Alpenglühen für Anfänger - Sissi Flegel - E-Book

Alpenglühen für Anfänger E-Book

Sissi Flegel

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Beschreibung

Ein Liebesdesaster – zum Kühe melken schräg!

Öd, öder, Einödsbach. Wie kann man hier freiwillig Urlaub machen? Doch Bonnie hat einen Grund, Hamburg zu verlassen, um in Tante Friedls steinzeitlicher Berghütte auszuharren. Was der Alpenkatastrophe jedoch den Gipfel aufsetzt, ist, dass eben jener Grund – der süße Valerio – plötzlich aufkreuzt. Eisern ignorieren!, heißt Bonnies Devise. Doch als Oberkuh Walburga mit den mordsknappen Lederhosen auftaucht, brennen nicht nur bei Bonnie die Sicherungen durch …

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Seitenzahl: 354

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Sissi Flegel

Alpenglühen für Anfänger

Die Autorin

© privat

Sissi Flegel hat alles erlebt, was man erleben muss, um Kinder- und Jugendbücher zu schreiben. Sie kommt aus einer Großfamilie, ging auf ein Mädcheninternat, studierte Sprachen und arbeitete als Lehrerin, bis sich ihre Erfahrungen verselbstständigten und in Büchern materialisierten. Ihre witzigen Mädchenbücher sind Bestseller und ihre Fangemeinde wächst ständig. Um näher an den Alltag zu kommen, entstehen ihre Mädchenbücher meistens vor Ort.

Von Sissi Flegel sind außerdem bei cbj lieferbar:

Die Liebeslüge (13873)

Die Liebesrache (13888)

Wintertraum und Weihnachtskuss (13971)

Schneeballflirt und Weihnachtszauber (15314)

Weihnachtsglanz und Liebeszauber (15474)

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. cbj

ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch Mai 2013

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 cbj Verlag in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

unter Verwendung der Motive von Plainpicture (clack); Gettyimages (Brand New Images/lifesize);

Shutterstock (momanuma, Peshkova)

he ∙ Herstellung: cb

Satz: EDV-Fotosatz Huber/ Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN: 978-3-641-09342-6V002

www.cbj-verlag.de

Prolog

In aller Frühe bin ich heute in Hamburg losgefahren. Jetzt sitze ich in einem alten klapprigen Bus, und in vier Minuten komme ich an. Im Allgäu, dem Bergland ganz im Süden. Im Kaff Einödsbach. Der Name sagt alles: Einödsbach. Eine Öde am Bach. Schlimmer geht’s nicht.

Ich kann gar nicht sagen, wie aufgeregt ich bin. Wenn ich nur gewusst hätte, wie hoch die Berge sind! Wie Mauern, die die Aussicht versperren! Nix wie Bäume, Stein und Fels! Und da soll ich es sechs Wochen lang aushalten? Voll der Wahnsinn.

Ich lutsche gerade mein allerletztes Bonbon. Als meine Eltern und Großeltern mir vorschlugen, ich solle wegen meines Schlamassels der Welt den Rücken kehren und die Sommerferien bei Fuchs und Hase und meiner Tante verbringen, fand ich die Idee gut. Jetzt, wo der alte Bus immer langsamer über die Steine holpert, könnte ich heulen. Ich will zurück ans Meer.

1. Kapitel

Meine Ankunft in Einödsbach ist so ein Ding! Ich wuchte meine Reisetasche auf die Straße und sehe mich nach meiner Tante um. Fehlanzeige. Das einzige weibliche Wesen bin ich. Blöd. Wahrscheinlich ist sie im Verkehr stecken geblieben. Oder sie sucht noch einen Parkplatz, was weiß ich. Jedenfalls mache ich mir keine Gedanken und schaue mich erst mal um: zwei, drei Häuser. Ne, eher Hütten. Jede Menge Bäume. Ein Bächlein. Keine Menschen. Stimmt nicht; ein paar Leute in Wanderkleidung und Rucksack stiefeln mit kernigem Schritt daher. Und weiter. Bergaufwärts.

In meinem blauweiß geringelten Shirt und der weißen Jeans sehe ich hier wie ein Alien aus. Weil mir ein eisiger Wind meine wikingerblonden Haare aus dem Gesicht bläst und ich erbärmlich friere, hole ich meinen blaugelben Friesennerz aus der Reisetasche. Ein Friesennerz ist eine Windjacke; man trägt sie bei schlechtem Wetter am Meer. Also ziemlich häufig.

Während ich den Reißverschluss hochziehe, kommt ein Hutzelmännchen auf mich zu. Komplett mit einer kurzen Büx aus Leder, kariertem Hemd, Stock und grünem Hut mit Pinsel und Feder darauf. Es spricht mich in einer Sprache an, die meine Hamburger Schule nicht im Unterrichtsangebot hat.

Ich ignoriere den Mann, trete von einem Bein aufs andere und halte Ausschau nach meiner Tante Friederike. Da schreit mich der Mann an: »Pack mer’s!«

Er schnappt sich meine Reisetasche. »Moment mal!« Ein Taschendieb in der Einöde ist ja wohl das Letzte! Ich mache einen Satz. »Hände weg!«

»Ja mei …«, sagt das Männchen verdutzt.

Ich funkele ihn an und sage: »Ich warte auf meine Tante.«

»Genau!« Das Männchen nickt. »Zur Friedl willst. Pack mer’s!«

Bitte? Liegen meine Jeans und Shirts etwa auf dem Bahnsteig? Die sind doch eingepackt! »Ich warte auf meine Tante.«

»Genau«, wiederholt das Männchen geduldig. »Zur Friedl willst. Aufi geht’s!«

»Wie bitte?«

Plötzlich schlägt sich das Männchen an den Kopf und holt einen Zettel aus der Hosentasche. Ich streiche ihn glatt und lese: »Kann nicht kommen. Gustl holt dich ab. Kennzeichen: Lederhose. Hut mit Gamsbart und Feder. Gruß Friedl.«

Krass. Der Pinsel am Hut ist also ein Gamsbart? Was IST ein Gamsbart? Hat sich meine Tante verschrieben: Gams statt Gans? Tragen die Gänse in den Bergen Bärte statt Federn? Muss ich später klären. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf mich. »Ich Bonnie – du Gustl?«

Er nickt.

Zur Sicherheit schiebe ich nach: »Friedl ist Tante Friederike?«

Er nickt wieder und deutet mit dem Daumen nach hinten und aufwärts. »Friedl. Pack mer’s. Aufi geht’s zur Hütten.«

Als wäre meine Reisetasche so leicht wie die Feder an seinem Hut trägt er sie zu einem verbeulten und verdreckten Jeep, bei dem trotz der Kälte alle Scheiben heruntergelassen sind. An dem Jeep lehnt ein Junge.

Anfang Juli sind die Tage lang. Es ist noch hell, und so sehe ich, dass er ein, zwei Jahre älter ist als ich. Und braune Wuschelhaare hat. Braune Augen. Jeans und ein löchriges T-Shirt mit dem Aufdruck eines Skeletts. Turnschuhe. Er stößt sich ab, grinst mich an und sagt was in der unverständlichen Sprache. Gustl versteht ihn, nickt, schmeißt meine Reisetasche in den Jeep und deutet mit dem Daumen auf die Rückbank. »Dein Platzl, Bonnie.«

»Wie? Ich soll hinten sitzen?« Ich schüttle den Kopf und warte.

»Ja mei …«, sagt der Junge und klettert nach hinten.

Ich setze mich neben Gustl. Der schiebt den Gang rein, gibt Gas und braust mit gefühlten hundert km/h durch die Schlaglöcher. Ein Ort kommt in Sicht, vor einem der ersten Häuser steht ein Mädchen mit einem Rucksack. Und in einem Kleid, das man wohl Dirndl nennt. Das Mädchen winkt, Gustl bremst und schreit: »Heidi! Willst mitfahren zur Hütten?«

Das Mädchen wuchtet zuerst den Rucksack herein, dann setzt es sich neben den Jungen. »Servus Basti!«

Aha. Der Junge heißt Basti, das Mädchen Heidi. Heidi! Wie das Mädchen in der uralten Zeichentrick-TV-Serie! Ich glaub’s nicht!

Dann geht es auf einem schmalen Feldweg aufwärts. Über Stock und Stein und durch jedes Schlagloch. Ich halte mich fest: Der Kerl ist wahnsinnig! Jetzt kurvt er um einen Felsbrocken herum, paketgroße Steine liegen auf dem Weg.

Ein Bauernhaus kommt in Sicht, Kästen mit roten, blauen und gelben Blumen hängen vor jedem Fenster.

»Lass mi aussi«, sagt Basti und tippt mir auf die Schulter.

Mich schleudert es nach vorn, weil Gustl die Bremse reinhaut.

»Aussi sollst ihn lassen«, wiederholt Gustl.

Wie bitte?

Der Junge seufzt. »Ich steige hier aus.«

Na bitte! Er spricht sogar Deutsch.

Ich steige aus.

Der Junge steigt aus.

Ich steige wieder ein. Gustl sagt: »Jetzt geht’s aufi!«

Warum hängen die Leute hier an jedes Wort ein i? Kann mir das jemand sagen?

Bald sind mir Wörter mit der Endung i völlig egal – ich bange um mein junges vierzehnjähriges Leben. Gustl ist ein Irrer. Er rast einen Forstweg hoch. Ein weißes Schild mit rotem Rand sagt ganz klar, der sei gesperrt. Ihm ist das egal. Wegen der Fichten und Tannen sehe ich jetzt die Berge nicht mehr. Die kommen erst wieder in Sicht, als er über eine Wiese pflügt. Die ist steil wie ein Dach.

Dann schießen wir wieder auf einen Weg. Ne, das ist nur eine Spur mit jeder Menge Geröll darauf … und Wasser. Wo kommt das plötzlich her?

»Halt di fest!«, brüllt Gustl. Er packt das Lenkrad und holpert raus aus dem Geröll, rein ins Wasser. Weil das Fenster offen ist, spritzt es mir voll ins Gesicht. Gustl lacht.

»Jetzt kummt’s«, sagt er, und wenn das »jetzt kommt es« heißen soll, kommt es echt dicke: Der Jeep rast auf einen Abhang zu, und als ich denke, es katapultiert uns himmelwärts, geht es abwärts in eine Senke, dann rauf auf einen neuen Hang, zwischen zwei Felsen durch, um eine Kurve – wenn jetzt ein Fahrzeug entgegenkommt, fliegen wir den Abhang hinunter.

Kein Fahrzeug kommt uns entgegen.

Links und rechts der Schotterpiste ragen Felsen auf. Weit oben am Hang klebt etwas, das eine Hütte sein könnte – aus grauem Gestein erbaut, von einem grauen Dach gekrönt.

Dann sehe ich ein einziges kümmerliches gekrümmtes Bäumchen auf einem grünen Fleck. Gustl gibt so richtig Gas, die Räder drehen durch, der Jeep rutscht seitlich weg, fängt sich wieder, Gustl brummt … Dann hält er auf einem handtuchgroßen ebenen Fleck. »So. Kumm, Madl.«

Er steigt aus und sagt in bestem Deutsch: »Die letzten hundert Meter müssen wir zu Fuß gehen.«

Er wuchtet einen Megarucksack auf den Rücken, nimmt etliche Tüten und den Stock in die eine, meine Reisetasche in die andere Hand und marschiert los.

»He!«, rufe ich. »Wollen Sie den Jeep nicht abschließen?«

Gustl dreht sich nicht mal um.

»Hier heroben braucht’s des ned«, sagt das Mädchen namens Heidi und hängt sich ihren Rucksack über eine Schulter. »Ist die Friedl wirklich deine Tante?«

Mir zittern die Knie, und die Frage finde ich blöd. »Meine Mutter ist sie jedenfalls nicht. Und überhaupt – ihr richtiger Name ist Friederike.«

»Also ist sie deine Tante?«

»Ja. Warum? Ist das wichtig?« Wir stehen noch immer neben dem Jeep.

Heidi schaut mich von oben bis unten an.

»Glaubst du mir nicht? Ist was?«

Sie zuckt die Schultern. »Ja mei … du schaust halt so anders aus.«

»Du siehst auch anders aus als meine Freundinnen. Beispielsweise«, setze ich hinzu. Sehr freundlich klingt das nicht, aber mir ist trotz der Jacke kalt. Hunger habe ich auch. Und dann noch die vielen Berge aus Stein! Keine freie Sicht! Nicht in die Ferne, nicht in die Zukunft! Nicht zu wissen, was mich erwartet!

»Warum kommst überhaupt?«, will Heidi wissen. »Nur ein Tantenbesuch ist’s ja wohl nicht.«

Jetzt reicht es mir. »Was geht dich das an?«

»Ja mei … hast was zu verbergen? Oder warum darf man dich nix fragen?«

Ich stapfe los. Ich koche! Natürlich habe ich etwas zu verbergen, natürlich bin ich nicht ohne Grund hier! Normalerweise würde ich mit meinen Eltern die Sommerferien in Dänemark verbringen. Normalerweise. Aber nichts ist gerade normal. Ich stecke in einem miesen Schlamassel, den ich meiner Freundin – meiner allerbesten Freundin! – zu verdanken habe.

Der Schlamassel ging so:

Ich bin Torwart in meinem Fußballclub, und ganz ehrlich – ich bin so gut, dass mich sogar die Jungs voll akzeptieren. Aber plötzlich, das war kurz vor den Sommerferien, tratschte Silvia überall herum, ich sei in ihren Freund verknallt. Noch schlimmer: ich hätte mich ihm an den Hals geworfen. Einer Freundin den Freund auszuspannen geht natürlich gar nicht.

Das Blöde war, dass ich in einen Jungen aus der Parallelklasse, Valerio, verknallt war und dachte, dass ich ihm auch nicht gleichgültig sei, weil er, wenn wir in den Pausen auf dem Schulhof herumstanden, immer wieder in meine Richtung schaute. Wenn sich unsere Blicke trafen, wurde er zwar ein bisschen rot, schaute weg und verkrümelte sich, aber klar, er war echt nicht mein Freund. Deshalb glaubten alle Leute der gemeinen Schlange Silvia: »Bonnie hat sich meinem Freund an den Hals geworfen!«

Dabei war mir Silvias Freund komplett egal. Klar, wir unterhielten uns ab und zu über Fußball, schließlich war er in seiner Mannschaft Abwehrspieler. Aber das war es auch schon. Nur dass Silvia, die nicht Fußball spielt, vor lauter Eifersucht voll gegen mich intrigierte. Das war fies und ungerecht. Es nervte mich so, dass ich beim letzten und entscheidenden Spiel vor den Sommerferien die leichtesten Bälle ins Tor ließ, was meiner Mannschaft eine fette Niederlage bescherte. Das war grässlich genug. Aber dass mir meine Leute dann knallhart unter die Nase rieben, ich hätte wegen »meinem Freund« die gegnerische Mannschaft gewinnen lassen, war einfach grausam.

Der Gipfel war allerdings, dass mich meine Leute und auch die der gegnerischen Mannschaft danach voll ignorierten, weil es ja so aussah, als hätten sie unverdient gewonnen. Klar, kein Mensch will den Sieg hinterhergeworfen bekommen, aber so war es ja auch nicht gewesen!

Doch niemand glaubte mir. Das war so bitter, dass ich mit der Idee meiner Großeltern sofort einverstanden war: Abstand zu gewinnen. Meiner Welt den Rücken zu kehren. Deshalb friere ich jetzt trotz meines Friesennerzes, bin hungrig und habe eine wahnsinnige Wut im Bauch.

Auf Silvia. Auf die fabelhafte Idee meiner Großeltern. Und auf das neugierige Mädchen namens Heidi.

Ich drehe mich um. »Nur dass du es weißt, Heidi«, sage ich. »Ich habe eine Bank ausgeraubt, zwei Morde begangen, drei Kinder entführt, vier Häuser in Brand gesetzt und bin aus dem Gefängnis ausgebrochen. Meine Knarre steckt in der hinteren Jeanstasche, und wenn du mal nicht aufpasst, schieße ich dich über den Haufen. Also sieh dich vor. Und vor allem – stell mir keine neugierigen Fragen. Reicht dir die Auskunft?«

»Ja mei …« Heidi sieht mich zuerst ganz ungläubig an. Dann lacht sie. »Nur dass du es weißt, Bonnie«, sagt sie dann. »Meine Knarre steckt in der rechten Schürzentasche, das Fläschchen mit Gift in der linken. Heute habe ich einen Hirsch gewildert, zwei blöde Wanderer in eisernen Fußfallen gefangen, drei Gäste auf der Hütten vergiftet und vier Alpenvereinsmitglieder in den Abgrund gestoßen. Also sieh dich vor. Reicht dir die Auskunft?«

Ich friere. Mit den weißen Jeans, dem Ringelhemd und in meinem Friesennerz sehe ich hier aus wie ’ne olle Seegurke auf Landgang. Vor lauter Hunger habe ich Bauchschmerzen. Aber meine Wut auf Heidi ist verraucht. Ist ganz weg. Wir lachen uns an.

»Warum bist du in den Bergen?«, frage ich sie.

»Ich wohne hier. Und in den Ferien helfe ich der Friedl. Deiner Tante. Was denn sonst?«

»Vielleicht Gäste vergiften?«

»Klar. Und grausliche Deppen in Badelatschen den Abhang runterschubsen«, ergänzt sie. »Wie ist’s? Gehst jetzt mit aufi? Ich muss nämlich deiner Tante zur Hand gehen. Denn eine alte Alpenweisheit besagt:

Ist der Tag recht heiß und schwül, kommen Gäst zur Hütten viel.

2. Kapitel

Als wir vor der Hütte stehen, sitzt Gustl im goldenen Abendsonnenschein auf der Bank. Er hat ein großes Bierglas in der Hand, und dem niederen Pegel nach zu schließen ist er extrem durstig. Er wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab und sagt: »Die Friedl wartet.«

Hoffentlich mit einem reichlichen Essen! Da geht die Tür schon auf, und eine Frau in Kniebundhosen und dicken Strümpfen rennt mich fast über den Haufen. Sie wirft den Kopf hin und her und fragt mich: »Ja, wo geht es denn nun zum Häuschen?«

Heidi schiebt mich zur Seite. »Rechts ummi, dann seht’s schon das Häusl mit dem Herzl.«

Das Häuschen rechts ummi wird wohl ein separates Wochenendhäuschen sein; es interessiert mich nicht die Bohne. Pfeilgerade marschiere ich in die Hütte, und – der Schlag streckt mich nieder.

Jeder Stuhl ist besetzt. Das Geschrei ist ohrenbetäubend. Wegen des Gestanks nach nassen Socken und Achselschweiß kommt mir mein letztes Sandwich hoch, ein Hund springt mich an, und dann, endlich, erblicke ich meine Tante Friederike.

So heißt sie in Hamburg, und in Hamburg trägt sie auch normale Kleidung: Hose, Bluse oder klassisches Twinset. Hier heißt sie Friedl, trägt überm Knie abgeschnittene Jeans, ein kariertes Kopftuch und bequeme Sandalen, die verdammt nach Birkenstock aussehen.

»Sakradi«, sagt sie statt einer liebevollen Begrüßung. »Hast dir Zeit gelassen, Heidi. Die Wandergruppe aus dem Österreichischen hat sich verspätet, ich komm mit dem Essen nicht nach. Gehst gleich in die Küche. Und, Bonnie …«

»Guten Tag, Tante Friederike!«

»Servus. Gut schaust aus, Bonnie. Ein bisschen müd vielleicht. Aber macht nix; jetzt hilfst der Heidi.«

Ich bin viel zu empört, um mich zu wehren. Heidi zerrt mich weiter und in eine Küche, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sie wirft mir eine Schürze zu, schreit: »Umbinden! Aber fix!«, und plötzlich stehe ich vor einem Herd aus der Steinzeit, und sie drückt mir eine Schöpfkelle in die Hand.

»Erbswurstsuppe!«, schreit sie mir ins Ohr. »Und Würstl! Je eines schneidest du klein und füllst den Teller mit Suppe auf. Wasch dir aber die Hände!«

Sie deutet auf ein Waschbecken. Das ist aus grauem Stein. Ich sag nur: Steinzeit! Willkommen bei Familie Feuerstein.

Aber aus dem Hahn darüber fließt tatsächlich Wasser. Das ist so grausam kalt, dass die Seife vor Schreck das Schäumen vergisst.

Aber gut … Ich war schon in etlichen Fußballcamps, ich weiß, wie schnell die gute Stimmung bei hungrigen Leuten umschlagen kann, also lege ich los. Ich fische ein Würstchen, das die Leute hier Würstl nennen, aus einer sehr großen Dose – im Fischen bin ich Meister, schließlich komme ich von der Waterkant – und schiebe es mir in den Mund. Man muss wissen, was man seinen Gästen vorsetzt.

Aber dann mache ich mich ernsthaft an die Arbeit: Würstchen in einen Teller, klein schneiden, dicke grüne Suppenpampe drauf, nächstes Würstchen. Die Teller gehen weg wie nichts.

Kaum habe ich den Dreh raus, geht es mit der nächsten Aufgabe weiter: Salami aufschneiden und zwei Laib Brot.

Neben mir rädelt Heidi Zwiebel. Wir heulen. »Du hast es heute ganz schlecht getroffen«, schnieft sie. »Bei dem schönen Wetter ist der Ansturm einfach gigantisch. Aber morgen –«

»Heidi! Wo bleiben die Salamibretterl?«, schreit meine Tante.

»– soll es regnen. Bei schlechtem Wetter kommen weniger Leute, ist ja klar«, beendet Heidi ihren Satz und brüllt: »Schon auf dem Weg, Friedl!«

Wie die hier reden! Bretterl, Würstl … Ich drapiere Salamischeiben, Essiggurken und Silberzwiebeln auf Holzbretter, Heidi legt Zwiebelringe dazu und stäubt Paprikapulver darüber. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, aber außer ein paar lumpigen Salamischeibchen und Essiggürkchen kann ich nichts essen. Keine Zeit. Tante Friederike behandelt mich so, als wäre ich schon ewig ihre Sklavin. »Nun beeil dich doch, Bonnie! Die Leute sind am Verhungern!«

Ich auch, verdammt noch mal!

Kurzzeitig wird es ruhig in der Hütte, dann wird es laut und immer lauter. Stühle werden gerückt, Geschirr wird durch die Durchreiche geschoben, jemand klatscht in die Hände, ruft: »Wecken um fünf, Kaffee viertel danach, Abmarsch halber sechse.«

Und dann geht ein Getrappel und Getrampel los, das kann man nicht beschreiben! »Was ist denn jetzt los?«, frage ich Heidi.

Sie deutet auf die Kuckucksuhr an der Wand über dem steinernen Familie-Feuerstein-Spülbecken. »Zehn Uhr. Hüttenruhe«, sagt sie knapp und stellt Teller und Gläser in die Spülmaschine. Wenn man das ganze Geschirr von Hand spülen müsste! Das wäre echt der Wahnsinn. Aber Hüttenruhe um zehn am Abend ist auch ein solcher Wahnsinn, dass ich ihn nicht glauben möchte.

»So viele Zimmer«, staune ich. »Heidi, die Hütte kam mir gar nicht besonders groß vor.«

Heidi pfeffert das Besteck in die Maschine. »Immerhin ist sie groß genug fürs Matratzenlager unterm Dach.«

»Gibt’s oben keine Zimmer?«

»Nur Matratzenlager. Also wenn du mich fragst, Bonnie – für mich ist das nichts. Entweder schläfst du nicht, weil die Leute im Schlaf so viele Wälder abholzen, dass Greenpeace den Geist aufgeben würde, oder dich bringt der ätzende Geruch um.«

In der Küche ein Wasserbecken aus Stein, ein Herd, der dir auf jedem Antikmarkt aus den Händen gerissen würde, im Matratzenlager Männer und Frauen dicht an dicht … Auf einmal bekommt das Häuschen eine andere Bedeutung. »Sag mal, Heidi. Ein Klo mit Wasserspülung befindet sich aber schon im Haus?«

»Nicht für die Gäste. Komm mal mit.« Im Gastraum stellt Tante Friederike die Stühle auf die Tische.

»Friedl«, sagt Heidi, »ich zeig der Bonnie unsere Kammer.«

Gleich im Windfang geht eine breite Stiege zum Matratzenlager hoch. An der Wand hängen etliche Zettel. Auf einem steht:

»Im Hochallgäu herrscht im Winter akute Lawinengefahr.«

Jetzt ist Hochsommer, also ist es mit der Lawinengefahr nicht weit her.

Dann lese ich etwas über Schwierigkeitsbewertung am Berg.

Wie bitte?

Es gibt, was Bergsteigen betrifft, sieben Schwierigkeitsgrade. Nummer 1 bedeutet: Geringe Schwierigkeit, aber Schwindelfreiheit ist Voraussetzung.

Nummer 7 dagegen ist natürlich der Hit. Da ist dann akrobatisches Klettervermögen gefordert.

Mein Blick wandert zum nächsten Blatt.

Bekleidung und Ausrüstung eines Bergwanderers, lese ich und erfahre, dass sich die Profilgummisohle in den Bergen durchgesetzt hat.

Interessant.

Dann lese ich, dass Bären und Wölfe seit etlichen Jahrhunderten ausgestorben sind, dass sich aber Murmeltiere hier wohlfühlen. Dass man leider kaum noch Bergadler sieht, dass sich die Steinböcke wieder vermehren und Gämsen scheue Tiere sind.

Heidi räuspert sich. »Nun komm schon, Bonnie! Die Infos kannst du später lesen!«

Hinter der Küche tappen wir eine schmale knarrende Stiege hoch. Oben gibt es drei Türen. Heidi zeigt auf die linke. »Da schläft deine Tante, und hier«, sie öffnet die mittlere, »ist unser Reich.«

Zwei museumsreife Holzbetten, dazwischen steht ein Nachtkästchen. Ein Schrank. Karierte Vorhänge vor dem kleinen Fenster, eine nackte Glühbirne an der Decke – keine Energiesparlampe, obwohl sie nur ein trübes Licht verbreitet.

Ich schlucke. An mein Zimmer zuhause darf ich nicht denken. »Da soll ich es sechs Wochen lang aushalten?«, frage ich entgeistert.

»Hier schlafen wir nur; tagsüber sind wir unten. Schnarchst du, Bonnie?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?« Ich deute fragend auf meine Reisetasche.

»Die hat Gustl hochgetragen.« Heidi öffnet vorsichtig den Schrank. Die Tür klemmt. »Den teilen wir uns. Hoffentlich hast du nicht zu viel mitgebracht. Ist ja auch nicht nötig; hier brauchst du nur Jeans und ein Hemd. Und einen Pulli, wenn’s mal kalt wird.«

Ich sinke aufs Bett. Meine Großeltern haben ja keine Ahnung, wie und wo ihre Tochter und nun auch ihre Enkelin haust, denke ich. »Und das Klo?«

Ich folge Heidi auf den Vorplatz. Sie öffnet die rechte Tür. »Alles da«, sagt sie stolz. »Waschbecken, Klo und Dusche. Den privaten Waschraum haben wir seit einem Jahr.«

»Ach du lieber Himmel! Welcher Ammerkacker hat denn die Fliesen ausgesucht?«

Die Farbe ist eine einzige orangegelb-kackebraune Katastrophe.

»Ammerkacker?«, wiederholt Heidi. Ich mach ihr klar, dass ein Ammerkacker in etwa ein blöder Kerl, ein oller Irrer ist.

»Gustl hat das Sonderangebot im Baumarkt entdeckt, gekauft und an die Wände geklebt. Nur hierfür hat’s nicht mehr gereicht.« Sie deutet auf die Nische unterm Fensterchen. Da sind die Fliesen rosarot.

Die Farben sind ein Alptraum. »Heidi, ich muss mal«, sage ich, und als ich allein bin, stelle ich mich ans Fensterchen. Ja, die Aussicht auf die im Mondlicht silberweiß schimmernden Gipfel ist grandios. Ja, die Luft ist klar und prickelnd. Und garantiert gesund. Aber die Hütte, die Küche, das Kämmerchen und das Badezimmer sind nichts für mich. Gut, die eine Nacht bringe ich hinter mich. Aber dann, am Morgen: Adieu, ihr Berge! Guten Tag, Hamburg! Der Schlamassel in meiner Heimatstadt ist nichts gegen … gegen das, was ich mir hier antun soll.

Energisch drehe ich mich um, gehe die schmale Stiege hinunter und lande wieder in der Küche. Dort sieht es jetzt richtig gemütlich aus: der Fußboden ist gewischt, die Stühle stehen da, wo sie stehen müssen, am Tisch sitzen Tante Friederike und Heidi, aus einer großen Schüssel dampft es, eine Kanne Tee, Becher, Teller und Besteck sehe ich auch.

»Na«, sagt meine Tante so richtig genüsslich, »hast du den Kulturschock überlebt?«

»Nein.« Ich setze mich. »Morgen reise ich nach Hause. Deine Hütte ist nichts für mich, Tante Friederike.«

»Ich habe nichts anderes erwartet«, erklärt sie. »Gustl bringt dich und dein Gepäck ins Tal. Wenn er Zeit hat. Aber vorher solltest du dich stärken.«

Ich bin froh, dass Tante Friederike meinen Entschluss so gefasst akzeptiert. »Hmmm. Riecht gut.«

Das Gericht in der Schüssel riecht gut, aber als ich die Fäden sehe, die am Löffel kleben, als Heidi das komische Nudelzeug aus der Schüssel heraus und auf meinen Teller häuft, wird mir ziemlich klöterig im Magen. »Ich glaube, mein Hunger ist doch nicht so groß«, sage ich.

»Ist uns auch recht«, antwortet Heidi. »Dann bleibt mehr für uns übrig, gell, Friedl.«

Meine Tante zwinkert ihr zu und sagt in reinem Hochdeutsch: »Meine Nichte fühlt sich wie ein Fish out of water. Wir hätten ihr eine Seezunge Altonaer Art braten sollen.«

Heidi rümpft die Nase. »Zunge aus ’nem See? Das klingt eklig.«

»Ist es aber nicht. Auf jeden Fall sieht der Fisch appetitlicher aus als das Zeug hier.« Ich spieße eine der klebrigen Teignudeln auf die Gabel. Die Fäden sind ein Witz. »Schmeckt’s?«, erkundigt sich Heidi.

Ich nicke. »Geht so. Jedenfalls besser, als es aussieht.«

Oben schlägt eine Tür zu. Dann poltert jemand die Treppe herunter und steht gleich darauf in der Stube: ein Mann. Behaarte Beine. Nackte Füße in derben Bergstiefeln. Lange blaue Unterhosen, total ausgeleiert. Ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Mir san mir«. Er nickt uns zu und geht nach draußen. Zum Häuschen mit dem Herzchen in der Tür.

»Mir san mir« – was heißt das, Tante Friederike?«, erkundige ich mich.

»Wir sind wir«, übersetzt meine Tante. »Du kannst ruhig Friedl zu mir sagen.«

Ich nicke. Weil ich die fädenziehenden Nudel eklig finde, esse ich langsam und sehe mich dabei in der Küche um. Überm Herd hängt ein Kalender. So einer, wo man jeden Tag ein Blatt abreißt, auf dem ein blöder Spruch steht. Heute, am 12. Juli, lese ich auf dem Blättchen:

Steht die Gans auf einem Fuß Dann kommt bald ein Regenguss

Ich schaue mich um. Die Wettervorhersage gilt nicht für die Berge, da weit und breit keine schnatternde Gans in Sicht ist.

Plötzlich überfällt mich eine so brutale Müdigkeit, dass ich mich kaum auf dem Stuhl halten kann. »Sorry. Ich muss ins Bett. Bis morgen«, sage ich noch, dann tappe ich auch schon die schmale Stiege hoch, ziehe mich aus und schlüpfe ungewaschen in das eine Bett. Wenn das Heidis Seite ist, hat sie Pech gehabt, denke ich noch. Dann weiß ich nichts mehr.

Blöderweise wache ich irgendwann auf und erschrecke zu Tode: Neben mir atmet jemand – ein Einbrecher?!

Es dauert, bis ich mich zurechtfinde. Die Hütte. Tante Friederike, die hier Friedl heißt. Und statt eines Twinsets samt Perlenkette eine gammlige abgeschnittene Jeans trägt. Die Küche aus der Steinzeit. Die komischen fädenziehenden Nudeln. Heidi, die neben mir im Schlaf röchelt. Das Badezimmer mit den Fliesen in Igitt-Farben.

Ich schlüpfe aus dem Bett. Es ist stockfinster. Ich muss ganz dringend, taste mich vor zur Tür, finde den Lichtschalter nicht …

Endlich hab ich ihn, den Schalter.

Als ich wieder im Bett liege, kann ich nicht schlafen. Um nichts in der Welt! Mir kommen Gedanken, an die ich noch mit keinem Gedanken gedacht habe. Zum Beispiel:

Warum spricht meine Hamburger Familie nur hinter vorgehaltener Hand und flüsternderweise über Tante Friederike? Ich weiß, dass sie, die Intelligenzbestie, das Abi mit 1,1 bestanden und Biochemie studiert hat. Als sie einen tollen Job angeboten bekam, hatte sie ein Erlebnis, über das in meiner Familie nicht geredet wird. Ich schätze mal, sie hatte eine unglückliche Liebe. Jedenfalls schmiss sie alles hin, Job und Karriere, reiste in der Welt umher und war eine Ewigkeit verschollen. Viele Jahre später schrieb sie ihrem Bruder, also meinem Vater, eine Karte: Bin Hüttenwirtin in den Allgäuer Alpen.

Meine Mutter und meine Großeltern fielen in Ohnmacht. Wir alle hatten keine Ahnung, was Hüttenwirtin zu sein bedeutet – in Hamburg ist das Wort praktisch unbekannt. Und Allgäuer Alpen klang für uns genauso exotisch wie Kamtschatka am entgegengesetzten Teil der Erdkugel.

Deshalb setzte sich mein Vater ins Auto und düste ab in den Süden. Zu seiner Schwester, der Hüttenwirtin. Damals muss die Hütte noch viel steinzeitlicher ausgesehen haben, denn sein Bericht ließ meine Großmutter in Tränen ausbrechen. Daran erinnere ich mich genau, ich war nämlich schon … ja, mindestens zehn Jahre alt.

Ein paar Mal besuchte uns Tante Friederike, einmal fuhren meine Großeltern nach Süden, und jetzt bin ich hier. Weil ich auch ein Erlebnis hatte, das mir das Leben vergällt: Silvia, meine intrigante »beste« Freundin! Wie konnte sie nur behaupten, ich hätte es auf ihren Freund abgesehen! Und Valerio glaubte es auch noch, der Volltrottel! Ich war natürlich viel zu stolz, um ihm die Wahrheit zu sagen. Nicht, dass wir so häufig miteinander geredet hätten, aber trotzdem. Jetzt bade ich den Schlamassel aus.

Aber muss ich mir dazu noch sechs Wochen lang die Familie-Feuerstein-Hütte antun? Da wäre ich ja der letzte Döspaddel, oder, wie es in der Sprache des Blättchenkalenders heißen würde:

Tut’s im Leben richtig krachen Vergeht dir ganz das fröhliche Lachen!

3. Kapitel

Ich sitze senkrecht im Bett: ein Erdbeben! Mein Bett wackelt! Wie furchtbar! Mit einem Sprung bin ich an der Tür, renne zurück, schüttle Heidi. »Akute Lebensgefahr! Nur raus hier!«

»Bonnie? Was ist los?«, höre ich Heidis schlaftrunkene Stimme.

»Komm!«, schreie ich. »Wir müssen uns retten!«

»Aber warum denn?« Heidi richtet sich auf. »Der Lärm kommt von den Wanderern, die sich anziehen.« Sie deutet zuerst in Richtung Matratzenlager, dann auf den vorsintflutlichen Wecker. »Kurz nach fünf. Okay, wir müssen in die Küche.«

Also kein Erdbeben. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag. Der Lärm kommt von den Wanderern. Die ziehen sich an. Aber deshalb muss ich noch lange nicht in die Küche. Ich schlüpfe wieder in die Federn.

»Was ist?«, fragt Heidi. »Kommst nicht mit?«

»Nein. Die Wanderer können mich mal. Ich hab Ferien.«

Heidi zieht sich das komische Kleid an. Es hat keine Ärmel, deshalb trägt sie ein weißes Spitzenblüschen darunter. Das ganze Outfit ist so unsäglich unmodern, dass ich die Augen schließe. Aber ich blinzle ein bisschen und sehe, dass sie sich sogar noch eine Schürze umbindet – also wirklich! Dann geht sie raus, kommt gewaschen und mit Zöpfen wieder, die sie um den Kopf gepinnt hat. Vor Entsetzen kneife ich die Augen zu. Sie seufzt.

»Ich habe Ferien«, wiederhole ich.

»Klar. Schlaf weiter«, sagt Heidi und verlässt das Kämmerchen.

Das Gepolter treppauf und treppab ist nicht auszuhalten. Die Leute verständigen sich nur brüllenderweise. »Das sind meine Stöcke!«

»Hat jemand meine Trinkflasche gesehen?«

»Blasen an den Füßen sticht man doch nicht auf! Die müssen austrocknen!«

Jetzt reicht’s! Ich ziehe meine Sporthose an und das Shirt mit Seeräuberkopf samt schwarzer Augenklappe und der Aufschrift FCS (Fußballclub Störtebeker) und tappe in die Küche. Tante Friederike – Friedl – rennt von Tisch zu Tisch und stellt je zwei Kannen ab. In einer ist Milch, in der anderen, dem Duft nach zu schließen, Kaffee. »Endlich«, sagt sie. »Die Marmelade muss noch abgefüllt werden«, schnauzt sie mich an. »Beeil dich, Bonnie.«

»Guten Morgen, Tante Friederike. Hast du gut geschlafen?«

Meine höfliche Begrüßung beachtet sie nicht. Sie sammelt Socken und Sportwäsche ein, die jemand zum Trocknen über die Stühle gebreitet hat, und drückt sie einer Frau in die Hand. Die kommt gerade aus dem Häusl. »Da hat jemand eine Sauerei veranstaltet und voll danebengeschissen. Geben Sie mir mal eine neue Rolle Toilettenpapier?«

Ich verziehe mich in die Küche aus der Steinzeit. Im Licht des frühen Morgens sehe ich: Der Herd wird nicht mit Holz befeuert. Er wird schon mit Gas beheizt, was genial fortschrittlich ist. Auf dem Tisch daneben stehen Glasschüsselchen und ein Eimer mit einer roten Pampe. »Johannisbeermarmelade«, sagt Heidi kurz. »Musst in die Glasschüsselchen füllen. Beeil dich!«

Jeder Satz beginnt oder endet mit »Beeil dich!« Auf so einer Hütte geht es hektischer zu als am Jungfernstieg zur Rushhour, aber wirklich!

Ich fülle die blöden Glasschüsselchen, dann muss ich heißes Teewasser in Kannen gießen. Dabei kommt mir der Zipfel meines Seeräubershirts zu nah ans Gas. Ich merke es aber erst, als der Zipfel leise vor sich hinkokelt. »Hilfe!«, brülle ich. »Wo ist der Feuerlöscher?!«

Heidi löscht den Brandherd mit dem nassen Spüllappen. »Hab dich nicht so«, sagt sie.

Die Vorderseite meines FCS-Shirts ist im Eimer. Und das am ersten Morgen … Da fällt mir ein, dass der erste Morgen auch mein letzter ist. Und dann denke ich, dass Tante Friederikes Schlamassel damals wahnsinnig grausam gewesen sein muss. Wie sonst hätte sie das irre Leben auf so einer Hütte einem tollen Job mit eingebauter Karriere vorgezogen? Ich lehne am Herd und nehme mir vor, sie gelegentlich nach ihrem Schlamassel zu fragen. Sozusagen von Frau zu Frau – beziehungsweise von Tante zu Nichte – unsere Erfahrungen auszutauschen. Was gibt es eigentlich Schlimmeres, als von der besten Freundin um den guten Ruf als Fußballerin und um den Kerl gebracht zu werden, in den man heimlich ein ganz kleines bisschen verknallt ist? So auf die Schnelle fällt mir nichts Schrecklicheres ein. Da reißt mich Heidi vom Herd weg. »Pass doch auf, du Rindvieh!«, schreit sie und patscht den tropfnassen Spüllappen auf meinen Rücken. »Jetzt ist dein schickes Hemdchen wirklich im Eimer! Aber du bist wenigstens noch am Leben.«

Genau das habe ich vor: am Leben zu bleiben.

»Wo steckt eigentlich Gustl?«, erkundige ich mich. »Er muss mich und mein Gepäck ins Tal fahren.«

»Der kommt heut nicht«, sagt Heidi kurz.

»Wie: Er kommt heute nicht?«

»Friedl hat doch gesagt: Wenn er Zeit hat. Die hat er erst morgen, denn morgen bringt er wieder Frischwaren vom Tal herauf.« Sie tut so, als falle ihr was ein. »Klar, du hältst es hier heroben ja nicht aus. Und das, wo du noch nichts von der Gegend gesehen hast!«

Die Wandergruppe aus dem Österreichischen steht jetzt vor der Hüttentür und wartet auf Nachzügler. So wie die rumbrüllen, sind sie schwerhörig. Und dann, ich fasse es nicht, stimmt einer ein Lied an! »Im Frühtau zu Berge, wir ziehn, fallera …!«, jubeln etwa tausend Stimmen, und dann, endlich, setzen sich die Beine in Bewegung.

Die Stille ist göttlich. Heidi belädt ein Tablett mit allerlei Geschirr, dann ruft Tante Friederike, ich solle doch nach draußen kommen, die Sonne scheine gerade so schön, und warm sei es auch.

Warm! Meine Tante hat eine Meise. In der Küche heizte mir die Kombination aus Gas plus Hektik so ein, dass ich direkt ins Schwitzen kam. Hier draußen schlottere ich vor Kälte. Klar, die Sonne steht am Himmel, aber die beleuchtet nur die Berggipfel, außerdem pfeift ein grässlicher Wind um die Hütte. Ich renne die enge Stiege nach oben und hole den einzigen Pulli, den ich eingepackt habe, schließlich erwartet man Anfang Juli, im Hochsommer also, nichts als Hitze.

Dann setze ich mich zu Tante Friederike und Heidi auf die Bank.

Die Brötchen sind aufgebacken, die Johannisbeermarmelade ist ein Witz – keine Beeren, nur rot gefärbtes Wasser –, die Salami stinkt nach Esel, und über den Kaffee verliere ich kein Wort. Bis auf die Butter ist das Zeug ungenießbar.

»Wie komme ich ins Tal?«, frage ich.

Tante Friederike deutet auf meine Beine.

»Meine Reisetasche kann nicht gehen«, erinnere ich sie.

Mit dem Brötchen in der Hand deutet sie auf meine Arme. Die Salamischeibe rutscht von der Butter. Bevor sie auf dem Tisch oder dem Boden landet, schießt ein schwarzer Vogel aus der Luft und haarscharf an meinem Gesicht vorbei, schnappt sich das Rädchen im Flug und lässt sich auf dem Geländer nieder, das die kleine Terrasse vorm Abgrund trennt.

Mir fallen die Augen aus dem Kopf, aber eine diebische Elster bringt mich nicht vom Kurs ab. »Die Reisetasche ist schwer«, sage ich.

»Ja mei …« Tante Friederike lächelt mich an. Im grellen Sonnenlicht sehe ich ihre Runzeln – sie sollte sich an meiner Mutter ein Beispiel nehmen; die ist so ungefähr im gleichen Alter, aber sie pflegt sich, ihre wenigen Fältchen sind kaum sichtbar. Tante Friederike hat ihre Haare mit einem ordinären roten Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Ich muss sagen, bei einer Frau in ihrem Alter und mit den grauen Fäden zwischen dem dunklen Haar ist das absolut unpassend. Außerdem ist es kein Wunder, dass die so struppig aussehen, wenn sie sie mit dem billigen Shampoo wäscht, das ich im Waschraum gesehen habe.

Das karierte Hemd geht so, aber die Jeans … also die Jeans sind der Horror. Viel zu weit. Und erst ihre Hände! »Du solltest Gummihandschuhe tragen«, rate ich ihr. »Meine Mutter …«

»…hat keine Hütte zu versorgen«, mischt sich Heidi ein. »Also wie ist’s, Bonnie? Bleibst heute noch heroben? Oder willst die Taschen lieber selbst ins Tal wuchten?«

Verdammt! Was bleibt mir übrig? »Mir bleibt wohl nichts übrig, als noch einen Tag länger zu bleiben«, sage ich so cool wie nur möglich.

Tante Friederike nickt. »Einen Tag länger ertragen wir dein mürrisches Gesicht, Bonnie.«

Heidi lacht. Ich ärgere mich, stehe auf und hole meinen Fußball von oben. Ein bisschen Training schadet nicht, denke ich und suche mir eine geeignete Wand. Die einzige, die in Frage kommt, ist die in der Nähe des Häuschens mit dem Herzchen. Manchmal weht mir der Wind den Gestank in die Nase, aber zum Üben des Innen-, Außen- und Vollspannstoßes ist sie ganz okay.

Tante Friederike und Heidi vertreiben sich die Zeit in der Hütte. Ich komme ins Schwitzen und lehne mich kurz ans Geländer. Aha, denke ich, das schöne Wetter treibt die Leute aus dem Tal herauf – zehn, nein, elf Menschen bewegen sich Schritt für Schritt Richtung Hütte. Das gibt Arbeit, denke ich und nehme mein Training wieder auf.

Ich kicke den Ball gegen die Wand – und da … da kickt ihn jemand zurück! Ich nehme den Ball mit dem Oberschenkel an, ziehe ihn vorschriftsmäßig etwas zurück, dämpfe den Aufprall, indem ich mich leicht nach hinten lehne, der Ball landet weich, ich halte ihn mit dem Fuß fest. »Hallo, Bonnie!«, ruft der Mitspieler.

»Hallo«, sage ich auch. »Du heißt Basti, stimmt’s? Hast du die Leute aus dem Tal heraufgeführt?« Da kommt mir eine super Idee. »Ich muss ins Tal. Kannst du mir helfen, die Reisetasche zu tragen?«

»Können schon«, antwortet Basti. »Wollen nicht.«

Ich halte die Luft an. »Wie bitte? Warum willst du nicht?« Ich schaue ihn genauer an. Die kurze Lederhose passt überhaupt nicht zu dem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift Fuck you. Vermutlich hat der Junge zu wenig Taschengeld. »Ich bezahle dich«, sage ich.

Gekonnt dribbelt Basti den Ball.

»He! Ich bezahle dich für deine Hilfe«, wiederhole ich laut.

Basti spielt mir den Ball zu. Dann versenkt er die Hände in den Hosentaschen und latscht weg. »He! Antworte mir«, rufe ich ihm hinterher.

Da kommt Heidi um die Ecke, geht auf Basti zu und der – legt ihr die Arme um den Hals. So ist das also!

Oder doch nicht?

Heidi schubst ihn weg. »Kommst spät«, sagt sie. »Kannst mal nach dem Brunnen schauen? Das Wasser fließt nicht so, wie es soll.«

Beide verschwinden in der Hütte. Ich dribble, aber jetzt entern die Leute die Terrasse. Einer legt seinen Rucksack auf die Bank und kommt doch tatsächlich zu mir: »Kleine, lass mich mitspielen«, sagt er.

Frechheit, denke ich zuerst, spiele ihm dann aber doch den Ball zu. Der Platz ist begrenzt, wir müssen aufpassen, dass uns der Ball nicht über die Kante rollt. Ich stelle sofort fest, dass der Typ keine Ahnung von Fußball und überhaupt null Ballgefühl hat, und geb’s auf.

Ich hänge dann noch eine Weile hinter der Hütte herum und schaue mir die Aussicht an.

Von oben nach unten sieht das so aus:

Blauer Himmel mit weißen Wolken.

Graue zerklüftete Steinzacken. Zwei haben ganz oben ein Kreuz. Ich frage mich, wer das Holz und die Nägel und den Beton und überhaupt das ganze Werkzeug raufgewuchtet hat. Muss ein Irrer gewesen sein – ich meine, man weiß es doch, wenn man ganz oben ist. Warum dann noch ein Kreuz extra?

Zwischen den Zacken sehe ich Mulden und Zwischenräume. Manche davon sind weiß. Könnte Schnee sein. Aber Schnee im Juli? Ich weiß nicht …

Am unteren Ende der Bergzacken fängt der Wald an.

Wo der Wald aufhört, wächst Gras, aber die Wiesen sind verdammt steil. Zu steil für Kühe, vermute ich, denn ich sehe nur kleine braune Tiere. Vermutlich sind das Rehe. Ein Wahnsinn, wie zahm die sind. Die reißen nicht mal aus, als eine zweite Wandergruppe, bestehend aus neun Leuten, an ihnen vorbei und auf unsere Hütte zumarschiert.

Über die Wiesen ziehen sich etliche braune Pfade. Die treffen sich an einem Pfosten mit weißen Täfelchen dran. Von da aus geht ein Weg nach unten, Richtung Tal, Richtung Einödsbach mit Postbus, Richtung Heimat. Meine Heimat ist Hamburg, die Stadt an der Elbe. Ich bin Wasser gewöhnt. Und freie Sicht! Und frische Luft! Wenn ich an den Schweiß- und Essensmief in der Hütte denke … Also nein. Das hier ist echt nichts für mich. Ich frage mich, wieso sich Tante Friederike nicht eine Kneipe an der See ausgesucht hat. Das wäre was Anständiges, wohingegen die Hütte hier den Anschluss ans normale Leben voll verpennt hat: ein Plumpsklo mit Herzchen! Matratzenlager! Kaltes Wasser! Wer tut sich das heute noch freiwillig an?

Ich frage mich auch, wie die Erbswurstsuppe, die Wiener – das sind Würste, keine Einwohner der Stadt Wien –, die Salami, die rote Marmelade, die Brote und Brötchen vom Tal heraufkommen, denn es gibt definitiv keine Fahrstraße bis ganz nach oben. Trägt Gustl alles in seinem Rucksack herauf? Auch die Bierflaschen? Das kann nicht sein.

Während ich so dastehe und überlege, kommen wieder einige Leute vom Tal herauf. Jemand trägt ein kleines Kind auf dem Rücken. Das brüllt. Dem geht es wie mir, das findet die Berge auch bescheuert. Dann kommt ein Mann mit einem total komischen Hut. Aber nicht nur der Hut sieht komisch aus, der ganze Mann ist eine Lachnummer: Lederhose bis übers Knie, grobe Stiefel, und dazwischen dicke gestrickte Strümpfe in Giftgrün. Ich sage nur: abartig.

Die Hütte muss voll sein; jetzt kommen nämlich immer mehr Leute mit ihren Tellern und Bierflaschen heraus und setzen sich auf die Terrasse. Ich frage mich, ob ich nicht doch helfen soll. Ich meine, wenn ich mich schon langweile, kann ich ja auch Heidi ein bisschen zur Hand gehen.

Eine Weile betrachte ich noch die Berge. Die sind echt steil, ehrlich. Und die Wege hören genau da auf, wo der Stein beginnt. Wie weiß man eigentlich, wie man zum Gipfel kommt? Ist mir schleierhaft. Nimmt man dazu einen Kompass wie auf See? Oder gibt es doch Wege, die ich von hier aus nicht sehe? Eigentlich würde ich schon mal gerne bis zu einem der beiden Kreuze hochgehen, aber dazu müsste ich natürlich noch ein paar Tage hierbleiben. Das will ich absolut nicht. Also wird es nix mit dem Kreuz.

Plötzlich bekomme ich ein solches Heimweh nach unserem Ferienhäuschen in Dänemark, das direkt hinter einer Düne am Meer steht, dass ich am liebsten ins Tal und zum Bus rennen würde. Mann, das Meer ist lebendig, ist immer in Bewegung! Da tut sich was, da ist es nie so totenstill wie hier! Die steinernen Zacken können einem ja direkt Angst einflößen!

Und der Wind ist nie so eisig. Klar, an der See stürmt es oft, aber im Hochsommer denkt man nicht an Schnee und Eis.

Eines ist sicher: Die toten Berge sind nichts für mich.

Mit der Fußspitze hebe ich den Ball an, nehme ihn auf, klemme ihn unter den Arm und latsche zur Hütte.

Da, in genau diesem Augenblick, rennt der komische Typ mit seinen giftgrünen Strickstrümpfen heraus, dreht sich um und brüllt mit erhobener Faust: »Dir zeig ich’s noch, Friedl! Wirst schon sehen, dass die Rechnung ohne den Wirt gemacht hast!«