Defekte Visionen - Alexander Thiele - E-Book

Defekte Visionen E-Book

Alexander Thiele

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Beschreibung

Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Ihre institutionelle Gestaltung und ihr Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten steht angesichts zahlreicher Krisen wieder vermehrt auf der Tagesordnung. Entsprechend zahlreich sind die Zukunftsvisionen, die von prominenten Politikerinnen und Politikern – etwa von Joschka Fischer, Emmanuel Macron und Olaf Scholz – präsentiert wurden. Die Debatte scheint gleichwohl festgefahren. Das liegt auch daran, dass all diesen Vorschlägen kein normatives Leitbild unterliegt: Es bleibt meist unklar, welches Problem sie adressieren und wie sie die Funktionsfähigkeit der EU konkret verbessern möchten. Aus Pathos folgt weder staatsrechtliche Form noch langfristige Legitimität. Die Zukunft der EU – so Alexander Thiele in diesem Buch – liegt denn auch nicht im großen und umfassenden Wurf, sondern in schrittweisen Reformen, die jeweils konkrete Legitimitätsdefizite adressieren.

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Cover for EPUB

Alexander Thiele

Defekte Visionen

Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Ihre institutionelle Gestaltung und ihr Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten steht angesichts zahlreicher Krisen wieder vermehrt auf der Tagesordnung. Entsprechend zahlreich sind die Zukunftsvisionen, die von prominenten Politikerinnen und Politikern – etwa von Joschka Fischer, Emmanuel Macron und Olaf Scholz – präsentiert wurden. Die Debatte scheint gleichwohl festgefahren. Das liegt auch daran, dass all diesen Vorschlägen kein normatives Leitbild unterliegt: Es bleibt meist unklar, welches Problem sie adressieren und wie sie die Funktionsfähigkeit der EU konkret verbessern möchten. Aus Pathos folgt weder staatsrechtliche Form noch langfristige Legitimität. Die Zukunft der EU – so Alexander Thiele in diesem Buch – liegt denn auch nicht im großen und umfassenden Wurf, sondern in schrittweisen Reformen, die jeweils konkrete Legitimitätsdefizite adressieren.

Vita

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der universitären »Fakultät Rechtswissenschaften« der BSP Business and Law School in Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einführung

Das europäische Monstrum

1.

Defekte Visionen

Joschka Fischer: Die Europäische Föderation

Emmanuel Macron: Die europäische Souveränität

Herr und Speer: Europäisches Potpourri

Die Konferenz zur Zukunft Europas: Europäisches Allerlei

Die Prag-Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz: Wenig Neues

2.

Gute Herrschaft als anerkannte Herrschaft

Ausreichende Teilhabe an der Herrschaft

Ausreichende Begrenzung der Herrschaft

Ausreichende Leistungsfähigkeit der Herrschaft

3.

Zur Legitimität der Europäischen Union

Ausreichende Teilhabe an der Unionsgewalt

Ausreichende Begrenzung der Unionsgewalt

Ausreichende Leistungsfähigkeit der Unionsgewalt

Ausblick: Gutes Leben in staatstheoretischer Uneindeutigkeit

Anmerkungen

Literatur

»Bigger is not always better.«

Stefan Auer

»Die Geschichte der EU ist somit aucheine Geschichte von Definitionsversuchen«

Berthold Rittberger

Vorwort

Die Zukunft der Europäischen Union, ihre institutionelle Gestaltung und ihr Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten sind in den vergangenen Jahren wieder auf die politische und gesellschaftliche Tagesordnung gerückt. Die Finalitätsfrage gewinnt vor dem Hintergrund etlicher »Krisen« an Fahrt. Entsprechend zahlreich sind die Zukunftsvisionen, die nicht zuletzt von prominenten Politikerinnen und Politikern in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Dennoch scheint die Debatte festgefahren, seit dem Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2009 (eigentlich aber schon seit der Jahrtausendwende) geht es nicht wirklich voran. Das liegt daran – so jedenfalls die These dieses intervenierenden Buches –, dass es den im ersten Teil analysierten Visionen prominenter Akteure an einem normativen Leitbild mangelt. Es bleibt unklar, welches konkrete Integrationsproblem von diesen adressiert wird und wie sie daher zu einer Verbesserung der Funktionsfähigkeit einer komplexen Herrschaftsorganisation wie der Europäischen Union beitragen sollen: Das »Warum« bleibt offen und das scheint mir symptomatisch für die aktuelle Finalitätsdebatte. Es handelt sich, anders gewendet, um anregende, aber gleichwohl defekte Visionen. Die Entwicklung eines solchen normativen Leitbildes steht dementsprechend im Zentrum des zweiten Teils dieses Buches. Ausgangspunkt bildet die Erkenntnis, dass es sich auch bei der Europäischen Union um eine politische Herrschaftsorganisation handelt, die sich an tradierten Legitimitätsanforderungen für demokratische Ordnungen orientieren muss. Dabei zeigt sich: Ein großer Wurf sollte von vornherein nicht angestrebt werden. Die Zukunft der Europäischen Union liegt vielmehr – so eine weitere These – in schrittweisen Reformen, die auf die Beseitigung konkreter Legitimitätsdefizite ausgerichtet sein müssen.

Zu bedanken habe ich mich an erster Stelle beim Campus Verlag, der umgehend bereit war, das Manuskript in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Vor allem Jürgen Hotz hat durch seinen überobligatorischen Einsatz ermöglicht, dass das Buch rechtzeitig vor der Europawahl 2024 erscheinen und zu den im Vorfeld dieser Wahl zu erwartenden Diskussionen einen Beitrag leisten kann.

Das Berliner Team war wieder maßgeblich beteiligt: Tabea Nalik, Lasse Schaffarczyk, Lara Schmidt, Mara Schröder, Sarah Schulmeyer, Mila Streicher und Clarissa Young. Sie alle haben das Manuskript Korrektur gelesen, eigene Ideen eingebracht und damit zu seiner Verbesserung beigetragen. In besonderer Weise gilt das für Johannes Rohrer, den ich daher explizit hervorheben möchte. Sebastian Hapka, Marwin Kerlen, Pia Lange, Gregor Laudage und Cederic Meier haben Vorversionen gelesen und wichtige Kritik und Impulse geliefert. Danke!

Gewidmet ist das Buch meiner Schwester Louise. Ich bin wirklich stolz auf Dich!

Berlin, im November 2023

Alexander Thiele

Einführung

Das europäische Monstrum

Staatstheoretisch war dieses merkwürdige Gebilde nie zu fassen. Hervorgegangen aus dem im Jahr 8431 geteilten Fränkischen Reich Karls des Großen, bestand es aus zahllosen monarchischen Territorien unterschiedlichster Macht und Größe und einer beeindruckenden räumlichen Ausdehnung. Es umfasste im Westen Teile des heutigen Frankreich, Belgiens und der Niederlande, reichte im Süden über Österreich und die Schweiz weit in das nördliche Italien hinein und grenzte im Osten an die damaligen Königreiche Ungarn und Polen. Im Norden gehörten auch Teile des heutigen Dänemark dazu. Ein moderner Staat2 war dieses Heilige Römische Reich deutscher Nation, wie es seit dem 15. Jahrhundert immer häufiger bezeichnet wurde, allerdings nicht.3 Es genoss keine Souveränität, war in seinem Bestand von den Territorien abhängig, die es in einem komplexen Zusammenschluss miteinander verknüpfte – als »staatlich« galten rückblickend daher nur diese Territorien.4 An der Spitze stand seit der Krönung Ottos I. im Jahr 962 ein Kaiser, der später von den Kurfürsten nach den Vorgaben der Goldenen Bulle5 gewählt und bis ins 16. Jahrhundert anschließend durch den römischen Papst gekrönt wurde. Dem Kaiser, der ab der Mitte des 15. Jahrhunderts nahezu ausschließlich dem österreichischen Hause Habsburg6 entstammte, kamen allerdings lediglich gewisse Reservatsrechte zu, zur Ausbildung einer schlagkräftigen Zentralgewalt kam es im Heiligen Römischen Reich nicht. Eine Reichsexekutive und einen eigenen Verwaltungsunterbau suchte man ebenso vergeblich wie ein eigenes Reichsheer7 und eigene Reichsfinanzen. Die auf dem Reichstag zu Worms (1495) beschlossene Einführung eines »Gemeinen Pfennigs« scheiterte am Widerstand der Landesherren.8 Anders gewendet: Es fehlten »eine einheitliche und hierarchisch strukturierte administrative Ordnung, die an einem Punkt konzentrierte Souveränität sowie die Möglichkeit, jederzeit Macht nach innen und außen zu mobilisieren.«9

Im Reichstag kamen die reichsunmittelbaren Territorien, die Reichsstände, zusammen. Er tagte ab 1663 als Immerwährender Reichstag in Regensburg, was eine dauerhafte Präsenz von »förmlichen Gesandten« nach sich zog, die das Tagesgeschäft erledigten. Innerhalb dieses Gremiums fand ein kompliziertes Beratungs- und Entscheidungsverfahren Anwendung. Das reine Mehrheitsprinzip galt, mit gewissen Einschränkungen, nur innerhalb der drei Kollegien des Reichstags.10 In Religionsangelegenheiten war das Mehrheitsprinzip seit dem Westfälischen Frieden gänzlich ausgeschlossen.11 Insgesamt diente der Reichstag damit »weniger der Entscheidung und dem Machen von Gesetzen als vielmehr der inneren Kohäsion im Reich« und einer »Relativierung kurfürstlicher Macht«12 durch dauerhaftes Verhandeln.13 Im Reichshofsrat konnten die Stände, geistliche und weltliche Korporationen, aber auch Bauern und sonstige Untertanen Rechtsschutz erlangen.14 Mit kaiserlicher Autorität verliehen, erfüllte er eine wichtige Funktion der Streitschlichtung und ermöglichte es, sich gegen absolutistische Praktiken in den Territorien zu wehren. Die Prozesse dauerten indes lange, die Reise nach Wien war beschwerlich und lückenlos war der Rechtsschutz nicht. Zusätzlich gab es das 1495 begründete, zunächst in Speyer und ab 1690 in Wetzlar tagende und vornehmlich von den Ständen getragene Reichskammergericht.15 Es sollte Fehden und sonstige Gewalttätigkeiten verhindern, war für bestimmte schwere Strafsachen zuständig und agierte in Zivilsachen vor allem als Berufungsinstanz.16

Wie sollte man dieses komplexe Gebilde, diesen einzigartigen Zusammenschluss Hunderter Territorien staatstheoretisch einordnen?17 Schon die Zeitgenossen fanden darauf keine befriedigende Antwort, denn: »Diese Form von Staatlichkeit hatte es bis dahin im Reich noch nicht gegeben.«18 Auch heutige Einordnungsversuche bleiben unbefriedigend: »Moderne juristische Unterscheidungen versagen. Das Reich lässt sich der modernen Kategorie des ›Bundesstaates‹ nicht zuordnen, ist aber doch sehr viel mehr gewesen als ein loser ›Staatenbund‹ souveräner Mächte«.19 Es befand sich in einer Art staatstheoretischem Zwischenland, nichts Halbes und nichts Ganzes, dauerhaft unfertig und wandelbar und doch schon immer da, gleichwohl »mit den Mitteln der juristischen Logik nicht zu begreifen«.20 Auch der Historiker Dieter Langewiesche verweist auf die sich stetig wiederholenden Grundmuster der staatstheoretischen Bewertungen: »Sie schwanken zwischen Staat, Staatenbund und Nicht-Staat, zwischen ›Reichs-Staat‹ und überstaatlichem Reichsverband, zwischen Staat der deutschen Nation und übernationalem Personenverband.«21 Die nachhaltigste Einordnung stammt bereits aus dem 17. Jahrhundert. In seinem epochalen Werk »De statu imperii Germanici« bezeichnete Samuel Pufendorf das Alte Reich als »irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper«:22 das »Monstrum« als staatstheoretische Kategorie.23

Über 200 Jahre nach der Niederlegung der Kaiserkrone und dem Untergang des Reiches im Jahr 1806 findet sich in Europa mit der Europäischen Union ein staatstheoretisch ähnlich schwer zu fassendes24 »präzedenzloses Gebilde«.25 Nicht wenige wären denn auch geneigt, die Pufendorfsche Kategorie auf diesen Zusammenschluss von gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten zu übertragen: das Monstrum Europäische Union.26 Bemerkenswert ähnlich verlaufen die juristischen Einordnungsversuche,27 die Lage scheint vergleichbar vertrackt wie beim Alten Reich: »Die Geschichte der EU ist somit auch eine Geschichte von Definitionsversuchen.«28 Die Europäische Union ist danach (noch) kein moderner Staat,29 auch kein Bundesstaat, sie geht aber – wie das Alte Reich – angesichts ihres komplexen Verflechtungsgrads über einen tradierten Staatenbund hinaus.30 Sie ist supranational organisiert,31 übt eigene, wenngleich übertragene Hoheitsrechte aus, greift in vielfältiger Weise in das Leben der Unionsbürgerinnen und -bürger32 ein, ist den Mitgliedstaaten (den »Territorien«) als den »Herren der Verträge« dennoch formal untergeordnet. Das institutionelle Gefüge geht in seiner Komplexität über dasjenige des Alten Reiches eher noch hinaus, was sich unter anderem bei der umstrittenen Bestimmung der Kommissionsspitze offenbart.33 Auch hier findet sich zudem praktisch kein eigener Verwaltungsunterbau,34 eine europäische Armee ist zwar angedacht, aber bestenfalls im Aufbau, und die Finanzierung hängt von den Mitgliedstaaten ab. Die Einführung bedeutender Europasteuern scheitert, erneut ähnlich wie im Alten Reich, an den Mitgliedstaaten. Eine eigenständige Verschuldung ist weiterhin nur begrenzt möglich.35 Rechtsschutz gewährt der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, aber auch hier bestehen vor allem im Hinblick auf den Individualrechtsschutz Defizite.36 Mangels »Kompetenz-Kompetenz«37 besitzt die Europäische Union damit keine Verfassungsautonomie, ihre Verträge sind nach zutreffender (wenngleich umstrittener) Ansicht keine Verfassung.38 Anders gewendet: ein erneutes Zwischenland mitten in Europa.39 Wer fühlte sich bei der Darstellung des Entscheidungs- und Beschlussverfahrens des Alten Reiches nicht an die Diskussionen im Europäischen Rat erinnert, die von den »förmlichen Gesandten« – heute sprechen wir von den »Ständigen Vertretern«40 – vorbereitet und begleitet werden? Auch die Schwierigkeiten mit dem Abstimmungsmodus – Einstimmigkeit, qualifizierte Mehrheit, doppelte Mehrheit, einfache Mehrheit – knüpfen beinahe nahtlos an die historischen Debatten an.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese eigentümliche Stellung der Europäischen Union schon in den 1990er Jahren mit dem (umstrittenen) Begriff des »Staatenverbundes« auf den Punkt gebracht, ohne dass damit viel gewonnen wäre:41 »Die Europäische Union ist nach ihrem Selbstverständnis als Union der Völker Europas ein auf eine dynamische Entwicklung angelegter Verbund demokratischer Staaten.«42 Statt »sui generis« (oder »Monstrum«) nennt man sie seitdem »Staatenverbund«. Was einen solchen im Einzelnen ausmacht, wissen wir bis heute allerdings nicht, abgesehen davon, dass er nicht mehr Staatenbund und noch nicht Bundesstaat ist. Das lässt in organisatorischer Sicht eine Menge Spielraum.43

Eine solche staatstheoretische (und damit einhergehende begriffliche)44 Ambiguität und Uneindeutigkeit, diese hybride Form45 der Europäischen Union, ist allerdings nicht per se problematisch.46 Es gibt weder einen zwingenden Grund, sie zum Bundesstaat hoch- noch sie zum schlichten Staatenbund herunterzustufen. Staatstheoretische Form ist kein Selbstzweck, Ambiguität kein prinzipielles Defizit.47 Sinnvoller Maßstab für die Bewertung der bestehenden Strukturen ist allein, inwieweit diese funktionieren. Solange das der Fall ist, bleibt es theoretisch interessant, über eine Ein- und Neuordnung der Europäischen Union nachzudenken. Für das Tagesgeschäft wäre eine solche Debatte jedoch nicht erforderlich, zumindest nicht drängend, eventuell sogar schädlich.

Hier liegt – ähnlich wie beim späten Alten Reich – das eigentliche Problem: Die Europäische Union scheint diesen Funktionserwartungen in den Augen zahlreicher Beobachterinnen und Beobachter nicht (mehr) umfassend gerecht zu werden; sie funktioniert zumindest nicht so, wie von vielen erhofft. Zuletzt ist sie für ihr Vorgehen in der Coronapandemie48 und ihre Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kritisiert worden, aber schon zuvor war die Unzufriedenheit mit den komplexen Strukturen, den eingespielten Arbeitsweisen und Ritualen und den erzielten (Gipfel-)Ergebnissen spätestens seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages immer wieder mit Händen zu greifen. Die »immer engere Union«, wie es in Art. 1 Abs. 2 EUV heißt, scheint am Scheideweg zu stehen. Ein Mitgliedstaat ist den aufkommenden Fliehkräften bereits zum Opfer gefallen: Das Vereinigte Königreich hat den Staatenverbund Anfang 2021 verlassen. Eine Erweiterung der EU scheint in den nächsten Jahren – entgegen den Ausführungen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer »State of the Union-Rede« im September 2023 kaum realistisch.49 Die Erfahrungen mit dem »Brexit«50 regen kaum zur Nachahmung an, die ökonomischen Folgen sind verheerend, wie es mit Nordirland (und ggf. auch Schottland) weitergeht, ist weiterhin unklar. Die innerunionalen Probleme sind durch diesen ersten Austritt der Integrationsgeschichte dennoch nicht gelöst.51 Der Konflikt mit Polen und Ungarn über das Verständnis zentraler Werte des Art. 2 EUV (unter anderem der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit) spitzt sich seit Jahren zu;52 von einer gefestigten Wertegemeinschaft zu sprechen,53 fällt zunehmend schwer. Die Zustände an den unionalen Außengrenzen erweisen sich in vielerlei Hinsicht als unerträglich,54 die Zukunft der Währungsunion55 scheint nach Ansicht einiger prominenter Stimmen zweifelhaft und die europäische Außenpolitik wird von den großen Mitgliedstaaten dominiert, während die Europäische Union eher eine Nebenrolle zu spielen scheint und sich zudem – wie im Zusammenhang mit ihrer Reaktion auf die barbarischen Angriffe auf Israel – in Kompetenzkonflikten verheddert. Mit anderen Worten: Es könnte wohl besser um die europäische Integration stehen.56

Damit erweist sich der staatstheoretisch ambivalente Zustand der Europäischen Union nicht mehr als ein rein theoretisches, sondern als ein handfestes praktisches Problem. Es geht – hier liegt ein Unterschied zu den historischen Debatten über das Alte Reich – weniger darum, was die Europäische Union aktuell ist (oder war), sondern was sie, normativ gesprochen, sein sollte, damit sie die inneren Krisen überwindet und die kommenden Herausforderungen zu meistern vermag. Die staatstheoretische Debatte bekommt einen praktischen Spin, statt des Seins- tritt der Sollens-Zustand in den Fokus.

Wenig überraschend wurde in den vergangenen Jahren verstärkt über solche Sollens-Vorstellungen diskutiert. Die lang suspendierte Finalitätsdebatte57 gewinnt an Fahrt.58 Die Konferenz über die Zukunft Europas präsentierte im Mai 2022 ihre Ergebnisse, hochrangige Politikerinnen und Politiker – unter anderem Emmanuel Macron und Olaf Scholz – haben ihre Visionen für die Zukunft der Europäischen Union formuliert. Ursula von der Leyen forderte in ihrer »State of the Union«-Rede im Jahr 2022 gar die Einsetzung eines verfassungsgebenden Konvents. Im September 2023 präsentierte zudem die »Gruppe der Zwölf«, eine deutsch-französische Expertengruppe, ihre Vorschläge zur Reform und Erweiterung der Europäischen Union.59 Auch der Koalitionsvertrag der ersten deutschen Ampel-Regierung (2021) enthält einen Abschnitt zu Europa. Unter der Überschrift »Zukunft der Europäischen Union« heißt es dort:

»Die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen wir für Reformen. Erforderliche Vertragsänderungen unterstützen wir. Die Konferenz sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat.«

Mit dem »föderalen Bundesstaat« wird auf den ersten Blick ein ebenso klares wie ambitioniertes Integrationsziel ausgegeben, das seit der »Humboldt-Rede« Joschka Fischers aus dem Jahr 2000 – er sprach damals von einer Föderation – regelmäßig ins Spiel gebracht wird. Ein zweiter Blick offenbart jedoch ein Problem, das symptomatisch für viele andere prominente Vorschläge steht: Es bleibt unklar, worin diese ihre normative Grundlage, ihren leitenden Maßstab finden. Die Frage nach dem »Warum« bleibt unbeantwortet. Mit welcher Begründung wird ausgerechnet ein »föderaler europäischer Bundesstaat« angestrebt? Welche Funktionsstörung der bestehenden (zugegeben: diffusen) Ausgestaltung kann damit behoben werden? Die Errichtung eines föderalen Bundesstaats scheint ohne eine solche Leitidee mehr Selbstzweck zu sein, vermutlich auch, weil sie nach außen vorbildhaft »europäisch« wirkt. Im Hinblick auf konkrete Problemlagen wirkt dieser Vorschlag aber seltsam entrückt, beinahe entkoppelt – als hätten die aktuellen Herausforderungen mit diesem nichts oder wenig zu tun. Die europäische Integration selbst wird zum universellen Problemlöser, während die Frage, welches konkrete Problem durch die europäische Integration wie gelöst werden soll, in den Hintergrund tritt.60 Wenn der föderale Bundesstaat errichtet ist, so die mitzulesende Botschaft (Hoffnung?), werden die aktuellen Herausforderungen überwunden sein. Warum es Mitgliedstaaten in einem föderalen Bundesstaat leichter fallen sollte, sich im Bereich der Außenpolitik überstimmen zu lassen oder Flüchtlinge aufzunehmen, bleibt offen.

In diesem »Selbstzweckdenken« zeigen sich Parallelen zur Diskussion über die digitale Transformation. Auch dort finden sich entkoppelte Zukunftsprojektionen – erwähnt sei nur das Flugtaxi –, obwohl es um vermeintlich banale Probleme wie den Breitbandausbau gehen müsste. Die Loslösung von konkreten Herausforderungen wird nachgerade zum Qualitätsmerkmal dieser »out-of-the-box«-Visionen, denen daher keine innovativen Grenzen gesetzt sind. Treffend halten Sascha Friesike und Johanna Sprondel fest: »Wer darüber nachdenkt, wie eine Organisation aussehen könnte, die wenig mit der heutigen Organisation zu tun hat, genießt einen so hohen Grad an Freiheit, dass festgehalten werden kann, was immer man will.«61 Im Hinblick auf die europäische Integration wird bisweilen ausdrücklich von Utopien gesprochen,62 wodurch jede nur vorsichtig geäußerte Kritik umgehend als kleinkariert und spießig erscheint. Wer groß denkt, muss sich um die lästigen Details nicht kümmern (Breitbandausbau hier, Akzeptanz des Mehrheitsprinzips63 dort). Die Forderung nach mehr oder einem anderen »EU-ropa« setzt nicht den Nachweis voraus, dass dadurch konkrete Herausforderungen gemeistert werden – und im Zweifel lässt sich die Bewahrung des Friedens anführen. In den entworfenen Szenarien fehlt es daher selten an Pathos aber meist an Hinweisen, auf welchem Weg diese in den nächsten Jahren unter Berücksichtigung des Status quo und realpolitischer Bedingungen konkret erreicht werden sollen.64 Die Transformationsfrage bleibt offen oder unkonkret, ganz so, als ließe sich der Endzustand der Europäischen Union vergangenheitslos am Reißbrett entwerfen. Die Kenntnis über den Pfad zur angestrebten Vollendung ist aber schon deshalb zentral für die heutige politische Generation, um zu verhindern, dass diese Maßnahmen beschließt, die diesen erschweren oder verbauen.

Der fehlende normative Maßstab dürfte der Grund sein, warum viele Vorschläge bei näherer Betrachtung eher nebulös sind – je intensiver man sich mit ihnen beschäftigt, desto weniger scheint sich ihnen wirklich Konkretes entnehmen zu lassen. So stellt sich beim Vorschlag der Ampel-Koalition zwangsläufig die Frage, wie dieser föderale Bundesstaat ausgestaltet sein soll. Die weiteren Ausführungen des Koalitionsvertrags konkretisieren dies nicht, sprechen stattdessen eher allgemein von »erforderlichen Vertragsänderungen« und sehr pauschal von Dezentralität und Subsidiarität – zwei Grundsätze, die die Europäische Union formal bereits prägen und vom Grundgesetz vorausgesetzt werden.65 Welche institutionelle Struktur angestrebt wird und welche Kompetenzen die europäische Ebene erhalten (behalten?) soll, bleibt offen, obwohl dieser Aspekt mit der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union unmittelbar verknüpft ist. Denn es macht einen Unterschied, ob die Europäische Union für die Schul- oder die Klimapolitik zuständig ist. Wie man sich diesen »föderalen Bundesstaat« vorzustellen hat, bleibt dem Leser oder der Leserin überlassen – für jeden und jede ist etwas dabei.

Letzteres wäre weniger problematisch, wenn es eine einigermaßen konsentierte Struktur eines »föderalen Bundesstaates« gäbe. Dem ist aber nicht so. Schon die heutige Europäische Union ließe sich als faktischer »föderaler Bundesstaat« bezeichnen – die fehlende formale Kompetenz-Kompetenz wirkt sich im Tagesgeschäft nicht aus. Jedenfalls könnte die Europäische Union auch in ihrer aktuellen Gestalt als föderaler Bundesstaat organisiert werden, ohne dass sich für die Unionsbürgerinnen und -bürger in ihrem Alltag etwas veränderte. Die Ampel-Regierung strebt aber, das wird man unterstellen dürfen, eine Veränderung an. Welche soll das sein? Staatstheoretisch gibt es nicht den Bundesstaat.66 Die existierenden (modernen) Bundesstaaten, die seit der Amerikanischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts entstanden sind,67 weisen erhebliche, meist in historischen Pfadabhängigkeiten begründete Unterschiede im Hinblick auf ihre innere Struktur und ihre Kompetenzverteilung,68 aber auch auf die ihr zugrundeliegende Legitimationsidee auf: »Die Zuordnung der tatsächlichen Entscheidungsgewalt wird hier – in der Geschichte wie in der Literatur – unter Relativierung der staatsbürgerlichen Gleichheit aus vielen pragmatisch-wirklichkeitsorientierten Perspektiven getroffen, die keinem strikten Prinzip folgen.«69 Ein unitarischer Bundesstaat kann mehr Gemeinsamkeiten mit einem dezentralen Einheitsstaat aufweisen, als mit einem streng-föderal organisierten Bundesstaat. Die Bundesrepublik ist anders organisiert als die USA, Argentinien, Indien, Belgien, Kanada, Mexiko, Australien oder die Schweiz und Österreich; in vielen Fällen wäre deren Organisation mit den Vorgaben des deutschen Grundgesetzes (zumindest unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) wohl unvereinbar. Dennoch sind alle diese Staaten »föderale Bundesstaaten«.70 Hinzu kommt der Umstand, dass sich Bundesstaaten in ihrer Struktur stetig wandeln und auf unterschiedliche Herausforderungen reagieren. In Deutschland hat es mehrere »Föderalismusreformen« gegeben, die das Kompetenzgefüge erheblich modifiziert haben. Gleiches gilt, wie die Beispiele Großbritannien und Spanien zeigen, für formale Einheitsstaaten, die zudem – natürlich – regionale und lokale Untergliederungen,71 also föderale Elemente kennen (worauf Schottland und Katalonien größten Wert legen dürften). Zugespitzt: Wer »föderaler Bundesstaat« sagt, sagt wenig bis nichts, solange die organisatorischen und legitimatorischen Details nicht wenigstens skizzenhaft ausbuchstabiert werden – es handelt sich, wie häufig auch beim Rekurs auf die berüchtigten »europäischen Werte«, um eine Leerformel ohne konkreten Inhalt.72 Darin mag die Attraktivität einer solchen Vision liegen – sie bleibt unverbindlich, anything goes, niemand wird vorschnell verprellt. Das Ziel eines föderalen Bundesstaats lässt sich (wie oben angedeutet) zudem als Ausdruck einer besonderen Europafreundlichkeit verkaufen: Wer »EU-ropa« liebt, muss den Bundesstaat wollen. Im Ergebnis wird dadurch aber kein einziges Problem im Hinblick auf die konkrete Organisation und Zuständigkeitsverteilung gelöst – eine nicht selten emotional geführte Debatte ohne greifbare Substanz.

Auf die Spitze getrieben wird diese Verunklarung der Finalitätsdebatte ausgerechnet von einer Institution, von der man eine ausformulierte Vorstellung über den Fortgang der europäischen Integration erwarten würde: der Europäischen Kommission. Anstatt eine ernsthafte und über das Friedensnarrativ hinausgehende eigenständige Vision für ein zukünftiges Europa zur Disposition zu stellen und offensiv zu vertreten, präsentierte sie im Jahr 2017 (noch unter Führung Jean-Claude Junckers) ein Weißbuch zur Zukunft Europas, das fünf »Szenarien« für die Europäische Union enthielt:73

Weiter so, wie bisher

Schwerpunkt Binnenmarkt

Wer mehr will, tut mehr

Weniger, aber effizienter

Viel mehr gemeinsames Handeln.

Angehängt waren kurze Erläuterungen zu den jeweiligen Vor- und Nachteilen. Gleichzeitig betonte die Kommission mögliche Überschneidungen zwischen diesen Szenarien, die sich damit weder ausschlössen noch als erschöpfend angesehen werden könnten.74 Bemerkenswert offen hielt sie fest: »Das Endergebnis wird zweifellos anders aussehen, als die hier dargestellten Szenarien.«75 »Aber wie?«, fragt man sich als interessierte Unionsbürgerin. Sollte es nicht um dieses »Wie« gehen? Rechtliche und institutionelle Prozesse sparte die Kommission bewusst aus, die Form werde der Funktion folgen. Wie aber sollten solche vagen Szenarien, die alle denkbaren Entwicklungen der Europäischen Union – einschließlich des Status quo (!) – irgendwie umfassten, bei der Lösung der Finalitätsfrage weiterhelfen? Welche aktuellen Probleme würden durch welches Szenario gelöst? Welche Probleme galt es zu lösen? Vor allem bei den Szenarien 3, 4 und 5 (die miteinander kombiniert werden konnten) wurde die konkrete Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und den Mitgliedstaaten allenfalls beispielhaft angerissen, so dass letztlich alles möglich blieb: Jede und jeder konnte sich ihr oder sein individuelles Zukunftsszenario basteln. Ob die europäische Ebene aber für Klimaschutz oder Schulpolitik, Kultur oder Digitalisierung oder irgendwie für alles (und nichts) zuständig ist, macht, wie erwähnt, einen fundamentalen Unterschied für ihre Funktions- und Akzeptanzfähigkeit. Eigene Präferenzen für eines der Szenarien formulierte die Kommission im Übrigen nicht. Das Ergebnis erschien zweitrangig und austauschbar, solange sich die Mitgliedstaaten nur auf irgendetwas einigten, würde die Kommission wohl damit leben können. Die Präsentation der fünf Szenarien wirkte dadurch erstaunlich hilflos, grenzte bisweilen eher an Realsatire als an einen ernstgemeinten Vorschlag und war an Beliebigkeit schwer zu überbieten.76 An Pathos77 wurde hingegen nicht gespart: »Unabhängig davon, welches der hier genannten Szenarien der Realität am Ende am nächsten kommt – diesen Werten und Hoffnungen werden die Europäer weiterhin verbunden bleiben. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen.«78 Aus den genannten Werten (über deren Inhalt man ohnehin streiten kann) folgt aber keine staatstheoretische Form. Dass diese erst vor wenigen Jahren präsentierten Szenarien in der aktuellen Debatte keine Rolle spielen, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Auch bei der Mitte 2022 abgeschlossenen Konferenz zur Zukunft Europas, die unter anderem von der Kommission eingesetzt worden war, kamen sie nicht zur Sprache. In ihrer unkonkreten Form ohne normative Leitidee erwiesen sie sich – man muss es so sagen – als nutzlos.

Dieses Fehlen eines greifbaren normativen Maßstabs für die Lösung konkreter Herausforderungen und die damit verknüpfte Entwicklung der Europäischen Union in der öffentlichen (politischen) Debatte hängt mit der (neo-)funktionellen Integrationsmethode zusammen, die seit dem Scheitern der politischen Gemeinschaft79 Mitte der 1950er Jahre dominiert. Sie verdrängte die Frage nach dem eigentlichen Integrationsziel, dem Fluchtpunkt der Integration, bis zuletzt aus dem politischen Alltagsdiskurs. Mit der europäischen Integration sollte es stattdessen einfach Stück für Stück, Meter für Meter weitergehen – der niederländische Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar spricht vom »inhärenten Bewegungsdrang« der Union.80 Zufällige politische Mehrheiten für die Europäisierung nationaler Politikbereiche galt es zu nutzen, unabhängig davon, ob sich deren Übertragung vor dem Hintergrund einer angestrebten institutionell-organisatorischen Gesamtkonzeption als sinnvoll erwies:81 »Weil man ständig auf die Zukunft verweist, neigt man in Brüssel dazu, jedes ›nicht‹ in ›noch nicht‹ zu übersetzen.«82Mehr Europäisierung galt als prinzipiell gute und damit richtige Europäisierung (eine Haltung, die auch die Europarechtswissenschaft bis in die 2010er Jahre mehrheitlich prägte).83 Hauptsache Europa! Wer sich diesem Narrativ entgegenstellte und einzelne Übertragungen (vorsichtig) kritisierte, galt schnell als schlechter Europäer oder schlechte Europäerin. So hält der Politikwissenschaftler Ludger Kühnhardt fest: »Die europäische Einigung hat lange, vermutlich zu lange, von dem gezehrt, was in der Politikwissenschaft ›permissiver Konsens‹ genannt wurde. Es gab keinen Widerspruch zu ›Europa‹, was immer ›Europa‹ heißen mochte.«84

Mittlerweile präsentiert sich der daraus folgende, stetig anwachsende Wust an in unsystematischer Weise mit den nationalen Zuständigkeiten verwobenen europäischen Kompetenzen85 als Kernproblem in der Praxis aber auch für umfassende Reformen. Selbst für Expertinnen und Experten ist die Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten nur noch schwer zu durchschauen, ein Leitbild ist nicht erkennbar, wodurch nicht zuletzt Verantwortlichkeiten für die Unionsbürgerinnen und -bürger verunklart werden.86 Die abstrakten Kompetenzarten werden zwar mittlerweile in den Art. 3–6 AEUV aufgeführt.87 Die konkreten Befugnisse sind aber weiterhin über die europäischen Verträge verteilt, lassen kaum einen Politikbereich aus und sind in ihrer Reichweite vor allem aufgrund ihrer funktionalen Formulierung nur schwer inhaltlich einzugrenzen. Angesichts einer Integrationsphilosophie, deren Erfolg mangels eines anderweitigen Maßstabs vornehmlich an der Dicke der europäischen Verträge gemessen wurde (was zudem nicht gerade zu ihrer Lesbarkeit und Verständlichkeit beiträgt),88 wirkte jede Rückübertragung oder Neuordnung übertragener Zuständigkeiten gleichwohl als Integrationsrückschritt, als Scheitern der europäischen Idee. Was einmal in Europa war, blieb in Europa, musste in Europa bleiben. Vorschläge zur kompetenziellen Entflechtung sehen sich weiterhin dem Verdacht ausgesetzt, uneuropäisch zu sein und einer Wiederbelebung souveräner Nationalstaaten das Wort zu reden – auch in den Vertragsverhandlungen.

Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das auf Walter Hallstein zurückgehende Verständnis der Europäischen Union als »Rechtsgemeinschaft«,89 das bis heute vor allem dem deutschen Europarechtsdiskurs zugrunde liegt: »Viele europarechtliche Vorlesungen starten mit der Feststellung, Europa sei eine Rechtsgemeinschaft, und entfalten das Europarecht (oder europäische Recht) in diesem Licht.«90 Auch in politischen Auftritten fehlt selten der Verweis auf diese Idee, wenn über die Besonderheiten und die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union die Rede ist. Wenig scheint gegen diesen Ansatz zu sprechen. Dass das Recht im Integrationsprozess eine hervorgehobene Rolle spielt und spielen soll, wird niemand ernsthaft in Frage stellen: »Wer will schon gegen eine Rechtsgemeinschaft opponieren, welche das Zusammenleben in Europa durch gemeinsame Institutionen friedlich gestaltet, ohne Zwang und Gewalt?«91

Ein näherer Blick offenbart jedoch ein Problem, das schwer auf der Europäischen Union lastet. Denn Hallstein, der von 1951 bis 1958 Staatssekretär im Auswärtigen Amt der von Konrad Adenauer geführten Bundesregierung und danach bis 1967 der erste Vorsitzende der Kommission der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war, verstand seine Idee der Rechtsgemeinschaft jedenfalls auch als Gegenentwurf zu einer auf Macht und ihrem möglichen Missbrauch ruhenden politischen Ordnung – hier zeigt sich die Nähe seines Modells zum technokratischen Funktionalismus. Die Rechtsgemeinschaft sollte sich damit (anfangs möglicherweise weniger als in späteren Jahren) zugleich von einer anderen Form des Zusammenschlusses abgrenzen: der politischen Gemeinschaft. »The desire to neutralise the ›primacy of the political‹, which can be viewed as part of the EU’s DNA, has a long pedigree. It is linked to the idea that political conflicts could and ought to be overcome by reason […].«92 Idealisierend stand das Recht bei Hallstein für das einigende Band, dass an die Stelle politischer (und damit zugleich: entzweiender, gewalttätiger, jedenfalls aufwühlender und allzu emotionaler)93 Streitigkeiten tritt und diese in normativer Harmonie im Jetzt aber auch für die Zukunft auflöst: »Es ging ihm um ein europäisches Recht für den Gemeinsamen Markt als verlässliche Grundlage für wirtschaftliche Aktivitäten, das der politischen Wechselhaftigkeit und Irrationalität der Macht entzogen sein sollte […]. Im Recht sollten die Gemeinschaften ihre Mitte und Einheit finden.«94 Was einmal in den Verträgen steht, ist dem politischen (willkürlichen) Spiel der Mitgliedstaaten entzogen, kann kein Ausgangspunkt für neuerliche politische und interessengeleitete Konflikte sein,95 liegt ab dann in der Hand von Technokraten: »die Inflexibilität, Langsamkeit und Langweiligkeit eines Beamtenapparats zur Vorbeugung gegen Kriege – eine brillante Idee.«96 Insofern war es folgerichtig, im Laufe der Jahrzehnte97 möglichst viele nationale Politiken zu europäisieren und in diese unpolitische »Herrschaft des Rechts« zu überführen: »Hallsteins Rechtsgemeinschaft legt nahe, jeden unionalen Rechtsakt als zivilisatorische Errungenschaft zu feiern.«98 Die Dicke der Unionsverträge, ihre beachtliche materielle Aufladung ist damit kein Versehen, sondern Ausdruck einer spezifischen Methode, deren Ziel es ist, möglichst viel politischen Streit dauerhaft beizulegen, indem man ihn durch rechtliche Fixierung (vermeintlich) löst und im Übrigen technisch, jedenfalls unpolitisch verarbeitet: »Die Brüsseler Arbeits- und Denkweisen sind darauf gerichtet, politische Leidenschaften mit einem Netz aus Regeln zu bändigen, also auf Entpolitisierung.«99Und Mark V. Tushnet und Dimitry Kochenov konstatieren: »The European Union […] is the greatest example of this approach, which treats constitutionalism as administrative law on steroids through an attempt to exclude politics.«100

Diese zunächst möglicherweise attraktive Vorstellung überzeichnet nicht nur die Leistungsfähigkeit des Rechts, das keineswegs automatisch einigende Kraft hat. Sie wird auch seinem allgemeinen Wesen nicht gerecht. Recht ist nicht neutral oder unpolitisch und ebenso wenig kann die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft daher jemals neutral, technokratisch oder unpolitisch sein.101 Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht102 (richtigerweise aber schon immer) ist die Europäische Union eine politische Gemeinschaft, in Brüssel werden politische Kompromisse ausgehandelt, geht es um politische Gestaltung und damit auch um politische Macht, Hegemoniestreben und wechselnde Allianzen. Mit der rechtlichen Fixierung ist der politische Streit alles andere als erledigt, nimmt in manchen Fällen erst richtig an Fahrt auf.103 Durch die vor allem in ihrer ökonomischen Philosophie homogenen Gründungsstaaten und die begrenzten europäischen Zuständigkeiten blieb dieser politische Charakter anfangs verdeckt – hier konnte die Vorstellung einer unpolitisch-technokratischen (rationalen) Rechtsgemeinschaft noch am ehesten verfangen. Schon die französische »Politik des leeren Stuhls« Mitte der 1960er Jahre104 offenbarte jedoch die politische Dimension der Integration außerhalb von Politikbereichen wie der Kohle- und Stahlproduktion, in denen es einen breiten Konsens in den Mitgliedstaaten gab. Heute legen die langwierigen Sitzungen des Europäischen Rates mit ihren komplexen (eben: politischen) Kompromissen davon Zeugnis ab – von rechtlich fundierter Harmonie wird man hier nicht ernsthaft sprechen wollen. Dass im Übrigen selbst die Europäische Zentralbank keine unpolitisch-neutrale und technokratische Institution ist (und niemals war), ist in der Eurokrise einem größeren Publikum bewusst geworden.105