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Auf alten Uhren vergeht die Zeit anders, und bisweilen scheint sie sogar stehen zu bleiben. So auch in diesem Album aus mehr als zwanzig Geschichten aus dreißig Jahren. Mal spielen sie im verlorenen Blauen Land der Kindheit, mal in exotischer Ferne, dann wieder in der Scheinwelt von Literatur, Theater und Film. Manchen Figuren, wie der eigensinnigen Tante Mirtel, begegnet der Leser öfter, andere haben nur einen einzigen Auftritt. Es sind heiter-nachdenkliche Geschichten von beharrlichen Lebensglücksuchern und ihren bisweilen zu großen Illusionen sowie von kleinen Leuten in ihrem stillen Kampf zwischen Gelingen und Scheitern. Samt und sonders sind sie alle dem Erzähler eine gute Story wert.
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Seitenzahl: 454
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Was war, kehrt zurück, klopft an unsere Tür,
unverschämt, flehend, einschmeichelnd.
Oft trägt es ein Lächeln auf den Lippen,
aber dem darf man nicht trauen, es ist ein trügerisches Lächeln.
Und in der Zwischenzeit leben oder schreiben wir,
was ein und dasselbe ist,
in dieser Illusion, die uns leitet.
Antonio Tabucchi: Der schwarze Engel
Im Anfang war das Nest, und das Nest war bei Gott, und Gott war das Nest.
Am Nest kann man erkennen, welcher Vogel darin wohnt. Es war Winter, und meine Eltern lagen in ihrem frisch gemachten Nest und verzehrten gemeinsam einen Bratapfel, der Appetit machte auf mehr. So krochen sie unter die Decke und zeugten mich. Das war kurz nach dem Krieg in einer kalten Januarnacht, in der sie gar nicht anders konnten, als sich eng aneinander zu schmiegen und liebevoll zu wärmen. Geboren wurde ich in der Zeit um Maria Geburt herum, wenn die Schwalben wieder fortziehen. Der September, in dem ich ankam, ist ein schöner Abschiedsmonat. Er lehrt uns das verglimmende Sommerglück, unter seiner Sonne beginnen die Blätter allmählich ihre Färberei. Das Licht bekommt dann einen Stich, weil das Jahr seine ersten Schritte auf den Winter zu tut. Und bald ist wieder Bratapfelzeit.
Das Land, aus dem ich stamm', hieß einst dasBlaue Land, weil Flachs dort Leinewebern Brot und Arbeit gab. Illyrer aus dem Balkan siedelten zuvor, und ihnen folgten Vindeliker, Estionen und Likatier, bis Drusus und Tiberius das Recht mit ihren Schwertern schrieben. Der Griechengeograph Strabon schon kennt die Garnisonstadt Cambodunum, eh' Alemannen und Sueben den Limes stürmten und der Stadt dermaßen zusetzten, dass Odoakar seine letzten Römer abzog, um Platz zu schaffen für das Siedlungswerk der Alemannen, die sich, geschickt dem Zeitgeist angepasst, der Christianisierung nicht verschlossen, wovon noch heute Ottobeuren kündet. DieAlbigaue, von der Sankt Galler Mönche schrieben, unterwarfensichalsAlbigoidenStaufernunddenWelfen, umReichsstädte blühen zu lassen wie Leutkirch, Memmingen, Kaufbeuren, Kempten sowieso. Nach Konradin, dem letzten Staufer, den Karl von Anjou im Alter von gerade einmal sechzehn Jahren auf der Piazza del Mercato zu Neapel öffentlich enthaupten ließ, rissen der Bischof von Augsburg, der Fürstabt von Kempten, Reichsstifte, Städte, Grafen und Ritter das Blaue Land an sich. Der Schwäbische BundschlossdieReichsstädtezusammen, zuLindauwurdeReichstag gehalten, doch dann brach von Isny her der Bauernkrieg über Herr und Knecht herein, dessenZwölf Artikelheute als erste Niederschrift der Menschenrechte in Europa gelten. Luthers Lehre spaltete mehr, als sie vereinte, und Kempten, Kaufbeuren und Memmingen wurden protestantisch. Der Augsburger Religionsfriede währte nicht lange, denn schon brachte der Dreißigjährige Krieg Hunger, Elend und schwere Not, zumal der Schwed' das Stift zu Kempten besetzte und nicht wenig wütete, bis er bei Nördlingen geschlagen wurde. Spanische Erbfolgekriege setzten weitere Belagerungen und Verwüstungen in Gang, und gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in dem Goethe geboren wurde und Schiller und Hölderlin und Kleist, erreichte die Vereinödung des Blauen Landes ihren Höhepunkt. Jetzt machte sich der Franzos' breit. Dem unbeugsamen Willen Napoleons gemäß wurde das Land zweigeteilt in eine württembergische und eine bayerische Hälfte, indes der Anschluss an den Schienenstrang zur großen Welt in jenem Jahr geschah, da andernorts bereits die Hamburg-Amerika-Linie gegründet wurde, die Firma Krupp nahtlose Räder aus Gussstahl fertigte und die Blaue Mauritius ausgegeben wurde, die jedoch nicht aus dem Blauen Land stammte, obgleich es der Name vermuten lassen könnte. Spinnereien und Webereien entstanden dortselbst zuhauf, bis sich der Wind drehte und aus dem Blauen Land das Grüne Land wurde mit Neuschwanstein, Vieh- und Milchwirtschaft und ersten Sommerfrischlern. Das hielt sich tapfer mit der Butter- und Käsebörse zu Kempten, bis aus dem Grünen Land das Braune Land wurde und in Durach das Außenlager Weidach des KZs Dachau scheinbar über Nacht aus dem Boden wuchs. Schließlich zog General Patton durch das Ge-Äue und requirierte als Pferdenarr die noch verbliebenen Gäule, weil er plante, gemeinsam mit der intakt gebliebenen SS das andere Schwein namens Stalin zu schlachten, indes französische Soldateska aus dem Maghreb rund um Wangen und Isny grausamer wütete als Dschingis Khan und seine Horden.Der stille Lautenbau zu Füssen sowie die Hutmacherei zu Lindenberg sind heutzutag' fast nur noch museal. Jetzt wird hinter Nesselwang nach Erdgas gebohrt, und aus dem Blauen Land soll so etwas wie Klein Texas werden, als aufReatanoch die Ölquellen sprudelten und James Dean bei denGigantenseine schwarze Dusche nahm.
Das deckt sich ungefähr mit einer Weissagung meines Vorfahren, des Falkenstein-Sepp, der einmal prophezeit hat, das Blaue Land sei ein Billabong. Natürlich wusste keiner, was das sein sollte: ein Billabong, und man glaubte, der Sepp habe wieder einmal einen Zapfen. Doch der weitgereiste Mann und vormals königliche Kutscher klärte uns auf: Billabong sei ein Wort aus der Sprache der Aborigines. Diese bezeichneten damit ein Loch in einem Flusslauf, das sich in derRegenzeitmit Wasser fülle und während der Dürre wieder austrockne. Da so ein Billabong aber meistens nur eine von wenigen Wasserquellen in der näheren und weiteren Umgebung sei und oft länger Wasser führe als der Fluss selbst, werde der Billabong von Mensch und Vieh gleichermaßen genutzt. Und genau so verhalte es sich auch mit dem Blauen Land. Auch dort werde jedes Loch genutzt, wofür Nesselwang das beste Beispiel sei.
Doch wenden wir unseren Blick zurück in jene Tage, da von Kaiser Augustus der Befehl erging, eine Straße zu bauen, welche die Adria mit der Hauptstadt der Provinz Raetien nördlich der Alpen verbindet. Die Via Claudia Augusta wurde eine der der wichtigsten Verkehrsadern zwischen Oberitalien und dem westlichen Voralpenland und führte von Feltre über Trient, den Reschenpass, das Oberinntal und den Fernpass, vorbei am Heiterwanger See, über Reutte, Füssen, weiter am Lech entlang über Altenstadt, Landsberg und Königsbrunn nach Augsburg. Auf dieser Route zogen einst auch die Morituri nach Rom. Instand gehalten wurde sie von meinen Vorfahren, den Benefiziariern, einer aus pensionierten Legionären und begnadigten Gladiatoren gebildeten Straßenwacht, die ebenso für die Pflege der Wege sorgte wie für die Sicherheit der Reisenden. Entlang der Strecke entstanden Gasthäuser und Poststationen fürden Pferdewechsel. In solch einem Haus in der Provinz Raetia, wie das Allgäu auf Latein heißt, wurde ich nicht weit von Cambodunum geboren, und aus dieser Station an der Via Claudia Augusta stammt auch diejenige, von der hier ebenfalls die Rede sein soll. Ich streiche das deshalb ein wenig heraus, weil wir bekanntlich immer den Geist der Mauern annehmen, die uns umgeben.
So wuchs ich auf, und meine ostpreußische Tante Mirtel, die mich nach dem Tod meiner Eltern aufzog, hat mich schon als Kind ermuntert, auf der Römerstraße mit Eimer und Schäufelchen nach alten Tonscherben zu graben. Anhand dieser Trasse lehrte sie mich, dass Geschichte etwas anderes ist als die Summe von Jahreszahlen. Seit jenen Tagen gilt meine Aufmerksamkeit dem, was vom Karren fällt. Aber der Karren selbst war natürlich nicht weniger interessant. Und deshalb hieß das Lieblingslied meiner Kindheit
„Rirarutsch,
wir fahren mit der Kutsch'.
Die Kutsche hat ein Loch.
Wir fahren aber doch.“
Meine Vorfahren waren Kutscher und Postillione, geheiratet haben sie Sattlerstöchter und Mädchen aus Stellmachereien. Ihre Gespräche drehten sich um Felgen, Speichen und Naben, und ihre Flüche galten den Wegen, den Schlaglöchern, dem Morast, mitunter den Fahrgästen, den weiblichen zuerst, meistens aber den Wegelagerern, den Strauchdieben, Landstreichern und sonstigem lichtscheuen Gesindel. Erwischte man einen von denen, so hängte man ihn auf. Bei jedem Wetter saßen meine Ahnen im Freien auf dem Kutschbock, und wenn die Straße zu steil, der zu querende Fluss zu reißend, der Dreck zu hoch lag, liefen sie neben ihren Pferden. Die Kutschen waren bei weitem nicht so nobel, wie sie heute durch die Filme gleiten, sondern sie galten als Rumpeltruhen und Marterkästen, in denen die Fahrgäste dicht bei dicht hockten und jeden Stein in ihrem Hintern und in ihrem Rücken spürten. Ein Rätsel, wie Mozart da noch komponieren konnte. Der Philosoph Lichtenberg meinte: „Sie streichen die Postwagen rot an, als die Farbe des Schmerzes und der Marter.“ Und die tausend Geschichten meiner Altvordern handelten von Achsen-, Rad- und Deichselbrüchen, von umgeworfenen Wagen, von Prellungen, Schürfungen, Stauchungen und Knochenbrüchen, von verdreckter Kleidung ganz zu schweigen. Über so manche „umwerfende Kutschfahrt“ wurde gefeixt oder herzhaft gelacht, auch wenn der Schaden oft so groß war, dass er sogar ein Menschenleben forderte. Nicht immer war ein Wirtshaus in der Nähe, wo Pferde und Röcke gewechselt werden konnten. Die Geschichten der Alten handelten auch von solchen, die nicht mitgenommen wurden, weil sie verdächtig aussahen oder möglicherweise den übrigen Mitreisenden lästig fallen könnten. Anlass zu gesteigerter Heiterkeit gab es immer wieder, wenn die Ein- und Aussteigmethoden diverser Herrschaften nachgeäfft wurden, wenn es über die Deichsel ging und sie sich krumm machen mussten, wo sie doch allesamt aussahen, als hätten sie den Ladestock eines preußischen Infanteriegewehres verschluckt. Und die Geschichten der Alten handelten von dem, was da noch transportiert wurde außer Menschen, also von Waren, die während der Fahrt wie besoffen hin- und her polterten, von stinkenden Heringsfässern, zerschlissenen Postsäcken, handelsüblichen Stoffballen, Vögeln in Käfigen, Hühnern in Körben oder immer noch blutig tropfendem, frisch erlegtem Wild. Nicht nur so mancher Mantelsack hing da aus dem Fenster, sondern auch die Beine des einen oder anderen Passagiers, wenn er nicht wusste, wohin sonst mit ihnen. Jeder, der schon einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, neben einem besonders fettleibigen Mitmenschen sitzen zu müssen, kann sich vorstellen, welche Tortur zur damaligen Zeit eine stundenlange Kutschfahrt über Stock und Stein gewesen sein muss. Dabei ist auch an die unterschiedlichen Körperflüssigkeiten und Ausdünstungen zu denken, die dem menschlichen Wesen sowie dem mitreisenden toten oder lebenden Vieh eigen sind. Zwischen allerhand Gepäck eingezwängt und stets unter Gottes freiem Himmel bei Regen, Schnee oder brütender Hitze erstritt man sich seinen Platzund war froh, sobald die Gäule anzogen. Und diese waren auch nicht immer gleich gut gelaunt, wie man sie sich in Mädchenbüchern vorstellt. Wer von den Kutschern mehr als fünf Meilen in sechs Stunden schaffte, der galt bereits als waghalsiger Zeit- und Rösserschinder, und so mancher Reisende hat es vorgezogen, auszusteigen und ohne seine Bagage der Kutsche voraus zu gehen, um von ihr möglicherweise erst Stunden später eingeholt zu werden. Der Name „Schneckenpost“ kommt nicht von ungefähr. Nur die Verliebten waren davon begeistert, konnten sie doch lange genug dem verlassenen Schatz nachwinken, ohne ihn aus den Augen zu verlieren.
Meine Vorfahren, die Kutscher, debattierten gewiss oft genug über die betrübliche Tatsache, dass man für eine Fahrt aus dem Blauen Land hinauf bis nach Frankfurt eine halbe Ewigkeit benötigte, wobeinichtvergessenwerdendarf, dassdiewenigstenWegeüberhaupt für Kutschen geeignet waren. Überdies gab es die Gefährte selbst auch nicht gerade im Überfluss. In der Regel verkehrten sie höchstens einmal wöchentlich. Es hat fast bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gedauert, bis sich die Reisegeschwindigkeit steigerte und sogenannte „Eilpostwagen“ ohne längeren Aufenthalt Tag und Nacht durchfuhren. Alles hatte natürlich seinen Preis, und das Fahren mit der Kutsche war kein billiges Vergnügen. Bezahlt werden musste nicht nur jede Meile, sondern hinzu kamen Gebühren je nach Kutschenart, Kosten für den Sitzplatz, für das Gepäck sowie für diverse Grenzüberschreitungen, zumal das Vaterland längst nicht geeint war, sondern aus vielen Fürstentümern und Kleinstaaten bestand, von denen ein jeder an einer Kutschfahrt verdienen wollte. Und zu einem Trinkgeld hat noch kein Kutscher nein gesagt.
Die schönsten Geschichten aber werden meine Vorfahren von ihren Rössern und von den Räuschen in den Gasthöfen erzählt haben, getreu dem alten Spruch: „Der Kutscher trinkt, es säuft das Pferd. Bisweilen ist es umgekehrt.“ Natürlich haben meine Ahnherren geflucht auf Teufel komm raus, und sie haben mitunter ihre Fahrgäste geärgert, gar schikaniert und sind den einen oder anderenUmweg gefahren, dreimal mit der Kirche ums Dorf, sei es, weil sie irgendwo unterwegs ein heimliches Gspusi hatten, sei es, weil sie inoffiziell noch eine unter Spezln vereinbarte Besorgung erledigen mussten, die ein extra Trinkgeld eingebracht hat. Erfahrene Passagiere wie der weitgereiste Dramatiker Kotzebue empfahlen daher, sich auf keinen Fall mit den Postillions anzulegen, zumal diese äußerst reizbar und jähzornig seien und bei jeder noch so zarten Ermahnung, gefälligst doch ein wenig schneller zu fahren, sogleich von grober Wut gepackt würden. Irgendwelche Dienstvorschriften mögen zwar existieren, beklagt der Dichter, doch schere sich kein Kutscher darum: „Der Postillion geht in das Wirtshaus, tut sich gütlich, und der Reisende hat das Vergnügen, aus seinem Wagen heraus, durch das Fenster des Wirtshauses, ihn am Tisch sitzen zu sehen, wo er sich oft sogar warme Speisen auftragen lässt, ohne sich darum zu bekümmern, ob den Reisenden hungert oder ob er Langeweile hat. Sagt man ein Wort dagegen, so bekommt man Impertinenzen zu hören.“ Aber derlei feine Herrchen hatten meine Vorfahren gefressen, die kamen ihnen gerade recht, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie den einen oder anderen extra Vornehmen mit ihrem losen Maulwerk und ihren Flüchen nicht nur zum Schweigen gebracht, sondern derart zur Katz' gemacht haben, dass der sich sogar jeden lauten Schnaufer gut überlegt hat.
Einer meiner Vorfahren mit dem Beinamen Falkenstein-Sepp hat es sogar zum Kutscher seiner Majestät König Ludwigs II. gebracht. Er, ein bildhübscher Kerl „mit klarblauen Vergißmeinnichtaugen“, wie es eigens in einer Chronik vermerkt ist, der sein Lebtag unbeweibt blieb und sich eher zu den Rössern und den Jünglingen hingezogen fühlte als zu den Röcken, war bei den nächtlichen Fahrten dabei, die von Neuschwanstein ihren Ausgang nahmen und nach Schloss Fernstein oder zur Burg Falkenstein führten, wo der König seine letzte Gralsburg errichten wollte. Wenn der Befehl zum Anspannen kam, durfte sich außer den Kutschern keiner im Schlosshof blicken lassen. Dann erschien die Majestät entweder im hellen Sommerleinen mit einem künstlerisch drapierten blausamtenenUmhang, oder im Winter eingehüllt in einen mächtigen Fellmantel, nobles Präsent des russischen Zaren, über den Knien eine dicke Decke aus Gänsedaunen, und auf dem kühnen Hut, den ihm Elisabeth, die Kaiserin von Österreich persönlich ausgesucht hat, blitzte eine Diamantenagraffe. Meist mussten die Kutscher und Lakaien Kostümen im Stile des französischen Sonnenkönigs erscheinen, den Seine Majestät fast so sehr verehrte wie den unseligen Kompositeur Richard Wagner. Dann ging es von Anfang an in hohem Tempo hinaus in die Nacht des Blauen Landes, geführt von einem ortskundigen und kavalleristisch erfahrenen Vorreiter mit einer weithin leuchtenden Laterne, die zu linker Hand in einem Schaft am Sattelzeug befestigt war. Am liebsten benutzte Ludwig II. aber den sogenannten „Puttenschlitten“, eine mit Kufen versehene offene Prunkkutsche. Dieses nach Entwürfen eines Theatermalers gebaute Gefährt, das einer bauchigen, vom Mondlicht bemalten Gondel glich, an deren Bug die mit Glühlampen illuminierte Königskrone leuchtete, ganz so, wie es von Rudolf Wenig gemalt wurde, wurde von vier Pferden gezogen, auf den Sattelpferden saßen zwei ausnehmend hübsche Reitknechte, denn der König hatte viel übrig für gut gewachsenes Stallpersonal. Sie und der hochherrschaftliche, selbst schon fast majestätisch hoch zu Ross thronende Vorreiter waren in phantasievolle samtene Kostüme über der dicken, in zwei Schichten getragenen Unterwäsche gekleidet, sie trugen dreispitzige Hüte, unter denen friderizianische Zopfperücken hervorlugten, und sie hatten über die Knie reichende Stiefel an den Beinen, wie sie sonst nur noch den Chevaulegers vorbehalten waren. Das Geschirr der Pferde bestand aus aufwendig gearbeiteten Schabracken, kostbar beschlagenen Sätteln und mit allerlei Zierrat versehenem Zaumzeug, die Staffage geizte nicht mit allerlei bunten Straußenfedern und silberhell klingenden Glöckchen und Schellen. Hatte der König die Schimmel befohlen, so war die vorherrschende Farbe der Ausstattung blau, denn Weiß und Blau sind die Farben Bayerns und seines Himmels. Wurden aber die Rappen angespannt, ein Geschenk seiner Apostolischen Majestät, des Kaisers von Österreich,so entschied man sich mit diplomatischer Rücksicht auf die Landesfarben für die roten-weiß-roten Garnituren. Schnell wie der Wind ging es über Land, durch eingeschneite Täler des Ammerwaldes, bergauf, bergab, und schon von weitem hörten die königstreuen Bewohner des Blauen Landes den majestätischen Hufschlag und das Klingen der königlichen Glöckchen. Dann ließen auch die Kinder in den Stuben die Löffel fallen, schoben die ärmlichen Vorhangfetzen vor den Scheiben zur Seite und warteten, bis im Schein der Fackeln und der Laternen der König in einer mondhellen Nacht an ihnen vorüber glitt wie das Christkind in einer Kutsche, die ganz aus Gold schien. Kaum einer hatte da ein Auge für den Kutscher des Königs, den Falkenstein-Sepp, der die ganze Verantwortung trug, um seinen königlichen Passagier nicht nur heil an sein Ziel, sondern auch gesund wieder auf Schloss Neuschwanstein zu bringen. Bei dem ständig befohlenen gestreckten Galopp war das keine Kleinigkeit.
Nach der Ermordung Ludwigs II. durch heimtückische, von Bismarck gedungene preußische Heckenschützen hat sich mein VorfahraufdenFalkensteinineineEinsiedeleizurückgezogen, dorthin, wo ihn einst seine Mutter, angeblich ein „Weib wie ein Fels“, während der Heuernte geboren hat. Von nun an führte er mit ein paar Hühnern und Geißen sein eigenbrötlerisches Leben, ernährte sich von Erdäpfeln und Ziegenmilch und schrieb seine Lebenserinnerungen nieder, die ich als kostbaren Familienschatz in einer Schreiblade bewahre. Im Winter schlief er im Stall, er konnte jodeln, ein wenig auf der Ziehharmonika spielen, und er soll gerne geschnupft haben. War er einmal krank oder benötigte er Hilfe, was nur selten vorkam, so stellte er eine Laterne ins Fenster, die man bisinsTalsehenkonnte. MeistkurierteersichjedochmitHilfeeinheimischer Kräuter, mit denen er sich bestens auskannte. Als er starb, versagte man ihm seinen letzten Wunsch, im selbstgeschaufelten Grab neben seiner Hütte beerdigt zu werden. Die Bewohner des Blauen Landes packten den Falkenstein-Sepp in ein Fässchenund rollten es den Berg hinunter, um ihn am Weissensee zu begraben.
Bis ans Ende meiner Tage werde ich stolz darauf sein, aus einem Geschlecht von Postillions und königlichen Kutschern zu stammen, die allesamt das schöne Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ gesungen haben, unser Familienlied gewissermaßen, in dem es zum Schluss heißt:
„Sitzt einmal ein Gerippe
dort bei dem Schwager vorn,
schwingt statt der Peitsche die Hippe,
Stundenglas statt das Horn,
sag ich: Ade nun, ihr Lieben,
die ihr nicht mitfahren wollt.
Ich wär' ja so gern noch geblieben,
aber der Wagen, der rollt.“
Der Tod nämlich war der beständigste Fahrgast. Er war immer dabei, und für ihn fand sich immer ein Plätzchen.
Die medizinische Bibliothek meiner Tante Mirtel enthielt manchen Band, der mir in Kindertagen besonders rätselhaft und furchteinflößend erschien. Jahre später bin ich beim Entrümpeln auf eine Schwarte gestoßen, die mir bereits damals einigen Schauder über den Rücken gejagt hat. Es handelte sich um Hufelands gelehrte Abhandlung über den Scheintod. Sobald ich darin zu blättern begann, erinnerte ich mich an meine Begegnung mit Anna Kolik, einer Flüchtlingsfrau, die kurz nach dem Krieg von der Gemeindeverwaltung in einem verlassenen Bauernhaus untergebracht war, dessen einstige Besitzer ohne Nachkommen verstorben waren. Das Anwesen war deshalb an die Gemeinde übergegangen und wurde nur noch vom Straßenwart und Wegemacher Hans Nicolussi bewohnt. Ich war Anna Kolik einen Entschuldigungsbesuch schuldig, weil ich ihr mit der Steinschleuder eine Fensterscheibe zerschossen hatte. Meine Tante hatte mir dringend zugeredet, die Sache umgehend aus der Welt zu schaffen.
Die grün gestrichene Holztür zu Anna Koliks Behausung konnte nichteinmalabgesperrtwerden.LediglicheinealtmodischeSchnalle hielt sie notdürftig am Rahmen, durch die Ritzen fiel schräg das Licht in den gemauerten Gang, der mit einer Türe zur einstigen Waschküche, mit der anderen, einem Lattengitter, dessen Schloss aus einem quergelegten, in die Öffnung geschobenen abgebrochenen Kochlöffel bestand, aber zum Kellerloch führte, welches völlig finster war. Dies war der Hausgang von Anna Kolik, die von einem wacklig an die Wand genagelten Zigarrenkistchen eine Packung Streichhölzer nahm, ein Zündholz anriss und damit einen aus dem Kistchen hervorgezauberten Kerzenstummel entzündete, um den unverhofften Besuch anzuleuchten. Sobald ich in Anna Koliks Verschlag stand, glaubte ich, in einer Gruft zu sein und Verwesendes zu riechen. Ein feuchter Kuchen, auf einem Teller auf dem in der Mitte des Raumes stehenden rohen Waschtisch liegend, moderte vor sich hin. Daneben stand eine sehr große Tasse mit einem auf
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