. Voreilige Schlussfolgerungen können so vermieden werden. Auch die hier im Fokus stehenden demokratischen Verfassungsstaaten weisen eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten, aber eben auch an Unterschieden auf,[120] die nicht zu Gunsten einer möglichst einheitlichen Staatsidee allzu grobschlächtig übergangen werden dürfen. Demokratie ist nicht gleich Demokratie. Erneut sei R. M. MacIver zitiert: „Practically all modern states are, in terms of the definition already given, democracies, but no two are quite alike in character.“[121]

Fußnoten

72

Ähnlich auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 10. Siehe auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 2. Eine solche „Besondere Staatslehre“ findet sich etwa bei H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984. Ähnlich auch W. Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 2012 sowie U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013. Siehe zu dieser Unterscheidung auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35 ff.

73

Siehe K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 259: „Der einzige Weg, der den Sozialwissenschaften offensteht, besteht darin, […] die praktischen Probleme unserer Zeit mit Hilfe der theoretischen Methoden zu behandeln, die im Grunde allen Wissenschaften gemeinsam sind: mit Hilfe der Methode von Versuch und Irrtum, der Methode des Auffindens von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und mit Hilfe ihrer praktischen Überprüfung.“ Vgl. dazu auch J. Nasher, Die Staatstheorie Karl Poppers, S. 48 ff.

74

Vgl. auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 35 f.

75

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 9 f.

76

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 22: „Eine zweite Begrenzung unserer Aufgabe liegt darin, dass sie im wesentlichen nur die Erscheinungen der heutigen abendländischen Staatenwelt und deren Vergangenheit insoweit, als es zum Verständnis der Gegenwart nötig ist, als Forschungsobjekt betrachtet.“

77

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 36.

78

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 37.

79

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 27. Dieser Staat dürfte auch der Allgemeinen Staatslehre von Hans Kelsen zugrunde liegen.

80

Vgl. auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 23: „In solcher zeitlichen und räumlichen Beschränkung der Aufgabe liegt aber keineswegs eine Unvollkommenheit oder wenigstens eine größere als in allen auf historischem Boden erwachsenen Disziplinen.“

81

M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 1 f.

82

Vgl. auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 173 f.

83

Knapp zu den Verfassungen der DDR A. Thiele, Der konstituierte Staat, S. 357 ff.

84

Vgl. dazu Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2020, „In sickness and in health?“, 2021. Insgesamt hat die weltweite „Demokratiequote“ im Jahr 2020 erneut abgenommen – der globale Durchschnittswert fiel auf den niedrigsten Wert seit der ersten Erhebung im Jahr 2006, was zweifellos auch mit der Coronapandemie zusammenhing.

85

Vgl. auch R. M. MacIver, The Modern State, S. 343: „Democracy, it is true, is a matter of degree, and lines are hard to draw here as elsewhere.“

86

Georgien befindet sich gewissermaßen auf halber Strecke zwischen autoritärem Regime und Demokratie.

87

M. Welz, Afrika seit der Dekolonisation, S. 165.

88

Hongkong wird man zwar (noch) dazu zählen können, es gehört formal aber zur Volksrepublik China und ist daher nicht in diese Liste aufgenommen worden.

89

Siehe nunmehr aber J. Lempp/S. Mayer/A. Brand (Hrsg.), Die politischen Systeme Zentralasiens, 2020.

90

R. M. MacIver, The Modern State, S. 351.

91

J.-W. Müller, Furcht und Freiheit, S. 126. Siehe auch ders., Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, S. 18.

92

Aus historischer Perspektive A. Thiele, Der konstituierte Staat, 2021.

93

Siehe auch T. Ö. Yildiz, Die Metaphorik des Neuen Autoritarismus, PVS 62 (2021), 253 (274): Die Türkei habe mit der neuen Verfassung „die Schwelle des full authoritarianism“ übertreten.

94

Gewöhnlich wird Allgemeine Staatslehre als „General Theory of State“ übersetzt.

95

Vgl. C. Möllers/L. Schneider, Demokratiesicherung in der Europäischen Union, S. 1: „Fast scheint es, als ginge eine Ära zu Ende.“ Siehe dazu auch A. Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten. Der demokratische Verfassungsstaat in der Krise?, 2019; A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, S. 8 ff. Relativierend indes H. Richter, Moderne Wahlen, S. 571: „Missverstehen die Untergangsgesänge auf die Demokratie, die Postdemokraten und andere Vertreter einer reinen Lehre anstimmen, nicht schlicht den (notwendig) fiktionalen Charakter der Demokratie?“ Daran ist richtig, dass die Bewertung des Zustands der Demokratie nicht von einem idealisierten, sondern stets von einem realistischen Referenzmodell ausgehen sollte. Auch dann zeigen sich meiner Ansicht nach aber gewisse Krisensymptome, vgl. A. Thiele, Verlustdemokratie, S. 31 ff.

96

Vgl. A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, 2021. Allgemein zum (Begriff des) Populismus J.-W. Müller, Was ist Populismus?, 2016.

97

Dazu allgemein S. van Dyk/S. Graefe, Wer ist schuld am Rechtspopulismus?, Leviathan 47 (2019), 405 ff.; J. Zielonka, Counterrevolution. Liberal Europe in Retreat, 2018; S. Issacharoff, The corruption of popular sovereignty, ICON 18 (2020), 1109 ff. Speziell zu Ungarn und Polen siehe T. Drinóczi/A. Bień-Kacała, Illiberal Constitutionalism: The Case of Hungary and Poland, German Law Journal 20 (2019), 1140 ff.

98

A. Przeworski, Krisen der Demokratie, S. 10.

99

Dazu ausführlich auch A. Thiele, Verlustdemokratie, 2. Auflage 2018. Siehe auch M. Nussbaum, Königreich der Angst, 2019 sowie W. Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie, S. 22 f.

100

H. A. Winkler, Zerbricht der Westen?, S. 403.

101

A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, S. 12.

102

A. Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, S. 37.

103

J.-W. Müller, Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, S. 7. Müller zieht diese pauschale Aussage anschließend allerdings wenigstens partiell in Zweifel.

104

C. Lafont, Unverkürzte Demokratie, S. 415.

105

Vgl. auch A. Reckwitz, Das Ende der Illusionen, S. 239.

106

Siehe dazu etwa den von H. Geiselberger herausgegebenen Band „Die große Regression“ (2. Auflage 2017); E. Hillebrand (Hrsg.), Rechtpopulismus in Europa, 2017; Y. Mounk, Der Zerfall der Demokratie, 2018; S. Levitsky/D. Ziblatt, How Democracies Die, 2018; Z. Bauman, Retrotopia, 2017; C. Koppetsch, Die Gesellschaft des Zorns, 2019; A. Thiele (Hrsg.), Legitimität in unsicheren Zeiten, 2019; U. Volkmann, Krise der konstitutionellen Demokratie?, Der Staat 58 (2019), 643 ff.; A Przeworski, Krisen der Demokratie, 2020; P. Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, 2020; A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, 2021.

107

M. G. Schmidt, Über die Demokratie in Europa, ZSE 2017, 529 (548).

108

Vgl. A. Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, S. 37.

109

A. Schäfer/M. Zürn, Die demokratische Regression, S. 10 ff. Sie zeigen im Übrigen auch auf, dass populistische Entwicklungen sich tatsächlich negativ auf die Demokratiequalität auswirken, siehe aaO, S. 167 ff.

110

P. Manow, Die politische Ökonomie des Populismus, 2018.

111

Eine umfassende Analyse der Verfassungstheorie autoritärer Staaten findet sich bei G. Frankenberg, Autoritarismus. Verfassungstheoretische Perspektiven, 2020.

112

R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 36 f. Zu weit daher C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (354) und auch P. Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 128.

113

Dazu G. Balandier, Politische Anthropologie, 1976.

114

Siehe zuletzt etwa auch A. Mittnik et. al., Kinship-based social inequality in Bronze Age Europe, Science 2019, 1 ff.

115

M. Kriele, Einführung in die Allgemeine Staatslehre, S. 5.

116

H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 3.

117

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 22.

118

So H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1.

119

C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 116.

120

Beispielhaft sei auf Großbritannien und Deutschland verwiesen, die zwar beide als parlamentarische Regierungssysteme organisiert sind, sich in ihrer politischen Ordnung und Kultur aber erheblich unterscheiden. Das wurde sowohl bei den Brexit-Verhandlungen als auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie sehr deutlich.

121

R. M. MacIver, The Modern State, S. 351. Siehe auch C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 116: „Nur die Suche nach Unterschieden gestattet aber den Vergleich, der dann wiederum zur Entdeckung von Ähnlichkeiten führen kann – und erst ein Vergleich kann wirklich theoriefähiges Material bereitstellen.“

|20|IV.Ein Definitionsvorschlag

Versuchte man dieser beschreibenden Erläuterung eine knappe Arbeitsdefinition des Forschungsgebietes Allgemeine Staatslehre anzufügen, so könnte diese unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen folgendermaßen lauten:

Bei der Allgemeinen Staatslehre handelt es sich um eine anspruchsvolle, interdisziplinäre Seins- und Sollenswissenschaft, die deskriptiv-analytische, normative und kritische Elemente zur möglichst erschöpfenden Erfassung des Staates – insbesondere seines Handelns, seiner Steuerungsfähigkeit, seiner Steuerungstechniken, seiner Leistungsfähigkeit aber auch seiner Leistungsgrenzen und denkbarer Alternativmodelle – miteinander verknüpft. Ihr Erkenntnisinteresse reicht über einen bestimmten Staat hinaus, sie zielt ihrer Idee nach darauf ab, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede sämtlicher bestehenden Staaten in diesem Sinne zu ergründen. Dieser universelle Anspruch führt angesichts der Vielfalt an modernen Staaten sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die tatsächlich untersuchten Staaten zu einer notwendigen Beschränkung auf den demokratischen Verfassungsstaat, die letztlich nur begrenzt vorgegeben ist und von den Vorlieben des jeweiligen Akteurs abhängt.

[Zum Inhalt]

|21|B. Zur Möglichkeit einer Allgemeinen Staatslehre im 21. Jahrhundert

„Für das Staatsrecht bedeutet das: Nachfragen bei Nachbardisziplinen sind erforderlich, sie verdichten sich aber kaum zu einer neuen wissenschaftlichen Form, der Staatslehre, die den Staat als Ganzes erfassen kann.“

Christoph Möllers[122]

 

„Staatstheorie sollte nicht so sehr als konturenscharfe Subdisziplin angelegt werden, sie muss eher netzwerkartig institutionalisiert werden, als Unternehmen mit ausgefransten Rändern.“

Thomas Vesting[123]

Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert noch zeitgemäß? Ist sie überhaupt möglich? In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die diese Fragen vorsichtig, bisweilen auch sehr deutlich verneinen. Wer sich daran macht, eine weitere (neue) Allgemeine Staatslehre vorzulegen oder in diesem Gebiet zu forschen, wird sich dieser Kritik stellen und darlegen müssen, warum er sie für nicht überzeugend hält (oder jedenfalls für nicht überzeugend genug, um sie oder ihn von dem Vorhaben abzuhalten). Die Kritikpunkte setzen an allen beschriebenen Merkmalen einer Allgemeinen Staatslehre an: Bei ihrem Gegenstand (I), der Interdisziplinarität und (fehlenden) Methode (II) sowie ihrem universellen Anspruch (III).

Fußnoten

122

C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.

123

T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 39.

I.Verliert die Allgemeine Staatslehre ihren Gegenstand?

Der erste Einwand betrifft den Untersuchungsgegenstand: Den modernen Staat der Neuzeit. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Internationalisierung, Supranationalisierung[124] und Individualisierung im Zeitalter der |22|Postmoderne[125] handele es sich bei diesem um ein Auslaufmodell.[126] Zur Lösung globalisierungsbedingter Problemlagen – zu nennen wären beispielhaft Klimaschutz, Migration, aber auch Fragen der internationalen ökonomischen Ordnung[127] – sei der moderne Staat nicht mehr in der Lage, weil die erforderliche Kongruenzbedingung nicht mehr erfüllt sei: Der zu regelnde Handlungsraum gehe über den demokratisch regelbaren (politischen) Raum hinaus.[128] Der moderne Staat habe damit die ihn bisher prägende Souveränität[129] verloren,[130] auch weil die Organisationsmacht gesellschaftlicher Herrschaftsverbünde (nicht zuletzt multinationale Großunternehmen) diese nicht mehr zulasse,[131] kurz: Der moderne Staat befinde sich „in Auflösung“.[132]Zygmunt Bauman behauptete schon im Jahr 1992, dass sich analytische Modelle der Postmoderne und im Zeitalter der „Globalität“[133] nicht mehr am Staat ausrichten ließen.[134] Dieser sei als Analyserahmen nicht mehr ausreichend zur angemessenen Beschreibung der entscheidenden Faktoren des vielfältigen, interaktiven und dynamischen postmodernen sozialen Lebens.[135] Ähnlich hat unlängst Udo Di Fabio argumentiert, und dafür plädiert, „politische Herrschaft wieder staatsfrei zu denken“.[136] Erste Verfallserscheinungen |23|diagnostizierten zuvor bereits Carl Schmitt und Ernst Forsthoff (was allerdings vornehmlich mit ihrem Staatsverständnis zusammenhing). Wird man heute damit von einer „poststaatlichen“ Ära sprechen müssen? Wird der moderne Staat zu einem Akteur unter vielen? Und wird dem Projekt einer Allgemeinen Staatslehre dadurch die Legitimation entzogen, da deren Perspektive als zu eng angesehen werden muss?[137] Ist moderne Staatlichkeit, ist der Staat am Ende?

Die besseren Gründe sprechen dafür, diese Fragen zu verneinen.[138] Die beobachteten Auflösungserscheinungen dürften vielmehr (auch zeitbedingt)[139] in ihrer Bedeutung überzeichnet und mit einem tatsächlich nicht eingetretenen Souveränitätsverlust verwechselt worden sein. Mit anderen Worten: Der (souveräne) moderne Staat lebt und es gibt wenige Anzeichen dafür, dass sich das in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ändern würde.[140] Eine stets auf die Gegenwart bezogene Allgemeine Staatslehre verliert deshalb nicht ihre Berechtigung.

Zur Zurückweisung der Auflösungsthese reicht es nicht aus, allein auf die entgegenstehende Alltagserfahrung[141] und die große Zahl an Staaten zu verweisen, die Mitglied der Vereinten Nationen sind – eine Zahl, die in den nächsten Jahren eher steigen denn fallen dürfte, wenn man vereinzelte Sezessionsbestrebungen (Katalonien, Baskenland, Schottland, Kurdenbewegung, Québec) berücksichtigt. Zwar wird man daraus auf eine fortbestehende Attraktivität des bisherigen Modells „Staat“ schließen können; das Ziel der Sezessionsbemühungen ist stets die Errichtung eines neuen Staates in Form eines modernen Staatswesens. Jedoch behauptete die Auflösungsthese nie ernsthaft, dass Staatlichkeit schon in naher Zukunft gänzlich aufhören würde. Es ging ihr nie um eine formelle, sondern stets um eine materielle Auf- beziehungsweise Ablösung des modernen Staates durch schleichenden Aufgaben- und Steuerungsverlust und zunehmende globalisierungsbedingte Komplexität: „Als heutige Symptome der schleichenden Krankheit des |24|Staates zum Tode werden die Globalisierung und Europäisierung (hier), die Regionalisierung oder Transnationalisierung (anderswo), im Innern die noch schwieriger zu fassenden Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und De-Institutionalisierung diagnostiziert.“[142]

Solche Verlusterscheinungen und damit einhergehende „Enthierarchisierungstendenzen“[143] wird man der Sache nach nicht leugnen können. Ein einfaches „Durchregieren“ des modernen Staates ist in vielen Bereichen, vor allem aber im Wettbewerb der internationalen Wirtschaftsordnung nur noch schwer möglich. Der Staat ist eingebettet in ein vielschichtiges, verzweigtes und im Detail auch undurchsichtiges Herrschaftsgefüge aus formellen und informellen Institutionen und Akteuren.[144] Entscheidungen, die in manch informellem Gremium getroffen werden, haben nicht selten größere Auswirkungen auf den Einzelnen als im parlamentarischen Raum in transparenter Form verabschiedete formelle Gesetze (man denke an die vielfältigen informellen Gremien der internationalen Wirtschaftsordnung wie den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht).[145] Gerade den modernen Staat, der seit jeher „Steuerstaat“ ist, stellt es zudem vor enorme Herausforderungen, wenn Unternehmen ihre Steuerlast durch Konzernverlagerungen ins Ausland oder durch komplexe Steuersparmodelle (mehr oder weniger legal) zu reduzieren vermögen.[146] Es zeigt sich, dass die seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit propagierte Liberalisierung und Deregulierung[147] mit einem staatlichen Steuerungsverlust einhergeht – nicht zuletzt wenn es um sozialstaatlich motivierte Umverteilungen geht. Gleiches gilt dort, wo staatliche Aufgaben privatisiert oder über PPP-Projekte[148] auf die vermeintlich effizienteren Strukturen „der Märkte“ übertragen werden: Wenn dem Staat Aufgaben genommen werden, |25|verringert sich sein Einfluss auf das ökonomische, soziale und kulturelle Zusammenleben.

Dennoch ist es nicht überzeugend, von dieser Entwicklung auf das Ende des modernen und souveränen Staates schließen zu wollen. Schon der Blick in die Geschichte zeigt, dass es den vollständig souveränen Staat im Bodin’schen Sinne – also einen in jeder Hinsicht freien und von äußeren Einflüssen autarken „Leviathan“ – zu keinem Zeitpunkt gegeben hat.[149] Staatliche Souveränität (ohnehin ein nur schwer zu greifender und weiterhin umstrittener Begriff)[150] war schon immer eine Fiktion,[151] die der „reale“ moderne Staat nie umfassend erfüllte und die bei den einzelnen Staaten zudem unterschiedlich ausgeprägt war – ein Befund, der auch heute noch Geltung beanspruchen dürfte.[152] Auch Formen der Überstaatlichkeit lassen sich, wie zuletzt Ferdinand Weber gezeigt hat, schon für das frühe 19. Jahrhundert als der vermeintlichen Hochzeit des modernen Staates nachweisen.[153]