Als die Demokratie starb - Marla Stone - E-Book

Als die Demokratie starb E-Book

Marla Stone

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Beschreibung

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 ist ein Schlüsselereignis der Weltgeschichte. Die rasche Konsolidierung der Macht durch Hitler und die Beseitigung der Demokratie praktisch über Nacht erstaunen und erschüttern bis heute. Und bis heute sind sich Historikerinnen und Historiker über die Gründe für das Ende der Weimarer Republik und den schnellen Erfolg der Nationalsozialisten uneinig. Dieses Buch wirft 90 Jahre später eine internationale Perspektive auf das Epochenjahr 1933 und geht den Fragen nach: Wie konnte das passieren? Wie kann sich etwas Ähnliches wiederholen? Und können wir daraus etwas lernen in Zeiten, in denen Demokratien unter Druck geraten und Diktaturen Aufwind haben?

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Thomas Weber (Hg.)

Als dieDemokratie starb

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart

Die Kapitel 2, 3, 7, 10, 11 und 13 bis 15 wurden von Ulrike Strerath-Bolz übersetzt, Kapitel 1 und 4 von Ulrike Strerath-Bolz und Karin Schuler, Kapitel 6 von Ulrike Strerath-Bolz und Norbert Juraschitz.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: akg-images

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN Print 978-3-451-39397-6

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82839-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82841-6

Inhalt

Kapitel 1Das Jahr, in dem die Gegenwart geboren wurdevon Thomas Weber

Kapitel 2Zwei Gesichter von 1933von Niall Ferguson

Kapitel 3Der Hund, der nicht bellte: Die Eindämmung der Krise der Demokratie in den Niederlanden, 1933von Beatrice de Graaf

Kapitel 4Nationalsozialistische illiberale Demokratievon Thomas Weber

Kapitel 5Wahlen im Nationalsozialismus: Eine dunkle Seite der Demokratiegeschichtevon Hedwig Richter

Kapitel 6Das sozialistische Versprechen des Nationalsozialismus und die Doppelkrise des Kapitalismus und der Demokratievon Robert Gellately

Kapitel 7Die Schwäche konservativer Parteien und der Untergang der Weimarer Demokratievon Daniel Ziblatt

Kapitel 8Der Kollaps der Konservativen und des Zentrums im Frühjahr 1933von Hermann Beck

Kapitel 9Die nationalsozialistische Machtergreifung nach der Machtübertragung von Ulrich Schlie

Kapitel 10Die Eroberung und Festigung der nationalsozialistischen Machtvon Benjamin Carter Hett

Kapitel 11„Was wäre, wenn“ und 1933: War die Machtergreifung unvermeidlich oder vermeidbar?von Gavriel D. Rosenfeld

Kapitel 12Hitler zertrümmern: Wieso ist es für Museen so schwer, klare Kante zu 1933 zu zeigen?von Wieland Giebel

Kapitel 13Donald Trumps Politik der Feindschaft und die Macht des Antikommunismusvon Marla Stone

Kapitel 14Der digitale Bierkellervon Jonathan Russo

Kapitel 15Die Lehren aus Weimarvon Michael Ignatieff

Kapitel 161933: 90 Jahre danachvon Thomas Weber

Anhang

Anmerkungen

Der Herausgeber

Die Autorinnen und Autoren

KAPITEL 1

DAS JAHR, IN DEM DIE GEGENWART GEBOREN WURDE

von Thomas Weber

Die Welt, in der wir heute, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, leben, entstand in vieler Hinsicht im Januar 1933. Der Tod der Demokratie und die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler in diesem Monat formen unser Verständnis der Welt bis heute, ebenso wie etwa der Holodomor, die Massenhungersnot, die Stalin im selben Jahr als Waffe gegen die Ukrainer einsetzte, die nicht bereit waren, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen. Die Folgen der Ereignisse von 1933 haben uns alle – mal mehr, mal weniger offensichtlich – zu dem gemacht, was wir sind. Sie prägen auch weiterhin unser Leben und bestimmen, wie wir auf die politischen Herausforderungen der 2020er-Jahre reagieren, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind.

Wir müssen nur den russischen Einmarsch in die Ukraine betrachten, um zu sehen, wie sehr die Ereignisse des Jahres 1933 in Deutschland wie in der Ukraine noch immer unsere eigene Welt beeinflussen. Nehmen wir zum Beispiel Wladimir Putin. Obwohl Russlands Führer selbst in seinem Handeln von zaristischen Visionen eines heiligen Russland und einer östlichen Zivilisation inspiriert ist,1 stellt er sein Vorgehen in der Ukraine als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges dar, wie der Kampf gegen Hitlerdeutschland in Russland genannt wird. Er gibt vor, militärische Spezialoperationen gegen Nazis in der Ukraine durchzuführen – eine Anspielung auf ukrainische Kollaborateure der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg –, um den Russen seinen Angriff als gerechten Krieg zu verkaufen. Nach wie vor glaubt er, seine Landsleute motivieren zu können, indem er den aktuellen Krieg als eine Reaktion auf Ereignisse des Jahres 1933 in Deutschland präsentiert.

Achttausend Kilometer westlich der Kriegsgebiete in der Ukraine greifen ein ehemaliger US-Präsident und seine Gegner auf der Suche nach Analogien für die Entwicklung der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert immer wieder auf das Deutschland der 1930er und 1940er Jahre zurück. Donald Trump soll seinem damaligen Stabschef, dem Ex-General John Kelly, einmal an den Kopf geworfen haben: „You fucking generals, why can’t you be like the German generals?“ Und Mark Milley, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, zeigte sich nach Trumps Wahlniederlage im November 2020 zunehmend besorgt, Trump könne wie Hitler 1933 auf einen „Reichstagsmoment“ aus sein – eine konstruierte Krise (vgl. Kapitel 10 in diesem Buch), um die Demokratie auszusetzen und die absolute Kontrolle über Amerika zu übernehmen.2 Der Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses, der den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 untersucht, beschäftigt sich inzwischen mit der Frage, ob die Vereinigten Staaten an diesem Tag tatsächlich den Versuch erlebten, einen solchen »Reichstagsmoment« zu schaffen.

Es geht hier nur zweitrangig um die Frage, ob Trump objektiv gesehen viel mit Faschisten gemein hat. Tatsächlich ist er wohl eher ein Produkt amerikanischer (nicht-faschistischer) Traditionen als des historischen Faschismus. Der ehemalige US-Präsident hat mehr mit Michael Corleone – dem Protagonisten der Paten-Trilogie – und mit einer vulgarisierten Version von Ayn Rand – der Philosophin des extremen Individualismus – gemein als mit Adolf Hitler.3

Der Punkt ist vielmehr, dass die Krise der amerikanischen Demokratie vor dem Hintergrund der sterbenden Demokratie in Deutschland im Jahr 1933 und der Ereignisse in den folgenden Jahren betrachtet wird. Tatsächlich fühlte sich Marie Jana Korbelová 2018 so sehr an die Welt erinnert, in der sie als Tochter jüdischer Eltern in der Tschechoslowakei der 1930er Jahre und im Exil, im London des Zweiten Weltkriegs, aufgewachsen war, dass sie – inzwischen ehemalige US-Außenministerin und besser bekannt als Madeleine Albright – warnend darüber schrieb, dass die 1930er Jahre wieder zurückkehrten. Ihr Weckruf wurde mit großem internationalem Echo unter dem Titel Faschismus: Eine Warnung veröffentlicht.4 Auch der Sohn eines österreichischen SA-Mannes nutzte nach dem Angriff auf das Kapitol seine Bekanntheit als ehemaliger Gouverneur des US-Bundesstaates Kalifornien und als weltberühmter Schauspieler, um eine Videobotschaft an die Welt aufzunehmen. Darin sprach Arnold Schwarzenegger über seinen Vater und zog direkte Vergleiche zwischen der Reichspogromnacht, dem antijüdischen Pogrom der Nationalsozialisten vom November 1938, und der Situation in den Vereinigten Staaten im Januar 2021.5

Mit fortschreitender zeitlicher Entfernung werden Hitler und das Dritte Reich immer häufiger als Analogien für ganz verschiedene Entwicklungen herangezogen, und das bei weitem nicht nur in Amerika. Wenn Menschen sich der Vergangenheit zuwenden, um Lektionen für die Gegenwart daraus abzuleiten und die Welt zu verstehen, greifen sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf Adolf Hitler zurück, unabhängig davon, ob eine Beschwörung des deutschen Diktators nun wirklich gut zu dem betrachteten gegenwärtigen Phänomen passt oder nicht.6 Hitler ist im öffentlichen Diskurs heute dominanter als noch vor einer Generation. Zwischen 1995 und 2018 stieg die Häufigkeit, mit der Hitler in englischsprachigen Büchern erwähnt wurde, um erstaunliche 55 Prozent. In spanischsprachigen Büchern stieg die Frequenz im gleichen Zeitraum sogar um mehr als 210 Prozent.7

Noch beunruhigender ist, dass Donald Trump bei weitem nicht der einzige Spitzenpolitiker ist, der es für eine gute Idee hält, sich bei Adolf Hitler Inspirationen für erfolgreiche politische Führung zu holen. In vielen Teilen Asiens wird Mein Kampf geradezu als eine Art Handbuch der Staatskunst gelesen. Und als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei warb, verwies er auf Hitlerdeutschland als erfolgreiches Vorbild.8 Weniger besorgniserregend, aber umso wichtiger ist, dass das Leben der polnischen Nation nach wie vor vom Trauma der Besatzungszeit geprägt ist, in der das Land der Gnade der Nationalsozialisten und der Sowjets ausgeliefert war. Und in den Augen von Deutschlands Nachbarn im Westen, den Niederländern, geht ihr heutiges Selbstverständnis und ihre bewundernswert widerstandsfähige Demokratie aus der jahrelangen Opposition und dem Widerstand gegen die Unterdrückung unter deutscher Besatzung hervor.

Doch nicht überall beruft man sich auf die 1933 entstandene Welt, um die heutige Situation zu verstehen und zu deuten. Seltsamerweise hat ein Land im Herzen Europas eine andere Richtung eingeschlagen: Deutschland selbst. Während Hitler in der spanisch- und englischsprachigen Welt plötzlich in aller Munde war, sank die Häufigkeit, mit der sein Name in deutschsprachigen Büchern genannt wurde, zwischen 1995 und 2018 um mehr als zwei Drittel. Der gleiche Trend gilt für andere Begriffe, die auf das dunkelste Kapitel der deutschen Vergangenheit verweisen, etwa »Nationalsozialismus« und »Auschwitz«.9 Eine sinkende Fähigkeit zu historischer Reflexion und ein nachlassendes Interesse am Nationalsozialismus sollten jedoch nicht zu der (falschen) Annahme führen, das heutige Deutschland sei weniger stark vom Erbe des Dritten Reiches und dem Schrecken, den die Deutschen in ganz Europa verbreiteten, geprägt. Es liegt auf der Hand, dass wir oft nicht alle Einflüsse, die uns zu dem machen, was wir sind, verstehen und in Begriffe fassen können. Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, dass wir alle eigentlich 300 Jahre lang leben. Unser eigenes Leben dauert bis zu 100 Jahre, wir sind geprägt von den 100 Jahren, die vor unserer Geburt liegen, und beeinflussen über unseren Tod hinaus noch ein Jahrhundert die nachfolgende Welt.10 Die Deutschen denken daher vielleicht seltener als zuvor an die NS-Vergangenheit, sind aber überall von den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft umgeben. Dieses Erbe bestimmt, wer die Deutschen sind, und dies seit dem Tag, an dem Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde.

Das politische System ihres Landes, die Literatur und Musik der Deutschen in den letzten Jahrzehnten und ihre Art, über die Welt zu denken, sind geprägt vom Erbe des Nationalsozialismus, auch wenn nicht ständig ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Zum Beispiel sind die meisten Deutschen instinktiv der Meinung, es gefährde die Demokratie, wenn man die Fünf-Prozent-Klausel bei Wahlen abschaffen würde – und das unabhängig davon, ob sie wissen, dass man diese Regel in dem wohl irrigen Glauben in die deutschen Wahlgesetze aufnahm, das Fehlen einer solchen Klausel habe zur politischen Zersplitterung der Weimarer Republik geführt, die ihrerseits angeblich zum Tod der Demokratie 1933 beitrug. Doch es steckt noch mehr dahinter, dass 1933 das deutsche Leben weiterhin so beharrlich beherrscht.

In Deutschland wurde wohl auch deshalb in der letzten Generation nicht mehr so viel ausdrücklich über den Nationalsozialismus gesprochen, weil man meinte, das Land habe aus der Vergangenheit gelernt und ein vorbildliches politisches System wie auch eine vorbildliche Gesellschaft aufgebaut, die die Lehren aus dem Nationalsozialismus verinnerlicht habe. Deshalb, so die Vorstellung, sei es weniger zwingend erforderlich, ständig über das Erbe des Dritten Reiches zu sprechen. Das vorherrschende Narrativ der frühen Berliner Republik lautete, Deutschland habe im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen »Sonderweg« in Richtung Diktatur und Völkermord eingeschlagen. Mit der Wiedervereinigung jedoch habe das Land 1990 diesen »Sonderweg« endgültig verlassen und sei vollständig im Westen angekommen.11 Die seit 1990 bestehende Berliner Republik war nach dieser Lesart ein neuer Akteur in der internationalen Politik, der Seite an Seite mit seinen Partnern in ganz Europa und der Welt den Frieden und die Stabilität im In- und Ausland sicherte.

Die unterschiedliche Häufigkeit, mit der in Deutschland bzw. im englisch- und spanischsprachigen Ausland Bücher auf Hitler, Auschwitz und den Nationalsozialismus verweisen, zeigt jedoch, dass Deutschland 1990 den »Sonderweg« nicht verlassen, sondern vielmehr neu eingeschlagen hat. Deutschlands eigentlicher »Sonderweg« ist der seiner Zweiten Republik, die 1990 gegründet wurde und, wenn man dem Journalisten und Historiker Nils Minkmar glauben darf, im Zuge von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zusammenbrach. Deutschlands Zweite Republik, schreibt Minkmar, »nahm sich Ferien von der Geschichte, konnte endlich wie Faust den Augenblick genießen und schloss dazu, auch wie Faust, einen Pakt – mit Putin und mit bösen Folgen«.12 Doch mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 fanden Deutschlands Ferien von der Geschichte ein jähes Ende. Bundeskanzler Olaf Scholz drückte dies nach der russischen Invasion so aus: »Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.«13

Scholz hat Recht, wenn er von einer Zeitenwende spricht, doch sie betrifft in erster Linie nicht »unseren Kontinent«, sondern sein eigenes Land. Der russische Einmarsch in die Ukraine war zunächst einmal eine Zeitenwende, weil er den Deutschen plötzlich die Realitäten der internationalen Politik deutlich machte. Mit anderen Worten: Die Zeitenwende besteht nicht in erster Linie darin, dass sich die Welt plötzlich verändert hätte, sondern darin, dass der 24. Februar 2022 vielen Deutschen die Augen für Erkenntnisse öffnete, die Deutschlands Nachbarn schon seit längerer Zeit gegenwärtig waren.

Der faustische Pakt war nicht aus Böswilligkeit geboren – Deutschlands Zweite Republik war mit den besten Absichten gegründet und regiert worden. Es herrschte vielmehr eine gewisse Kurzsichtigkeit, die viele Deutsche daran hinderte, das zu sehen, was viele ihrer europäischen und internationalen Partner nach den früheren Invasionen Russlands oder dem Abschuss von MH17 – dem Flugzeug, das auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur im ukrainischen Luftraum abgeschossen wurde – längst erkannt hatten. Und diese Kurzsichtigkeit ist eng mit den normativen Schlüssen verbunden, die die Protagonisten der Zweiten deutschen Republik aus der Erfahrung des Landes mit dem Nationalsozialismus gezogen hatten und die sich recht drastisch von denen, die andere Länder daraus gezogen hatten, unterschieden. Infolgedessen setzten viele Deutsche auf »Soft Power« und hatten wenig für »Hard Power« übrig – ohne sich klarzumachen, dass »Soft Power« nur heiße Luft ist, wenn sie nicht mit »Hard Power« Hand in Hand geht. Zudem konnten sie aufgrund der normativen Schlüsse der »Bonner Republik« nicht erkennen, dass Putins aggressives Vorgehen seit dem letzten Tag des letzten Jahrtausends – als Putin die Führung Russlands übernahm – in der Tradition früherer Phasen in der Geschichte seines Landes steht. Dies spiegelt sich auch in einem steilen Rückgang der Verweise in deutschsprachigen Publikationen auf Begriffe wider, die mit den dunklen Seiten der russischen Vergangenheit in Verbindung gebracht werden, wie »Gulag«, »Stalin«, »Prager Frühling« oder »Volksaufstand«.14 In englischsprachigen Büchern blieb die Zahl der Nennungen der Begriffe »Stalin« und »Prague Spring« in den Jahren 1995 bis 2018 relativ konstant, die Erwähnung des »Gulag« nahm sogar stark zu.15

Viele Deutsche erkannten nicht, dass ihre europäischen Nachbarn aus der NS-Vergangenheit oft ganz andere Lehren zogen, wenn es um die Bewahrung des Friedens im 21. Jahrhundert ging. Sie sahen nicht, dass ihre Art, sich der Vergangenheit zuzuwenden, um Anregungen für die Bewältigung der Gegenwart zu finden, auf Illusionen beruhte. Ihre im Vergleich zu ihren Nachbarn sehr unterschiedlichen Lehren aus der Vergangenheit standen sowohl einer erfolgreicheren europäischen Integration als auch der Schaffung einer erfolgreichen Sicherheits- und Friedensarchitektur im Weg. Nils Minkmar meint daher, dass aus den Ruinen der Zweiten Republik eine Dritte Republik entstehen müsse: eine, die weniger kurzsichtig auf die Welt um sie herum blickt und die »Naivität« des Denkens über die Welt hinter sich lässt, wie sie, so Minkmar, die Zweite Republik kennzeichnete. Dieses Buch ist ein Versuch, Lehren aus dem Dritten Reich für die Dritte Republik herauszuarbeiten.

Doch der kurzsichtige Blick auf die Vergangenheit beschränkt sich nicht auf Deutschland. Dieses Buch will sich daher auch mit den Lehren aus dem Tod der Demokratie im Jahr 1933 für die gesamte moderne Welt auseinandersetzen, mit einem Moment der Geschichte, in dem die erste deutsche Demokratie dem Nationalsozialismus zum Opfer fiel und begraben wurde. Der Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass viele Lehren, die weltweit aus dem Jahr 1933 für die 2020er Jahre gezogen werden, auf historischen Missverständnissen beruhen. Dieses Buch liefert ausdrücklich keine umfassende Erzählung über den Niedergang der Weimarer Demokratie und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Es gibt viele Bücher, die diese Aufgabe eindrucksvoll meistern.16 Der Ansatz von Als die Demokratie starb ist vielmehr analytischer Natur. Das Buch soll zeigen, wie sich die Ereignisse in Deutschland im Jahr 1933 auf die Welt auswirken, der wir uns heute gegenübersehen, und es soll eine Debatte über die aktuellen Herausforderungen für Demokratie und Freiheit im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts anstoßen. Dazu unternimmt es den Versuch, einige Missverständnisse in Bezug auf den Tod der Demokratie im Jahr 1933 zu identifizieren. In einigen Beiträgen werden bisher vernachlässigte Forschungen zum Zusammenbruch der Demokratie in den Vordergrund gerückt, in anderen wird versucht, die blinden Flecken in der Forschung zu 1933 und dem Dritten Reich zu erkennen und anzugehen. Manchmal ziehen wir nämlich die falschen Lehren für die Gegenwart, weil wir die Vergangenheit nicht verstehen. Und schließlich geht es darum, einige Lehren aus Weimar genauer herauszuarbeiten. Dieses Buch enthält daher Kapitel, die Ergebnisse von Grundlagenforschung präsentieren, während andere sich mit Fragen von Applied History befassen.

Das Buch geht von der Beobachtung aus, dass es zwar unzählige Bücher über das Dritte Reich und seine Schrecken gibt, dass diese aber oftmals, ohne es zu merken, Klischees reproduzieren, die auf Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels zurückgehen, oder aber Hitler und die Nationalsozialisten einfach nur als von Hass, Rassismus und Antisemitismus getriebene Wahnsinnige darstellen. Solche Ansätze werden jedoch nie erfassen, warum sich so viele Anhänger des Nationalsozialismus als Idealisten verstanden. Und sie werden nicht erklären können, warum laut Hitler die Vernunft, nicht Emotion, das Handeln des Nationalsozialismus bestimmen sollte.

Ein reduktionistischer Ansatz in der Frage, was Hitler und andere Nationalsozialisten ausmachte, ist gefährlich. Er verleitet uns nämlich, in der heutigen Welt nach falschen Warnzeichen Ausschau zu halten und an den falschen Orten nach Hitler-Wiedergängern und Nationalsozialisten zu suchen. Wir konzentrieren uns übermäßig auf gewalttätige Neonazis, sei es bei Kundgebungen weißer Rassisten wie in Charlottesville/Virginia im Jahr 2017 oder bei den Pegida-Demonstrationen in Dresden Mitte der 2010er Jahre. Wir sollten alle einmal wieder Thomas Manns Essay »Bruder Hitler« aus dem Jahr 1938 lesen, in dem Deutschlands berühmtester Romancier des 20. Jahrhunderts den Diktator als ein Produkt derselben Traditionen darstellt, in denen auch er selbst aufwuchs. Allerdings zog Hitler grundlegend andere Schlussfolgerungen daraus. Die Lektüre dieses Essays würde uns die Augen für die Erkenntnis öffnen, dass es nicht die wütenden Schreihälse, sondern Menschen wie wir sind, die dem Zusammenbruch der Demokratie und den damit einhergehenden Aggressionen gegenüber offen sind. Tatsächlich wird, sobald wir die Ideenwelt der Nationalsozialisten ernst nehmen, in verstörender Weise deutlich, dass viele Menschen diese Politik in der Zeit von den 1920ern bis in die 1940er Jahre aus nahezu denselben Gründen unterstützten, aus denen wir heute den Nationalsozialismus so vehement ablehnen – nicht zuletzt aus der Überzeugung heraus, dass politische Legitimität vom Volk ausgehen soll und dass Gleichheit ein Ideal ist, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Als die Demokratie starb bringt vierzehn Autoren zusammen, um verschiedene Missverständnisse in Bezug auf den Tod der Demokratie im Jahr 1933 auszuräumen, darunter die Vorstellung, dass die Saat der Selbstzerstörung Weimars bereits 1919 gelegt wurde, dass die »instabile Weimarer Verfassung … letztlich zur Selbstauflösung der ersten deutschen Demokratie« führte, dass »regierungsfähige Koalitionen unmöglich [wurden], da es zu viele Splitterparteien gab«,17 dass der Aufstieg Hitlers aus der Stärke der deutschen Konservativen resultierte, dass die Weltwirtschaftskrise die entscheidende Rolle beim Tod der deutschen Demokratie spielte, dass die Deutschen die Nationalsozialisten unterstützten, weil sie sich nach der Rückkehr des Obrigkeitsstaates der Vergangenheit sehnten und Demokratie in jeglicher Form ablehnten, oder dass das Handeln der Nationalsozialisten nur wenig dazu beitrug, Hitler an die Macht zu bringen (was etwa in der Tendenz deutlich wird, in Bezug auf die Ereignisse von 1933 nur von einer »Machtübertragung« zu sprechen und nicht von einem Prozess, der gleichermaßen »Machtübertragung« und »Machtergreifung« war).18

Das Buch widmet sich zehn Fragenkomplexen:

Welche Faktoren sind für den Tod oder das Überleben einer Demokratie verantwortlich? Was können wir aus einem Vergleich Deutschlands mit anderen Ländern, in denen die Demokratie überlebte, darüber lernen? (Kap. 2–3)

Welche Schutzmechanismen fehlten der Weimarer Demokratie? (Kap. 3, 7, 15–16)

Woran glaubten die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer wirklich, und wie motivierten ihre Überzeugungen ihr Handeln über Jahre hinaus? Worin sahen die Nationalsozialisten die Quelle politischer Legitimität? (Kap. 2, 4–6)

Warum zerstörten die Nationalsozialisten mit dem Versprechen, eine bessere Demokratie und einen wahren Sozialismus schaffen zu wollen, die Demokratie wie auch den Sozialismus? Welche Beziehung besteht zwischen der illiberalen Demokratie der Zwischenkriegszeit und der des 21. Jahrhunderts? (Kap. 4–6, 15)

Inwieweit war die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler auf wohlüberlegte, strategische Berechnung von Seiten Hitlers und der Nationalsozialisten zurückzuführen und inwieweit verdankte sich der Erfolg der Nationalsozialisten dem Handeln anderer? Wie unausweichlich war 1933? Welche Dynamiken und Mechanismen prägten die Machtergreifung nach der Machtübertragung? (Kap. 8–11, 15)

Welche Rolle spielten Konservative und traditionelle Eliten bei der Beseitigung der Demokratie und bei der Errichtung des Dritten Reiches? (Kap. 2–3, 7–9)

Welche Art politischer Fragmentierung vergrößert das Risiko eines Zusammenbruchs der Demokratie? (Kap. 2–3, 7, 15)

Welche Rolle spielte die Weltwirtschaftskrise bei der Zerstörung der Demokratie? (Kap. 2–3, 6)

Welche Rolle spielen revolutionäre im Unterschied zu reformistischen, allmählichen Transformationsprozessen beim Erhalt und bei der Schwächung der Demokratie? Was unterminiert eine Kultur der Mäßigung? (Kap. 2–3, 15–16)

Welche Lehren in Hinblick auf Staatskunst, politische Führung und Staatsbürgerschaft können wir heute für uns aus dem Verhalten der Machthaber der Vergangenheit und dem Tod der Demokratie im Jahr 1933 ziehen? Wie unterschiedlich sind die Vergangenheit und die Gegenwart? Wie greifen Demokraten und ihre Gegner auf der Suche nach Inspiration bewusst auf die Vergangenheit zurück? (Kap. 12–16)

In Kapitel 2 betrachtet Niall Ferguson zwei Gesichter des Jahres 1933 und vergleicht, wie die Vereinigten Staaten und Deutschland auf die Weltwirtschaftskrise reagierten. Dem folgt ein Kapitel von Beatrice de Graaf, das beantwortet, warum die repräsentative und parlamentarische Demokratie in den Niederlanden anders als in Deutschland den Stürmen der Krise standhielt. Die anschließenden drei Kapitel von Hedwig Richter, Robert Gellately und mir selbst versuchen zu erklären, warum wir den Triumph des Nationalsozialismus in Deutschland 1933 nicht verstehen können, solange wir nicht begreifen, warum die Nationalsozialisten die parlamentarische liberale Demokratie und den Sozialismus im Namen der Schaffung einer besseren, wahren Demokratie und eines besseren, wahren Sozialismus zerstörten, und solange wir die Ideenwelt nicht ernst nehmen, die ihre Handlungen motivierte und trug. In Kapitel 7 betrachtet Daniel Ziblatt die Rolle der organisatorischen Schwäche der konservativen Parteien und Organisationen bei der Zerstörung der Weimarer Demokratie. Im anschließenden Kapitel beschäftigt sich Hermann Beck mit der Frage, warum organisierter Konservativismus und politischer Katholizismus so schnell implodierten, nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war – obwohl doch die Konservativen bis Ende Januar 1933 das Gefühl gehabt hatten, selbst auf dem Fahrersitz der deutschen Politik zu sitzen. In Kapitel 9 analysiert Ulrich Schlie die Dynamik und Mechanik der Machtergreifung nach der Machtübertragung und legt dar, dass Hitler und die Nationalsozialisten erst in den 18 Monaten nach dem Januar 1933 wirklich die Macht ergriffen. Benjamin Carter Hett widmet sich in Kapitel 10 den gewaltsamen Absichten, Planungen und Berechnungen der Nationalsozialisten. Gavriel Rosenfeld legt dar, wie unausweichlich die nationalsozialistische Machtübernahme in den Augen der Historiker zu verschiedenen Zeitpunkten war. In Kapitel 12 arbeitet Wieland Giebel heraus, dass deutsche Museen und staatliche Behörden Schwierigkeiten haben, das Jahr 1933 zu erklären, und oft daran scheitern. Im anschließenden Kapitel beschäftigt sich Marla Stone mit dem Echo der Vergangenheit in Donald Trumps Politik der Spaltung, während Jonathan Russo das Zusammenwirken alter Muster der Demagogie und der technischen Innovation im 21. Jahrhundert behandelt. Schließlich erklärt Michael Ignatieff Weimars Lehren für heute, während mein eigener Beitrag die verschiedenen Argumentationsstränge dieses Buches zusammenfügt, um politische Handlungsanweisungen im Sinne einer Applied History herauszuarbeiten.

KAPITEL 2

ZWEI GESICHTER VON 1933

von Niall Ferguson

März 1933: Die Stimmung im Lande war fieberhaft und erwartungsvoll. Nach seinem überwältigenden Sieg wandte sich der charismatische neue Führer des Landes an Menschen, die sich verzweifelt nach Veränderung sehnten. Millionen drängten sich um ihre Radios, um ihm zuzuhören. Was sie hörten, war eine vernichtende Anklage gegen das, was bisher geschehen war, und ein mitreißender Ruf nach nationaler Wiederbelebung. In düsteren Tönen begann er mit einem Überblick über die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes:

„Die Wertschöpfung ist auf ein unvorstellbares Niveau geschrumpft; die Steuern sind gestiegen; unsere Zahlungsfähigkeit ist gesunken; die Regierungsarbeit ist auf allen Ebenen mit ernsthaften Einkommenseinbußen konfrontiert; die Devisen sind in den Handelsströmen eingefroren. Verdorrte Blätter des Unternehmertums liegen an allen Straßenrändern; Bauern finden keine Märkte für ihre Produkte; die jahrelangen Ersparnisse von Tausenden Familien sind aufgezehrt. Noch wichtiger ist, dass eine Vielzahl von arbeitslosen Bürgern mit düsteren Existenzproblemen ist; eine ebenso große Anzahl schuftet mit wenig Ertrag.“

Wer war schuld? Er ließ sein Publikum nicht im Zweifel darüber. Es waren „die Herrscher über den Austausch der Güter der Menschheit … durch ihre eigene Sturheit und ihre eigene Inkompetenz“. Aber die „Praktiken der skrupellosen Geldwechsler“ würden nun „vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung angeklagt“. Sie würden „von den Herzen und Köpfen der Menschen abgelehnt“:

„Angesichts des Versagens von Krediten haben sie lediglich vorgeschlagen, mehr Geld zu verleihen. Der Verlockung des Profits beraubt, mit der sie unser Volk dazu bringen können, ihrer falschen Führung zu folgen, haben sie auf Ermahnungen zurückgegriffen und tränenreich auf Wiederherstellung des Vertrauens plädiert. Sie kennen nur die Regeln einer Generation von Selbstsüchtigen. Sie haben keine Vision, und wenn es keine Vision gibt, gehen die Menschen zugrunde. Die Geldwechsler sind von ihren Hochsitzen im Tempel unserer Zivilisation geflohen. Wir können diesen Tempel nun zu den alten Wahrheiten zurückbringen. [Beifall] Das Maß der Erholung liegt in dem Ausmaß, in dem wir sozialen Werten mehr Geltung verschaffen, die edler sind als bloßer monetärer Profit.“

Deutliche Worte, aber es sollte noch mehr kommen. Der neue „Führer“ kontrastierte „die Falschheit des materiellen Reichtums“ mit der „Freude und moralischen Erbauung durch Arbeit“ und prangerte „die Wertmaßstäbe von Stolz auf die eigene Stellung und von persönlichem Profit“ an, ganz zu schweigen von dem „gefühllosen und egoistischen Fehlverhalten“, das sowohl das finanzielle als auch das politische Leben bestimmt hatte. „Diese Nation“, erklärte er unter weiterem Applaus, „fordert Taten, und zwar jetzt.“

Die Taten, die der neue Führer im Sinn hatte, waren kühn, sogar revolutionär. Arbeitsplätze würden durch „direkte Rekrutierung durch die Regierung selbst geschaffen, die die Aufgabe so behandelt, wie wir die Notlage eines Krieges behandeln würden“. Männer würden in „dringend benötigten Projekten“ eingesetzt, „durch die die Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen erhöht und neu organisiert“ würde. Zur gleichen Zeit, um das zu korrigieren, was er „die Überbevölkerung unserer Industriezentren“ nannte, würde es eine „Umverteilung“ der Arbeitskräfte geben, „um eine bessere Nutzung des Bodens für diejenigen zu gewährleisten, die am besten für das Land geeignet sind“. Er würde ein System der „nationalen Planung und Überwachung aller Verkehrsmittel und der Kommunikation und anderer Versorgungseinrichtungen“ einführen, und „eine strenge Überwachung aller Bankgeschäfte und Kredite und Investitionen“, um „der Spekulation mit dem Geld anderer Leute“ ein Ende zu setzen – Maßnahmen, die von seinem Publikum mit begeistertem Jubel begrüßt wurden. Die „internationalen Handelsbeziehungen“ des Landes müssten hinter dem „Aufbau einer gesunden Volkswirtschaft“ zurückstehen. „Wir müssen handeln“, erklärte er und erhob seine Stimme zu einem Höhepunkt,

„als eine gut ausgebildete und loyale Armee, die bereit ist, sich für das Wohl einer allgemeinen Disziplin zu opfern, denn ohne eine solche Disziplin wird kein Fortschritt möglich, wird keine Führung wirksam sein. Ich weiß, wir sind bereit und willens, unser Leben und unser Eigentum einer solchen Disziplin zu unterwerfen, weil sie eine Führung ermöglicht, die auf das Gemeinwohl abzielt. Dies schlage ich vor und verspreche, dass die höheren Ziele uns alle als heilige Aufgabe in einem gemeinsamen Pflichtgefühl verbinden werden, das bisher nur in Zeiten bewaffneter Auseinandersetzungen hervorgerufen wurde. Mit diesem Versprechen übernehme ich ohne zu zögern die Führung dieser großen Armee unseres Volkes, die sich einem disziplinierten Angriff auf unsere gemeinsamen Probleme verschrieben hat.“

Er begnügte sich nicht mit dieser Vision einer militarisierten Nation und schloss mit einer eindringlichen Warnung an die neu gewählte Legislative des Landes: „Eine beispiellose Forderung und Notwendigkeit unverzüglicher Maßnahmen kann eine vorübergehende Abkehr von … dem normalen Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative erfordern.“ Wenn das Parlament die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewältigung des nationalen Notstands nicht rasch verabschiedete, forderte er „das einzig verbliebene Instrument, um der Krise zu begegnen – eine umfassende Exekutivgewalt, um einen Krieg gegen den Notstand zu führen, so groß wie die Macht, die mir gegeben würde, wenn wir von einem ausländischen Feind überfallen würden“. Diese Zeile erhielt den lautesten Applaus von allen.1

Wer war dieser Demagoge, der so grob korrupte Finanziers für die Wirtschaftskrise verantwortlich machte, der so kühn staatliche Eingriffe als Heilmittel gegen die Arbeitslosigkeit vorschlug, der so dreist drohte, per Dekret zu regieren, wenn der Gesetzgeber ihn nicht unterstützte, und der so zynisch die Worte „Volk“ und „Nation“ benutzte und wiederholte, um die patriotischen Gefühle seines Publikums zu schüren? Es war Franklin D. Roosevelt, und die Rede, aus der alle oben genannten Zitate stammen, war seine Antrittsrede, als er am 4. März 1933 die amerikanische Präsidentschaft übernahm.

Weniger als drei Wochen später hielt ein anderer Wahlsieger in einem anderen Land, das von der Weltwirtschaftskrise ebenso hart getroffen worden war, eine bemerkenswert ähnliche Rede, beginnend mit einem Überblick über die katastrophale wirtschaftliche Lage des Landes, gefolgt von dem Versprechen radikaler Reformen, der Aufforderung an den Gesetzgeber, das kleinliche parteipolitische Denken zu überwinden, und endend mit einem aufrüttelnden Aufruf zur nationalen Einheit.2 Die Ähnlichkeiten zwischen Adolf Hitlers Rede vor dem neu gewählten Reichstag am 21. März 1933 und Roosevelts Antrittsrede sind in der Tat viel auffälliger als die Unterschiede. Es ist fast überflüssig zu betonen, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland von 1933 bis 1945 – dem Jahr, in dem Roosevelt und Hitler starben, beide noch als Amtsträger – völlig unterschiedliche politische Richtungen einschlugen. Trotz Roosevelts Drohung, den Kongress zu entmachten, wenn er ihm im Weg stünde, und trotz seiner drei nachfolgenden Wiederwahlen gab es während seiner Präsidentschaft nur zwei geringfügige Änderungen an der US-Verfassung: Die Zeit zwischen Wahl und Regierungswechsel wurde verkürzt (Amendment 20) und das Alkoholverbot aufgehoben (Amendment 21). Die wichtigste politische Konsequenz des New Deal war die deutliche Stärkung der Bundesregierung im Verhältnis zu den einzelnen Bundesstaaten; die Demokratie als solche wurde nicht geschwächt.

Im Gegensatz dazu hatte der Verfall der Weimarer Verfassung bereits zwei oder drei Jahre vor der Reichstagswahl 1933 begonnen, wobei Hitlers Vorgänger zunehmend auf Notverordnungen des Reichspräsidenten angewiesen waren. Bis Ende 1934 war die Verfassung zu einer mehr oder weniger leeren Hülle reduziert worden. Während Roosevelt immer in gewisser Hinsicht von der Legislative, den Gerichten, den Bundesstaaten und der Wählerschaft eingeschränkt wurde, wurden Hitlers Willensäußerungen absolut gesetzt, ohne dass sie in sich konsistent sein oder schriftlich vorliegen mussten. Was Hitler entschied, wurde getan, auch wenn die Entscheidung nur mündlich kommuniziert wurde. Wenn er keine Entscheidung traf, sollten die Verantwortlichen auf das hinarbeiten, was sie für seinen Willen hielten. 3Roosevelt musste sich durch drei weitere Präsidentschaftswahlen kämpfen – und es waren harte Kämpfe. Im Gegensatz dazu wurde die Demokratie in Deutschland zur Farce, mit orchestrierten Volksabstimmungen anstelle echter Wahlen und einem Reichstag, der mit Nazi-Lakaien gefüllt war. Die grundlegenden politischen Freiheiten – Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, und sogar Glaubens- und Gedankenfreiheit – wurden beseitigt, ebenso wie der Rechtsstaat. Ganze Teile der deutschen Gesellschaft, vor allem die Juden, verloren ihre bürgerlichen und politischen Rechte. Auch Eigentumsrechte wurden gezielt verletzt.

Wohlgemerkt, die Vereinigten Staaten waren in den 1930er Jahren kein Utopia, insbesondere für Afroamerikaner. Es waren die Südstaaten, deren gesetzliche Verbote von Sex und Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Rassen den Nationalsozialisten Vorlagen lieferten, als sie versuchten, Beziehungen zwischen „Ariern“ und Juden zu verbieten. Doch wenn wir vom grässlichsten Indikator ausgehen: Die Zahl der Lynchmorde an Schwarzen in den 1930er Jahren (insgesamt 119) betrug „nur“ 42 Prozent der Zahl in den 1920er Jahren und 21 Prozent der Zahl in den 1910er Jahren.4 Was auch immer die Weltwirtschaftskrise sonst anrichtete, sie zerstörte weder die amerikanische Demokratie noch verschlimmerte sie den amerikanischen Rassismus.5

Der Kontrast zwischen den amerikanischen und deutschen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise verdeutlicht die zentrale Schwierigkeit, mit der Historiker konfrontiert sind, wenn sie über die 1930er Jahre schreiben. Diese beiden Industrienationen waren am stärksten von der Wirtschaftskrise betroffen. Beide traten als Demokratien in die Krise ein, und ihre Verfassungen hatten viel gemeinsam – beides Republiken, beides föderale Gebilde, beide mit einem direkt gewählten Präsidenten, beide mit allgemeinem Wahlrecht, beide mit einer Zweikammer-Legislative, beide mit einem Obersten Gerichtshof. Doch die eine Nation navigierte durch die tückischen Gewässer der Zwischenkriegszeit, ohne ihre politischen Institutionen und die Freiheiten ihrer Bürger wesentlich zu verändern; die andere brachte das abscheulichste Regime hervor, das jemals aus einer modernen Demokratie hervorgegangen ist. Der Versuch, die Gründe zu erklären, läuft darauf hinaus, die vielleicht schwierigste Frage in der Geschichte des 20. Jahrhunderts anzugehen.

Die Erholung von der Weltwirtschaftskrise erforderte in allen Ländern eine neue Wirtschaftspolitik. Es gab jedoch eine Vielzahl von verschiedenen Wegen, die wirtschaftliche Erholung herbeizuführen. Auf der einen Seite stand die Politik der Sowjetunion, die auf Staatseigentum an den Produktionsmitteln, zentraler Planung und unerbittlichem Zwang zur Arbeit beruhte. Auf der anderen Seite stand die britische Kombination aus Währungsabwertung, mäßigen Haushaltsdefiziten und einer protektionistischen imperialen Zollunion. Andere Maßnahmen – wie das in den USA eingeführte System der Bankeinlagensicherung – stellten keinen drastischen Bruch mit der liberalen Wirtschaftsordnung dar. Die meisten Länder verfolgten eine Politik irgendwo zwischen den Extremen, die eine verstärkte staatliche Beteiligung an Beschäftigung, Investitionen und Armutsbekämpfung mit einer lockereren Fiskal- und Geldpolitik und Maßnahmen zur Begrenzung des freien Flusses und/oder der Preisgestaltung von Waren, Kapital und Arbeit kombinierte. Der entscheidende Punkt ist, dass die politischen Konsequenzen dieser neuen Wirtschaftspolitik von Land zu Land sehr viel unterschiedlicher ausfielen als die Politik selbst.

Nur in einigen Ländern war die Einführung einer neuen Wirtschaftspolitik die Folge oder gar Bedingung eines politischen Wechsels zur Diktatur. Die englischsprachige Welt erlebte eine Vielzahl von Abweichungen von der wirtschaftlichen Orthodoxie ohne Erosion der Demokratie. Ebenso Skandinavien: In den 1930er Jahren legten die schwedischen Sozialdemokraten den Grundstein für den europäischen Wohlfahrtsstaat nach 1945. Ironischerweise wurde die Abkehr von der Demokratie in anderen Ländern manchmal durch die Notwendigkeit einer strengeren orthodoxen Finanzpolitik gerechtfertigt, mit der Begründung, das parlamentarische System mit seinen in der Legislative repräsentierten Sonderinteressen mache es unmöglich, ausgeglichene Haushalte zu führen. Tatsächlich erzeugten unausgeglichene Haushalte im Allgemeinen einen nützlichen Impuls zur Ankurbelung der Nachfrage.

Darüber hinaus ging das Ende der Demokratie nur in einigen wenigen Ländern auch mit dem Ende von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einher. Obwohl die Schwächung der parlamentarischen Macht oft mit einer zunehmenden Verfolgung ethnischer Minderheiten verbunden war, war es logischerweise möglich, das eine ohne das andere zu haben. Liberale Demokratiekritiker hatten schon seit Madison, de Tocqueville und Mill vor der „Tyrannei der Mehrheit“ gewarnt. In Ostmitteleuropa zeigte sich schon vor der Weltwirtschaftskrise, dass ein demokratisches System ethnische Mehrheiten durchaus dazu bringen kann, Minderheiten zu diskriminieren.6 Gewiss fiel es Regierenden, die nicht durch parlamentarische Kontrolle behindert wurden, leichter, gegen bestehende Gesetze oder Verfassungen zu verstoßen. Aber das Ausmaß, in dem autoritäre Regime in der Zwischenkriegszeit Individuen oder bestimmte soziale Gruppen verfolgten, war sehr unterschiedlich. In einigen Fällen mögen Diktatoren für ethnische Minderheiten tatsächlich günstiger gewesen sein als gewählte Regierungen, die bereit waren, den Vorurteilen der Mehrheit freien Lauf zu lassen. Mehr als allgemein angenommen wird, konnten autoritäre Herrscher gewalttätige intolerante faschistische Bewegungen eindämmen, am offensichtlichsten in Rumänien, aber auch in Polen. Schließlich bedeutete das Ende der parlamentarischen Macht und der Rechtsstaatlichkeit nur in sehr wenigen Ländern – einer Teilmenge der Teilmenge der Diktaturen – auch eine aggressive Außenpolitik. Die Mehrheit der autoritären Regime war tatsächlich relativ friedlich.

1918 hatte Roosevelts Vorgänger Woodrow Wilson erklärt: „Die Demokratie scheint sich allgemein durchzusetzen … Die Ausbreitung demokratischer Institutionen … verspricht, die Politik auf eine einzige Form zu reduzieren … indem wir alle Regierungsformen auf Demokratie reduzieren.“7 Eine Zeit lang schien er Recht zu behalten. Politikwissenschaftler haben versucht, die globale Verbreitung der Demokratie seit dem frühen 19. Jahrhundert zu quantifizieren. Ihre Berechnungen deuten auf einen deutlichen Anstieg sowohl der Zahl der Demokratien als auch der Qualität der Demokratisierung zwischen 1914 und 1922 hin. Der Anteil der Staaten mit einem Demokratie-„Score“ von mehr als 6 (von 10) Punkten stieg von 22 Prozent auf fast 37 Prozent. Das durchschnittliche Demokratieniveau in der Welt stieg von 7,8 auf 8,7. Dies war der „Wilson’sche Moment“, und seine Auswirkungen waren tatsächlich global und veränderten nicht nur die Region der einstigen Habsburger Monarchie, sondern führten auch dazu, dass der Boden unter den europäischen Siegermächten unruhiger wurde.8 Aber es war nur ein Moment. In den zwei Jahrzehnten nach 1922 scheiterten zahlreiche Demokratien. 1941 waren nur noch weniger als 14 Prozent der Staaten Demokratien, das mittlere Niveau der Demokratisierung sank auf 6,4. Die 1922 erreichten Werte wurden etwa 70 Jahre lang nicht mehr erreicht.9

Die Geschichte einer demokratischen Welle, die anschwillt und dann abebbt, ist im Wesentlichen eine kontinentaleuropäische Geschichte. Im englischsprachigen Raum (mit Ausnahme des undemokratischen und nur teilweise anglophonen Südafrika) gab es nie eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie. Während die westeuropäischen Kolonialmächte den Krieg intakt überstanden hatten und tatsächlich leicht an Größe zunahmen, gab es in Asien und Afrika vor oder nach dem Krieg so gut wie keine Demokratie. Japan war das einzige asiatische Land, das die demokratische Welle erlebte. In Lateinamerika gingen einige Länder von mehr oder weniger demokratischen Regimen zur Diktatur über: Argentinien ebenso wie Guatemala, Honduras und Bolivien. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Länder südlich des Rio Grande von Anfang an keine Demokratien, und daran änderte sich auch nichts.

Von 28 europäischen Ländern – wenn man eine sehr breite Definition von Europa zugrunde legt – hatten fast alle vor, während oder nach dem Ersten Weltkrieg irgendeine Form von repräsentativer Regierung zu entwickeln. Doch 1925 waren acht von ihnen Diktaturen, und weitere fünf kamen bis 1933 dazu. Fünf Jahre später blieben nur noch zehn Demokratien übrig. Russland war das erste Land, das nach der Abschaffung der verfassunggebenden Versammlung durch die Bolschewiki im Jahr 1918 die Demokratie aufgab. In Ungarn war das Wahlrecht bereits 1920 eingeschränkt. Kemal Atatürk gründete 1923, gleich nach seiner Vertreibung der Griechen, in der Türkei praktisch einen Einparteienstaat, anstatt seine Politik des Säkularismus von einer islamischen Opposition in Frage stellen zu lassen. Es waren jedoch die Ereignisse in Italien im Vorjahr, die ein allgemeineres Muster vorzugeben schienen.

Benito Mussolini war der erste europäische Führer, der nicht nur auf ein Mehrparteiensystem verzichtete, sondern gleich ein neues faschistisches Regime proklamierte. Seine Formel für den Faschismus lautete: Sozialismus plus Nationalismus plus Krieg. Schon vor seinem ungemein theatralischen Marsch auf Rom am 29. Oktober 1922 – der eher ein Fototermin als ein Putsch war, da den Faschisten die Fähigkeit fehlte, die Macht mit Gewalt zu ergreifen – wurde Mussolini von König Viktor Emanuel III. beauftragt, eine Regierung zu bilden. Der König hatte es abgelehnt, das Kriegsrecht auszurufen. Die alten Liberalen waren zuversichtlich, dass sie so weitermachen konnten wie bisher. Sie unterschätzten Mussolinis Machthunger, der so weit ging, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt sieben Ministerposten sowie das Amt des Premierministers innehatte. Die Presse, das Einzige, für dessen Kontrolle er sich eignete, feierte ihn als allmächtigen „Duce“, aber hinter dem oberflächlichen Glamour stand immer die Androhung von Gewalt. Nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti im Jahr 1924 (die mit ziemlicher Sicherheit von Mussolini angeordnet worden war) wurde jede politische Opposition unterdrückt. Von nun an duldete die Faschistische Partei keine Konkurrenten mehr. Das Parlament und sogar die Gewerkschaften existierten weiterhin, aber als Scheinorganisationen, die der Diktatur Mussolinis untergeordnet waren.

Italien war alles andere als eine Ausnahme, wenn es darum ging, dass eine Diktatur durch königliche Ernennung errichtet worden war. Andere Diktatoren waren selbst Monarchen. Der albanische Präsident Ahmed Bey Zogu erklärte sich 1928 zu König Zog I. In Bulgarien ergriff 1929 König Alexander die Macht. In Jugoslawien putschte König Alexander 1929, stellte 1931 den Parlamentarismus wieder her und wurde 1934 ermordet; danach stellte der Regent Paul die königliche Diktatur wieder her. In Griechenland löste der König das Parlament auf und setzte 1936 General Ioannis Metaxas als Diktator ein. Zwei Jahre später errichtete Rumäniens König Carol ebenfalls eine königliche Diktatur. In Ungarn gab es keinen König, aber die politischen Eliten behielten die Fiktion bei, das Land sei eine Monarchie mit Admiral Miklôs Horthy als Regenten. Anderswo waren es gewählte Präsidenten, die die Parlamente einfach abschafften. Antanas Smetona errichtete 1926 eine Diktatur in Litauen. Konstantin Pats regierte Estland per Dekret für vier Jahre als „Riigihoidja“ (Beschützer) und dann nach 1934 als Präsident. Im selben Jahr löste Premierminister (später Präsident) Karlis Ulmanis das Parlament in Lettland auf.

In anderen Fällen war es die Armee, die die Macht ergriff. General Józef Piłsudski, Polens Cromwell, marschierte 1926 auf Warschau, um de facto Diktator zu werden. In Spanien gab es von 1917 bis 1923 eine konstitutionelle Monarchie, dann eine Militärdiktatur unter Primo de Rivera bis 1930, dann eine Republik, die stetig nach links driftete und in der Bildung der Volksfront-Koalition gipfelte, der sowohl Kommunisten als auch Sozialisten angehörten. Nach einem erbitterten dreijährigen Bürgerkrieg, der 1936 von einer Gruppe von Armeeoffizieren initiiert und vom Movimiento Nacional unterstützt wurde, etablierte sich General Francisco Franco als Diktator, der nicht nur von der deutschen und italienischen Intervention, sondern auch vom lähmenden „Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“ zwischen den verschiedenen Fraktionen der Linken profitierte. Der Übergang in Portugal und Österreich war ähnlich, wenn auch reibungsloser.

Wenn man bedenkt, welche Betonung die neuen Diktaturen auf ihre vermeintlich unverwechselbaren nationalistischen Traditionen legten, sahen sie sich alle bemerkenswert ähnlich: die farbigen Hemden, die glänzenden Stiefel, die martialische Musik, die stolzierenden Führer, die gewalttätigen Banden. Auf den ersten Blick gab es also wenig, was die deutsche Version der Diktatur von allen anderen unterschied – außer vielleicht, dass Hitler noch ein wenig absurder war als seine Kollegen. Noch 1939 konnte Adolf Hitler von Charlie Chaplin in seinem Film Der große Diktator als eine im Wesentlichen komische Figur dargestellt werden, die unverständliche Reden brüllte, absurde Posen einnahm und mit einem großen aufblasbaren Globus herumtollte. Doch in Wirklichkeit gab es tiefgreifende Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Faschismus. Fast alle Diktaturen der Zwischenkriegszeit waren an der Wurzel konservativ, wenn nicht sogar reaktionär. Die sozialen Grundlagen ihrer Macht waren das, was vom vorindustriellen Ancien Régime übriggeblieben war: die Monarchie, die Aristokratie, das Offizierscorps und die Kirche, in unterschiedlichem Maße von Industriellen unterstützt, die Angst vor dem Sozialismus hatten, und von leichtfertigen Intellektuellen, die von den chaotischen Kompromissen der Demokratie gelangweilt waren. Die Hauptfunktion, die die Diktatoren ausübten, bestand darin, die Linke zu zerschlagen: ihre Streiks zu brechen, ihre Parteien zu verbieten, ihren Wählern das Recht zur Stimmabgabe zu verweigern, ihre Führer zu verhaften und, wenn es für notwendig erachtet wurde, zu töten. Eine der wenigen Maßnahmen, die über die einfache gesellschaftliche Restauration hinausging, war die Einführung neuer „korporativer“ Institutionen, die das Wirtschaftsleben regelten und loyale Unterstützer vor den Launen des Marktes schützen sollten. In einigen Fällen, insbesondere in Österreich, Ungarn und Rumänien, hat die Diktatur in der Tat versucht, faschistische Parteien zu unterdrücken oder zumindest einzuschränken.

Nur in Deutschland war der Faschismus sowohl revolutionär als auch totalitär, im Handeln wie im Reden. Nur in Deutschland führte die Diktatur letztlich zu einem industrialisierten Völkermord. Dafür gab es Gründe. Faschistische Bewegungen waren für die meisten Diktatoren schmückendes Beiwerk, doch in Deutschland war das anders. Keine andere faschistische Partei kam dem Wahlerfolg der Nationalsozialisten nahe. Stimmenmäßig war der Faschismus ein überproportional deutsches Phänomen. Addiert man alle Einzelstimmen, die zwischen 1930 und 1935 in Europa für faschistische oder andere extrem nationalistische Parteien abgegeben wurden, so wurden erstaunliche 96 Prozent von deutschsprachigen Wählerinnen und Wählern abgegeben.

Global betrachtet kann der Zusammenbruch der Demokratie nicht einfach der Weltwirtschaftskrise angelastet werden. Wie wir gesehen haben, überlebten viele Demokratien tiefe Wirtschaftskrisen, und viele Diktaturen entstanden schon vor dem Crash oder im Gefolge ganz bescheidener Produktionsrückgänge. Streng auf Europa bezogen lässt sich die Korrelation zwischen dem Ausmaß der wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Landes und der Größe der faschistischen Wahlerfolge jedoch kaum ignorieren. Im Großen und Ganzen waren die Länder mit den tiefsten Wirtschaftskrisen diejenigen, die die meisten faschistischen Wähler hervorbrachten. Am schwersten war die Wirtschaftskrise in Mittel- und Osteuropa. Dort war auch die politische Anziehungskraft des Faschismus am größten. Aber der entscheidende Punkt ist, dass es die Deutschen innerhalb und außerhalb des Reiches waren, die sich am meisten vom Faschismus angezogen fühlten. Oder, um es anders auszudrücken: Die einzige Variante des Faschismus, die wirklich zur Massenbewegung wurde, war der deutsche Nationalsozialismus.

Zwei Faktoren machten die deutsche Erfahrung einzigartig. Der erste war Hitler selbst, der in vielerlei Hinsicht bizarrer war, als Chaplin wusste. Ein abgelehnter Kunststudent, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf kitschiger Ansichtskarten verdient hatte; ein österreichischer Wehrdienstverweigerer, der es bis zum bayerischen Gefreiten brachte; ein mittelmäßig begabter Faulpelz, der gern spät aufstand und sowohl Wagners Opern als auch Karl Mays Cowboyschnulzen genoss – in der Tat ein unwahrscheinlicher Erbe für Friedrich den Großen und Otto von Bismarck. In München in den frühen 1920er Jahren war er zu sehen, wie er an den Soirées einer rumänischen Prinzessin teilnahm, „mit Gangsterhut und einem Trenchcoat über dem Jackett, sichtbar getragener Pistole und wie üblich seiner Hundepeitsche“. Kein Wunder, dass Reichspräsident Hindenburg ihn für einen Bohemien hielt. Andere dachten, er sehe eher aus wie „ein Heiratsschwindler, der vor der Tat erzählt, auf welche Manier er liebeshungrige Köchinnen hineinzulegen gedenke.“10 Ohne den Rat seines Verlegers Max Amann hätte er sein erstes Buch Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lügen, Dummheit und Feigheit betitelt statt des deutlich eingängigeren Mein Kampf. Der längere Titel fängt etwas von Hitlers schriller und hasserfüllter Persönlichkeit ein. Was seine Sexualität betrifft, über die seit Langem auf der Grundlage von Indizien oder schwachen Beweisen spekuliert wird –möglicherweise hatte er keine. Hitler hasste. Er liebte nicht.

Der zweite entscheidende Unterschied zwischen dem Dritten Reich und den anderen faschistischen Regimen der 1930er Jahre war schlicht und einfach Deutschland. Die meisten Länder, in denen die Demokratie während der Zwischenkriegszeit versagte, waren relativ rückständig, was bedeutete, dass mindestens die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung um 1930 in der Landwirtschaft tätig war. In der Tat hätte es eine relativ enge negative Korrelation zwischen diesem Anteil und der wahrscheinlichen Dauer der Demokratie gegeben, wenn es nicht zwei Ausreißer gegeben hätte. Das waren Deutschland und Österreich, beides Gesellschaften, in denen weniger als jeder Dritte auf dem Land arbeitete. Die Herausforderung besteht darin, zu erklären, wie es einem pathologischen Individuum wie Hitler gelingen konnte, die totale Kontrolle über das zu erlangen, was vielen Menschen zumindest vor 1933 als das fortschrittlichste Land Europas, wenn nicht der Welt erschien.

Andere faschistische Bewegungen waren, wie wir gesehen haben, stark auf die (finanzielle) Unterstützung der Eliten angewiesen, um an die Macht zu kommen. Das brauchten die Nationalsozialisten nicht. Bei aller Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wurde, waren die Machenschaften der Clique um Hindenburg nicht der entscheidende Faktor, wie es die italienischen Eliten 1922 gewesen waren. Wenn überhaupt, verzögerten sie Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, obwohl ihm das Amt nach den Wahlen im Juli 1932 rechtmäßig zugestanden hätte. Es war nicht die traditionelle Elite der Grundbesitzer, die von Hitler angezogen wurde; echte Junker-Typen fanden ihn schrecklich ungehobelt. (Als Hitler Hindenburg die Hand schüttelte, erinnerte seine Bewegung einen Konservativen an die Geste „eines trinkgeldempfangenden Oberkellners“.11)

Es war auch weder die Wirtschaftselite, die nicht zu Unrecht befürchtete, dass sich der Nationalsozialismus als trojanisches Pferd für den eigentlichen Sozialismus erweisen würde, noch die militärische Elite, die allen Grund hatte, die Unterordnung unter einen eigensinnigen österreichischen Gefreiten zu fürchten. 12Der Schlüssel zur Stärke und Dynamik des Dritten Reiches war Hitlers Anziehungskraft für die zahlenmäßig viel größere intellektuelle Elite: Männer mit Universitätsabschlüssen, die für das reibungslose Funktionieren eines modernen Staates und einer modernen Zivilgesellschaft so wichtig sind.

Aus Gründen, die bis zu den Ursprüngen des Bismarck’schen Reiches oder vielleicht sogar noch weiter in die preußische Geschichte zurückverfolgt werden können, waren akademisch gebildete Deutsche in ungewöhnlichem Maße bereit, sich einem charismatischen Führer zu unterzuwerfen. Selbst Angehörige der freien Berufe erwiesen sich als außerordentlich anfällig für Hitlers Anziehungskraft. Anwälte und Ärzte waren innerhalb der NSDAP erheblich überrepräsentiert, ebenso wie Universitätsstudenten (damals ein viel kleinerer Teil der Gesellschaft als heute). Für die fetten Anwälte mittleren Alters war er Bismarcks Erbe. Für ihre Söhne war er der Wagner-Held Rienzi, der Demagoge, der Rom eint.

Künstler und Kunsthistoriker verschlossen die Augen vor der fundamentalen Geschmacklosigkeit der Nazi-Ästhetik. Obwohl Hitlers jugendliche Kritzeleien bestätigen, dass die Wiener Akademie der bildenden Künste ihn zu Recht abgelehnt hatte, waren seine extravaganten Ambitionen für die deutsche Kunst geradezu unwiderstehlich für Männer wie Dr. Ernst Buchner, den Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlung, oder den Bildhauer Arno Breker, der in den 1920er Jahren als der deutsche Rodin gefeiert worden war. Im Mai 1933 trat Buchner wie Tausende anderer Opportunisten der NSDAP bei. Es dauerte nicht lange, bis er damit beschäftigt war, „entartete“ (moderne) Kunstwerke durch den vom Führer bevorzugten Kitsch zu ersetzen. Breker ging den gleichen faustischen Pakt ein. In den 1940er Jahren produzierte sein Atelier massenweise Hitlerbüsten.13 Auch Ökonomen und Juristen fühlten sich vom Nationalsozialismus angezogen. Die Historiker waren kaum besser und produzierten tendenziöse historische Rechtfertigungen für deutsche Gebietsansprüche in Osteuropa.14

Später, als alles vorbei war, versuchte der Historiker Friedrich Meinecke, die „deutsche Katastrophe“ zu erklären, indem er argumentierte, die technische Spezialisierung habe dazu geführt, dass einige gebildete Deutsche (sich selbst nahm er davon freilich aus) die humanistischen Werte von Goethe und Schiller aus den Augen verloren hätten. Daher seien sie nicht in der Lage gewesen, Hitlers „Massenmachiavellismus“ zu widerstehen.15 Thomas Mann war eine Ausnahme, da er schon damals erkennen konnte, dass in „Bruder Hitler“ das gesamte deutsche Bildungsbürgertum einen monströsen jüngeren Verwandten besaß, der einige ihrer besonders tief verwurzelten Wünsche verkörperte. Offenbar war eine akademische Ausbildung weit davon entfernt, Menschen gegen den Nationalsozialismus zu impfen, sondern förderte die Verführung eher noch. Der Sündenfall wurde durch Martin Heidegger personifiziert, den größten deutschen Philosophen seiner Generation, der bereit war, auf den Nazi-Zug aufzuspringen, eine Hakenkreuznadel in seinem Revers.