Kramer oder das Ziel aller Wünsche - Gerhard Köpf - E-Book

Kramer oder das Ziel aller Wünsche E-Book

Gerhard Köpf

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Beschreibung

Der pensionierte Ministerialrat Dr. Theo Kramer stand sein ganzes Berufsleben im Schatten mächtiger Männer und lebt nun abgeschieden von der Welt ein verbittertes Dasein. Eine unerwartete Erbschaft gibt ihm plötzlich die Möglichkeit, endlich selbst jemand von Bedeutung zu sein. Als er entdeckt, dass sein eigener Name ein Palindrom zu "Remark" bildet, fühlt er sich auf magische Weise mit seinem Idol, dem Schriftsteller und Lebemann Erich Maria Remarque, verbunden. Von da an vertieft er sich derart in Remarques Werk und dessen Biografie, dass die Welt des Autors allmählich seine eigene wird. Er kauft Remarques altes Auto, wandelt auf den Spuren dessen Lebens und gibt sich sogar als naher Verwandter des berühmten Schriftstellers aus. Immer tiefer verstrickt in seine Hochstaplerei und in Remarques Sog gezogen, verliebt er sich schließlich in die neue Besitzerin von Remarques Villa im Tessin – überzeugt, in ihr eine einstige Geliebte des Autors wiederzuerkennen ...

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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Motto/Zitat

1

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4

5

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8

9

10

ANHANG

LITERATURVERZEICHNIS

IMPRESSUM

Motto/Zitat

Mehr als sein eigenes Maß

fasst der Krug auch im Meere nicht.

Erhart Kästner

1

In manchen Nächten träumte er von Morosov. Sie warteten auf Ravic, tranken Calvados und spielten eine Partie Schach im Hinterzimmer der Scheherazade, wo sich die Phantome zerplatzter Illusionen im Zigarettenrauch drehten. Kramer war ein miserabler Spieler. Morosov wusste das natürlich. Als Routinier hatte er ihn bald mattgesetzt. In seiner Milde versuchte er, ihn zu trösten: „Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung. Darin liegt unser Elend und unser Charme.“

Wo Ravic nur so lange blieb?

Vermutlich war er wieder in der Klinik von Veber aufgehalten worden, an dessen Stelle er die komplizierten Fälle operierte.

Entmutigt starrte Kramer auf die umgelegten Figuren am Rand des Schachbretts. Wie gefallene Soldaten lagen sie da. Morosov nippte an seinem Glas, schaute mehrfach auf die Uhr, schwieg und dachte an die drei Spanier, mit denen er noch eine Rechnung offen hatte. Als Ravic immer noch nicht gekommen war, tranken sie in aller Ruhe aus und trennten sich.

„Gott schütze deine Augen“, sagte Morosov zum Abschied und umarmte Kramer feierlich wie einen Bruder.

Enttäuscht, wieder einmal verloren zu haben, und fröstelnd in der Nachtluft stülpte Kramer den Mantelkragen hoch und ging die Champs-Élysées ­hinunter, vorbei an Fouquet’s, wo er gute Abende erlebt hatte. Kein Mensch war um diese Zeit unterwegs. Kramer war kalt. Er hörte seine Schritte auf dem Trottoir und spürte die Müdigkeit in seinen Beinen. Eine große Ruhe breitete sich in ihm aus. Die Avenue kam ihm länger vor als sonst, auch die Häuser schienen höher zu sein. Aber die Nacht übertreibt. Die Dunkelheit jongliert mit den Gefühlen und treibt ihr perfides Spiel. Kramer war nach einem Absacker zumute, irgendwo in einer Bar, die noch geöffnet hatte für ein Glas Absinth. Er bog ab Richtung Seine. Der Himmel färbte sich grau. Es begann zu schneien. Die Konturen verschwammen im Vagen. Die Stadt wurde ganz still, denn Stille ist das Geheimnis von Schnee. Der Zauber der Einsamkeit senkte sich auf Paris, das damals das Zentrum seiner Traumwelt war.

Schon als Kind hatte sich Kramer bei Schneefall immer am wohlsten gefühlt. Damals hatte er die Vorstellung, er bewohne eine riesige Schneekugel, die sich über die ganze Welt gestülpt hatte. Wann immer ihm danach war, konnte er es schneien lassen. Er musste nur ein wenig an dieser Welt rütteln.

Keine andere Jahreszeit erinnerte Kramer so sehr an die Kindheit wie der Winter. Vor dem Fenster segelten dichte Flocken nieder, sein Zimmer war wohltemperiert, das Licht weich gedimmt. Diese heimelige Atmosphäre beruhigte ihn. Sein fragiler Gemütszustand hing von solchen Stimmungen ab. Auf dem Schreibtisch brannte eine Kerze. Der Abend brach herein, der schneeverhangene Himmel verdunkelte sich. Das weite Feld draußen war nichts als eine dicke weiße Decke, an deren Ränder ein paar Bäume standen, wie um sie festzuhalten. Dahinter lag ein See, der aber nur zu ahnen war.

Die laute Welt kam zur Ruhe. Warm leuchtete die Leselampe. Sein leicht durchgesessener Ohrensessel war bequem, über der Lehne hing eine Wolldecke. An der Wand prangte großformatig ein japanischer Holzschnitt. Er zeigte einen schwarzen Wasservogel mit einem prominent ausgeprägten Schnabel. Die Bildunterschrift lautete: Der Rabe, der den Kormoran nachahmt, muss viel Wasser schlucken.

Im Fallen der Schneeflocken schleichen sich die ­Erinnerungen an und setzen eine magische Kraft frei, die geeignet ist, die Gedanken rückwärts laufen zu lassen und sie behutsam dorthin zu lenken, wo alles begann.

Aber wo liegt der Anfang?

Vielleicht im Lesen.

Oder gab es jenen berühmten Zufall, der die Geschichte ins Rollen gebracht und den Zug des Lebens auf ein neues Gleis gehoben hat?

Bis zu diesem Tag der Weichenstellung führte Kramer ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben. Doch in jedem noch so bedeutungslosen Dasein schlummern Wünsche und Begierden, Träume und Illusionen, die allerdings nur selten ans Licht kommen, es sei denn, jemand begeht eine Tat, die das Interesse der Medien weckt.

Dies war jedoch bei Kramer nicht der Fall.

Dr. Theo Kramer, einziger Sohn des Eisenbahner­ehepaares Ernst und Erna Kramer, war Ministerial­rat im Ruhestand, ledig, ohne Konfession und lebte am Stadtrand von München. Trotz des frühen Todes der Mutter, sie starb an einem Aneurysma, konnte er auf eine glückliche Kindheit zurückblicken. Er wuchs bei seinem Vater auf, der sich nicht mehr verheiratete. Gerne sprach er von einer Männerwirtschaft. Nach dem Abitur am Wittelsbacher Gymnasium studierte Kramer Altphilologie und Geschichte an der Ludwig-­Maximilians-Universität und promovierte magna cum laude mit einer Arbeit über Ovid im Exil.

Danach trat er in den Archivdienst. Da es in dieser Position wenig zu reden gab, kultivierte er schon damals seine inneren Monologe. Er registrierte, ­katalogisierte, bewegte sich zwischen hohen Regalen verstaubter Akten und Ablagen, absolvierte seine vorgeschriebene Arbeitszeit und freute sich auf den Feierabend, an dem er ein anderer sein durfte. Jeder wäre gerne von Zeit zu Zeit ein anderer, glaubte er unerschütterlich. Etwas in ihm wollte aus dieser Haut, die ihn umgab, fliehen. Er fühlte sich wie ein Gefangener seiner selbst, und erst, wenn er ein anderer sein durfte, atmete er etwas, das er für Freiheit hielt.

Schließlich wurde er ans Ministerium für Wissenschaft und Kunst berufen, wo ihm die Verwaltung der Abteilung Nachlässe und Sammlungen des Bayerischen Hauptstaatsarchives oblag. Diese Tätigkeit übte er bis zur Erreichung der Pensionsgrenze aus.

Man konnte Kramer mit Fug und Recht als Einzelgänger bezeichnen. Er schätzte sein unauffälliges Leben und pflegte kaum Kontakt zur Außenwelt. Seine größte Passion war von Jugend an das Lesen. Zu seinen Lieblingswerken zählte er Marc Aurels Selbstbetrachtungen, Erich Maria Remarques Arc de Triomphe sowie Stendhals Die Kartause von Parma. Diese Bücher hatte er schon oft gelesen. Fasziniert folgte er immer wieder gerne dem Lebenslauf des jungen Fabrizio del Dongo bis zur Schlacht von Waterloo, verehrte mit ihm seine Tante, die wunderschöne Duchezza Gina Sanseverina, die ihn an den Hof von Parma brachte und ihm zusammen mit dem Grafen Mosca, ihrem späteren Ehemann, eine kirchliche Karriere eröffnete. Kramer begleitete Fabrizio in die Zitadelle von Parma, verliebte sich mit ihm in die sanfte Clelia, die Tochter des Gefängnisgouverneurs, die jedoch einem anderen versprochen war. Nach der Flucht aus der Zitadelle und seiner Rehabilitation stieg Kramer mit Fabrizio zum Erzbischof auf, traf sich erneut heimlich mit Clelia, woraus ein Kind entstand, das jedoch bald darauf starb, und mit ihm Clelia – als Strafe Gottes für ihren Ehebruch. Daraufhin zog sich Kramer mit Fabrizio in die Kartause von Parma zurück, bis zu seinem Tod täglich besucht von der unvergleichlichen Gräfin Mosca, vormals Duchezza Sanseverina, die sich Kramer wie Catherine Deneuve vorstellte.

Dieses Buch hielt Kramer lange für den perfekten Roman. Er fand sich vor allem in Fabrizios Unglück mit Frauen und seinem Rückzug in die Kartause von Parma selbst dargestellt.

2

Hartnäckig fragte sich Kramer, wo sein Leben eine so gänzlich andere als die bisherige Richtung genommen hat, wo er möglicherweise falsch abgebogen und in die jetzige Situation geraten war:

Ab welchem Zeitpunkt hatte sich in Gang gesetzt, was ihm widerfahren war und sein bis dahin geführtes ruhiges Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte?

Begann die Geschichte am Briefkasten, oder hat sie einen längeren Vorlauf?

Nahm sie ihren Anfang bei seinem notorischen Unglück mit Frauen? Kein Wunder, er war weder erfolgreich noch berühmt, sondern Konfektionsware, wie sie massenhaft zu haben war. Warum sollten sich die Frauen also ausgerechnet für einen wie Kramer interessieren?

Dabei sah er ganz passabel aus, kleidete sich geschmackvoll und war zwar nicht reich, aber vermögend. Je älter er wurde, desto mehr fühlte sich Kramer verpflichtet, einen gewissen Stil zu pflegen, um von seiner Umgebung abzustechen. Es konnte durchaus vorkommen, dass er im feinen Nadelstreif zum Bäcker ging, um Brötchen zu holen.

Er hatte als Geistesbeamter die meiste Zeit seines Lebens hinter einem gut geschützten Schreibtisch im Ministerium zugebracht. Dem Augenschein nach führte er eine beschauliche, wenn auch mausgraue Existenz im Windschatten wechselnder Minister, von denen sich einer wichtiger nahm als der andere. Der Ministerialrat folgte als guter Beamter dem Vorbild seiner Vorgesetzten und beschäftigte sich ausschließlich mit seinen eigenen Befindlichkeiten. Etwas Wichtigeres außer ihm selbst gab es für ihn nicht.

Nach seiner Pensionierung und der erschütternden Erkenntnis, dass sich doch nicht alles nur um ihn drehte sowie etlichen, zumeist lächerlich oder beschämend gescheiterten Anläufen, eine Lebensgefährtin zu finden, wurde er still, zog sich mehr und mehr zurück und streifte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick meist zu Boden gerichtet, einsam umher. Er war zu einem seltsamen Vogel geworden, dem das Leben die Flügel gestutzt hatte. Man sah es seiner Gangart an, dass ihn ein Kummer plagte, aber man erkannte zugleich, dass er zu jenen Charakteren zählte, die diesen Kummer zu tragen verstanden wie einen ihm angemessenen Anzug. Manchmal drehte er sich noch verstohlen nach einer schönen Frau um und begleitete ihre Schritte mit begehrlichen Blicken.

Er ging oft spazieren, was für ihn früher an Werktagen undenkbar gewesen wäre. Er ging immer langsamer, denn er war der festen Überzeugung, seine Würde vertrage keine Eile. Anfangs vollzogen sich diese eigenartigen, selbst noch bei extremer Witterung mit flaneurhaftem Schrittmaß durchgeführten Exkursionen scheinbar ziellos und beliebig durch den Park, doch eines Tages wechselte er das Revier. Es zog sich in die vornehme Anonymität des Grand Hotels Vier Jahreszeiten, wo er täglich im noblen Zwirn seinen Darjeeling schlürfte und sich in der Kartause von Parma verbarrikadierte.

Als Ministerialbeamter im Ruhestand war er mit einer stattlichen Pension ausgestattet, wohnte in einem kleinen, längst abbezahlten Eigenheim am Rande der Stadt, fuhr, wenn auch nur noch selten, einen zuverlässigen Volvo und lebte bescheiden, ohne dabei groß auf etwas verzichten zu müssen. Das meiste Geld gab er für Bücher aus. Nichts fehlte. Nur zum Glück zu zweit hat es nie gereicht. Dabei hätte er so gerne inbrünstig geliebt und wäre so gerne leidenschaftlich geliebt worden. Sämtliche Versuche, eine Frau an ihn zu binden und mit ihr gemeinsam den Lebensabend zu verbringen, hatten sich zerschlagen, was er als große Kränkung empfand.

Die meisten der handverlesenen Anwärterinnen hatten ihn schon nach kurzer Zeit verlassen, ja sie waren regelrecht geflohen, wie er sich eingestehen musste. Die Gründe dafür hatte er nie so recht verstanden. Wohlmeinende Kollegen machten ihn darauf aufmerksam, dass seine aufdringliche Prahlerei mit Buchtiteln und Kulturereignissen, Theater, Konzert, Oper, Ballett ebenso abschreckend auf Frauen wirke wie seine peinliche Angeberei mit all den wichtigen Menschen, denen er irgendwo am Rande begegnet war oder mit denen er aufgrund seines Amtes im Kulturbetrieb Umgang hatte. Für Kramer war es damals selbstverständlich, dass er zu ihresgleichen gehörte, weshalb er sie meist nur vertraulich mit dem Vornamen nannte: Die Geigenvirtuosin Mutter war die Anne-Sophie, Kent Nagano nur der Kent, von Anna, Claudia und Karl ganz zu schweigen. Jedes Mal hatte er so getan, als sei er mit den Promis dick befreundet und wisse persönliche, ja intime Dinge, die außer ihm keiner kannte. In Wirklichkeit buk er kleine, trockene Brötchen, kreiste ständig um sein Ego, gab sich empfindlich wie eine Diva, suhlte sich in seiner Larmoyanz und ging seiner Umgebung damit gehörig auf die Nerven. Fürs Fremdschämen fehlte ihm offenbar jedwedes Gespür.

Deshalb verstand er nicht, warum die Frauen sofort das Weite suchten, hatte er doch stets sein Bestes gegeben. Aber keine der Auserwählten war auch nur ansatzweise bereit gewesen, ihm in jene Höhen zu folgen, die er auf Biegen und Brechen glaubte anstreben zu müssen. Allen Frauen war die Luft in seinen Luftschlössern zu dünn. Da halfen auch Eigenheim, Staatspension und die im Grunde genommen rein dienstliche Bekanntschaft mit dem Ministerpräsidenten nichts.

Schließlich machte sein permanenter Misserfolg bei den Frauen Kramer über die Jahre kleiner, sein überdimensioniertes Ego wurde zurückgestutzt wie eine ins Kraut geschossene Hecke. Der Ministerialrat kämpfte mit dem Älterwerden und verfiel zunehmend in Resignation. Zuletzt führte er nur noch Selbstgespräche mit jenen Zelebritäten, mit denen er sich auf Du und Du wähnte.

Dabei wollte er doch nur wenigstens einmal im Leben bedingungslos bewundert und geliebt werden. Wo war die Frau, die ihm dabei zur Seite stand? Wo verbarg sich die ideale Partnerin, wo die Erfüllung seiner heimlichen, gelegentlich durchaus auch erotischen Träume, wer stand am Ziel seiner Sehnsüchte?

Für unverbindliche Ferienflirts war er sich zu fein, von Kontaktanzeigen und Datingportalen im Internet hielt er nichts. Was er fürchtete, war, sich lächerlich zu machen. Er wäre sich albern vorgekommen bei dem Modell Rüstiger Akademiker, ledig, Nichtraucher, sucht … Eine Frau, die ihm ins Auge stach, in der Öffentlichkeit oder in einem Lokal einfach anzusprechen, war er zu gut erzogen. Er hielt schließlich auf Manieren, weswegen er allein schon ein Wort wie aufreißen verabscheute.

Was sollte er also tun? Den Ball der einsamen Herzen besuchen, in einschlägigen Cafés wie ein in die Jahre gekommener Gigolo im Ansitz auf Altwild lauern, eine Kreuzfahrt unternehmen oder sich zu einem Tanzkurs in der Volkshochschule anmelden?

Der Ministerialrat i. R. wusste nicht, wohin mit seiner aufgestauten Liebesbedürftigkeit einerseits und seinem riesigen Liebesreservoir anderseits, das er wie einen Mahlstrom in sich wühlen fühlte. Er hatte Angst vor den fünf Is, von denen er in der Apothekenzeitung gelesen hatte: Isolation, Insomnie, Impotenz, Immobilität, Inkontinenz, und er erschrak, als er vom Ansteigen der Suizidrate bei Männern über 65 las. Der Angeber war schüchtern und kontaktscheu geworden. Er ging auch nicht zum Stammtisch der ehemaligen Kollegen, obgleich er immer wieder eingeladen wurde. Er hatte genug von diesen Spießern, deren fragwürdige Charaktereigenschaften er im Laufe seiner Dienstjahre lange genug ausgehalten hatte, das Kulturgeschwätz, das Herumzeigen von Fotos der Enkel, das Prahlen mit Urlaubsreisen ging ihm entsetzlich auf die Nerven.

Er war jetzt Privatier und lebte diese Existenzform mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit der er Tag für Tag ins Ministerium gegangen war. Er überlegte, ob er sich nicht das Wort Privatier als Berufsbezeichnung auf seine Visitenkarten drucken lassen sollte. Doch dann entschied er sich dagegen, denn Ministerialrat klang in seinen Ohren und mit Blick auf potenzielle Damenbekanntschaften besser. Das Dasein als Privatier exerzierte er vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Noch im Pyjama wusste er vor dem Spiegel, dass er Privatier war. Er hatte es doch gut, tröstete er sich. Mochten die anderen ihre Kriege führen, er konnte tun und lassen, was er wollte. Er privatisierte und wunderte sich, dass diese Existenzform bei der arbeitenden Bevölkerung nicht besonders hoch angesehen war. Das kränkte ihn. Umso trotziger wollte er den Neidern vorführen, was sich hinter dieser privilegierten Daseinsform verbarg und welche Möglichkeiten sie einem eröffnete.

Dass man ihn schon jetzt für einen Kauz hielt, konnte er sich zwar vorstellen, es war ihm jedoch gleichgültig. Er versteckte sich hinter seinen Büchern, denn das Lesen war immer schon seine rettende Insel gewesen. Sonst hätte er als junger Mensch auch nicht das Studium der Geisteswissenschaften gewählt. Schließlich erging es ihm wie dem Anton Reiser: Das Lesen war ihm so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen.

3

Manchmal genügt eine einzige Schneeflocke, um eine Lawine auszulösen. Genauso war es, als in seinem gleichförmig tristen Dasein plötzlich wie von Geisterhand eine Weiche umgelegt wurde, als habe er die ganze Zeit nur auf diesen Augenblick gewartet. Es geschah an einem verregneten Dienstagvormittag Anfang Februar.

Wie gewöhnlich sah Kramer nach seiner Post. Soeben kam der Postbote auf ihn zu und winkte mit einem Umschlag. Kramer erkannte an dessen Farbe, dass es sich um ein amtliches Schreiben handeln musste. Ein Einschreiben. Für den Empfang war seine Unterschrift notwendig. Kramer wunderte sich. Wer wollte da etwas von ihm? Und gleich gegen Einschreiben. In der Regel enthalten solche Briefe nichts Gutes. Während der Postbote bereits zum nächsten Briefkasten weiterging und in seiner Tasche kramte,