4,99 €
Über das Buch Gerhard Köpf zeichnet in dieser meisterhaften Erzählung ein sensibles, mit feiner Ironie grundiertes Porträt des so genialen wie sonderbaren Grafen Eduard von Keyserling, der einst zu den Leuchtfiguren Schwabings gehörte. Eine Hommage an einen Verkannten der deutschen Literatur und die Welt der Schwabinger Boheme in den 20er und 30er Jahren. »Gar oft, wenn ich mit meiner Frau durch die Franz-Joseph-Straße ging, ist er uns dort begegnet«, schrieb ein Zeitgenosse Keyserlings. »Alt, hinfällig und leichenblaß kam er daher, auf seines jungen Dieners Arm gestützt.« In Gerhard Köpfs Erzählung fungiert dieser Diener als Erzähler. Inzwischen selbst alt und auch ein wenig kauzig geworden, sitzt er am liebsten schweigend in Kaffeehäusern, beobachtet das Treiben der Literaten und Künstler und erinnert sich an seine Zeit beim in die Jahre gekommenen Dichter Keyserling. Er erzählt von seiner Bewunderung für den eigensinnigen alten Herrn, den er mit Hingabe pflegte, als er krank wurde, und von dem er so viel lernen konnte über das Leben. Ein »brillantes literarisches Reflexionsspiel« (Deutschlandradio) und »ein Sprachkunstwerk« (literaturkritik.de). Über den Autor Gerhard Köpf, Jahrgang 1948, war zwanzig Jahre lang Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 127
Über das Buch
Gerhard Köpf zeichnet in dieser meisterhaften Erzählung ein sensibles, mit feiner Ironie grundiertes Porträt des so genialen wie sonderbaren Grafen Eduard von Keyserling, der einst zu den Leuchtfiguren Schwabings gehörte. Eine Hommage an einen Verkannten der deutschen Literatur und die Welt der Schwabinger Boheme in den 20er und 30er Jahren.
»Gar oft, wenn ich mit meiner Frau durch die Franz-Joseph-Straße ging, ist er uns dort begegnet«, schrieb ein Zeitgenosse Keyserlings. »Alt, hinfällig und leichenblaß kam er daher, auf seines jungen Dieners Arm gestützt.« In Gerhard Köpfs Erzählung fungiert dieser Diener als Erzähler. Inzwischen selbst alt und auch ein wenig kauzig geworden, sitzt er am liebsten schweigend in Kaffeehäusern, beobachtet das Treiben der Literaten und Künstler und erinnert sich an seine Zeit beim in die Jahre gekommenen Dichter Keyserling. Er erzählt von seiner Bewunderung für den eigensinnigen alten Herrn, den er mit Hingabe pflegte, als er krank wurde, und von dem er so viel lernen konnte über das Leben. Ein »brillantes literarisches Reflexionsspiel« (Deutschlandradio) und »ein Sprachkunstwerk« (literaturkritik.de).
Über den Autor
Gerhard Köpf, Jahrgang 1948, war zwanzig Jahre lang Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.
Gerhard Köpf
Als Gottes Atem leiser ging
Eine Erzählung
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Impressum
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten.
Printausgabe: © Buch&media GmbH, München 2010
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 5.5.2014
ISBN 978-3-944818-49-8
Aber immer ist das Unzeitgemäße das einzige,
Was die Zeiten noch einigermaßen erträglich macht.
Werner Bergengruen
Schwabylon: Während die Menschen die innere Stadt München bevölkern, halten sich die Preißen und Schlawiner am liebsten in Schwabing auf, im Norden, wo man bei Nacht aus die schwarzen Dächer die Orgien schon von weitem ankennt an die beleuchteten Atelierfenster. Die Schlawiner und Preißen reden untereinand russisch, kaukasisch und schottisch, es ist eine große Sprachenverwirrung, darum heißt der Stadtteil Schwabylon, und was dort vorgeht, davor muss sich die Jugend und der Bürger hüten ...
Roda Roda
Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder umgetauft werden – Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben. Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulturen wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen – Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere, und das werden Sie erst allmählich begreifen lernen.
Franziska Gräfin zu Reventlow
Schwabing: Dieser Stadtteil hat die Weite, die Dehnbarkeit eines Kontinents. Er ist die ästhetische Experimentierstation der Kulturstadt München. Die wundersame Wahlheimat aller Spleene; eine gastliche Freistatt für jegliches Schlawinertum; ein Asyl für alle Außenseiter der Bürgerlichkeit. Ein Babelturm, der in den Himmel wachsen möchte.
René Prévot
Jewiss doch: Schon abenteuerlich, was jenseits des Baltikums über den kurländischen Adel in Umlauf ist. Man sieht ihn hochmütig über endlose Kartoffeläcker reiten, Schnaps trinken oder Mägde schwängern. Bald besteht er aus kauzigen Krautjunkern weitab jeder Bahnstation, bald aus lärmenden Studenten auf den Paukböden von Riga oder Dorpat, dann wieder aus schneidigen Offizieren und gerissenen Diplomaten am Zarenhof. Das ist alles so richtig, wie es zugleich falsch ist. Am Ende stimmt doch, was in alten Büchern steht, die heute gänzlich aus der Mode sind: »Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir mit uns tragen, die Träume, die wir träumen, und die Sehnsüchte, die uns treiben«. Und all diese wiederum sind untrennbar verbunden mit unserem Land südwestlich der Düna, über das viele Stiefel hinweg marschiert sind, schwedische und polnische, deutsche und russische. Einst blühten unsere Häfen Windau und Liebau und schickten Schiffe in unsere Kolonien in Tobago und Guinea. Schon die Alten sagten: Jeroß ist die Kraft des Jedächtnisses, das Orten innewohnt, und mit jutem Jerund schöpft die Erinnerung aus ihr.
So sprach einst der Graf.
Aber das ist lange her.
Viel ist uns hingegangen auf immer, und Paddern ist fern. Südwärts von Hasenpoth liegt es versunken, wo sich an die zweitausend Hektar Hofland dahinziehen, dort, wo hinterm Horizont eine Lebensart verdämmert und unsere Geschichte erlischt.
Der Ihnen das in kurländischem Singsang ans Herz legt, janz kalte Heimat, Madame, ist ein alter Mann: dünn, ausnehmend hässlich – hässlich wie ein Galgenvogel, früh aufgeknüpft, spät abgehängt ‒, mit hervorquellenden Glubschaugen und einem versuppten Schnauzbart, jewiss eine seltsame Figur, und doch ohne jeden Zweifel ein feiner Herr.
Paddern ist fern, wiederholt er, indes seine Augen wie blind seinen Worten hinterher starren.
Paddern?
Was soll das sein? Wem sagt das heute noch etwas?
Die Kreisstadt, bitte sehr, heißt Goldingen. Das Album kurländischer Ansichten verzeichnet anno dazumal 213 Häuser und circa 4000 Einwohner, von denen ungefähr ein Drittel Juden sind.
Wo wäre da die Saite, die dabei ins Schwingen käme?
Die Schatzkammer der Kindheit hat viele Fluchten. Das gilt auch für das Gut Tels-Paddern: ein Schlösschen eher als ein Schloss. Als »Mittleres baltisches Adelsformat« wird es später feilgeboten werden.
Da komme ich her. Da gehöre ich hin.
Ich bin ein aus seiner Zeit verstolperter Edelmann, Hidalgo einer entlegenen Vergangenheit, wie ein Landsmann gesagt hat.
Ich weiß, wie man mich sieht, und ich weiß, dass man mich lange nicht versteht.
Es ist bequemer, mich zu missdeuten, als sich ein wenig anzustrengen und sich um Verständnis zu bemühen. Täglich lässt man mich’s spüren, und täglich dringen die Kränkungen tiefer. Abschätzig nennen sie mich den Grafen von Schwabylon, berühmt auch als Lord von Wahnmoching. Und wenn sie mich spöttisch grüßen, sich höhnisch verneigen und ihrem Zynismus Zucker geben mit ihrem »Habe die Ehre, Herr Graf«, antworte ich flüsternd ohne weitere Erklärung: Paddern ist fern.
Sogar die Schnecken werfen mit ihren Häusern nach mir und nennen sich heuchlerisch Erinnerung. Vielleicht kann ich mich besser verständlich machen, wenn ich mich – ganz Majestät – in die dritte Person setze, als sei ich ein anderer, ein Fremder, mit dem mich nichts verbindet als das gemeinsame Wissen um eine zerbrechliche Fragwürdigkeit. Das wäre billig zu haben, denn vorerst ginge es mir lediglich um das kleine Glück des Zuhörens. So brennend ist meine vergebliche Sehnsucht, wahrgenommen zu werden.
Mit der Zeit werden es wohl immer weniger, die sich noch an mich erinnern: an jenen alten Herrn, der ausgerechnet aufgrund seines zurückhaltenden Wesens eine zeitlang für Gesprächsstoff gesorgt hat. Dabei war er, alles in allem genommen, nichts weiter als ein freundlicher alter Gentleman. Er war so unauffällig, dass er deshalb schon wieder auffiel.
Was war es, das mich herausragen ließ aus der Masse meiner Mitmenschen? Gut möglich, dass es die Fliege war, die zuerst ins Auge stach. Er trug nie Krawatte, immer nur Fliege. Jeden Tag eine andere. Oder es war meine hoch aufgeschossene, etwas schlottrige Figur mit müder Haltung, leicht gelbem, faltigem, von nachlässig gestutztem weißem Schnäuzer markierten Gesicht: Eine Gestalt, die verdächtig unzeitgemäß wirkte, von altmodischer Leichtigkeit und durchaus weltläufig, ein wenig hinfällig schon, nicht ausdrücklich krank, aber auch gar nicht so recht gesund. Nach heutigen Maßstäben schien sie zunächst irgendwie hässlich, doch kam man mit dem Herrn ins Gespräch, erkannte man bereits nach zwei, drei Sätzen so etwas wie Stil und Eleganz, mehr noch, man merkte das Aristokratische. Außergewöhnlich aber war die stets gleichbleibende Liebenswürdigkeit eines von verschwiegenem Leiden gezeichneten Antlitzes, das gänzlich im Gegensatz stand zu den geistvollen Worten, die aus einem schier abstoßend zu nennenden Mund mit schlechten Zähnen sprudelten. Und dies in einer Art, die jede Pointe für den Zuhörer gewinnbringend funkeln ließ.
Alle sprachen nur vom Ministerialrat, als vertrage ein – zu damaliger Zeit – derart imposanter Titel keinen Namen. In Wirklichkeit stand dahinter ein Mensch namens Dr. Gustav »Gustl« Loiblfing, der als Geistesbeamter, wie Franz Blei gesagt hätte, die meiste Zeit seines Lebens hinter einem gut geschützten Schreibtisch im Kultusministerium verbracht hatte: zuständig für die Verwaltung der Abteilung Varia & Curiosa der Bayerischen Staatsbibliothek. Dem Augenschein nach eine beschauliche Existenz im Windschatten wechselnder Minister, von denen sich einer wichtiger nahm als der andere.
Nach seiner vorgezogenen Pensionierung – ein chronisches Rückenleiden infolge einer alten Kriegsverletzung noch aus dem Ersten Weltkrieg – zog sich der feine und stille Herr noch mehr als vorher von den Menschen zurück und streifte einsam umher. Man sah es seiner Gangart an, dass ihn ein Kummer plagte, aber man erkannte zugleich, dass dieser Mann zu jenen Charakteren gehörte, die diesen Kummer anzunehmen und zu tragen verstanden. Der Ministerialrat ging oft spazieren, was für ihn früher an Werktagen undenkbar, ja unsittlich gewesen wäre. Anfangs vollzogen sich diese eigenartigen, selbst noch bei extremster Witterung mit flaneurhaftem Schrittmaß durchgeführten Exkursionen scheinbar ziellos und beliebig, was die Richtung betraf. Zwischen Hof- und Englischem Garten nahmen die Wege jedoch allmählich Gestalt an und ließen schließlich planvolles Handeln erkennen.
Doch eines Tages wechselte der Boulevardier das Revier. Es zog ihn nach Schwabing, wo er die Straßen durchkämmte, über die Leopoldstraße schlenderte und sich schließlich besonders für die Ainmillerstraße interessierte, die ihren Namen einem Glasmaler verdankt, vielleicht, weil viele Berühmtheiten dort gewohnt hatten, vielleicht aber auch, weil er in dieser Straße einst seine erste Studentenbude bezogen hatte. Fragten ihn Fremde nach dem Weg, so dirigierte er sie mit Vorliebe über die Ainmillerstraße, auch wenn dies einen Umweg bedeutete, und er überfiel die ahnungslos Fragenden sogleich heftig mit seinem unnützen Wissen: Wilhelmine von Hillern, die Verfasserin der Geyerwally, habe auf Nummer 4 gewohnt, Gräfin zu Reventlow zeitweilig auf Nummer 5, Isolde Kurz auf Nummer 18, Paul Klee auf 32, Rilke auf 34, Kandinsky und Gabriele Münter auf der 36 und Thomas Mann auf Nummer 31, wenn auch nur vorübergehend, bis er ... Und so fort. Den meisten Menschen ging das auf die Nerven.
Bald wählte der Spaziergänger auch ein Café, in dem er allmählich zu einer Art Stammgast wurde. Meistens betrat er die Casa del Caffè gegen zwei Uhr nachmittags. Er hatte einen bevorzugten Platz, war dieser zufällig besetzt, verzog er sich still dorthin, wo gerade frei war. Allerdings stets im Schatten und mit Blick auf den Boulevard Leopold. Er schaute gerne ins Freie, dorthin, wo, wie er glaubte, das Leben tobte. Diese Redewendung hatte er sich nicht ohne Ironie zueigen gemacht.
Ein vollendeter Gentleman, sagten die aufmerksam jede Kleinigkeit registrierenden älteren weiblichen Stammgäste und ergänzten seufzend: Ein Schattensucher – der Herr Ministerialrat. Unter diesem Titel kannte man ihn, obgleich er selbst das jederzeit mit einer wegwerfenden Handbewegung als bedeutungslos abgetan hätte. Mancher nannte ihn wegen seiner Vornehmheit auch Herr Rat, und solche mit heraldischen Anwandlungen versuchten es mit Herr Baron oder mit dem englischen Lord. Was sich aber zuletzt durchsetzte, war die Bezeichnung Graf. Und so wurde der Pensionär kurzerhand in den Adelsstand erhoben, wobei dies für einen Münchner keiner besonderen Anstrengung bedarf und, verbunden mit einem achtungsvollen »habe die Ehre«, ohne viel Aufwand gewissermaßen im Vorübergehen geschehen kann.
Der gespenstisch magere und hohläugige Ministerialrat Loiblfing war im Viertel bekannt. Längst hatte man an seiner vornehm zurückhaltenden Art Gefallen gefunden. Egal, wen man fragte, ob Zeitungshändler oder Gemüsefrau, stets lautete die Antwort übereinstimmend: »Unser Herr Graf? Ja, ja, in Schwabing weltberühmt. Den kennt hier jeder, der stammt noch aus dem letzten Jahrhundert. Der ist wahrscheinlich von den Toten auferstanden. An dem klappern schon die Knochen. Schauen Sie sich doch bloß dieses zaunlattendürre Krisperl an. Und immer gebeugt, als habe er etwas verloren. Unentwegt auf der Suche nach dem gestrigen Tag. Freilich ist er ein waschechter Schwabinger, denn ein Schwabinger zu sein ist ein seliger Zustand, der keinen Platz hat in engen Gehirnen.«
Übertrieben oder nicht: Jedenfalls kannten ihn viele in der Gegend um die Ainmillerstraße, die er immer wieder auf und ab schlurfte und dabei fremde Namen vor sich hinmurmelte, von denen man bis auf Rilke kaum einen verstehen konnte. Für die einen war er ein Spinner, wobei es auf einen mehr oder weniger in Schwabing nicht ankam, für die anderen war er – seiner Skurrilität zum Trotz – schier schon so etwas wie eine Respektsperson, die man mit Achtung grüßte. Dabei war nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, ob die Achtung dem älteren Herrn galt oder der dunklen Ahnung von jener Welt, die er repräsentierte und in der er zu leben glaubte – was sich magischerweise bei seinen Auftritten sogleich auch auf seine Umgebung übertrug. Er passte zu Schwabing, denn »Schwabing ist« – einem Wort Oda Schaefers zufolge – »ein Begriff. Darum wird er so oft nicht begriffen.« Nirgendwo sonst könnte sich ein derartig akzentuierter Individualist halten.
Richtig ernst genommen aber hat ihn keiner.
Vielleicht lag es auch an seiner Kostümierung. Seine Kleidung war durchaus nobel. Sie orientierte sich auffällig am alten englischen Stil, die Jacketts hatten zwei Rückenschlitze, schräg gestellte Pattentaschen sowie auf der rechten Seite zusätzlich ein Billet-Täschchen, das fleckige, gleichwohl seidene Einstecktüchlein quoll üppig und ein wenig operettenhaft aus der Brusttasche. Der feine Herr bevorzugte Glencheck Muster und leicht exzentrische Karos: man nannte derlei einst Esterhazys. Aber so vornehm seine Kleidung und die Halstücher auch sein mochten, so wenig zeitgemäß waren sie, denn sie gehörten – bei allem Verständnis für extravagante Modetorheiten – ohne jeden Zweifel in ein vergangenes Jahrhundert, wenn nicht gar in den Kostümfundus eines Filmausstatters. Das sah man allein schon am Schnitt bei den zweireihigen Anzügen mit ihren ausladend aufsteigenden Revers. Mit anderen Worten: die Sakkos, Hosen und Hemden waren ebenso nobel, wie sie altmodisch, ausgebeult, hie und da abgewetzt und insbesondere an Manschetten und Ellbogen leicht zerschlissen waren. Darin war sich besonders die sonst in diesen Dingen kritische Damenwelt einig. Nicht so bei der Beantwortung der Frage, ob es auch eine Frau Ministerialrat gebe. Im Sommer bestanden die Anzüge aus altem Leinen, im Winter aus Tweed. Gamaschen trug er vermutlich als einziger im sonst so modeverückten München. Sein Stockschirm mit dem für seinen Charakter beinahe etwas zu kühn geschwungenen Bambusgriff gehörte ebenso zu seiner Grundausstattung wie eine altmodische, ziemlich abgewetzte Aktentasche, deren Inhalt niemand kannte. Sie schien leer zu sein und war so mager wie ihr Träger. Aber ohne Schirm und Tasche sah man den Grafen nie.
Betrat er die Casa del Caffè