Als das Glück wie Glas zerbrach - Gudrun Leyendecker - E-Book

Als das Glück wie Glas zerbrach E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Sankt Augustine im Karneval. Überall in der historischen Kleinstadt und im Schloss des berühmten Malers Moro Rossini herrscht in diesem Jahr ein heiteres Karnevalstreiben, sogar im Märchenpark mit seiner düsteren Vergangenheit finden närrische Veranstaltungen statt. Und während der berühmte amerikanische Filmregisseur einige Szenen für seinen neuesten Film dreht, geschieht ein rätselhafter Mord. Die Journalistin Abigail Mühlberg entdeckt Spuren, die zu einem möglichen Mörder führen. Während sie sich für den verdächtigen Tobias einsetzt, gerät ihre Partnerschaft in Gefahr.

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Inhaltsangabe

Sankt Augustine im Karneval.

Überall in der historischen Kleinstadt und im Schloss des berühmten Malers Moro Rossini herrscht in diesem Jahr ein heiteres Karnevalstreiben, sogar in Märchenpark mit seiner düsteren Vergangenheit finden närrische Veranstaltungen statt.

Und während der berühmte amerikanische Filmregisseur einige Szenen für seinen neuesten Film dreht, geschieht ein rätselhafter Mord. Oder war es ein Unfall? Die Journalistin Abigail Mühlberg entdeckt Spuren, die zu mehreren möglichen Tätern führen. Während sie sich für den verdächtigen Tobias einsetzt, gerät ihre Partnerschaft Gefahr.

Anhang:

Im Anhang finden Sie die zwei Märchen, die gleich zu Anfang des Romans eine besondere Bedeutung haben. Es handelt sich um das Märchen:

„Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen“ von Volkmann-Leander

und das Märchen:

„Der gläserne Schatzberg“ frei nach einem alten Märchen aus dem Volksmund von Gudrun Leyendecker

Es ist sinnvoll, diese beiden Märchen vor dem Roman zu lesen

Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren… Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher 27 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre

Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehnte langen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Anhang

1. Kapitel

„Ach du Schreck, Sankt Augustine!“ hatte meine Freundin Laura Camissoll ausgerufen, als sie ganz überraschend hörte, dass ihr Mann, der amerikanische Regisseur Kevin Braun die nächsten Filmszenen ausgerechnet zur Karnevalszeit in der historischen Kleinstadt drehen wollte.

Das war vor einer Woche gewesen, und nun stand ich hier am Flughafen, um sie und ihren Mann abzuholen und in den altertümlichen Ort zu bringen.

Ich mochte diese Atmosphäre am Arrival rings um mich herum, überall wartende Menschen in freudiger Gespanntheit. Da gab es die Geduldigen, die mit einer Blume in der Hand bescheiden in der Ecke standen, die unruhig Zappelnden, die ständig von einer Ecke in die andere liefen und alle zwei Minuten auf die sich ständig verändernde Anzeigetafel schauten, die Nervösen, die schnell noch einmal die Hälfte einer Zigarette pafften, und die, die ihre Freude des erwarteten Wiedersehens nicht allein tragen konnten und fremde Menschen unter Vorwänden ansprachen, wie: „Wissen Sie eigentlich, ob die Maschine Verspätung hat?“ Oder: „Warten Sie auch auf jemanden?“ Die mochte ich am liebsten, denn von ihnen hörte man die schönsten Geschichten.

Laura kam nicht direkt aus Philadelphia, sie hatten zahlreiche Umwege und Stationen hinter sich, als sie endlich hinter der großen Wand auftauchten.

Die junge Frau ließ alle Koffer stehen, als sie mich sah, drückte Kevin eine große Tüte in die Hand, rannte auf mich zu und drückte mich, sodass ich kaum Luft bekam.

„Wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen“, versuchte sie mir einzureden, obwohl es gerade einmal zwei Monate her war. Nun, wie ich wusste, ist Zeit ein relativer Begriff, als bestes Beispiel für „lange Zeit“ erinnere ich mich ungern aber häufig an die Dauer eines Bohrvorgangs beim Zahnarzt.

„Ich habe dich auch schon vermisst“, beruhigte ich sie. „Hattet ihr einen ruhigen Flug?“

Kevin brachte die Koffer und umarmte mich ebenfalls. „Wir haben einige Stunden geschlafen“, verriet er mir. „Es ist schon ein weiter Weg über das Meer. Und hätte ich mich nicht total in dieses Sankt Augustine verliebt, würde ich diesen weiten Weg schon gar nicht machen. Hinzu kommen natürlich die vielen historischen Gebäude und vor allem das einzigartige Schloss, dessen Kulisse für mich von unschätzbarem Wert ist.“

„Das geht nicht dir allein so“, versicherte ich ihm schmunzelnd. „Selbst die Puppenspielertruppe von Jérôme Tessier findet immer wieder hierher. Und in den nächsten Tagen gibt es hier den außergewöhnlich spektakulären Karnevalsumzug, der sowohl historische Fußgängergruppen mit sich führt, als auch etliche Wagen mit Märchenmotiven, die vom Märchenpark aus in die Innenstadt starten. Das große Spektakel endet am Gemeindezentrum mit den Märchenaufführungen „Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen“ und dem Märchen „Der gläserne Schatz-Berg“.“

Während wir mit dem Gepäck dem Ausgang zustrebten, hatte ich offenbar Lauras Neugier geweckt. „Wer führt denn diese Märchen auf? Eine bekannte Schauspieltruppe? Jérôme Tessier vielleicht?“

„Nein, nur die Laienspiel-Gruppe aus Sankt Augustine. Allerdings hat sie sich inzwischen schon im ganzen Gebiet einen Namen gemacht.“

Wir schlängelten uns zwischen den Passanten hindurch zum Parkhaus.

Kevin war hellhörig geworden. „Das hört sich wirklich sehr gläsern an. Hat das irgendeine besondere Bedeutung? Beide Märchen haben mit Glas zu tun.“

„Das kann man wohl so sagen. Gleichzeitig mit diesem Karnevalsfest feiert der berühmte Glaser von Sankt Augustine, Alexander Pollmann das 100-jährige Jubiläum seiner Firma. Der große neue Industrie-Betrieb steht in Wittentine, aber hier im Ort befindet sich noch die kleine alte Glasbläserei, die sein Urgroßvater damals gegründet hat. Und weil die große Fabrik in Wittentine, wie er meint, die besten Fenster weit und breit herstellt, und er offenbar ein reicher Mann geworden ist, hat er einen großen Teil der Kosten für den Karnevalsumzug übernommen, und außerdem noch die Kulissen für die Aufführungen der Märchen bezahlt. Da ist ihm die Laienspielgruppe natürlich etwas entgegengekommen und hat sich für Märchen entschieden, in denen es auch um Glas geht. Aber ihr müsst jetzt nicht denken, dass der gläserne Berg wirklich aus Glas ist. Nein, das wäre zu gefährlich. Die Kulisse ist weitgehend aus durchsichtigen Kunststoff, das wie Glas aussieht.“

Laura lächelte ihren Mann an. „Dann kannst du dich dort einmal nach neuen Talenten umschauen“, scherzte sie. „Sankt Augustine hat sicher wie immer einige Überraschungen zu bieten.“

„Ich werde darauf acht geben“, ging er auf ihren Scherz ein. „Hier laufen sicher Talente in Mengen herum.“ Er küsste ihr die Hand. „Aber an dich, mein Darling, wird so schnell niemand herankommen. Aus dir musste ich keinen Star machen, du warst schon perfekt, als ich dich kennenlernte.“

Sie sah ihn verliebt an. „Man merkt es uns an, dass wir noch nicht so lange verheiratet sind, wenn du mir immer noch solche Komplimente machst!“

Mein Auto stand in der hinteren Ecke des Parkhauses, ich hatte Mühe, das ganze Gepäck meiner Freunde zu verstauen.

„Gut, dass ich schon meine ganzen Klamotten vorausgeschickt hatte“, bemerkte Laura. „Und wenn ich nicht genug dabei habe, gehe ich einfach einmal mit Tante Katharina shoppen. Wer spielt denn alles mit in dem Laientheater? Kenne ich ein paar von denen?“

Nachdem sich meine beiden Fahrgäste angeschnallt hatten, startete ich den Motor. „Na klar, du kennst einige der Mitspieler. Zum Beispiel die Zwillinge Jasmin und Senta Schirmer vom Gutshof. Jetzt im Winter haben sie nicht so viel zu tun, da konnten sie eine kleine Rolle übernehmen. Cordula spielt mit, und sogar Nina, die sich sonst nur um die Kostüme kümmert.“

„Nina, die hübsche kleine Bedienung aus dem Gasthof „Zur Traube“? War die nicht mal mit so einem Italiener zusammen und nach Italien ausgewandert?“

„Richtig. Sie und Roberto glaubten, die große Liebe gefunden zu haben. Aber schon nach kurzer Zeit kam sie wieder zurück. Sie ist jetzt wieder solo. Und dann, stell dir vor, Theresa, alias Susi, kommt mit ihrem Vater Giovanni extra aus Italien angereist, weil sie in dem Stück „Der gläserne Berg“ die Hauptrolle übernommen hat.“

„Genial!“ freute sich die Schauspielerin. „Da sehe ich ja alle meine alten Bekannten wieder. Hat sich denn inzwischen ihr Giorgio gemeldet, der Mann, der sie einmal heiraten wollte?“

„Nein. Seitdem die Prozesse damals auf Sizilien beendet waren, und er freigesprochen wurde, hat er nichts mehr von sich hören lassen. Und ich bin auch nicht sicher, ob sie die damals so dramatischen Umstände schon überwunden hat. Möglicherweise kann sie es sich nicht verzeihen, dass sie damals Giorgios Frau getötet hat, auch wenn es nur ein Unfall war, an dem Luciana einen großen Teil der Schuld trug.“

„Ja, ich erinnere mich. Was für ein Drama! Mein Mann sollte die Geschichte verfilmen, das gäbe einen ergreifenden Streifen.“

Kevin lachte. „Stell dir vor, ich würde all das verfilmen, was Abigail bisher hier in Sankt Augustine erlebt hat! Das könnte ein Lebenswerk werden, ein außergewöhnlicher Monumentalfilm. Ist das nicht so, Abigail?“

„Ich fürchte ja“, stimmte ich ihm zu, während ich den Wagen auf die Autobahn lenkte. „Es ist sehr viel passiert, eine ruhige Phase wäre nicht schlecht.“

„Die Karnevalszeit ist hier bestimmt nicht ruhig“, vermutete Laura. „Aber da bin ich wirklich beruhigt, dass all die gläsernen Kulissen nicht wirklich aus Glas sind, sonst könnte es doch ziemlich geräuschvoll zu gehen, und gefährlich wäre es auch. Also, unsere schöne Halbitalienerin Theresa spielt die Hauptrolle in einem der beiden Märchen?“

„Ja, im gläsernen Schatz-Berg, gemeinsam mit dem Polizisten Ben. Sie spielen beide hinreißend. Die Hauptdarsteller in dem Stück: „Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen werden gespielt von einer India Kelly und ihrem Freund Tobias Körner, die beiden wirst du nicht kennen, denn sie sind nicht aus diesem Ort. Lediglich seine Eltern wohnen hier, da halten sie sich momentan auf.“

Laura horchte auf. „Kelly? Ist sie vielleicht aus Amerika?“

„Nein, sie kommt aus der Gegend von London. Dort hat sie an der Universität Tobias kennengelernt, der da mit ihr studiert hat. Sie sind schon seit fünf Jahren zusammen. Er selbst ist aus Sankt Augustine, seine Eltern und seine Geschwister wohnen hier, deswegen sind sie auch hierhergekommen. Du wirst dich sicher fragen, woher ich das alles weiß.“

Meine schöne Freundin lächelte. „Bei dir frage ich so etwas nie. Vermutlich musstest du einen von beiden wieder einmal für deinen Chef Wieland und für seine Kunstzeitungen interviewen. Ist es nicht so?“

„Genau. Es ist nicht die Tatsache, dass die beiden auch Kunstgeschichte studiert haben, was Wieland interessiert hat. Nein, er hat herausgefunden, dass India alte Uhren sammelt, und das schon von Kindheit an. Das fand mein Chef bemerkenswert und beauftragte mich, den Kontakt zu ihr herzustellen.“

„Ich schwärme auch für alte Uhren“, teilte uns Kevin mit. „Aber sicher wird sie die alle in England aufbewahren, nicht wahr?“

„Im Prinzip ja. Aber die Familie Körner hier ist so hingerissen von ihrer Schwiegertochter in spe, dass sie sich inzwischen auch einmal nach alten Uhren umgesehen und auch mehrere für sie erworben haben. Es ist sogar eine sehr wertvolle Armbanduhr dabei, die hat ihr Tobias geschenkt. Das soll eine besondere Rarität sein.“

„So weit, so gut“, meldete sich Laura zu Wort. „Aber deswegen hat man diese India doch bestimmt nicht zur Hauptdarstellerin für die Aufführung gewählt.“

Ich lachte. „Natürlich nicht. Sie hat eine bezaubernde Stimme und kann singen wie ein Engel. Tatsächlich hat sie hier einmal im Gemeindezentrum vor zwei Jahren ein ganzes Konzert gegeben, Tobias hat sie dabei mit der Gitarre begleitet. Sie hatte sehr viel Erfolg. Von ihrem Schauspieltalent hat sich mein Chef neulich bei der Generalprobe überzeugen können. Sie ist ein Naturtalent, eben für das Show-Business geschaffen. Man hatte fünf Frauen in der engeren Wahl, aber India hat ihre Konkurrentinnen problemlos weit hinter sich gelassen.“

„Da bin ich aber sehr neugierig. Und auch mein liebster Kevin könnte sich für sie interessieren. Wann werde ich sie kennen lernen?“

„Spätestens morgen Abend bei der Aufführung. Aber wenn es dir so wichtig ist, und du nicht von deinem Flug zu müde bist, kannst du später mit mir zu Nina in den Gasthof kommen. Die beiden sind nämlich dann dort noch mit den letzten Feinheiten für Indias Kostüm beschäftigt, die Zeit wollte ich nutzen, um mich noch mit ihr etwas zu unterhalten.“

„Oh, natürlich komme ich mit, und ich bin überhaupt nicht müde. Ich habe während des Fluges genug geschlafen. Mein Liebster wird bestimmt den Abend gern mit Moro Rossini verbringen. Auf eine gemütliche Stunde am Kamin in dem Atelier freut er sich nämlich schon eine ganze Weile.“

„Ich weiß, Laura. Der Schlossherr hat es mir selbst erzählt. Irgendwie hat er deinen Ehemann ins Herz geschlossen. Und er will ihm heute Abend auch ein paar neue Werke zeigen.“

Kevin staunte. „Er malt wieder? Aber er ist doch nun schon so krank gewesen, da sah es bisher nicht so aus, als ob er sich mit seinen über 80 Jahren noch so weit erholen könnte. Hatte er nicht auch ein Problem mit einem seiner beiden Augen?“

„Ja, leider. Aber er hat jetzt eine Spezialbrille bekommen, und er hat ein bisschen trainiert, wie er seine zitternden Hände etwas ruhiger halten kann. Da hat er dann tatsächlich für seine geliebte Adelaide drei neue Gemälde erschaffen. Sehr schwungvoll, und für meinen Geschmack auch sehr schön.“

Laura lächelte sehnsüchtig. „Die beiden und ihre große Liebe! So wünsche ich mir das auch einmal mit Kevin im Alter. Wenn er dann möglicherweise schon im Rollstuhl sitzt, sollte er noch einmal einen besonderen Film für mich drehen, vielleicht sogar mir.“

Ich sah im Rückspiegel, dass der berühmte Filmregisseur Kevin Braun seine Frau in den Arm nahm und zärtlich küsste.

***

2. Kapitel

Während ich meinem Verlobten Rolf am Telefon kurz mitteilte, dass es heute Abend spät werden würde, zu spät, um ihn noch einmal anzurufen, zog sich Laura nach einer kurzen Dusche rasch um und erschien wenige Minuten später in der kleinen Dachwohnung des Schlosses. „Gefällt es euch immer noch hier, in den kleinen Räumen, Abigail? Ihr seid doch nun auch schon eine Weile verlobt, wollt ihr euch da nicht eine etwas größere Wohnung gönnen?“

Ich verzog das Gesicht. „Wir sehen uns so selten, liebe Laura. Rolf ist fast immer unterwegs, nicht alle schönen Fotomotive findet man hier im alten Sankt Augustine. So ein Fotograf reist überall herum an die schönsten Plätze der Erde. Und für mich allein reicht diese Wohnung hier wirklich. Ganz abgesehen davon ist es schon ein besonders gutes Gefühl, in einem so gepflegten, alten Schloss zu wohnen. Aber das, was mich hier hält, sind natürlich auch Moro Rossini und seine Frau, die dem Gebäude mit ihrer Ausstrahlung den richtigen Glanz verleihen. Sie sind beide so lebensfrohe Künstler und haben ihr Leben, das nicht einfach war, wirklich gut gemeistert.“

„Da hast du ja Recht, Abigail. Kevin hat sich schon während des ganzen Fluges auf den gemütlichen Abend mit Moro gefreut. Und er weiß die späte Stunde auch zu schätzen, weil er informiert ist, dass der Künstler sonst schon sehr früh zu Bett geht.“

„Genauso ist es, Moros Gesundheit ist leider oft besorgniserregend, und ich hoffe mit Adelaide, dass ihm noch einige Zeit auf der Erde geschenkt wird. Schließlich waren die beiden einige Jahrzehnte getrennt, bevor sie sich wiederfanden und zusammenbleiben durften.“

„Aber was macht denn Ada heute Abend dann so allein hier im Schloss, wenn wir hier fliehen und in den Gasthof zu Nina und India gehen?“

„Sie bastelt noch etwas an den Kostümen für morgen herum. Die beiden fahren nämlich auch beim Karnevals-Umzug in einer Kutsche mit. Sozusagen als König und Königin vom Schloss. Adelaide hat sich sehr viele Gedanken darüber gemacht, damit die Fahrt für ihren Mann nicht zu anstrengend wird. Sie hat sogar ein paar Wärmekissen aus Kirschkernen hergestellt, die sie auf Moros Sitzplatz verteilt, damit es ihm, eingehüllt in Decken, nicht zu kalt wird.“

„Führen sie dann den Zug an?“

„Nein. Sie sind das Highlight und fahren ganz am Schluss, im letzten Wagen. Deswegen steht die Kutsche auch noch sehr lange im Stall bei Jasmin und Senta Schirmer im Gutshof.“

„Ach ja, die Zwillinge vom Gutshof! Ist bei denen noch alles wie immer? Ist Jasmin noch mit Niklas, dem Kriminalkommissar zusammen?“

„Ja, Jasmin und Niklas Meyer sind ein gutes Paar. Er ist jetzt sogar zu ihr in den Gutshof gezogen. Und es scheint sich tatsächlich eine tiefe Freundschaft zwischen Senta und Emma anzubahnen, die ja auf so tragische Weise ihre Partnerin verlor. Emma löst gerade ihren Haushalt im Norden auf und will ebenfalls in den Gutshof ziehen. Vielleicht wird dann eines Tages aus den Frauen auch ein glückliches Paar. Ich wünsche es ihnen jedenfalls, nachdem beide so viel Pech hatten.“

„Naja, eine gute Freundschaft ist auch etwas wert“, Laura grinste mich an. „Wir sind ja nach den Anfangsschwierigkeiten auch inzwischen die besten Freundinnen geworden. Ich habe das Gefühl, dass ich mich blind auf dich verlassen kann.“

Ich lachte. „Musst du gar nicht! Halte deine hübschen Augen lieber auf. Die ganze Welt will dich in Kevins Filmen sehen.“

Als wir das Schloss verließen, strahlte uns die Frühlingssonne in milder Wärme entgegen, und wir beschlossen, mein Auto auf dem Parkplatz stehen zu lassen und den kurzen Weg durch die Straßen von Sankt Augustine zu Fuß zu gehen.

Wie gewohnt stolzierte Laura auf hohen Absätzen neben mir her, um auf der holprigen Straße nicht zu fallen, hakte sie sich bei mir unter.

„Ich habe sie richtig vermisst, diese kleine Stadt“, behauptete Laura. „In diesem Ort konzentriert sich doch so einiges aus der kulturellen Szene. Ich würde mich nicht wundern, wenn hier die nächsten Filmfestspiele stattfänden.“

„Lieber nicht. Noch ist es eine verträumte kleine Stadt. Nur an manchen Tagen, wie zum Beispiel morgen oder wenn Jérôme Tessier hier gastiert, wird sie von Touristen überflutet. Aber ich habe das Gefühl, nach solchen Ereignissen muss sie sich immer wieder eine ganze Weile davon erholen. Ich bin schon froh, dass man dem Glaser Pollmann nicht erlaubt hat, seine neue Fabrik hier am Ortsrand zu bauen. Das hätte dem Städtchen sicherlich viel Romantik genommen.“

An uns vorbei eilten Menschen in bunten Kostümen, alle bewegten sich in Richtung zum Gemeindezentrum.

„Findet da heute schon irgendetwas statt? Das sieht ja aus wie ein Bienenschwarm“, fand Laura und bewegte sich mit kleinen Schritten vorwärts.

„Ja, die letzten Proben, Kostümanproben. Es geht um die letzten Feinheiten, damit morgen alles perfekt ist.“

„Wo stellen wir uns denn morgen bin? Wo ist der Blick am besten, um das ganze Spektakel an sich vorübergehen zu lassen?“

„Vielleicht wäre es sehr romantisch, direkt am Eingang des Märchenpark zu stehen, das ist vielleicht die hübscheste Kulisse. Aber dorthin wird sich Cordula postieren und für uns alle Fotos machen und auch filmen. Für uns ist es bequem, uns am Ende des Spektakels aufzustellen, am Gemeindezentrum, denn dann finden wir im Anschluss an den Umzug schnell zu unseren Sitzplätzen in den Theaterräumen.“

„Ich hätte gute Lust, mitzuspielen“, scherzte Laura. „Aber damit wäre unsere gute Theresa bestimmt nicht einverstanden. Und diese India kenne ich auch nicht, vielleicht würde sie mir die Augen auskratzen.“

„Sicher würdest du alle ausstechen, meine Liebe! Schließlich bist du ein Profi, und auch von Natur aus genial. Um diese Hauptrollen hat es schon genug Scherereien gegeben. Dabei war eine ganze Menge Konkurrenzkampf und Neid im Spiel. Aber India hat eben gerade mit ihrer Sanftheit überzeugt. Sie ist ein Mensch, der innerlich sehr harmonisch ist, und mit sich und der Welt im Einklang lebt. Ich habe sie heute Morgen kurz begrüßt und sie als eine sehr bescheidene junge Frau kennen gelernt.“

„Du machst mich wirklich sehr neugierig auf sie. Ich fühle mich immer ein bisschen unsicher bei solch sanften Menschen. Du kennst ja mein Temperament, ich sage immer alles frei heraus, immer genau das, was ich denke. Auch wenn ich manchmal damit anecke. Und du weißt auch, dass ich Bescheidenheit für eine menschliche Schwäche halte. Wenn ich nicht von Anfang an solche großen Träume gehabt hätte, dann hätte ich nie das erreicht, was ich jetzt erreicht habe. Man muss viel verlangen, um viel zu bekommen. Man muss anspruchsvoll sein, nur so kommt man zum Ziel.“

„Ja, Laura, für dich ist das so in Ordnung. Du bist ein ganz anderer Typ. Du bist temperamentvoll, das habe ich von Anfang an gemerkt. India ist still, sie wirkt auf mich wie eine sehr besonnene Person. Aber, was erzähle ich dir das jetzt hier? Du wirst sie gleich kennen lernen. Wir sind fast am Gasthof angekommen.“

Wir erkannten es schon, dass schmiedeeiserne Schild mit der Aufschrift „Zur Traube“ und beschleunigten unseren Schritt.

An der Eingangstür trafen wir Frau Bühler, die Inhaberin des kleinen Hotels.

„Ach wie schön!“ rief sie uns zu. „Die Frau Camissoll und die Frau Mühlberg. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.“

Sie begrüßte uns herzlich und lud uns zu einem Kaffee in die gemütliche Gaststube ein.

„Nina und India Kelly sind gerade von der letzten Probe vom Gemeindezentrum gekommen“, berichtete sie uns, als wir ihr mitgeteilt hatten, wen wir hier zu treffen beabsichtigten. „Sie wollten sich nur noch rasch umziehen und werden sicherlich jeden Augenblick hier sein.“

In der Gaststube hatte sich nichts verändert, es sah alles noch genauso aus wie vor langer Zeit, als ich den Auftrag hatte, Moro Rossini im Schloss zu interviewen.

Genau in dem Augenblick, als uns Frau Bühler den duftenden Kaffee servierte, erschien Nina, wie immer mit ihren blonden Locken wie ein Engel aussehend und hinter ihr eine junge, schlanke Frau mit rehbraunen Haaren. In ihrem feingeschnittenen, ovalen Gesicht leuchteten violettblaue Augen.

Nachdem sie uns begrüßt und India sich Laura vorgestellt hatte, setzen sich die beiden Frauen zu uns an den Tisch und bestellten ebenfalls Kaffee.

Das hatte Frau Bühler offenbar vorausgeahnt, denn sie stellte gleich zwei weitere Kassen mit dem heißen Getränk dazu. „Der Kaffee geht heute aufs Haus“, teilte sie uns mit. „Das frische Karnevalsgebäck, ein paar Krapfen und Berliner Pfannkuchen serviere ich gleich nach“.

„Danke, Frau Bühler“, wandte sich India an der Gastwirtin. „Sie sind wie immer ein Engel. Seit ich hier bin, werde ich wahnsinnig verwöhnt.“

„Da kann ich nur zustimmen“, fügte Laura hinzu. „Ich war auch immer gern hier. „Aber jetzt bin ich ganz neugierig auf Sie, liebe Frau Kelly. Oder darf ich India sagen? Vielleicht werden Sie einmal meine Nachfolgerin.“

Die junge Frau lächelte. „Wir anderen sagen hier auch du zueinander, natürlich. Und bei uns in England sagen wir alle du. Das ist viel unkomplizierter. Aber Deine Nachfolgerin? Nein, das könnte ich niemals schaffen. Doch die Schauspielerei ist für mich auch nur ein Hobby, ich könnte sie niemals zum Hauptberuf machen.“

„Warum nicht?“ Laura sah India erstaunt an. „Trotz vieler Mühen und mehr Arbeit, als manche Leute denken, ist das doch ein Traumberuf. Abigail hat mir schon erzählt, dass du Talent hast. Ein Talent sollte man niemals in eine Ecke verbannen.“

„Das tue ich auch nicht“, entgegnete die junge Frau sanft. „So oft ich in einer Laienspielgruppe mitwirken kann, bemühe ich mich um eine Rolle. Aber man muss eben Prioritäten setzen. Ich habe in meinem Beruf schon noch einiges vor. Da will ich mich demnächst stärker engagieren. Und das wird alle meine Zeit erfordern.“

„Das klingt interessant“, fand Laura. „Um was handelt es sich da? Oder bist du in geheimer Mission unterwegs?“

„Es geht um den Schutz alter Baudenkmäler. Da wollen wir demnächst eine große Kampagne starten. Es geht da vor allen Dingen um die Fabriken, die zu viel Schadstoffe produzieren und die Luft verschmutzen. Gerade hier in Sankt Augustine gibt es einige großartige Gebäude. Das Schloss zum Beispiel oder den Rosenturm, einige erhaltene Teile der Stadtmauer, die alte Barockkirche im Nordosten und auch die verschiedenen Brunnen. Da sollten wir es ernsthaft versuchen, diese Gebäude und Kunstwerke zu schützen, damit sie auch der Nachwelt erhalten bleiben.“

„Und wer startet diese Kampagne?“ erkundigte sich Laura. „Hast du jemanden im Rücken, der dich dabei finanziell unterstützt?“

„Ja, ich habe bereits einige Personen gefunden, die mir bei dieser Kampagne helfen wollen. Zunächst einmal hat mein Verlobter Tobias sehr reiche Eltern. Sie haben einen kleinen Chemiekonzern nicht weit von Wittentine entfernt. Sie haben sich bereit erklärt, mich bei der Kampagne finanziell zu unterstützen. Wer auch noch mitmacht, das ist die Firma Pollmann, da habe ich mit dem Seniorchef gesprochen, der bisher auch immer sehr intensiv kontrolliert, dass bei der neuen, großen Firma in Wittentine alles im Sinne der Umwelt geschützt wird. Auch er hat sich überlegt, etwas zu spenden. Und dann wäre da noch die Exfreundin von Tobias. Ihre Eltern besitzen einen großen Modekonzern, auch sie hat bereits alles mobil gemacht, damit wir ein gutes Fundament für unsere Arbeiten haben.“

„Da kann ich mir jetzt gut vorstellen, wie sehr dich dieses Projekt in Anspruch nimmt“, fand Laura. „Aber sag mal, wie klappt das denn so in einer Gemeinschaft mit der Exfreundin deines Verlobten? Geht so etwas ohne Eifersucht?“

„Natürlich. Wir sind doch alles erwachsene Menschen. Wir sind zwar noch jung, aber haben doch schon allerhand Erfahrungen gemacht. Und in eurem Alter sind doch schon ganz viele mindestens einmal geschieden. Wir klären das alles ganz vernünftig. Tobias und Manuela haben sich in Freundschaft getrennt. Da gibt es keine negativen Emotionen.“

Laura lächelte. „Ja, diese junge Generation. Die schafft das wohl besser als wir Frauen im besten Alter.“ Sie entdeckte die goldene Uhr an Indias Handgelenk. „Ich habe gehört, du sammelst Uhren? Ist das diese besondere Armbanduhr, die so kostbar und wertvoll ist?“

Sie nickte. „Ja, und auf die bin ich sehr stolz. Mein Verlobter hat sie tatsächlich auf einem alten Trödelmarkt entdeckt, dabei ist sie ungeheuer wertvoll, sodass man sie auch in einem Tresor aufbewahren könnte. Aber ich habe mir eine Sicherheitskette anbringen lassen, damit kann ich sie nicht verlieren, und so leicht kann sie auch keiner stehlen. Ich denke bei mir am Handgelenk ist sie sicherer als irgendwo in einer Schmuckkassette. Die meisten Menschen wissen sowieso nicht, wie wertvoll sie ist, und ich liebe sie wirklich sehr, deswegen habe ich sie gern bei mir und trage sie sehr stolz.“

„Das kann ich verstehen, sie sieht sehr edel aus. Ja, wenn du so engagiert bist, dann bleibt natürlich nicht viel Zeit für eine Laiengruppe. Und trotzdem hast du dich dieses Mal dazu bereit erklärt, das finde ich prima. Das zeigt deine Flexibilität und Vielseitigkeit. Du spielst die Prinzessin mit dem gläsernen Herzen?“ Frau Bühler stellte das Gebäck auf den Tisch und wir bedienten uns.

„Es ist eigentlich nur eine kleine Rolle. Aber das Drehbuch ist ganz hübsch geschrieben und lässt einem etwas Freiheit beim Spiel. Wenn du mich morgen siehst, wirst du natürlich über mich lachen. Du bist ein Profi, du würdest alles sicher viel besser machen.“

Laura schüttelte energisch den Kopf. „Aber wo denkst du hin?! Ich kann mir vorstellen, dass du sehr talentiert bist, vermutlich ein Naturtalent. Und ich freue mich wirklich schon auf dein Spiel. Und solltest du dir doch einmal Gedanken darüber machen, dass die Schauspielerei mehr für dich ist, dann kannst du mir gern einmal schreiben. Kevin, mein Mann hat auch ein gutes Auge für Talente. Er könnte dich auch sehr gut testen.“

„Das ist sehr lieb von dir gemeint, Laura. Aber ich glaube nicht, dass das für mich jemals infrage kommt. Die Schauspielerei ist für mich wirklich nur ein Spiel. Das Umweltprojekt, das ist für mich der Ernst des Lebens, und dafür brenne ich.“ India wandte sich an mich. „Du hattest noch ein paar Fragen an mich, Abigail?“

„Ach, eigentlich ist das nicht so wichtig. Vielleicht sollten wir das lieber auf übermorgen verschieben. Ich denke einmal, du bist jetzt auch konzentriert auf deine Rolle. Da möchte ich dich nicht gern durcheinanderbringen.“

„Oh, da musst du keine Rücksicht auf mich nehmen, Abigail. Ich hatte nur gedacht, die anderen langweilen sich, wenn ich über mich erzähle. Geheimnisse werden es keine sein, man wird es ja später auch in der Zeitung lesen können. Also, wollt ihr das wirklich hören?“

Laura und Nina nickten eifrig.

„Gut“, fuhr sie fort. „Also, Dein Chef. Herr Wieland wollte wissen, wie ich zu meinem Uhrentick kam. Der Big Ben ist schuld.“

Nina begann zu lachen. „Nanu! Wie denn das?“

„Ich habe mich schon als Kind in diese Uhr verliebt, und mir immer gewünscht, eine Miniaturausgabe davon zu Weihnachten zu bekommen. Aber meine Eltern hatten damals noch nicht viel Geld, und haben mir dann zum Trost etwas selber gebastelt. Damit war ich natürlich dann nicht wirklich zufrieden, obwohl ich mir nichts anmerken ließ. Aber später einmal, als ich sehr krank wurde, da opferte meine Mutter ihr ganzes Gespartes, um mir eine winzige Reproduktion zu kaufen, und ich war natürlich sehr glücklich darüber. Daraufhin wurde ich sehr schnell gesund, und alle Welt überhäufte mich mit Uhren. Das war dann der Anfang. Also eine ganz einfache Geschichte.“

Laura war mit der Geschichte zufrieden, aber ihre Neugier wegen Ninas Beziehung ließ ihr keine Ruhe. „Warum bist du eigentlich wieder hier, in Sankt Augustine? Warum bist du nicht mit Roberto in Rom oder Venedig?“

„Es hat nicht geklappt mit uns, wir sind einfach zu verschieden. Und ich hoffe nur, dass Roberto nicht morgen zum Karnevalsumzug und dem übrigen Spektakel hier auftaucht, ich habe nämlich keine Lust auf ein Wiedersehen mit ihm. Dazu ist es einfach noch zu schmerzhaft. Und ich kann froh sein, dass mich Frau Bühler wieder hier aufgenommen hat als Arbeitskraft im Gasthof, nachdem ich doch eine ganze Weile weg war.“

„Sie weiß eben, was sie an dir hat“, behauptete Laura. „Es wird für dich noch andere Robertos geben. Mir ist Kevin auch ganz schicksalhaft über den Weg gelaufen, da war ich eigentlich gar nicht auf der Suche nach einem Mann, nur meinem Erfolg hinterher. Ich glaube, das ist das ganze Geheimnis, man sollte einfach in froher Erwartung auf sein Ziel losgehen, aber nicht krampfhaft etwas suchen.“

„Außer Uhren“, warf India ein und schwenkte ihren Arm. „Wenn man da richtig sucht, kann man schon manchen Schatz finden.“

„Womit wir wieder beim Thema wären“, bemerkte ich. „Gab es denn dann in der Uhrengeschichte noch irgendetwas Besonderes, das erwähnenswert wäre?“

India überlegte. „Beim Entdecken der Uhren eigentlich nicht, aber mir sind schon einige Menschen begegnet, die mir gern einige Exemplare abgekauft hätten. Deswegen habe ich sie lieber zu meinem Onkel in ein schottisches Schloss gebracht. Er hat ein Museum dort, das ständig bewacht wird, also sind meine Uhren in diesem Gebäude ebenfalls sicher.“

„Sehr vernünftig“, fand Laura. „Gerade diese Sammlerstücke sind begehrt, da müsstest du sonst ständig Einbrüche in Kauf nehmen, besonders wenn du wegen deiner Mission viel unterwegs bist.“

India nickte. „Oh ja, und ich hoffe, dass ich hier auch viel Erfolg haben werde. Nicht in Augustine, hier gibt es ja keine Industrie, aber schon gleich nebenan in Wittentine werde ich meine Kampagne nach der Aufführung verstärken, das Industriegebiet dort wächst wie die Pilze aus dem Boden. So ganz ohne Hilfe könnte ich das nicht schaffen. Vielleicht habt ihr auch Lust, euch dafür zu engagieren?“

Laura verzog den Mund. „Wir haben ja hier nur einen kurzen Aufenthalt, Kevin und ich. Danach sind wir wieder in Amerika und drehen am laufenden Band. Das wird sich wohl nicht machen lassen. Außerdem engagiert sich mein Mann drüben sehr stark für Hilfsprojekte, da ist er leider auch schon ausgelastet.“ „Aber ich kann mich mit einbringen“, schlug Nina vor. „Mir tut es ganz gut, wenn ich mich wieder stark für irgendetwas engagiere, für irgendetwas brenne. Dann ist der Liebeskummer nicht so schlimm.“

„Das ist super“, fand India. „Ich freue mich über jeden, der meine Kampagne unterstützt. Wenn du magst, kann ich dich gleich noch in alles einweihen. Hast du Lust?“

Nina freute sich. „Oh ja, darüber möchte ich mehr von dir wissen, ich habe noch eine Stunde frei bevor meine Schicht anfängt. Sollen wir jetzt gleich?“

„Ist dir das auch recht, Abigail?“ wandte sich India an mich. „Du bist jetzt extra in den Gasthof gekommen, um mir weitere Fragen zu stellen. Aber meiner Meinung nach habe ich dir jetzt auch schon das meiste gesagt. Ich kann dir einen Katalog mit meinen Uhren zukommen lassen, mit ein paar Notizen dazu, wann und wie ich sie erworben habe. Dann kannst du dir selbst ein gutes Bild davon machen, und wenn du willst, etwas darüber schreiben. Wir können dann übermorgen nach der Aufführung noch ein Treffen vereinbaren und die restlichen Themen erörtern.“

„Natürlich. Das ist ein guter Vorschlag. Ich nehme an, Laura hat sowieso schon wieder Sehnsucht nach ihrem Mann, der jetzt genug Zeit allein mit dem Maler Rossini verbracht hat. Adelaide erwartet uns bestimmt auch schon, sie freut sich immer über Gäste, die das große Schloss beleben.“

„Genauso ist es“, stimmte mir Laura zu. „Mittlerweile zeigt sich bei mir auch etwas Müdigkeit nach dem langen Flug. Da könnt ihr beiden euch jetzt mit den Plänen für die Kampagne beschäftigen. Wir sehen uns dann spätestens morgen beim Umzug. Für wie viel Uhr ist er geplant? Wann startet der Zug am Eingang des Märchenparks?“

„Um 12:00 Uhr mittags“, wusste Nina.

Eilig verabschiedeten wir uns und ließen die beiden Frauen allein. Für den Heimweg bestand Laura auf einem Taxi, und ich wusste, in diesem Punkt konnte ich nicht mit ihr handeln.

Ich zeigte auf ihre Schuhe. „Bist du sicher, dass du bei Schuhen so eine gute Wahl triffst wie bei allem anderen?“

Sie warf mir einen bösen Blick zu. „Das verstehst du nicht, Abigail. In dem Bereich lebst du in einer völlig anderen Welt.“

***

3. Kapitel

Damit hatte Laura zweifellos Recht, die Welt des Showgeschäfts war nicht die meine, auch wenn ich in meinen Interviews häufig darüber zu berichten hatte. Nicht Recht hatte sie dagegen mit ihrer Behauptung: „Wir sehen uns dann spätestens morgen beim Umzug“, mit der sie sich am Vorabend im Gasthof von Nina und India verabschiedet hatte.

Noch bevor wir es im Mittagsblatt lesen konnten, suchte uns Nina am anderen Vormittag völlig verzweifelt und in Tränen aufgelöst auf und teilte uns mit, dass India nicht mehr lebte, und so wie es aussah, einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.

„Aber wie konnte das passieren?“ erkundigte sich Laura fassungslos. „Es war doch gestern noch alles in Ordnung. Und ihr wart doch auch immer zusammen, oder?“

Nina trocknete sich die Tränen. „Wir haben heute Morgen sogar noch zusammen gefrühstückt. Danach musste ich zur Arbeit, und sie wollte noch einmal zum Gemeindezentrum, um in den Kulissen etwas nachzuschauen. Weil sie so vertrauenerweckend ist, hatte man ihr einen Ersatzschlüssel anvertraut. Wir dachten uns alle nichts dabei, denn um diese Zeit sollten die Reinigungsfrauen noch einmal kontrollieren, ob alles in Ordnung ist.“

„Und? Waren die Reinigungsfrauen da?“ fragte ich.

„Ja, und sie haben India gefunden. Bei den Kulissen neben einem zerbrochenen Glasherz.“

„Wie schrecklich!“ fand Laura. „Wie geht es denn Tobias, ihrem Verlobten? Und sind ihre Eltern schon informiert?“

Nina brach wieder in Weinen aus, und wir nahmen sie in den Arm und trösteten sie, so gut es ging. Adelaide brachte eine Tasse heiße Schokolade, die sie der jungen Frau reichte.

„Der Tobias wird tatsächlich von der Polizei verdächtigt, weil er als Letzter bei ihr war. Er soll sie nämlich heute Morgen dorthin begleitet haben. Aber dann hat er sie nach eigenen Angaben dort alleingelassen, weil er noch an ihrem Karnevalswagen unbedingt etwas verändern wollte. Er war also der Letzte, der sie lebendig gesehen hat. Und ein Kriminalbeamter aus Wittentine hat ihn deswegen sofort verdächtigt.“

„Oh, das ist stark“, bemerkte ich. „Aber wieso hat denn hier nicht Niklas aus Sankt Augustine diesen Fall übernommen?“

„Niklas hatte heute Morgen keinen Dienst“, wusste Nina. „Er hat Jasmin im Gutshof geholfen. Irgendetwas war mit den Pferden.“

Laura überlegte einen Augenblick. „Und was ist jetzt mit dem Fest? Wird denn jetzt der Karnevalsumzug trotzdem stattfinden? Und was ist mit den Theaterstücken? Werden sie aufgeführt? Das ist doch jetzt wohl alles etwas geschmacklos, wenn man so tut, als wäre nichts geschehen.“

„Der Bürgermeister hat heute Morgen schon eine außergewöhnliche Sitzung einberufen“, wusste Nina. „Und obwohl alle schockiert sind, und es allen wahnsinnig leid tut, sollen doch die Festlichkeiten wie geplant stattfinden. Lediglich eine Schweigeminute zwischen den beiden Vorstellungen soll das Mitgefühl bekunden.“

Adelaide schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich sehr herzlos. So ein liebenswerter Mensch wie India wird ganz brutal aus dem Leben gerissen, und hier soll alles weitergehen mit großen Festlichkeiten. Schließlich soll so ein Festumzug zu Karneval auch für Heiterkeit sorgen. Und das passt nun gar nicht zu dem Vorfall.“

„Das sieht der Bürgermeister eben nicht so. Er meint, dieser Umzug hier in Sankt Augustine sei kein lustiger Karnevalsumzug, so wie man das beispielsweise im Rheinland, in Köln und in Düsseldorf gewohnt ist. Die Märchenwagen gehören zu einem kulturellen Erbe, seien historische Zeugnisse, einerseits natürlich dazu da, die Zuschauer zu erfreuen, andererseits für die Bildung, aber keinesfalls zum Belustigen. Außerdem ist er der Meinung, dass es zum Absagen viel zu spät ist, weil sich so viele Zuschauer und auch die Akteure bereits darauf eingestellt haben. So hat er dann alles mit dem Kriminalkommissar von Wittentine abgesprochen. Und der meint wirklich, dass Tobias der Täter ist. Und deswegen will er auch nur begrenzt weiter suchen.“

„Hoffentlich übernimmt Niklas bald diesen Fall. So kann das doch nicht weitergehen! Für mich gibt es da sofort jede Menge Verdächtige“, fand ich.

„Ja, Abigail! Da gebe ich dir völlig Recht“, Nina hatte sich wieder gefasst. „Die vier Mitbewerberinnen für die Hauptrolle, die halte ich schon einmal für sehr verdächtig. Sie alle haben India diesen Triumph nicht gegönnt. Ich habe sie alle vier kennengelernt, weil ich für die Kostüme und die Anprobe zuständig war. Ich habe mir sogar ihre Namen gemerkt: Ricarda, Ulrike, Linda, und Maren. Und mir waren alle vier sehr unsympathisch. Die müsste sich der Kommissar einmal ansehen.“

„Vielleicht hatte es jemand auch auf die teure Uhr abgesehen“, überlegte Laura. „Ist sie denn noch da? Oder wurde sie gestohlen?“

Nina überlegte kurz. „Danach habe ich mich jetzt noch gar nicht erkundigt. Diese Uhr war auf jeden Fall sehr wertvoll. Und wenn das jemand wusste, konnte ein Krimineller schon auf die Idee kommen, sie zu stehlen.“

Laura atmete tief. „Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass sie mit ihrer Kampagne ebenfalls einigen Staub aufwirbeln wollte. Und wenn es da irgendeinen Umweltsünder gibt, dem es gar nicht recht war, dass Laura in diesem Bereich herumstocherte, da konnte auch schon jemand auf die Idee kommen, sie irgendwie zu stoppen.“

„Da haben wir schon eine ganze Reihe Motive“, fand Adelaide. „Aber ich kann es immer noch nicht begreifen. Sie war so ein netter und bescheidener Mensch, hat niemandem etwas getan, und dann so etwas! Und außerdem sollen Tobias und sie wirklich sehr glücklich gewesen sein, ein so junges und verliebtes Paar! Das tut mir von Herzen leid!“

Nina nahm erneut ihr Taschentuch zur Hilfe. „Es ist fürchterlich! Ich habe sie zwar nur kurz kennengelernt, aber ich mochte sie doch schon sehr gern. Und nun ist sie plötzlich nicht mehr da. Aber Tobias traue ich wirklich keinen Mord zu. Nicht einmal im Affekt. Da haben wir doch schon genug merkwürdige Gestalten um sie herum gefunden. Und wenn wir noch mehr aus ihrem Leben wüssten, fänden wir bestimmt noch mehr Personen, die India nicht gut gesonnen waren“, überlegte sie. „Und unter den harmlos aussehenden Menschen gibt es eine ganze Menge, die plötzlich ausflippen können, auch wenn man es ihnen gar nicht zutraut.“

Laura sah mich an. „Ich kann dir jetzt schon sagen, wie es weitergeht. Wenn sich der Kommissar direkt an Tobias als Täter festbeißt, dann wirst du vermutlich wieder mit irgendeinem deiner hilfreichen Detektive auf Täterjagd gehen. Stimmt’s, Abigail?“

„Jedenfalls gefällt es mir nicht, wenn man den erstbesten sofort zum Täter abgestempelt. Ich kenne Tobias zwar noch nicht. Aber die beiden sollen doch das Traumpaar gewesen sein. Warum sollte er sie da umgebracht haben?“

Adelaide überlegte. „Geld hatten beide genug, da kann es dann nur noch die Eifersucht als Motiv geben. Wie war das denn mit der Exfreundin von Tobias. Ich hatte gehört, dass sich die beiden Frauen sehr gut verstehen. Da scheidet ja dann Eifersucht als Motiv auch direkt schon wieder aus.“

„Es ist nicht alles so, wie es aussieht“, sinnierte Nina. „Ob es bei den beiden wirklich keine Eifersucht gab, können wir nur feststellen, wenn wir einmal genauer hinschauen. Aber ich kann jetzt leider nicht mehr bleiben. Da ja um 12:00 Uhr der Zug losgeht, alles wie geplant, muss ich mich schnell noch umziehen. Aber ich weiß, dass ein Reporter vom Mittagsblatt am Tatort war. Vielleicht könnt ihr dann schon gleich in der Zeitung etwas Genaueres erfahren.“

Sie verabschiedete sich von uns und ließ uns verwirrt zurück. Eine ganze Weile beschäftigten wir uns in Gedanken noch mit Spekulationen über einen möglichen Täter, aber da wir keine näheren Informationen hatten, gaben wir es etwas frustriert wieder auf.

„Jetzt wird es auch für uns Zeit zum Umziehen“, mahnte Adelaide. „Moro wird sicher schon auf mich warten, denn er ist etwas hilflos beim Anziehen des historischen Kostüms.“

Laura lächelte. „Ja, Rossini als Fürst oder König! Das passt zu ihm. Er hat diese königliche, etwas selbstgefällige Haltung. Und wenn er auch alles andere als jung ist, liebe Ada, so übertrifft er doch so manchen jungen Mann an Charme.“

Adelaides Augen leuchteten. „Ich weiß“, sagte sie schlicht.

***

4. Kapitel

Laura, Kevin und ich standen unter der großen alten Eiche vor dem Gemeindezentrum und betrachteten die bunten Märchenwagen, die von Pferden gezogen auf den großen Platz fuhren.

„Kannst du Kevin die Märchenbilder etwas erklären“, bat mich Laura. „In Amerika gibt es nicht alle unsere Märchen, und wie du weißt, habe ich meine Jugend in Frankreich verbracht. Da gab es auch niemanden, der mir Märchen vorgelesen hat. Ich nehme also an, dass du von uns Dreien die Expertin bist.“

„Ich werde es versuchen. Gleich der erste Wagen hier ist das Märchen Brüderchen und Schwesterchen. Vorne seht ihr die schöne junge Frau, das ist das Schwesterchen und neben ihr seht ihr ein Reh, das ist ihr verwunschener Bruder. Hinter den drei Tannenbäumen seht ihr den Königssohn auf der Jagd, der das Reh eigentlich töten wollte, dann aber durch das Tier zu Schwesterchen geführt wurde, sie dann mit auf sein Schloss nimmt und sie heiratet. Natürlich wandelt sich am Ende des Märchens das Reh wieder zurück in einen hübschen jungen Mann, der dann bei dem König und seiner Schwester am Hofe bleibt.“

„Warum steht auf dem Wagen die Nummer 2“, erkundigte sich Kevin. „Dies ist doch der erste Wagen, den wir sehen.“

„Richtig. Der erste Wagen wird gerade noch umgebaut, damit wir ihn als vorletzten sehen können. Es war das Märchen Schneewittchen und zeigte die schöne junge Frau im gläsernen Sarg. So hatte man es dem Glaser Pollmann versprochen. Aber das fand man dann doch zu pietätlos, jetzt, nach dem Tod von India Kelly.“

Ein älterer Herr trat näher zu uns, er trug eine Filmkamera. „Das machen Sie ja ganz gut“, sprach er mich an. „Sie könnten mich hier vertreten.“

Ich sah ihn fragend an. „Haben Sie irgendeinen Wunsch?“

„Oh, tut mir leid. Ich bin Bernhard Schmidt und arbeite für den kleinen Lokalsender und das Mittagsblatt von Sankt Augustine. Ich berichte gerade über den Umzug, im Augenblick habe ich Pause, die Übertragung wird durch etwas Musik vom Sender aufgelockert.“

„Da kann ich Ihnen leider nicht helfen, Herr Schmidt. Ich bin nur privat hier mit meinen beiden Freunden Laura und Kevin. Ja, minimal bin ich vielleicht auch beruflich hier, meinen Chef Jens Wieland interessiert das Fest auch ein wenig.“

„Sie sind bei dem berühmten Wieland? Das ist doch der Kulturkaiser des ganzen Landes. Da müssen Sie aber gut sein, wenn er Sie beschäftigt.“

Ich zwinkerte Laura zu. „Na ja, wie man es sieht. Wenn ich alle Verrücktheiten mitmache und es dulde, dass er häufig meinen Terminkalender diktiert, dann komme ich mit ihm klar. Nicht jeder hält es lange mit ihm aus.“

„Ja, dann, noch viel Erfolg! Meine Pause ist wieder vorbei. Sehen wir uns später?“

Ich blickte ihn irritiert an. „Keine Ahnung. Meine Freunde und ich haben während der Vorstellung reservierte Plätze.“

„Ja, für das erste Märchen gilt das schon. Aber nicht für das Märchen, bei dem India mitspielen sollte. Dieser Raum ist mitsamt seinen Kulissen beschlagnahmt. Da wird auch gerade noch an einer Ersatzlösung gearbeitet. Die reservierten Plätze können selbstverständlich nicht garantiert werden“

„Was Sie nicht alles wissen!“ Ich spürte, dass mein Ton nicht überzeugend klang. „Dann wissen Sie bestimmt auch, ob man die teure Uhr gestohlen hat, die India am Handgelenk trug.“

Er nickte. „Sie ist nicht gestohlen worden. Aber der Kommissar schließt auch einen Raubmord aus. Es hat sich schon herumgesprochen, dass der Verlobte, Tobias verdächtigt wird.“

„Auch wenn die Uhr noch da ist, sagt das noch nicht, dass es der Täter nicht doch auf die Uhr abgesehen hatte“, widersprach ich ihm. „Ich weiß zufällig, dass die junge Frau diese Uhr mit einem zusätzlichen Sicherheitsschloss versehen hat. Daher ist es vermutlich gar nicht so leicht, die Uhr vom Handgelenk zu stehlen. Und viel Zeit hatte der Täter offensichtlich nicht. Die Putzfrauen befanden sich in den Nachbarräumen.“

„Und jetzt verdächtigen Sie wohl die armen Putzfrauen“, meinte er verärgert.

„Noch verdächtige ich niemanden. Dazu müsste ich mich erst einmal in Indias Umkreis etwas näher umsehen. Sie verpassen bestimmt noch Ihre Reportage. Da kommt auch schon der nächste Wagen herein. Tut mir leid, ich möchte jetzt auch weiter für meine Freunde da sein.“

„So ein aufdringlicher Kerl“, schimpfte ich, als er sich entfernt hatte.

Laura amüsierte sich. „Ich glaube, der wollte etwas von dir. Der wird bestimmt wieder bei dir auftauchen.“

„Ich lege keinen Wert darauf“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich habe kein Verständnis für Menschen, die voreingenommen sind. Aber jetzt will ich mich von ihm nicht mehr stören lassen. Der zweite Wagen ist inzwischen schon hereingefahren. Seht euch dieses hübsche Knusperhäuschen an. Die beiden Kinder davor, das sind Hänsel und Gretel.“

Kevin nickte. „Dieses Märchen kenne ich auch. Dazu gibt es auch eine Oper, die ich bereits in einer Vorstellung im Stadttheater von Bonn gesehen habe. Diese beiden gefallen mir. Sie sind überhaupt nicht kitschig, wie ich es befürchtet hatte.“

„Sie sind wirklich sehr geschmackvoll“, fand auch Laura. „Wie viele Wagen sind es insgesamt?“

„30 Wagen insgesamt. Aber nicht alle werden von Pferden gezogen, es folgen noch einige als Drachen und Ungeheuer verkleidete Traktoren.“

Immer mehr Wagen fuhren auf den riesigen Parkplatz, viele bekannte Märchen präsentierten sich als lebende Bilder. Der vorletzte Wagen zeigte die sieben Zwerge bei ihrer täglichen Arbeit, den gläsernen Sarg mit dem Schneewittchen hatte man entfernt. Als letzter Blickpunkt nahte die Kutsche mit Moro Rossini und Adelaide, seiner Frau. Sie stellten das Märchen Dornröschen vor und waren eingehüllt in unzählige rote Rosen.

Das Ehepaar stieg als erstes aus und wurde, von Lakaien und Zofen begleitet, feierlich in die Theaterräume des Zentrums geleitet, die Darsteller der anderen Märchenbilder folgten ihnen in einem feierlichen Zug. Zahlreiche Zuschauer klatschten eifrig Beifall.

Als alle Gäste im großen Saal Platz genommen hatten, hielt der Bürgermeister eine Begrüßungsrede, in der er auch kurz auf Indias schrecklichen Tod zu sprechen kam: „Wir bedauern es alle, dass in unserer Stadt an dem heutigen Tag etwas derart Grausames und Schlimmes geschehen ist. Besonders leid tut es uns auch für die Angehörigen dieser jungen Frau, die nun einen schweren Schock zu überwinden haben. Heute Morgen haben wir eine besondere Sitzung einberufen, um zu entscheiden, ob wir diesen Umzug und dieses Fest überhaupt stattfinden lassen sollen. Aber wir haben uns dann im Sinn von India entschieden. Denn sie war ein Mensch, der nicht nur zuverlässig war, sondern sich auch durch großes Pflichtbewusstsein auszeichnete. Sie hätte es nicht gewollt, dass dieser Tag heute ausfällt. Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, dass wir zwischen den beiden Theaterstücken eine Gedenkminute für India Kelly einlegen. Ebenso muss ich Ihnen mitteilen, dass wir ihre Rolle nun leider neu besetzen mussten. Die Hauptrolle in „Die drei Schwestern mit dem gläsernen Herzen“ wird nun gespielt von Frau Ulrike Boppard. Sie wird in Indias Sinn ihr Bestes geben. Auch die Rolle, die ihr Verlobter Tobias Körner spielte, wurde von der Zweitbesetzung, Herrn Werner Kollwitz übernommen. Weiterhin wünsche ich Ihnen erst einmal eine gute Unterhaltung, die Festlichkeit nach den Aufführungen findet in angemessener Weise später in der großen Hallen nebenan statt.“

„Der wirkt ja ziemlich kühl“, fand Laura.

Kevin stimmte ihr zu. „Er scheint sich wirklich nur um diese Festlichkeit zu sorgen und wenig Mitgefühl zu haben. Und wenn er es hat, lässt er es sich wenigstens nicht anmerken. Hoffentlich wird er im Laufe der Zeit nicht so gefühlskalt wie der vorherige Bürgermeister Karl Hammer.“

„Ja, der ist nach und nach kriminell geworden“, fügte ich hinzu. „Es ist manchmal komisch mit den Menschen, die an die Macht kommen, Machtmissbrauch ist da gar nicht so selten. Ich hoffe wirklich, dass wir uns täuschen.“

Das Läuten der Glocke verkündete uns, dass das Schauspiel begann.

Im Märchen „Der gläserne Schatzberg“ verzauberte uns Theresa nicht nur mit ihrer charmanten und zauberhaften Erscheinung, sondern ließ uns alles Bedrückende vergessen und in die Welt der alten Geschichten eintauchen. Für eine halbe Stunde gab es nur diesen glitzernden, gläsernen Berg und die süße Erscheinung der Prinzessin. Obwohl auch alle anderen Schauspieler ihr Bestes gaben, stellte sie Theresa mit ihrer Ausstrahlung deutlich in den Schatten.

Nach dem nichtendenwollenden Beifall erschien noch einmal der Bürgermeister auf der Bühne und ordnete die Schweigeminute an, in der wir versuchten, uns das bescheidene Bild der India Kelly vor das innere Auge zu rufen. Ich hatte ihr freundliches Gesicht noch gut vom gestrigen Tag in meinem Kopf und hatte das Gefühl, dass sie mir momentan sehr nahe war.

Nach einem kurzen Musikstück, einem melancholischen Largo, läutete die Glocke erneut zum zweiten Märchen, dem Märchen von den drei Schwestern mit den gläsernen Herzen. Als sich der Vorhang hob, sahen wir, dass die Bühne umgestaltet worden war. Der wie Glas aussehende Plastikberg war verschwunden, stattdessen sah man in das Innere eines festlichen Schlosses hinein.

„Das hätte man auch gut in Rossinis Schloss drehen können“, meinte Laura neben mir. „Die Kulisse ist dort sehr realistisch. Deswegen dreht auch mein Kevin immer so gern dort.“

Ich nickte. „Nur, in Moros Schloss ist nicht so viel Platz für so viele Zuschauer. Höchstens im Sommer, wenn man die großen Terrassen mit einrechnet.“

Das Stück begann, gebannt schauten wir dem Geschehen zu. Als gleich in der ersten Szene, so wie es die Rolle vorschrieb, die erste der drei Schwestern wie tot zusammenbrach und leblos auf dem Boden liegen blieb, erfasste mich ein unangenehmes, dumpfes Gefühl in der Magengegend. Vielleicht hätte man diese Szene besser herausgenommen, nach dem, was heute Morgen in dem benachbarten Saal geschehen war. Doch der Szenenwechsel brachte mich auf andere Gedanken, die talentierten Laienschauspieler zeigten uns mit Begeisterung ihr Können.

Im weiteren Verlauf des Schauspiels fanden wir besonderen Gefallen an dem Spiel der Ulrike Boppard, die sehr viel Talent zeigte und die Zuschauer am Ende zu einem ausdauernden Beifall veranlasste.

„Sie hat Talent, die Kleine“, fand Laura. „Wir haben jetzt natürlich keinen Vergleich. Möglicherweise hat India noch besser gespielt. Das kann ich jetzt leider nicht beurteilen. Aber Ulrike hat auch Ehrgeiz, das sieht man ihr an. Einen Mord traue ich ihr allerdings nicht zu. Aber festlegen will ich mich da nicht, man kann ja nicht in jeden Menschen direkt hineingucken. Wirst du dich mit ihr beschäftigen?“

Ich nickte. „Du hast mich ertappt. Ich werde mir nachher ein Autogramm bei ihr holen. Ich muss unbedingt wissen, wie sie zu India stand. Und ich möchte auch gern wissen, ob es schon feststand, dass sie die zweite Besetzung war, oder ob man sich die Option von allen Vieren offengelassen hatte.“

„Noch gibt es ja auch kein Ergebnis, was wirklich passiert ist. Vielleicht war es ja ein Unfall mit Todesfolge. Dazu reicht schon manchmal ein kleiner Streit mit einem unglücklichen Sturz. Das haben wir damals im Märchenpark mit Regine so erlebt“, erinnerte mich Laura. „Denn ich glaube nicht an einen vorsätzlichen Mord. Immerhin konnte der Täter hier jeden Moment von den Putzfrauen entdeckt werden. Da sucht man sich doch einen stilleren Tatort aus.“

„Richtig. Soweit habe ich noch gar nicht gedacht. Das Ergebnis wird mir sicher Niklas verraten. Hast du ihn hier schon gesehen?“

„Vermutlich kümmert er sich draußen um die Pferde. Die sind doch wohl zum großen Teil vom Gutshof von Jasmin und Senta, oder?“