Der konstituierte Staat - Alexander Thiele - E-Book

Der konstituierte Staat E-Book

Alexander Thiele

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Beschreibung

Heute erscheint uns die Existenz von Verfassungen selbstverständlich, beinahe jeder moderne Staat hat eine geschriebene Verfassung. Doch der Weg zum demokratischen Verfassungsstaat war steinig und von Rückschlägen begleitet. Ausgehend von der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution, erzählt Alexander Thiele diese wechselvolle Entwicklungsgeschichte und erklärt, was den Verfassungsstaat ausmacht und auf welchen Annahmen er beruht. Dabei zeigt sich: Die Kämpfe um Emanzipation und Partizipation waren europaweit epochenprägend, die Vorstellung eines deutschen Sonderweges lässt sich nicht halten. Denn auch in den USA, Frankreich und Großbritannien war der Weg zur vollwertigen Demokratie lang. Und Deutschland kann - man denke an die Verfassungen des Vormärz oder das moderne Wahlrecht im Kaiserreich - auf durchaus reiche demokratische Traditionen zurückblicken. Das Projekt des demokratischen Verfassungsstaats ist nie abgeschlossen - man versteht ihn nur dann, wenn man seine Geschichte kennt. »Verfassungsgeschichte so komplex wie nötig und so klar wie möglich: Das zeichnet diesen Überblick von Alexander Thiele aus. Der Autor bietet eine klassische Geschichte der Moderne – voller origineller und kluger Ideen.« Hedwig Richter

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Alexander Thiele

Der konstituierte Staat

Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Heute erscheint uns die Existenz von Verfassungen selbstverständlich, beinahe jeder moderne Staat hat eine geschriebene Verfassung. Doch der Weg zum demokratischen Verfassungsstaat war steinig und von Rückschlägen begleitet. Ausgehend von der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution, erzählt Alexander Thiele diese wechselvolle Entwicklungsgeschichte und erklärt, was den Verfassungsstaat ausmacht und auf welchen Annahmen er beruht. Dabei zeigt sich: Die Kämpfe um Emanzipation und Partizipation waren europaweit epochenprägend, die Vorstellung eines deutschen Sonderweges lässt sich nicht halten. Denn auch in den USA, Frankreich und Großbritannien war der Weg zur vollwertigen Demokratie lang. Und Deutschland kann - man denke an die Verfassungen des Vormärz oder das moderne Wahlrecht im Kaiserreich - auf durchaus reiche demokratische Traditionen zurückblicken. Das Projekt des demokratischen Verfassungsstaats ist nie abgeschlossen - man versteht ihn jedoch nur dann, wenn man seine Geschichte kennt.

Vita

Dr. Alexander Thiele ist apl. Professor und akademischer Rat a. Z. an der Georg-August-Universität Göttingen. Derzeit vertritt er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

In Gedenken an meinen akademischen Lehrer Werner Heun

Inhalt

Vorwort

1. Die Zäsur der Neuzeit

Die Entdeckung des Verstandes und der Weltlichkeit der Herrschaft

Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage

Die Wesensmerkmale des modernen Staates

Der moderne Staat als verfasster Staat (noch) ohne Verfassung

2. Zum Begriff der Verfassung

Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Verfassungen

Die vier Elemente moderner Verfassungen

Überblick über die folgenden Kapitel

3. Die Amerikanische Revolution

Hintergründe und der Weg zur Unabhängigkeit

Die soziale Ausgangslage und staatstheoretische Debatten

Die Verfassung und ihre Neuerungen

Der demokratische Verfassungsstaat

4. Die Französische Revolution

Die Lebenswirklichkeit im Ancien Régime

Die bürgerlichen, liberalen Verfassungsideale

Der Weg zur Revolution

Das Bleibende der Französischen Revolution

5. Großbritannien und die Situation in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts

Der britische Sonderfall

Die politische Situation in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts

Die Entwicklung bis 1815 und der Deutsche Bund

6. Die Staats- und Verwaltungsreformen in den deutschen Staaten

Äußerer Reformdruck

Die allgemeine Struktur der Reformen

Die Reformen in Preußen

7. Die Verfassungsentwicklung im Vormärz und die Merkmale des deutschen Konstitutionalismus

Die Verfassungsentwicklung im Vormärz

Der Einfluss der französischen Julirevolution

Der Hannoversche Verfassungskonflikt

Der Protest der Göttinger Sieben

Die Merkmale des deutschen Konstitutionalismus

8. Die Revolution von 1848 und die Paulskirchenverfassung

Der Weg zur Revolution

Die Nationalversammlung

Die Paulskirchenverfassung

Das Scheitern der Paulskirchenverfassung

Eine gescheiterte Revolution?

9. Reichsgründung und Reichsverfassung

Die Situation in Europa nach den gescheiterten Revolutionen

Die Einigung Italiens

Die Verfassung Italiens

Der Weg zur deutschen Reichseinigung 1871

Die Verfassung des Deutschen Reiches

10. Staatsgründungen in anderen Weltregionen

Ost- und Südosteuropa

Außereuropäische Regionen: Nord- und Südamerika

In Sonderheit: Haiti

11. Verfassungsentwicklung im Deutschen Kaiserreich

Das Bismarck-Reich: 1871–1890

Das Reich unter Wilhelm II. bis zu seiner Abdankung

12. Die Weimarer Republik und die Weimarer Reichsverfassung

Der Weg zur Nationalversammlung und zur Verfassung

Die Weimarer Verfassung

Drei Irrtümer über die Weimarer Reichsverfassung

Exkurs: Weimarer Staatsrechtslehre und Methodenstreit

13. Das NS-Regime

Die letzten Jahre der Weimarer Republik

Die Machtübernahme und die Folgen

Das NS-Regime in der deutschen Staatsrechtslehre

Der Fraenkel’sche Doppelstaat

14. Die Entstehung und Entwicklung des Grundgesetzes bis zur Gegenwart

Zusammenbruch, Besatzung und der Weg zum Grundgesetz

Gründung und Verfassung(en) der DDR

Das Grundgesetz als demokratische Verfassung

Ausblick

Anmerkungen

Literatur

Sach- und Personenregister

»Daraus folgt, dass menschliches Wohlergehen eine Frage sowohl privater Autonomie als auch öffentlicher Autonomie ist, wobei letztere eine sinnvolle Beteiligung an der kollektiven Entscheidungsfindung nach sich zieht.«

(Danielle Allen)

»If men were angels, no government would be necessary.«

(James Madison)

Vorwort

Aufgrund der coronabedingten Einschränkungen stand ich im Sommersemester 2020 vor der Herausforderung, meine Göttinger Vorlesung »Verfassungsgeschichte der Neuzeit« einer größeren Öffentlichkeit in nützlicher Art und Weise digital zu präsentieren. Daraus entwickelte sich alsbald die Idee, die einzelnen Einheiten in Form eines Podcast zu veröffentlichen. Ein solches Vorgehen schien mir aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens ließ sich das historische Thema in einem Podcast für die Studierenden gut und spannend verpacken. Sie wären dadurch in der Lage, meine Texte ohne begleitende Folien und ohne die Lektüre des Gesetzestextes, sozusagen nebenbei, gewinnbringend an- und nachzuhören. Für die Studierenden könnte das eine angenehme Abwechslung zu den zahlreichen digitalen Vorlesungen darstellen, die in diesem wahrlich besonderen Semester ohnehin auf sie warteten. Zweitens konnte ich auf diesem Weg ein Publikum auch außerhalb der Universität auf die Verfassungsgeschichte aufmerksam machen. Frei verfügbar könnte der Podcast dadurch zugleich einen Beitrag zu einer modernen Wissenschaftskommunikation leisten. Mittlerweile ist er denn auch bereits mehrere tausend Mal abgerufen worden.

Was mir nicht bewusst war, war der mit diesem Projekt einhergehende Aufwand. Das Finden einer geeigneten und für mich erlernbaren Software war noch das kleinste Problem, zumal mir das Hochladen der einzelnen Folgen von meinem Mitarbeiter Cederic Meier abgenommen wurde (der auch alle weiteren technischen Probleme stets zu lösen wusste). Als aufwändig erwies sich vor allem die Vorformulierung der einzelnen Folgen: Um sicherzugehen, keine größeren Fehler zu machen und keine wesentlichen Punkte auszulassen, verfasste ich ein Manuskript im Umfang von jeweils bis zu 25 Seiten pro Folge – am Ende weit mehr als 250 Seiten.

Dass diese nunmehr die Grundlage für eine schriftliche Buchfassung darstellen, ist Jürgen Hotz vom Campus Verlag geschuldet, dem ich für diese Initiative sehr zu danken habe. Nachdem er den Podcast gehört hatte, fragte er spontan an, ob ich Interesse hätte, daraus ein Buch zu machen. Das Gesamtmanuskript bedurfte dazu zwar einer grundlegenden Überarbeitung und der Ergänzung um Fußnoten. Beides ließ sich jedoch schnell bewerkstelligen. Der Fußnotenapparat fällt dadurch allerdings knapper aus als gewöhnlich. Gegenüber dem Podcast ist die verschriftlichte Fassung gleichwohl erheblich umfangreicher und detaillierter. Der Adressatenkreis aber bleibt unverändert: Sie wendet sich an den interessierten Laien ebenso wie an Studierende der Rechts- und Geschichtswissenschaft, die nach einem ersten Einstieg in diesen ebenso spannenden wie aktuellen Themenkomplex suchen. Der Podcast ist daneben weiterhin online und kann zur Ergänzung oder Wiederholung jederzeit angehört werden.

Birte Förster und Hedwig Richter danke ich dafür, dass sie bereit waren, sich an meinem Podcast zu beteiligen. Ich habe in den beiden Folgen, in denen sie bei mir als Interviewpartnerinnen zu Gast waren, viel gelernt und konnte im Manuskript zahlreiche Ungenauigkeiten beseitigen. Zu bedanken habe ich mich ferner bei den MitarbeiterInnen des ehemaligen Instituts für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften in Göttingen, namentlich: Victoria Kautzner, Johanna Kramer, Katharina Kriebel, Gregor Laudage, Cederic Meier, Tabea Nalik, Lara Schmidt und Felicitas Wolf. Sie haben das Manuskript mehrfach Korrektur gelesen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen, die ich (fast) immer übernommen habe. Für verbleibende Fehler trage ich selbstverständlich die alleinige Verantwortung. Tabea Nalik schulde ich schließlich Dank für die Gestaltung des Bucheinbands. Sie hat nicht nur das Motiv entworfen und dabei zu Recht eine der Verfassungsmütter des Grundgesetzes, Elisabeth Selbert, in den Vordergrund gerückt, sondern dieses anschließend auch eigenhändig gezeichnet.

Gewidmet ist das Werk meinem im Jahr 2017 verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Wenn er gewusst hätte, dass ich zum 150. Jubiläum der Reichseinigung eine Verfassungsgeschichte verfassen würde, hätte er gewiss schallend gelacht.

Göttingen, im Januar 2021

Alexander Thiele

1. Die Zäsur der Neuzeit

Während der Begriff »Geschichte« wenige Fragen aufwerfen dürfte – es geht um die Beschreibung und Einordnung historischer Vorgänge, die zugleich zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beitragen können (ja, wir sollten aus der Geschichte lernen1, auch wenn es sich dabei nicht um eine Wissenschaft, »sondern eine Kunst handelt«2) –, bedürfen zwei Elemente des Untertitels einer Erläuterung: Neuzeit und Verfassung. Erstens also: Warum Neuzeit? Weshalb erscheint es sinnvoll, eine Verfassungsgeschichte dieser Epoche zu erzählen? Historisch zu arbeiten heißt zwar immer auch zu periodisieren, einzuteilen, eben zu ordnen.3 Dass die Erzählung einer Verfassungsgeschichte in der Vergangenheit ansetzen muss, ist selbstverständlich. Damit ist aber nicht beantwortet, wieso die Neuzeit als (willkürlicher) Ausgangspunkt gewählt wurde. Eine kurze Begründung wird man dafür verlangen können (auch wenn sie nicht jeden überzeugen dürfte).4 Sie liegt nach der hier vertretenen Ansicht in dem in dieser Zeit (prozesshaft) entstehenden modernen Staat.5

Und zweitens: Was ist eine (moderne) Verfassung? Der Blick zurück erfolgt nicht umfassend, sondern aus der Perspektive der modernen Verfassung bzw. des Verfassungsrechts. Es bedarf einer Klärung, was darunter zu verstehen ist, schon um zu wissen, was im Rückblick betrachtet werden soll. Wir dürften heute eine Vorstellung von einer modernen Verfassung haben – wer den Begriff hört, wird an das Grundgesetz denken, vielen wird die amerikanische Verfassung in den Sinn kommen. Gleichwohl: Verfassungen existieren nicht einfach, sondern sind das Werk geistiger Schöpfung. Damit steht nicht abschließend fest, was unter einer Verfassung zu verstehen ist: »Die Vieldeutigkeit des Begriffs ›Verfassung‹ ist berüchtigt.«6 Zu Beginn einer Verfassungsgeschichte wird man deshalb erwarten können, dass der zugrunde gelegte Verfassungsbegriff entfaltet wird – dass die entscheidenden Wegmarken einer Verfassungsgeschichte von diesem Verfassungsbegriff abhängen, versteht sich von selbst: »Verfassungsgeschichte begreift sich als Geschichte der Verfassungen und hängt damit eng am vorausgesetzten Verfassungsbegriff.«7 Was ist es, das den (modernen) Staat mit einer (modernen) Verfassung, also den titelgebenden »konstituierten Staat«, von einem lediglich in einer Verfassung befindlichen Staat und anderen Herrschaftsordnungen unterscheidet? Wo liegt das neue, das Singuläre, das mit der modernen Verfassung in die Ordnung der (staatlichen) Herrschaft einzieht? Mit diesen Begriffsklärungen sind die Themen der ersten beiden Kapitel abgesteckt.

Der Fokus auf die moderne Verfassung, den modernen Staat und die Neuzeit wird von einigen Stimmen kritisiert. So plädieren Christian Waldhoff ebenso wie Oliver Lepsius dafür, nicht (moderne) Verfassungen, sondern Herrschaftsmodelle als zentralen Erkenntnisgegenstand zu etablieren und die Verfassungsgeschichte vom problematischen Begriff der Verfassung und des modernen Staates zu lösen:8 »Die synchrone und diachrone Analyse von Herrschaftsmodellen erweist sich so als die zeitlose Formulierung von Verfassungsgeschichte unter weitreichender Hintanstellung zeitgebundener Begrifflichkeiten wie Staat und Verfassung.«9 Am Begriff der Verfassungsgeschichte will Waldhoff freilich festhalten. Diese Kritik weist treffend darauf hin, dass der Begriff der Verfassung ebenso wie der des modernen Staates von (problematischen) subjektiven Prämissen und Begriffsprägungen abhängt,10 sich also nicht als »objektiv« und zeitungebunden erweist. Auch die Prozesshaftigkeit der Verfassungs- und Herrschaftsentwicklung wird bei einer Beleuchtung von Herrschaftsstrukturen besser erfasst, denn natürlich hat auch die Verfassungsgeschichte der Neuzeit eine Vorgeschichte.

Dennoch lässt sich der hier gewählte Weg aus wenigstens drei Gründen rechtfertigen: Erstens gilt die subjektive Färbung nicht weniger für den Begriff der Herrschaft. Die vermeintliche Zeitlosigkeit erweist sich als Illusion, denn auch einer »Herrschaftsgeschichte« liegt ein subjektives und zeitgebundenes Begriffsverständnis zugrunde. Sie unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich, sondern nur graduell von der hier verfolgten Vorgehensweise: Jede Geschichte ist die Geschichte ihrer Zeit. Wenn sogar weiterhin von Verfassungsgeschichte gesprochen werden soll, liegt der Unterschied allein in einem extensiven Verfassungsbegriff, der sich auf jede Form politischer Herrschaft bezieht. Deutlich wird das auch bei Hans Boldt, wenn er festhält, die Verfassungsgeschichte beschäftige sich »mit der Frage nach den Institutionen politischer Steuerung der Gesellschaft, deren Herkunft und Wirkungsweisen«.11 Ein solcher Verfassungsbegriff geht kaum noch mit dem einher, was wir heute darunter verstehen, und erweist sich zudem als praktisch grenzenlos. Wie die neuere politische Anthropologie gezeigt hat, dürfte es herrschaftslose (und damit nach diesem Begriffsverständnis verfassungslose) Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben haben: »Kurz gesagt: es gibt keine Gesellschaft ohne politische Macht und keine Macht ohne Hierarchie und Beziehungen der Ungleichheit zwischen Individuen und den sozialen Gruppen.«12 Verfassungsgeschichte als Herrschaftsgeschichte wird zur (politischen) Menschheitsgeschichte. Wo soll eine solche Verfassungsgeschichte zeitlich ansetzen? Und warum? Jeder gewählte Zeitpunkt hängt an einer bestimmten Vorstellung von Herrschaft und Politik und erweist sich als nicht weniger willkürlich als in dieser Einführung – das Problem wird verschoben, aber nicht gelöst. Das gilt umso mehr, als man zweitens eine gewisse Zäsur der Herrschaftsgeschichte durch das Auftreten der modernen Verfassung nicht wird abstreiten können: »Als Normtexte sind Verfassungen ein Signum der Moderne, ungeachtet der vor der Schwellenzeit vom Ende des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bereits bekannten Verfassungen und Fundamentalgesetze.«13 Diese Zäsurgeschichte zu erzählen und zur Diskussion zu stellen, erscheint vor diesem Hintergrund gerechtfertigt, solange man diese nicht überzeichnet und die Vorgeschichten nicht ignoriert. Indem der Blick auf diese Zäsur gelegt wird, wird schließlich drittens herausgestellt, dass politische Systeme keine natürlichen Entwicklungen widerspiegeln. Verfassungsordnungen sind vielmehr wie alle politischen Ordnungen von der Gemeinschaft gesetzt und haben damit einen konkreten Anfang, der sie von vorherigen Ordnungen objektiv absetzt und subjektiv meist absetzen soll. Insofern wird man das Vorhaben einer umfassenden Herrschaftsgeschichte, in der Herrschaft aus Vergemeinschaftung allmählich entsteht, mit Christoph Möllers durchaus kritisch sehen können: »Zur Denaturalisierung des Sozialen im Umgang mit der Zeit gehört es, politischen Gemeinschaften einen Anfang zu geben.«14 Und das gilt nicht weniger für eine (moderne) Verfassungsgeschichte, die damit zugleich ihre nicht existierende (natürliche) Alternativlosigkeit offen eingesteht.

Die Entdeckung des Verstandes und der Weltlichkeit der Herrschaft15

Zunächst also zur Neuzeit:16 Warum erscheint sie als Ausgangspunkt einer Verfassungsgeschichte sinnvoll? Oder anders: Wo lagen die Unterschiede zum Mittelalter, das nach historisch hier nicht zu hinterfragender Einteilung in einem längeren Prozess durch die Neuzeit abgelöst wurde?17

Die rund eintausend Jahre des Mittelalters, die sich von etwa 450 n. Chr. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts erstrecken und die Spätantike ablösten, waren geprägt durch die Herrschaft des Glaubens. Der Mensch war durchdrungen vom Außerweltlichen, sah in allem das Göttliche und lebte nicht, um zu erkennen, sondern um zu glauben. Er ergab sich in diesem geistigen Zustand zugleich mehr oder weniger kampflos seinem letztlich gottgewollten Schicksal.18

Auch wenn diese Aussage gewiss zu pauschal ist – im täglichen (Über-)Leben dürften die Religion oder der Glaube keine so fundamentale Rolle gespielt haben –, scheint eine weitergehende Differenzierung an dieser Stelle nicht erforderlich. Denn entscheidend ist: Niemand hätte in der damaligen Zeit ernsthaft daran gezweifelt, dass die Welt mit all ihren Unterteilungen und nicht zu erklärenden Phänomenen, mit ihren komplexen Zuständen und Erscheinungen und auch mit der hierarchischen Ordnung der Herrschaft, wie in der Schöpfungsgeschichte beschrieben, ein Werk des allwissenden und unfehlbaren Gottes war. Jedem war in diesem göttlichen System sein Stand unveränderlich zugewiesen, man war, was man war, und man blieb es – sein Leben lang.

Wer versucht hätte, an diesen Begebenheiten etwas zu ändern und aus dem vorgegebenen Alltag auszubrechen, hätte sich nicht nur gegen den eigenen Herrscher, sondern gegen Gott gestellt – und das war im Zeitalter des Glaubens ein Ding der Unmöglichkeit.19 Herrscher kämpften gegen andere Herrscher um die sich im Sieg zeigende Gunst Gottes. Aber dass das gemeine Volk eine Revolution und eine Verbesserung seiner Bedingungen oder gar eine grundsätzliche Neugestaltung des Gemeinwesens – etwa in Form einer weltlichen Verfassung – eingefordert hätte, war praktisch unvorstellbar.

Dieser keineswegs rein dunkle, geistige Zustand der Menschen des Mittelalters begann sich ungefähr ab Mitte des 14. Jahrhunderts langsam zu wandeln, wobei sich ein genauer Anfangspunkt nicht benennen lässt; er ist dementsprechend in der Geschichtswissenschaft umstritten. Das Glaubensreich jedoch wurde seitdem – vielleicht nicht zufällig nach Überwindung der Schwarzen Pest, des »namenlosen Schrecken[s]«20 des Jahres 1348 – langsam, aber stetig durch das »Reich der Vernunft« abgelöst. Auch das Gemeinwesen und die Herrschaftsstruktur wurden mehr und mehr wieder zu dem »weltlich Ding«, als das man sie schon in der Antike unter Aristoteles angesehen hatte.21

Ein Zitat von Egon Friedell (dessen Kulturgeschichte der Neuzeit jedem zur Lektüre empfohlen sei) lässt einen die Wucht dieser geistigen Veränderung erahnen:

»Der Mensch, bisher in dumpfer andächtiger Gebundenheit den Geheimnissen Gottes, der Ewigkeit und seiner eigenen Seele hingegeben, schlägt die Augen auf und blickt um sich. Er blickt nicht mehr über sich, verloren in die heiligen Mysterien des Himmels, nicht mehr unter sich, erschauernd vor den feurigen Schrecknissen der Hölle, nicht mehr in sich, vergrübelt in die Schicksalsfragen seiner dunklen Herrschaft und noch dunkleren Bestimmung, sondern geradeaus, die Erde umspannend und erkennend, dass sie sein Eigentum ist. Die Erde gehört ihm, die Erde gefällt ihm, zum erstenmal seit den seligen Tagen der Griechen.«22

Dieser Prozess dauerte natürlich Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte,23 verbreitete sich ausgehend von Italien, Frankreich, den Niederlanden und auch Deutschland über ganz Europa und erreichte erst mit der Aufklärung Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt: »Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert eines solchen ›Wandels durch Vernunft‹. Die Aufklärer wollten Licht in die Welt bringen und kämpften mit ihrer Kritik gegen Irrtümer aller Art: Gegen Unwissenheit und Unmündigkeit, Abhängigkeit und Bevormundung, Aberglaube und Vorurteile.«24 Die Welt, war also, erneut in Friedells Worten, »fortan nicht mehr ein gottgewolltes Mysterium, sondern eine menschengeschaffene Rationalität«;25 der »schneidende Luftzug der neueren Geschichte«26 durchdrang den Panzer des unbekümmerten Glaubens, die Herrscher fanden »Inspiration im Römischen Recht und nicht mehr in der Bibel«.27

Das Mystische, das Geheimnisumwitterte und Rätselhafte wurde verdrängt, das Leben spätestens mit der Reformation zunehmend »logisch, geordnet, gerecht und tüchtig«. Der Weg Europas führte, so drückt es Bernd Roeck aus, »vom Mythos zum Logos, aus den Wäldern in die Städte und über die Ozeane, schließlich aus einer geschlossenen Welt in ein unendliches Universum«.28 Zentral ist die Erkenntnis, dass mit dieser Wiederbelebung der antiken Verstandeswelt, der später auch als »Renaissance« bezeichneten Wende, auch politische Herrschaft29 bzw. die Form und Struktur der konkreten Herrschaft begründungsbedürftig wurden: »Denn auch der Staat ist eine menschliche Einrichtung, die erklären muss, warum und mit welcher Legitimität sie Autorität, Macht und Herrschaft beansprucht.«30 Der schlichte Verweis auf Gottes Wille genügte nicht mehr, um den Zustand des Gemeinwesens, die Herrschaft des Königs und die bisweilen so klägliche Stellung der Untertanen zu rechtfertigen. Die neuen Vertreter des rationalistischen Naturrechts31 unterwarfen »das hergebrachte Wissen dem methodischen Prinzip des Zweifels, der Kritik und der Autorität der Vernunft«.32 Erst dieser geistige Sprung machte die zahlreich erscheinenden und bis in die heutige Zeit wirkmächtigen Abhandlungen zu staatstheoretischen Fragestellungen möglich:

Niccolò Machiavellis Der Fürst (1513), in dem er Politik vor allem als Technik zum Erwerb und zum Erhalt der Macht beschrieb; über Jean Bodins Les six Livres de la République (1576), das mit dem Begriff der Souveränität als »höchste Gewalt über Bürger und Untertanen« den vielleicht umstrittensten Begriff in die Staatstheorie einführte, an dem sich die Staatslehre, aber auch die Politikwissenschaft angesichts neuer Entwicklungen seitdem mehr oder weniger erfolgreich abarbeiten; Hugo Grotius’ De iure belli ac pacis (1625), eine umfassende naturrechtlich begründete Rechtstheorie, Thomas Hobbes’ Leviathan (1651), in dem dieser eine vertragstheoretische Begründung und Rechtfertigung des Absolutismus lieferte, und Samuel Pufendorfs De officio hominis et civis (1673) mit seinem »Bild einer absoluten Monarchie mit wohlfahrtsstaatlichen Zügen«;33 bis hin zu John Lockes Two Treatises on Government (1689), das die britische Glorious Revolution und die (weitere) Emanzipation vom zeitgenössischen Absolutismus34 nicht nur nachträglich legitimierte, sondern ideologisch vorbereitete,35 Montesquieus De L’Esprit des Loix (1748), der große Entwurf der Gewaltenteilung, der in seiner Wirkung nicht nur in Europa (bis heute), sondern auch bei der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika kaum zu überschätzen ist, sowie Jean-Jacques Rousseaus Du contrat social (1762), der die Frage nach der Legitimation der Staatsgewalt mit dem Konzept der radikalen Volkssouveränität beantwortete36 und – gemeinsam mit den beiden zuvor genannten Werken – bereits die Saat für den heutigen demokratischen Verfassungsstaat legte. In einer reinen Welt des Glaubens wären all diese Werke nicht möglich gewesen – der moralische Verfall der katholischen Kirche ab dem späten 14. Jahrhundert trug dazu zweifellos maßgeblich bei.

Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage

Neben dieser Entdeckung der Vernunft und der allmählichen Ablösung der Glaubens- von der Verstandeswelt, die die geistigen Grundlagen für die Entstehung des modernen Staates legten, traten um den Beginn der Neuzeit weitere Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen37 in die Lebenswelt, die sogenannte »Lage« der europäischen Zeitgenossen. Sie begünstigten eine Anpassung der Herrschaftsordnungen, wenn sie sie nicht gar zwingend nach sich zogen.

An erster Stelle stand das Bevölkerungswachstum,38 das nach Überwindung des »Schwarzen Todes«39 – der Pest – seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in praktisch allen Regionen Europas rasch wieder an Fahrt aufnahm40 und seinen Ausgangspunkt bereits im späten Mittelalter genommen hatte (was wohl vor allem an einem deutlichen Rückgang der Mortalität lag).41 Am wenigsten betraf dies noch England und Wales, die sich im europäischen Kontext allerdings ohnehin als »Bevölkerungsschlusslicht« präsentierten. Die Pest hatte hier ganz fürchterlich gewütet und die Bevölkerung von rund sechs auf 1,5 (!) Millionen reduziert. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts lag sie aber schon wieder bei drei, um 1600 bei vier Millionen,42 und allein in England lebten nach einer kontinuierlichen Phase des Wachstums um 1650 etwa 5,2 Millionen43 und um 1830 schon rund 13 Millionen Menschen.

Angaben zur Bevölkerungsentwicklung fallen für Deutschland schwer, weil es ein einheitliches Deutschland zu diesem Zeitpunkt nicht gab – und noch einige Zeit auf sich warten lassen sollte. Wir werden das in dieser Einführung noch sehen. Nimmt man aber die Grenzen von 1914 zum Maßstab, bestätigt sich auch hier ein starker Rückgang der Bevölkerung aufgrund der Pest. Um 1500 lebten auf diesem Gebiet jedoch bereits wieder neun Millionen, nur siebzig Jahre später bereits knapp 15 Millionen Menschen. Im Spanien des endenden 16. Jahrhunderts lebten rund acht Millionen Menschen, eine Zahl, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf gut zwölf Millionen anwuchs. Rekordhalter war Frankreich, das schon Mitte des 16. Jahrhunderts auf rund 20 Millionen Einwohner kam,44 um 1800 waren es bereits knapp 30 Millionen. Die Gesamtzahl der europäischen Bevölkerung sollte sich in den 250 Jahren bis 1750 um etwa 55 Prozent auf rund 140 Millionen erhöhen.45

Insgesamt sind diese Zahlen noch weit von der heutigen Bevölkerungsdichte entfernt, und auch verglichen mit der Bevölkerungsentwicklung im damaligen Asien fallen sie nachgerade mickrig aus – allein in Indien lebten mehr Menschen als in ganz Europa.46 Trotzdem brachte die damit einhergehende Verknappung des Raumes – der »Raumschwund«47 – neue Formen sozialer und gesellschaftlicher Konflikte, die »das Bedürfnis nach Ordnung und Regelung der Lebensverhältnisse«48 erheblich steigerten.

Schnellere Reisemöglichkeiten trugen zum Gefühl einer sich stetig verengenden Welt zusätzlich bei:49 Die Durchschnittsgeschwindigkeit der privaten Kutschen verdoppelte sich von 1814 bis 1848 und stieg von 4,5 Kilometer pro Stunde auf 9,5 Kilometer an. In Preußen verkürzte sich die Postkutschenzeit von Berlin nach Köln im gleichen Zeitraum von 130 auf 78 Stunden.50 Mit der Eisenbahntechnik – kaum etwas steht mehr für die Epoche der Moderne als dieses metallene Gefährt – wurden auch diese Reisezeiten bald um ein Vielfaches unterboten, Europa wurde so »ungefähr auf den Flächenraum Deutschlands«51 reduziert, wozu auch die ab Anfang des 18. Jahrhunderts regelmäßig verkehrenden Linienschiffe beitrugen.52

Ohnehin gewann Zeit einen völlig neuen Stellenwert im Leben der Menschen. Mit der Räder- und der späteren Pendeluhr wurde ihr Alltag »durch quantifizierbare Zeiteinheiten« überformt, »die eine übergreifende Organisation der Gesellschaft absichern und fördern halfen«.53 Die neue Wahrnehmung der Zeit und die dadurch ermöglichte »vorgestellte Gleichzeitigkeit« der Ereignisse, symbolisiert vor allem im (fingierten) gleichzeitigen Konsum der Tageszeitung, sollten später auch eine bedeutende Rolle bei der »Erfindung der Nation« bzw. des Nationalismus und des Nationalstaats spielen.54 Man fing an, über die gleichen Dinge zu sprechen, und diskutierte über überregionale und das enge Familienumfeld durchbrechende »gemeinsame« und dadurch verbindende Ereignisse – und zwar in der sich herausbildenden »nationalen« Sprache. Das förderte die Gemeinschaft und die Zusammengehörigkeit und erleichterte es, sich als individuelle Nation zu erkennen.

Diese besondere Verdichtung des sozialen Lebens wurde für die Zeitgenossen im wahrsten Sinne greif- und erlebbar in der Stadt, die seit der Neuzeit zunehmend das Leben auf dem Lande verdrängte und zu diesem in keinem größeren Gegensatz hätte stehen können.55 Der einsetzende Urbanisierungsprozess, der bis heute, wie wir wissen, nicht abgeschlossen ist,56 brachte so die vielleicht größten sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen der Neuzeit mit sich57 und war von erheblicher Bedeutung für die Entstehung des modernen Staates – auch des Verfassungsstaates.

Natürlich hatte es im Mittelalter schon Städte gegeben. Erst jetzt aber wurden sie zum zentralen Lebensort für einen signifikanten Teil der Gesellschaft; sie bildeten bald in wirtschaftlicher Hinsicht die eigentlichen Zentren. Besonders deutlich wurde dies in London, wo die wirtschaftliche Macht noch durch königliche Monopole begünstigt wurde, die zuvor bestehende Handelszentren schnell fast vollständig verdrängten. Ähnliches lässt sich über Städte wie Birmingham, Glasgow, Sheffield oder auch Paris berichten.58 Überall in der Stadt wurden Waren gehandelt, trafen Menschen aufeinander – sich aus dem Weg zu gehen, wurde immer schwieriger –, es herrschten reges Treiben, »ein völlig neues Tempo, ein unheimliches Staccato trat ins Dasein«,59 und das alles bei einem kaum erträglichen Gestank, weil zunächst alles, was man nicht benötigte, einfach auf die miserabel (wenn überhaupt) gepflasterten Gassen geworfen wurde.

Des städtischen Umlandes bedurfte es weiterhin, nun aber vor allem zur Versorgung der Stadt mit den notwendigen Lebensmitteln, die diese selbst nicht sicherstellen konnte (wenngleich die Transportmöglichkeiten anfangs noch sehr unzureichend waren und Städte daher bevorzugt an Flüssen und Kanälen erbaut wurden).60 Produziert wurde von den Bauern immer häufiger nicht ausschließlich für sich selbst, für das eigene Überleben, sondern für den städtischen Markt, auf dem die Waren anschließend feilgeboten wurden. Der Kleinbauer, der nur für sich und seine Familie sorgte, wurde seltener und vom »für andere produzierenden Bauern« ersetzt, der auch nicht essbare Waren anbaute (wie Flachs und Hanf).61 Die Bewirtschaftungsmethoden professionalisierten sich – anders wären die Versorgung der Stadt und damit auch die Entstehung des modernen Staates schlicht unmöglich gewesen.62 In einem Satz: Man arbeitete nicht mehr, um zu leben, sondern lebte, um (für die Stadt) zu arbeiten. Das alles hatte natürlich erhebliche Konsequenzen.

Es kam, wie Patricia Crone beschrieben hat, zu einer dreifachen Integration der Gesellschaft: einer ökonomischen durch Spezialisierung und Arbeitsteilung, die zu einer gegenseitigen Abhängigkeit vom Markt führte; einer kulturellen, indem die Menschen jetzt aus ihrem familiären Umfeld, ihrer dörflichen Isolation in die große Stadt überwechselten; und schließlich eben auch einer sozialen und politischen, bei der letztlich aus allen Bewohnern Bürger – später und natürlich zu spät auch Bürgerinnen wurden.63 Damit ging eine neue Beziehung zur Geldwirtschaft einher, der plötzlich in der neuen »Marktwelt« eine eigenständige Bedeutung zukam.64

Während das Mittelalter Geld noch allein als Mittel zum Zweck ansah, wurden das Geld bzw. das Gold nun selbst zum Zweck65 – es zu besitzen, wandelte sich zum Wert an sich und wer am meisten besaß, hatte die Möglichkeit, in sozialer Sicht aufzusteigen; monetäre Einkünfte waren nicht mehr (oder immer weniger) an den Grundbesitz geknüpft:66 Hans Georg Pott drückt dies so aus: »Der Prozess der Entstehung der Moderne ist vor allem getragen und bedingt durch die Geldwirtschaft.«67 Die zuvor angeborene und prinzipiell unveränderliche soziale Position stand nun zur Disposition, und der Weg zu sozialem Ansehen führte einzig und allein über das Geld: Der »Adel des Talents« siegte über den »Adel der Geburt«,68 aus der Ständegesellschaft wurde langsam aber stetig die (moderne) Klassengesellschaft.69 Um es erneut mit Hans Georg Pott zu sagen: »Die Gesellschaftsstruktur wandelt sich von der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft in die funktional differenzierte mit der Folge, dass der Mensch seinen festen Platz in der Gesellschaft verliert, sich statt dessen im Außen befindet und seinen Platz in der Gesellschaft erst suchen, erarbeiten oder erkämpfen muss.«70 Wir sehen hier bereits das Phänomen der Emanzipation, das vor allem das »lange 19. Jahrhundert prägen sollte«71 und auf das wir sogleich eingehen werden. Beispielhaft für diesen »Kampf« seien nur die ehemals kriminellen72 und späteren Mäzene des italienischen Florenz – die Medici – genannt, deren Aufstieg zu Beginn des 15. Jahrhunderts zunächst im Tuchhandel, dann aber vor allem im professionalisierten Bankgeschäft begründet lag. Als wohl größte Finanzmacht Europas mit guten Beziehungen zum Papst und anderen Mächten73 waren sie schon Mitte des 15. Jahrhunderts die eigentlichen Regenten der rund 70.000 Köpfe zählenden Stadt,74 obwohl es sich bei ihnen, in den Worten Egon Friedells, um ein »Geschlecht von bürgerlichen Parvenüs« handelte75 – im Mittelalter ein undenkbarer Vorgang.

Das Geld- und Finanzwesen ist seit dieser Zeit aus der modernen Welt nicht mehr wegzudenken, und es sollte nicht mehr lange bis zur ersten Finanzkrise dauern: In Holland, auf das die moderne Börsenwelt zurückgeht, brach im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts das »Tulpenfieber« aus. Tulpenzwiebeln wurden zu einem wilden Spekulationsobjekt, für das horrende Preise gezahlt wurden – bisweilen ein Mehrfaches des durchschnittlichen Jahresgehalts.76 Jeder, der etwas auf sich hielt, musste eine Tulpenzwiebel oder wenigstens den Anspruch auf eine Tulpenzwiebel sein Eigen nennen, nachdem die wundersame Blume erstmals im Jahr 1562 aus der eigentlichen Tulpenstadt (Konstantinopel) in Antwerpen angekommen war. Als die Spekulationsblase im Jahr 1637 plötzlich77 platzte (die Preise fielen schlagartig um mehr als 95 Prozent), war die Not groß und es bedurfte erheblicher Anstrengungen, um schlimmeres Leid auf allen Seiten zu verhindern. Die niederländische Wirtschaft sollte Jahre brauchen, um sich zu erholen. Heute erinnern nur noch die zahlreichen Tulpenfelder Hollands an diese in jeder Hinsicht bemerkenswerte Episode.

Strukturell offenbarten sich bei dieser ersten Finanzkrise im Übrigen die gleichen Merkmale wie bei der »modernen« großen Finanzkrise des Jahres 2008. Der Spekulationsgegenstand mag absurd erscheinen, aber das bestätigt nur: Spekulieren lässt sich auf alles, solange sich genügend Leute beteiligen. Die Konsequenzen, die aus dieser ersten Krise gezogen wurden, waren in jedem Fall gering. Schon bald kam es in Frankreich durch die (allerdings betrügerischen) Geschäfte des John Law zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu einer weiteren (noch größeren) Krise,78 und dabei blieb es bis in die heutige Zeit mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit – mit dem einzigen Unterschied, dass die Folgen solcher Krisen angesichts der weltweiten Finanzströme gravierender ausfallen.

Die Wesensmerkmale des modernen Staates

Vor dem Hintergrund dieser kognitiven und gesellschaftlichen Veränderungen entstand in Europa in einem langen Prozess das, was wir heute als »modernen Staat europäischer Prägung« bezeichnen, aus dem alsbald auch ein Verfassungsstaat werden sollte. Aber Achtung: Die im Folgenden in aller Kürze aufgezählten Merkmale, die diesen modernen Staat prägen und damit von frühmodernen Herrschaftsformen unterscheiden, sind nicht in Stein gemeißelt oder objektiv feststellbar. Es handelt sich um eine persönliche Staatslegende, die andere möglicherweise nicht umfänglich teilen. Das ist aber kein Makel der Erzählung, sondern bei historisch-rückblickenden Einordnungen typisch und unvermeidlich. Der Blick zurück hängt an subjektiven Prägungen und Vorstellungen, die sich in der eigenen Bewertung niederschlagen. Das zu leugnen wäre ebenso verfehlt, wie eine »objektive« Darstellung zu verlangen.79

Unter Beachtung dieser Einschränkungen sind es die folgenden acht Merkmale, die das Wesen des modernen Staates europäischer Prägung ausmachen und aus denen sich in einem langen Prozess der Verfassungsstaat herausbilden sollte:80

Erstens: Zentralisierung der Macht- und Herrschaftsverhältnisse. War die Macht im Feudalismus des Spätmittelalters noch in einem diffusen System auf zahlreiche Personen und die Kirche aufgeteilt,81 kam es mit dem moralischen Verfall der Kirche und den folgenden Religionskriegen ab dem 14. Jahrhundert zu einer Machtkonzentration beim Monarchen. Bei diesem bündelten sich nicht zuletzt die Streitentscheidungskompetenzen. Die Stände wurden entmachtet und es folgte die Ära des Absolutismus: »L’État c’est moi!« Theoretisch unterfüttert wurden diese Entwicklungen durch Jean Bodin, der den vielleicht umstrittensten Begriff in die Staatslehre einführte: »Souveränität«. Ein umfassendes, faktisches Gewaltmonopol ging mit dieser Zentralisierung allerdings zu keiner Zeit einher – die lokalen Herrschaftsträger blieben im täglichen Leben auch in der Hochzeit des Absolutismus schon aus organisatorisch-technischen Gründen von großer Bedeutung. Und auch sonst zeigten sich bei den einzelnen Staaten beachtliche Unterschiede – man denke nicht zuletzt an England, das uns in dieser kleinen Einführung noch mehrfach begegnen wird. Die »Souveränität« der ersten modernen Staaten nachträglich zu verklären, wie dies bisweilen geschieht, erscheint vor diesem Hintergrund aber wenig überzeugend bzw. beinahe ahistorisch.82

Zweitens: Säkularisierung bei Konfessionalisierung. Die Entdeckung der Vernunft führte zur Trennung der geistlichen von der weltlichen Sphäre, wobei sich der weltliche Monarch langfristig den Primat, den »Suprematieanspruch«,83 sicherte. Er hatte auf seinem Territorium das letzte Wort, und zwar auch im Hinblick auf Fragen der Religion. Religion spielte damit in der Anfangszeit noch eine große, vielleicht sogar die bedeutendste Rolle für den modernen Staat. Es kam mithin zwar zu einer Säkularisierung,84 aber nicht zu einer Entkonfessionalisierung des Staates. Bis zum »Staat ohne Gott«, wie ihn Horst Dreier unlängst beschrieben hat und bei dem die Religion prinzipiell zur Privatsache erklärt wird,85 sollte es noch einige Jahrhunderte dauern – vollständig durchgesetzt hat sich dieses Konzept bis zuletzt nur in wenigen modernen Staaten.86 Gleichwohl liegt hier der Ausgangspunkt der von Max Weber so treffend bezeichneten Entzauberung der Welt.

Drittens: Territoriale Abgrenzung und Entpersonalisierung. Im Zusammenhang mit der Konfessionalisierung stand die Territorialisierung der Herrschaft, die sich fortan besonders über ihr Staatsgebiet und weniger über die konkrete Person des Herrschers definierte. Es kam zu einer Entpersonalisierung, der Staat wurde zur Körperschaft, deren Existenz vom Herrscher unabhängig war. Die entstehenden Grenzen waren aber vornehmlich räumliche Abgrenzungen der Herrschaftsgewalt und keine für Menschen physisch unüberwindlichen Barrieren. Anfangs waren es angesichts der vorherrschenden ökonomischen Theorie – dem Merkantilismus – auch weniger fremde Menschen, die auf dem eigenen Staatsgebiet unerwünscht waren, als aus dem Ausland stammende Waren. Heute scheint es im »entfesselten Kapitalismus« umgekehrt zu sein.87 Mit dem modernen Territorialstaat ist beides vereinbar.

Viertens: Gestaltung durch Gesetzgebung. War die Ordnung des Mittelalters noch vor allem eine erkennende, wurde sie mit der Entdeckung der Vernunft zunehmend zu einer vom Menschen selbst insbesondere durch Recht gestalteten Ordnung.88 Der moderne Staat ist Gesetzgebungsstaat: »Die systematischen Beobachtungen der Natur und die Kritik an unreflektiertem Verhalten hatten zu der Erkenntnis geführt, dass der Mensch Gegenwart und Zukunft selbst gestalten müsse.«89 Damit übernahm der Herrscher zugleich die Verantwortung für die Ausgestaltung dieser Ordnung. Es fanden sich immer häufiger umfangreiche Regelungen zur »guten Polizey«, mit denen der Herrscher versuchte, sowohl die Gefahrenabwehr als auch die allgemeine Wohlfahrtspflege zu organisieren und nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Die neuen Ordnungen ließen kaum einen Bereich aus und reichten von der Kleiderordnung bis hin zum schicklichen Verhalten in der Öffentlichkeit. Allerdings verlief dieser Prozess – wie so häufig – in den einzelnen Staaten unterschiedlich. In Großbritannien und den USA etwa wird man der Gesetzgebung erst Ende des 19. Jahrhunderts eine größere Rolle zusprechen können.90

Fünftens: Ausbildung einer zentralen Bürokratie. Die Gestaltung durch Gesetze, aber auch die Konfessionalisierung bedurften der konkreten Umsetzung innerhalb des gesamten Territoriums der einzelnen Staaten. Nach dem Vorbild der katholischen Kirche entwickelte sich eine zentralisierte Verwaltung, die im Übrigen auch von technischen Neuerungen (wie der Postkutsche) profitierte. Verwaltung ist dabei auch heute der Aspekt von Staatlichkeit, dem die BürgerInnen am häufigsten begegnen: »Der Alltag von Herrschaft ist Verwaltung.«91

Sechstens: Errichtung eines stehenden Heeres. Mit der Veränderung der Kriegsführungstechniken ging eine professionellere Organisation der militärischen Verteidigung einher. Ausgehend von den Niederlanden und Schweden wurde der besoldete und unter Waffen stehende Soldat, der auch in Friedenszeiten seine Funktion als Soldat nicht aufgab, zum neuen militärischen Standard. Dazu bedurfte es eines umfassenden militärischen Verwaltungsapparates und entsprechender Infrastruktur (vor allem über das gesamte Territorium verteilte Kasernen). Das Militär wurde zu einem wirksamen Macht- und Symbolfaktor des zentral agierenden Herrschers, wie etwa in Frankreich und Preußen. In vielen Staaten kommt dem Militär dadurch bis heute eine erhebliche Integrationskraft selbst in Friedenszeiten zu – etwa in den USA, aber auch in Frankreich. In Deutschland ist das aus historischen Gründen anders.

Siebtens: Umfassende Steuerfinanzierung. Im Mittelalter kam der Herrscher im Wesentlichen selbst für die Kosten der Herrschaft auf. Die Finanzierung des modernen, gestaltenden und verwaltenden Staates war jedoch auf diesem Wege nicht mehr zu leisten. Im Laufe der Zeit trat daher die Steuer als dauerhafte Einnahmequelle an die Stelle der Selbstfinanzierung: Der moderne Staat ist Steuerstaat. Diese Entwicklung war für den Prozess der Parlamentarisierung und damit den demokratischen Verfassungsstaat bedeutend: Die Ständevertretungen, die für die Bewilligung der Steuern verantwortlich zeichneten, waren die Vorläufer der heutigen Parlamente. Das Budgetbewilligungsrecht bildet weiterhin eine der parlamentarischen Kernkompetenzen.

Achtens: Staatsvolk. Ein formales Staatsvolk, eine formale Staatsangehörigkeit kannte der moderne Staat lange Zeit nicht. Die Herrschaft war im Wesentlichen nicht personal, sondern territorial organisiert – zumindest wenn man auf die zentrale staatliche Ebene blickt.92 Auch die Konfession ließ sich nicht als Staatsangehörigkeitsersatz interpretieren, schon weil es nur zwei (später drei) unterschiedliche Konfessionen gab93 und diese zudem prinzipiell frei wählbar waren. Erst die mit der Französischen Revolution einsetzende Demokratiebewegung begründete das Bedürfnis, ein irgendwie geartetes Volk von anderen Völkern abzugrenzen.94 Die Idee, die in diesem Zusammenhang geboren oder besser »erfunden«95 wurde, war die der Nation – ein mehr als folgenreiches Konzept für den modernen Staat, auch und gerade für den Verfassungsstaat.96

Der moderne Staat als verfasster Staat (noch) ohne Verfassung

Dieser moderne Staat steht am Anfang auch der Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Nach seiner Herauslösung aus göttlichen Vorgegebenheiten bedurfte er einer Ordnung, die das weltliche Geschehen auf dem jeweiligen Territorium organisierte: der Verfassung.

Vorherige Herrschaftssysteme kannten hingegen noch keine Verfassung im hier verstandenen Sinne. Anders ausgedrückt: Sie waren zwar zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten (faktischen) Zustand, in einer (politischen) Verfassung, aber sie hatten noch keine (normative) Verfassung. Zu Beginn galt das freilich auch für den modernen Staat, mit dem das Zeitalter des Absolutismus eingeläutet wurde, der das gesamte Europa – mit Ausnahme Englands – lange Zeit prägen sollte. Zwar wurden die naturrechtlichen, vertragstheoretischen Grundlagen für den alsbald folgenden Verfassungsstaat durch Autoren wie Thomas Hobbes, John Locke oder Jean-Jacques Rousseau bereits in dieser Zeit geschaffen.97 Die »staatlichen Autoritäten«98 tangierte das allerdings nicht, sie setzten diese Vorstellungen nicht um – im Gegenteil: Die absoluten Herrscher sahen sich weiterhin von Gottes Gnaden eingesetzt. Eine naturrechtlich fundierte Verfassung, eine schriftlich verfasste gar, schien unnötig: »L’État c’est moi« brauchte keine Verfassung.

Auch wenn ihre Herrschaft faktisch selbst im Frankreich Ludwigs XIV. nicht als absolut angesehen werden konnte – im täglichen Leben blieben die lokalen Herrschaftsträger von zentraler Bedeutung –, gingen die Monarchen selbstverständlich davon aus, dass ihnen keinerlei rechtliche Grenzen gesetzt waren. Und diese unbegrenzte Herrschaftsgewalt bedurfte außerhalb göttlicher Zuweisung keiner irgendwie gearteten förmlichen Übertragung durch eine weltliche Instanz (schon gar nicht durch das »Volk«).

Es sollte lange dauern, bis sich die theoretischen Vertrags- und Verfassungsideen auch in der herrschaftlichen Praxis durchsetzen konnten. Dieser langwierige, bisweilen zähe Prozess spielte sich im Kern im »langen« 19. Jahrhundert ab – einer erneut willkürlichen historischen Epoche, die mit der Amerikanischen und Französischen Revolution einsetzte und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 andauerte.99 Es war diese Hochphase der Moderne, die mit der Industrialisierung vielfältige neue Probleme – nicht zuletzt die soziale Frage – aufwarf und als eine Epoche der Emanzipation und der Partizipation beschrieben werden kann.100

Die Begriffe »Emanzipation« und »Partizipation« werden uns in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen. Emanzipation meint in diesem Zusammenhang die Entlassung aus gesellschaftlichen Bindungen und Selbstverständlichkeiten, aus Abhängigkeiten und Unterwürfigkeit.101 Es geht um die den Liberalismus prägende Emanzipation aus vorgegebenen, oktroyierten und nicht autonom gewählten gesellschaftlichen Funktionen und Zwängen. Das begründete durch den Abbau der komplexen gesellschaftlichen Zwischengewalten erhebliche neue Freiheiten für den Einzelnen.

Die neue, zunehmend bürgerliche Gesellschaft102 befreite sich im Laufe der Zeit dadurch von religiösen Zwängen, von politischen Allmachtsansprüchen des Monarchen, von wirtschaftlichen Begrenzungen – Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Zunftwesen durch die Gewerbefreiheit ersetzt –, aber auch von normativen Diskriminierungen: Alle Menschen wurden frei und gleich an Rechten geboren und vom Recht auch entsprechend behandelt. Die Idee der Gleichheit als solche war nicht neu. Aber es war bis dahin meist eine Gleichheit der wenigen gewesen. Nun also für alle: »Die Französische Revolution stieß diesen Stachel der Gleichheit in die Politik«,103 schon zuvor hatte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die Gleichheitsidee wirkmächtig formuliert – in der Praxis wurde dieses Versprechen (»that all men are created equal«) anfangs nur begrenzt eingelöst, die bürgerliche Gesellschaft war vor allem »männlich bestimmt«.104 Verfassungs- und Demokratiegeschichte, das hat zuletzt auch Hedwig Richter betont, dreht sich um erkämpfte Inklusionen und fortbestehende Exklusionen und damit auch um den gesellschaftlichen Umgang miteinander: »Warum begannen Menschen, dem Körper ihrer Mitmenschen Respekt entgegenzubringen und Folter und Prangerstrafen nicht mehr als Unterhaltungsspektakel, sondern als widerlich, schließlich sogar als Skandal zu empfinden?«105

Die Grundrechte wurden zum Ausdruck dieses fundamentalen Prinzips, das gegen Adelsprivilegien und sonstige in der persönlichen Stellung begründete Bevorzugungen gerichtet war. Natürlich war der Weg zur realen Verwirklichung der Grundrechte und der Gleichheit lang – er ist bis heute nicht vollständig abgeschritten. Ungerechtigkeiten bestehen fort oder haben sich gewandelt – die USA wurden erwähnt, aber auch in Deutschland werden die strukturellen Geschlechterungerechtigkeiten nur allzu langsam verringert, wenngleich man auch die Fortschritte nicht kleinreden sollte.106 Mit den ersten Menschenrechtserklärungen aber war der theoretische Schritt zu einer umfassend einbeziehenden Gleichheit getan, der auch in den Bürgerlichen Gesetzbüchern normativen Niederschlag finden sollte – der französische Code Civil trat im Jahr 1804 in Kraft.107 Die gesellschaftlichen Zustände sollten sich von dieser Idee mittelfristig nicht vollständig abschirmen können: Ab jetzt konnte man auf die Menschenrechtserklärungen verweisen und den ungleichen Seins-Zustand im Hinblick auf den normativen Soll-Zustand als defizitär markieren. Und das gilt bis heute: »Denn der Maßstab, sich auf die Universalität der Menschenrechte hin zu orientieren und die Ordnung der Gesellschaft an ihr auszurichten, ist die dauerhafte Herausforderung jeder offenen Gesellschaft – bis zur Gegenwart.«108

Mit dieser Befreiung und Mediatisierung fielen allerdings auch Problemlösungsinstanzen weg, für die es mittelfristig Ersatz brauchte. Sichtbar wurde das bei der »Bauernbefreiung« Anfang des 19. Jahrhunderts, die die Bauern gleich doppelt »befreite«: von ihrer Leibeigenschaft und anschließend von ihrem Land. Die Abhängigkeit war jetzt eine andere, aber es blieb eine Abhängigkeit.109

Die Lösung der gesellschaftlichen Ketten bedeutete das Ende bis dahin bestehender gesellschaftlicher Fürsorgemechanismen. Man war seines eigenen Glückes Schmied, aber damit auch auf sich gestellt – und das konnte in der aufkommenden Industrialisierung mit Ungerechtigkeiten und sozialen Härten einhergehen. Es bedurfte einer grundlegenden Neuordnung, für deren Gestaltung nur noch der einheitliche Staat in Betracht kam, der nach der Beseitigung der diffusen gesellschaftlichen Gewalten sichtbar geworden war. Nachdem er zunächst die Freiheit aller sicherte, sorgte er als Interventionsstaat dafür, dass diese Freiheit auch für alle (oder möglichst viele) erhalten blieb.

An dieser Neuordnung wollte das emanzipierte und selbstbewusster werdende Bürgertum sich unmittelbar beteiligen. Der gesellschaftlichen Emanzipation und der Sichtbarmachung des einheitlichen Staates folgte der Wunsch nach politischer Partizipation an der einheitlichen Staatsgewalt, eine wenig überraschende Entwicklung: Wie zuletzt Danielle Allen eindrucksvoll gezeigt hat, ist die Zusammenführung von privater und öffentlicher Autonomie eine notwendige Bedingung für umfassendes menschliches Wohlergehen.110 Dieser Wunsch manifestierte sich in dem Verlangen nach neuen politischen Grundordnungen – den Verfassungen –, mit denen die Partizipation normiert und für die Zukunft verstetigt werden sollte. Das 19. Jahrhundert lässt sich als das Jahrhundert der Verfassungen bezeichnen: »Die Verfassungsbewegung ist mithin ein zentrales Phänomen der auf Emanzipation und Partizipation gerichteten Entwicklung, die das ganze 19. Jahrhundert bestimmt.«111 Heute besteht für uns ein natürliches Junktim zwischen einem Staat und (s)einer Verfassung – wo vom Staat die Rede ist, ist die Verfassung nicht weit.112 Dieses Junktim ist aber jünger, als wir vielleicht gedacht haben. Es sind die USA, in denen es im Jahr 1787 erstmals verwirklicht wird, Frankreich folgt und von da an sollte es sich über den ganzen Erdball verbreiten. Auch in Südamerika kommt es im Zusammenhang mit der ersten Dekolonisierungswelle Anfang des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Verfassungsgebungen. Anders gewendet: Der Kampf um die Verfassung wird epocheprägend.113

Mit der Neuzeit fängt unsere Verfassungsgeschichte insofern ein wenig zu früh an, und in der Tat wird der Schwerpunkt stärker auf der späten (»modernen«) Neuzeit ab Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts liegen. Indem auch die Zeit davor in den Blick genommen wird, soll das Prozesshafte und der Umstand betont werden, dass der Verfassungsstaat an den in der Neuzeit entstandenen modernen Staat anknüpft und vielfach in den damaligen organisatorischen (politischen) Unzulänglichkeiten seinen Ausgangspunkt nimmt. Ohne diese Unzulänglichkeiten zu kennen, wird man seine Entstehung nicht nachvollziehen können. Dass und warum die Neuzeit als Ausgangspunkt gewählt wurde, sollte damit hinreichend begründet sein. Die Relevanz weiter zurückreichender Zusammenhänge wird durch die Wahl dieses Ausgangspunktes und entgegen der skizzierten Kritik nicht geleugnet.114

Doch vorab bedarf es noch der Klärung, was unter einer Verfassung verstanden werden soll. Was ist das Besondere am Verfassungsstaat und unterscheidet ihn von früheren Herrschaftsmodellen, die zwar in einer Verfassung waren, aber noch keine (normative) Verfassung hatten, wie wir sie heute kennen und für selbstverständlich erachten?

2. Zum Begriff der Verfassung

Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Verfassungen

Heute erscheint uns die Existenz von Verfassungen selbstverständlich. Beinahe jeder moderne Staat hat eine geschriebene Verfassung, etwas anderes gilt nur für Großbritannien, Israel und Neuseeland – die Ursachen für den britischen »Sonderweg« werden wir im fünften Kapitel näher beleuchten.

Was wir heute unter einer Verfassung verstehen, ist allerdings eine »Erfindung« des späten 18. Jahrhunderts. Wenn man von den einzelstaatlichen amerikanischen Verfassungen absieht, ist die amerikanische Verfassung aus dem Jahre 1787 bzw. 1791 die erste moderne Verfassung im hier verstandenen Sinne. Es folgten die französischen Verfassungen im Anschluss an die Französische Revolution von 1789, und fortan war die Idee des Verfassungsstaates, der das politische Leben rechtlich ordnet und einhegt, aus den politischen Debatten nicht mehr wegzudenken: »In den folgenden zwei Jahrhunderten steigt die Verfassung zum weltweit kopierten und vielfach variierten Muster auf, nach dem Gesellschaften ihre politische Ordnung als republikanisch, demokratisch, rechtsstaatlich, sozial etc. ausweisen sowie auf die Anerkennung von Grund- und Menschenrechten gründen, um Zutritt zu erhalten zum Kreis der in den Vereinten Nationen organisierten ›zivilisierten Staaten‹.«1 Es war gleichwohl ein langer Kampf, bis sich diese Idee endgültig durchsetzen konnte. Das gilt für Europa insgesamt und damit auch für Deutschland, wo die Zeit ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt war von einem Hin und Her zwischen Revolution und Restauration, zwischen liberalen Konzepten und den Machtansprüchen der alten Kräfte, zwischen Freiheit und Unterdrückung.

Etwas vereinfachend wird man sagen können: Beim Großteil der Revolutionen und politischen Auseinandersetzungen des langen 19. Jahrhunderts drehte es sich der Sache nach um die Begründung und Ausweitung, bisweilen auch um die Einschränkung von Verfassungen bzw. des Verfassungsstaates. Stets ging es um auf Emanzipationen folgende Partizipationsansprüche eines selbstbewusster werdenden Bürgertums, das sich mit dieser Forderung nicht überall und umgehend durchsetzen konnte und manche (auch gewalttätige) Rückschläge ertragen musste: »Ja, die europäische Geschichte seit 1789 lässt sich über hundert Jahre geradezu als Geschichte von Verfassungskämpfen schreiben.«2

Die vier Elemente moderner Verfassungen

Schauen wir uns vor diesem Hintergrund genauer an, was die Verfassung im modernen Sinne prägt. Dabei sei angemerkt: Die folgende Definition ist weit und will das Besondere fassen, ohne zu anspruchsvolle Anforderungen zu stellen. Eine enge Definition engt auch den Blick zurück ein und könnte verhindern, zusammenhängende Entwicklungen zu erkennen.3 Wer etwa die demokratische Verfassung der USA aus dem Jahre 1787 bzw. 1791, also den demokratischen Verfassungsstaat, zum relevanten Maßstab erklärt, wird in Deutschland (allerdings auch im restlichen Europa) lange Zeit nicht fündig werden. Der demokratische Verfassungsstaat tritt hier erst mit der Weimarer Reichsverfassung des Jahres 1919 auf die politische Bühne, etabliert sich vollends erst mit dem Grundgesetz aus dem Jahre 1949 – ohne damit allerdings die vielfältigen demokratischen Traditionen in den deutschen Staaten leugnen zu wollen.

Die folgenden Merkmale konzentrieren sich also auf das Wesentliche, auch um eine Verfassungsgeschichte unter Einbeziehung Deutschlands sinnvoll erzählen zu können. Zwar erfüllt der spezifisch deutsche Konstitutionalismus, mit seiner noch lange währenden Perpetuierung des monarchischen Prinzips, auch die folgenden Kriterien nicht umfassend. Die Unterschiede sind aber nicht so gewaltig und lösen sich zunehmend auf, so dass der hier präsentierte Begriff eine sinnvolle Folie für diese Entwicklung sein kann.

Bevor wir uns den konkreten Merkmalen zuwenden, sei daran erinnert, dass mit den Vertragstheoretikern – also Personen wie Thomas Hobbes und John Locke, aber auch Jean-Jacques Rousseau – das theoretische Fundament für die moderne Verfassung schon länger gelegt war. Trotz unterschiedlicher Zugänge im Einzelnen kamen sie allesamt zu dem Schluss, dass sich Herrschaft nur rechtfertigen lässt, wenn bereits ihre Einsetzung auf einem Vertrag, den die gleichen Bürger miteinander abschließen, und damit auf deren Zustimmung beruht.4 Das war nichts weniger als ein direkter Angriff auf die Idee eines Gottesgnadentums und man kann sich ausmalen, dass diese Theorien bei kaum einem Herrscher auf unmittelbare Gegenliebe stießen: »Die zentrale Frage der politischen Theorie lautete fortan: Wie legitimiert sich Herrschaft angesichts des Naturrechts aller Menschen? Wenn politische Herrschaft auf Verträgen zwischen Menschen beruht, wie können Monarchen oder Fürsten dann ihre Position rechtfertigen?«5 Diese Vorstellungen sollten in der Praxis dennoch zunächst keine Rolle spielen. Der Absolutismus blieb wie er war, auch wenn er geistig angekratzt erschien und sich in manchen Staaten als aufgeklärt gerierte.

Zwar war kein absolutistischer Herrscher umfassend absolut. Wie wir gesehen haben, galt das selbst für Ludwig XIV., den berühmten Sonnenkönig. Manche dieser Begrenzungen ging der Monarch freiwillig ein, manche ergaben sich aus faktischen Begebenheiten. Klar aber war: Es war der Monarch, der über Begrenzungen entschied, seine Herrschaft war theoretisch umfassend und beruhte auf göttlicher Ermächtigung. Um seine Herrschaft zu begründen bzw. zu legitimieren, bedurfte es keines besonderen Vertrages, der Mitwirkung der Untertanen oder sonstiger Verfahren. Ohnehin galten diese freiwilligen Einschränkungen meistens nur für einen begrenzten Personenkreis, den Adel, den Klerus, aber nicht umfassend – von Gleichheit keine Spur.

Ihre langfristige Wirkung sollten diese Vertragstheorien gleichwohl nicht verfehlen, denn das Bedürfnis, Herrschaft weltlich zu legitimieren, wuchs stetig an. Es bedurfte einer Rechtfertigung für das Bestehende und man begann, nach einer solchen zu suchen. Es ging den Vertragstheoretikern dabei nicht sogleich um demokratische Verhältnisse. Auch absolutistische Herrschaft ließ sich weltlich rechtfertigen, wie Thomas Hobbes mit seinem Leviathan zeigte.6 Mit der neuen Weltlichkeit wurde aber die Herrschaftslegitimation dem rationalen Diskurs unterworfen. Es entwickelten sich unterschiedliche Konzepte, die in einem langen Prozess mit der Wiederbelebung der antiken Gleichheitsidee auch den Absolutismus ins Wanken und schließlich zum Einsturz bringen sollten.

Mit der ersten Verfassung in den USA wurden die Vertragstheorien insoweit erstmals mit der Praxis versöhnt. Das Neue war dementsprechend nicht die Begrenzung der Herrschaft an sich – partielle Begrenzungen hatte es immer gegeben –, neu waren laut Dieter Grimm vielmehr die folgenden drei modalen Elemente:7

Erstens: Die Verfassung wirkte herrschaftsbegründend.8 Außerhalb oder besser zeitlich vor der Verfassung gab es keine legitime Staatsgewalt. Die Staatsgewalt wurde entweder durch eine Verfassung staatlichen Institutionen zugewiesen oder war nicht existent. Durch die Verfassung wurde kein zuvor von Gott eingesetzter Herrscher in seinen Befugnissen eingeschränkt. Auch die Person des Herrschers erwachte erst mit der Verfassung zum Leben, zuvor war er ein Mensch wie jeder andere. Was er durfte, stand in der Verfassung. Und noch wichtiger: Was er nicht durfte, wo die Grenzen seiner Herrschaftsgewalt lagen, war ebenfalls darin normiert. Mit der Begründung neuer beendete die moderne Verfassung zugleich zuvor bestehende Herrschaft: »Sie begründet eine Diskontinuität, eine Ruptur, die ihre institutionelle Entsprechung in Frankreich in der Revolution, in den Vereinigten Staaten im Unabhängigkeitskrieg findet.«9 Die Verfassung orientierte sich nicht mehr an vorheriger Herrschaft, grenzte sich bisweilen sogar explizit oder implizit von dieser ab – besonders deutlich beim Grundgesetz, das sich nachgerade als Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft versteht. Moderne Verfassungen brachen mit der Vergangenheit und richteten den Blick in die Zukunft. Verfassungsordnungen haben mithin einen konkreten Anfang und machen dadurch ihre soziale Gesetztheit, ihre Unnatürlichkeit deutlich. Bisherige Herrschaftslegitimationen wurden bedeutungslos, die Verfassung legitimierte sich aus sich selbst heraus und war zugleich darauf angewiesen, dass ihr das gelang: Verfassungsgebungen waren (und sind) Transformationsprojekte ohne Anspruch auf Erfolg.10 Konstituierte Herrschaft ist zum Zeitpunkt ihrer Begründung keine traditionelle Herrschaft. Hier zeigt sich ein zentraler Unterschied zu den deutschen »Verfassungen« des 19. Jahrhunderts, die keinen so klaren Bruch mit der Vergangenheit zelebrierten. Auf dem monarchischen System ruhend, verstanden sie sich als lediglich herrschaftsbegrenzend. Das alte monarchische Herrschaftssystem bestand fort, wurde lediglich geformt, aber nicht verworfen. Der Monarch galt wenigstens stillschweigend als der vorverfasste Souverän, die bisweilen oktroyierten Verfassungen als freiwillige Selbstbeschränkungen des ungebundenen Herrschers, »normative Geschenke« an die Untertanen. Andererseits sollte der Monarch eine gewährte Verfassung nach den Regelungen der Wiener Schlussakte aus dem Jahr 1820 eigenmächtig nicht wieder zurücknehmen können. Die erlassene Verfassung entfaltete Bindungswirkung auch für den Herrscher. Dass diese dogmatisch schwer zu begründende Selbstbindung auf monarchischen Widerstand stieß, belegt die Protestaktion der »Göttinger Sieben« aus dem Jahr 1837, die gegen eine einseitige Rücknahme der Hannoverschen Verfassung durch König Ernst August gerichtet war.

Zweitens: Die mit der Verfassung begründete Herrschaft umfasste die gesamte Herrschaftsgewalt.11 Es ging nicht um einzelne Bereiche (etwa den Schutz vor willkürlicher Verhaftung), wie das in bestehenden Verabredungen der Fall war, die zwischen dem Herrscher und einzelnen Ständen abgeschlossen worden waren. Es ging darum, die Staatsgewalt mit der Verfassung umfassend und durchgehend zu regeln; kein Bereich staatlicher Herrschaft sollte außerhalb der Verfassung stehen. Jeder, der sich auf Herrschaftsbefugnisse berief, musste diesen Anspruch auf die Verfassung zurückführen können.12 Die moderne Verfassung war umfassend. Konflikte zwischen den politischen Organen wurden zu Verfassungskonflikten und konnten und sollten unter Rückgriff auf die Verfassung und nicht durch das »Recht des Stärkeren« oder vorverfassungsrechtliche Souveränitäten gelöst werden. Diese neue Rolle der Verfassung zeigte sich sogar im preußischen Verfassungskonflikt des Jahres 1866. Auch hier ruhte die von Bismarck präsentierte »Lückentheorie« letztlich auf der Verfassung, begründete die Handlungsfähigkeit der Exekutive verfassungstheoretisch: Weil der Staat nicht stillstehen könne, müsse der König auch ohne parlamentarische Bewilligung des Haushalts handlungsfähig bleiben. Ob dieses Argument überzeugend war, steht auf einem anderen Blatt. Entscheidend war, dass Bismarck nicht auf eine göttliche Allmachtstellung des Königs rekurrierte und die Verfassung einfach beiseiteschob. Heute ist es in Deutschland selbstverständlich, dass Kompetenzfragen Verfassungsfragen sind – anders als in anderen Staaten ist es möglich, beinahe jede politische Frage in eine verfassungsrechtliche umzucodieren.

Drittens: Die Verfassung enthielt nicht allein Sonderrechte für privilegierte Gruppen oder Stände der Bevölkerung. Es ging nicht darum, bestimmte Personen vor der Willkür des Monarchen zu schützen. Die Verfassung galt für alle, sogar den Monarchen. Mit ihr wurden sämtliche Untertanen zu Bürgern (und viel später auch zu Bürgerinnen), die durch die Verfassung geschützt wurden und die Herrschaftsgewalt begrenzten. In einem Satz: Die moderne Verfassung galt universal.

Mit Dieter Grimm kann man vorläufig festhalten: »Die neue Verfassung schrieb systematisch und erschöpfend in einem rechtförmigen Dokument vor, wie die Staatsgewalt eingerichtet und ausgeübt sein musste, um als legitim gelten zu können. Verfassung bezog sich nicht mehr auf den rechtlich geprägten Zustand eines Staates, sondern auf die den Zustand prägende Norm und wurde damit selber zum normativen Begriff.«13 Der Verfassungsbegriff wurde damit »in der Moderne juristisch auf die rechtliche Grundordnung eines politischen Gemeinwesens umgestellt und enggeführt«.14

Die drei modalen Verfassungselemente sind um ein weiteres, viertes zu ergänzen, das in der Anfangszeit des Verfassungsstaates selbstverständlich war und auch deshalb wenig Beachtung fand: Die Rede ist von der Verfassungsautonomie. Von einer modernen Verfassung kann man nur sprechen, wenn sie durch das politische Gemeinwesen selbst bestimmt wurde und die Änderungsbefugnis bei diesem politischen Gemeinwesen liegt. Die Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung, des »Selbststandes« eines politischen Gemeinwesens.

Damit ist keine demokratische Selbstbestimmung gemeint. Wie die Verfassung erlassen wird, wer sie erlässt oder welchen Inhalt sie hat, spielt für die Verfassungsautonomie keine Rolle. Die Verfassung kann ausgehandelt oder oktroyiert, demokratisch beschlossen werden oder in anderer Form Geltung erlangen. Verfassungsautonomie genossen die USA ebenso wie die süddeutschen Staaten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten (allerdings noch dem monarchischen Prinzip verhafteten) »modernen« Verfassungen erließen. Unschädlich ist es für das Vorliegen der Verfassungsautonomie auch, wenn bei der Gestaltung der Verfassung gewisse normative Bindungen an höherrangiges Recht bestehen. Dass die deutschen Bundesländer heute beim Erlass und der Änderung ihrer Verfassung nicht völlig frei, vielmehr an das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG gebunden sind, ändert nichts an ihrer prinzipiellen Verfassungsautonomie. Die Landesverfassungen sind Verfassungen im hier verstandenen Sinne.

Etwas anderes – und das ist der Grund, warum dieses Merkmal hier betont wird – gilt für die Gründungsverträge der Europäischen Union, deren Geltung allein auf der Zustimmung der heute (nur noch) 27 Mitgliedstaaten beruht. Die Unionsverträge können von der Europäischen Union nicht eigenständig geändert oder erweitert werden, die Europäische Union genießt keinen politischen Selbststand. Die Kompetenzen wurden der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten als den »Herren der Verträge« übertragen, und die Mitgliedstaaten können diese auch jederzeit wieder entziehen oder modifizieren – das in Art. 48 EUV geregelte Vertragsänderungsverfahren liegt zentral in der Hand der Mitgliedstaaten. Verfassungstheoretisch gesprochen: Der Europäischen Union fehlt es an der »Kompetenz-Kompetenz«, also der Möglichkeit, ihre Kompetenzen eigenmächtig zu erweitern. Neben der Option des Austritts nach Art. 50 EUV ist das ein weiterer Beleg dafür, dass die Europäische Union die Schwelle zur Staatlichkeit bzw. zur Verfassungsstaatlichkeit noch nicht überschritten hat. Sie ist kein Bundesstaat – die deutschen Bundesländer können aus dem deutschen Bundestaat nicht einseitig austreten –, sie ist also in einer politischen Verfassung, gründet ihre politische Handlungsmacht aber nicht auf eine Verfassung im hier verstandenen Sinne.

Es wäre auch nur eine solche Verfassung, die bestimmen könnte, dass dem Recht der Europäischen Union ein unbedingter Vorrang vor nationalem Recht zukommt. Dass ein unbedingter Vorrang des Unionsrechts aus der Perspektive der nationalen Verfassung, dem Grundgesetz, (noch) nicht hinnehmbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht seit jeher betont. Auch darin zeigt sich ein bedeutender Unterschied zum vollwertigen Bundesstaat, für den Art. 31 GG ebenso lapidar wie folgenreich festhält: »Bundesrecht bricht Landesrecht.« Staatstheoretisch befindet sich die Europäische Union gewissermaßen in einem ›Zwischenland‹: Ihre Kompetenzen und Zuständigkeiten gehen über diejenigen ›normaler‹ völkerrechtlicher Staatenbünde hinaus, hinzu kommt der bedingte Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht, der einen supranationalen Charakter begründet und insoweit vom Bundesverfassungsgericht anerkannt wird. Dennoch ist sie noch kein Bundesstaat im klassischen Sinne, hat keine formale Verfassung und hängt in ihrer Existenz vom Willen der Mitgliedstaaten ab. Hier liegt der Grund, warum das Bundesverfassungsgericht für diesen Zusammenschluss den Begriff des »Staatenverbundes« kreiert hat. In welche Richtung die Europäische Union sich entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, davon abzusehen, diesen Zwischenstatus in die eine oder andere Richtung auflösen zu wollen. Stattdessen sollte diese besondere Form des Herrschaftsdualismus behutsam fortgeschrieben werden.15 Mangels Verfassungsautonomie besitzt die Europäische Union jedenfalls gegenwärtig keine Verfassung.

Diese vier Elemente ergeben einen reduzierten Verfassungsbegriff, der für unsere Zwecke ausreicht und verhindert, dass der Blick zurück zu sehr verengt wird. Wir werden den Begriff im Laufe der folgenden Kapitel erweitern und modifizieren. Zusammenfassend genügt es festzuhalten: Die moderne Verfassung ist herrschaftsbegründend, umfassend und universal sowie Ausdruck der Selbstbestimmung des jeweiligen politischen Gemeinwesens (Verfassungsautonomie).

Der Weg zum Verfassungsstaat verlief in den einzelnen Staaten unterschiedlich und alles andere als geradlinig, er war auch in Deutschland steinig und von Rückschlägen, Restaurationen und formal gescheiterten Revolutionen geprägt. Es ist unter anderem dieser – vermeintlich – lange Weg zum demokratischen Verfassungsstaat (und zuvor zur Reichseinigung), der für die nur noch selten vertretene Vorstellung eines deutschen Sonderweges, eines »langen Weges nach Westen« (Heinrich August Winkler),16 verantwortlich zeichnet. Tatsächlich zeigt sich aber auch in Deutschland eine lange demokratische Tradition, die sich nicht zuletzt in einzelnen Regionen und Städten nachweisen lässt, in der Demokratiegeschichte allerdings bisweilen vernachlässigt wird. Der lange Weg zur formalen nationalen Einheit und die vorherige »Zersplitterung« (vor allem des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation) werden hingegen unter Vernachlässigung der Bedeutung kommunaler Machtverhältnisse in anderen europäischen Staaten und der auch sprachlich manifestierten Vorstellung der Zeitgenossen (schon Karten der frühen Neuzeit zeigen ein einheitliches »Germania«, auf dem Binnengrenzen nicht zu erkennen sind) zur Bestätigung der Sonderwegs-These zu stark betont.17 Selbst das Deutsche Kaiserreich litt, wie zuletzt Margaret Lavinia Anderson gezeigt hat, im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nicht an einem prinzipiellen Demokratiedefizit. Das kaiserliche Wahlrecht war gar »das demokratischste unter den Großmächten«,18 und eine besondere Affinität der Deutschen zu obrigkeitsstaatlichen Strukturen oder gar einer Sehnsucht nach Unterwerfung wird man mittlerweile als wissenschaftlich widerlegt ansehen müssen.19 Weder die USA noch Großbritannien, auf die immer wieder verwiesen wird, waren im 19. Jahrhundert mithin umfassend »demokratischer« als die deutschen Staaten. So besonders, das wird man mit Hedwig Richter festhalten können,20 war der deutsche Weg zur Demokratie also nicht – ob das Grundgesetz ohne diese demokratischen Traditionen zu einem solchen Erfolg hätte werden können, wird man bezweifeln müssen:21 »Die deutsche Geschichte ist kein Weg in den Westen, Deutschland war stets ein Teil des Westens – als einer imagined community von Zivilität, in der Herrschaft für das Volk und irgendwie auch durch das Volk da sein sollte.«22

Die Annahme eines Sonderweges zum Verfassungsstaat liegt für einen anderen Staat näher, dessen besondere Organisation bis heute die Transformation zum formellen Verfassungsstaat mit geschriebener Verfassungsurkunde verhindert hat: das Vereinigte Königreich. Dieses spätere Weltreich kannte im Gegensatz zu praktisch allen Staaten des europäischen Festlandes keine absolutistische Phase (wenn man von der kurzen Zeit der Republik und der Herrschaft Oliver Cromwells einmal absieht). Vielmehr hatten die Stände dem König im Laufe der Zeit immer mehr Rechte abgetrotzt, die auch in der Folge evolutionär weiterentwickelt wurden. Frühzeitig fand sich ein Parlament, dessen Rechte alsbald anerkannt wurden. Dieser kontinuierliche evolutionäre Prozess hat verhindert, dass es in England eine umfassende und grundlegende Verfassungsdebatte jemals gegeben hat. Das bestehende System wurde punktuell angepasst, das Wahlrecht Stück für Stück ausgeweitet,23 und noch heute beruht das politische System Großbritanniens auf Grundlagen, die teilweise Hunderte von Jahren alt und nicht in einem einzigen Schriftstück zusammengefasst sind. Eine einheitliche Verfassungsurkunde findet sich also nicht. Von der