4,99 €
Für die einen sind Theater und Film eine Zauberwelt der Träume und Sehnsüchte, für die anderen aber eine Schlangengrube. In zehn teils ernsten, teils heiteren Erzählungen führt uns Gerhard Köpf in die Welt des schönen Scheins, des Films und der Zirkusmanege und zeigt, was in Wirklichkeit hinter dem Vorhang geschieht oder was sich ereignet, wenn dieser gefallen ist. Dabei wird uns klar, dass Schminke, Maske und Verkleidung, große Gefühle, aber auch Niederlagen und begrabene Hoffnungen nicht nur auf der Bühne zählen, sondern auch im alltäglichen Leben ihren festen Platz haben, eingedenk des Wortes von Arthur Schnitzler: »Wir spielen immer – wer es weiß, ist klug.« Gerhard Köpf, Jahrgang 1948, war 20 Jahre Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatr. Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 170
Über das Buch Für die einen sind Theater und Film eine Zauberwelt der Träume und Sehnsüchte, für die anderen aber eine Schlangengrube. In zehn teils ernsten, teils heiteren Erzählungen führt uns Gerhard Köpf in die Welt des schönen Scheins, des Films und der Zirkusmanege und zeigt uns, was in Wirklichkeit hinter dem Vorhang geschieht oder was sich ereignet, wenn dieser gefallen ist. Dabei wird uns klar, dass Schminke, Maske und Verkleidung, große Gefühle, aber auch Niederlagen und begrabene Hoffnungen nicht nur auf der Bühne zählen, sondern auch im alltäglichen Leben ihren festen Platz haben, eingedenk des Wortes von Arthur Schnitzler: »Wir spielen immer – wer es weiß, ist klug.«
Über den Autor Jahrgang 1948, war 20 Jahre Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatr. Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.
Impressum Deutsche Originalausgabe © CulturBooks Verlag 2014 Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg Tel. +4940 3108081, [email protected] Alle Rechte vorbehalten
Man mag es nicht so recht glauben, und es widerstrebt einem, aber selbst auf Friedhöfen wird schamlos gelogen. Da gibt es Gräber, auf denen größer noch als der Name des Verstorbenen das Versprechen in Stein gehauen ist: Die Liebe höret nimmer auf. Oder: Das Leben geht, die Liebe bleibt. Derlei sollte einen zur Vorsicht mahnen, denn häufig sind dies Gräber, die ungepflegt wirken und deren Äußeres krass dem widerspricht, was da in großen Lettern beschworen wird. Auch weiß man von Grabreden, die nicht Nachrufe waren, sondern Nachreden der übelsten Sorte, geschickt verborgen hinter allerlei gleisnerischer Rhetorik. Und viele der an diesem Ort vergossenen Tränen waren Krokodilstränen.
Auf meinen Spaziergängen über den Friedhof fiel mir ein Grab auf, das auf besondere Weise vernachlässigt war und mit seinem längst verrotteten Gesteck ein Bild des Erbarmens bot. Der halbhohe Grabstein immerhin aus Marmor war an den Ecken abgebröckelt und wirkte trotz seiner Glätte, die ihm offenbar auch Wind und Wetter nicht nehmen konnten, armselig. Das Grab hatte keine Einfassung, es lag wie ein schmales, ausgebleichtes Handtuch in der zweiten Reihe und drückte sich auf seiner linken Seite sowie mit dem Rücken wie Schutz suchend an eine Hecke. Das alles war umso bemerkenswerter, als die gut lesbare Inschrift auf dem Stein einen Namen verriet, den man mit allem anderen, nur nicht mit einem verkommenen Grab in Verbindung bringen mochte:
Rose Marie Gräfin zu Roche
* 1873 – † 1955
Meine Friedhofswanderungen habe ich, den Schatten alter Bäume sowie Stille und Nachdenklichkeit suchend, im Hochsommer aufgenommen. Rasch fand ich, wonach ich mich sehnte, und gewöhnte mir bald eine feste tägliche Route an, die mich von Anfang an wie zwangsläufig an jenem vernachlässigten gräflichen Grab vorbeiführte. Zunächst schenkte ich ihm keine weitere Beachtung, denn solcherart vergessene Tote gibt es viele, doch irgendwann einmal muss ich wohl vor dem Stein stehen geblieben sein und seine Inschrift gelesen haben. Bald war der kaum noch erkennbare kleine Erdhügel vom herbstlichen Laub bedeckt, und es dauerte nicht lange, bis der erste Schnee den gesamten Friedhof in eine schier feierliche Stille versetzte. Auch das Vergessen schien unter der Schneedecke zu verschwinden. Und da sich der Winter ausnehmend lange hinzog und es auch nicht bedeutend wärmer wurde, sodass der Schnee hätte schmelzen können, unterschieden sich die gepflegten und die vernachlässigten Gräber in nichts, denn beide deckte dieselbe weiße Pracht. Lediglich die Spuren einiger Vögel, Krähen zumeist, und die Tapser von Eichhörnchen, die irgendwo ihre Nüsse vergraben hatten, ergaben bisweilen ein eigenartig verspieltes Muster, das mich auf meinen Spaziergängen, die ich auch bei schlechtestem Wetter nicht unterließ, ein wenig nachdenklich stimmte, glichen diese eigenartigen Zeichen im frischen Schnee doch einer geheimnisvollen Schrift, deren Bedeutung ebenso rätselhaft war wie ihr Verlauf. Wo war der Anfang dieser Botschaften, wo ihr Ende? Und vor allem: Wem galten sie? Man hätte meinen können, die Toten schrieben sich gegenseitig Briefe auf dem Schnee oder richteten Nachrichten an die Lebenden, die von diesen jedoch nicht entziffert werden konnten.
Ich weiß nicht, ob jener alte Mann, den ich eines Tages ebenfalls über den Friedhof streichen sah und mit den Krähen sprechen hörte, als sei er auf der Suche nach einem bestimmten Grab, ähnliche Gedanken hatte. Er schien mir schon von Weitem, als ich ihn erblickte, in Grübeleien verstrickt, er ging gebückt, sodass sich sein Blick auf den schmalen Weg beschränkte, und die Sprache seines alten, von einem dicken Wintermantel beschwerten Körpers drückte nicht nur Niedergeschlagenheit aus, sondern auch tiefe Nachdenklichkeit. Näher kam ich ihm nicht, denn er bog in die eine Richtung ab, während es mich in die entgegengesetzte zog.
Es mochte eine Woche oder mehr vergangen sein, als ich den alten Mann wiedersah. Diesmal streute er Vogelfutter aus einer Tüte und war sogleich von Krähen umschwärmt, die sich mit lautem Krächzen darauf stürzten. Und als ich nach wenigen Tagen Zeuge des gleichen Schauspiels wurde, beschloss ich, mich dem alten Mann zu nähern, um ihn mir ein wenig genauer anzusehen. Doch als hätte er es geahnt, hielt er augenblicklich mit dem Vogelfüttern inne, steckte die Tüte in die Tasche und ging, so zügig es sein Alter zuließ, seines Weges, sodass es mir nicht mehr möglich war, ihm wie zufällig nahe zu kommen. Zu offensichtlich wäre meine Absicht geworden, und es wäre mir peinlich gewesen, den Eindruck zu erwecken, als verfolge ich einen harmlosen alten Mann, der auf dem winterlichen Friedhof Krähen füttert. Ich entschied mich, für die nächsten Wochen eine leicht geänderte Route zu wählen, und sah den Herrn bisweilen nur noch aus großer Entfernung um die Gräber streichen. Doch auch von weit weg erweckte er den Eindruck, als sei er auf der Suche nach einem ganz bestimmten Grab. Dann verschwand der alte Mann eines Tages von der Bildfläche, und ich sah ihn wochenlang nicht mehr. In Anbetracht der skandinavischen Kaltfront, die das Land über einen Monat fest im Griff hatte, war dies auch weiter nicht verwunderlich.
Er tauchte erst wieder auf, als das Frühjahr kam und die ersten kräftigen Sonnenstrahlen die Schneeschmelze einleiteten. Ich nahm wieder meine vertraute Route auf und konnte beobachten, wie die Märzensonne die unter den schattigen Resten von schmutzigem und müdem Schnee liegenden einzelnen Gräber zum Vorschein brachte. Und während sich hier und dort bereits die zarten Knospen von Schneeglöckchen und anderen Frühlingsblumen zeigten, sahen die von Haus aus ungepflegten Gräber noch elender und verkommener aus.
Der alte Mann jedoch schien fündig geworden zu sein. Jedenfalls sah ich ihn wenigstens einmal wöchentlich vor jenem besonders heruntergekommenen Grab stehen, in dem, wie ich wusste, die Gräfin zu Roche ruhte. Bald aber begann der Mann den restlichen Schnee vom Grabstein zu wischen, die verdorrten Zweige zu sammeln und die Erde zu säubern. Schließlich steckte er sogar eine grüne Plastikvase in die noch immer vom Nachtfrost leicht gefrorene Erde und versah sie mit einem bescheidenen Blumensträußchen. Das alles geschah nicht auf einmal, sondern war die Tätigkeit wiederum mehrerer Wochen. Seit ich jedoch beobachtet hatte, dass sich der alte Mann um das Grab der Gräfin zu Roche kümmerte, machte ich erneut einen Bogen um die Stelle, um die beiden nicht zu stören, zumal mir war, als höre ich den alten Mann bisweilen etwas murmeln oder halblaut vor sich hin sprechen. Als es auf Ostern zuging, war das gräfliche Grab bereits in einem recht ordentlichen Zustand. Eine schmale grüne Einfassung fiel ebenso auf wie einige Blumen, die in die Erde gepflanzt worden waren. Sogar eine kleine Grablampe war jetzt aus meinem gebührenden Abstand zu sehen, in der ein rotes Licht brannte.
Ich zog für mich daraus den Schluss, es handle es sich bei dem alten Herrn vermutlich um einen Nachfahren der Gräfin, und wenn ich die fast beharrliche Regelmäßigkeit seiner Besuche in Betracht zog, so hätte es durchaus der Enkel oder ein später Neffe sein können, wenigstens aber einer aus dem weitverzweigten Geschlecht derer zu Roche ... Ich ließ, je öfter ich über diesen anderen Friedhofswanderer nachdachte, meiner Fantasie ein wenig freien Lauf und malte mir, dabei großzügig die Grenzen der Jahreszahlen sprengend, aus, dass es sich am Ende auch um einen verheimlichten Sohn der Gräfin handeln könnte, einen Nachzügler, der, erst nach Jahren von ihrem Tod erfahren, sich auf die Suche nach dem Grab seiner Mutter gemacht hatte oder von weither angereist war, um nunmehr sein Verzeihen über den Tod hinaus durch die Pflege des Grabes zu bekräftigen. Womöglich waren Mutter und Sohn aufgrund unseliger Umstände jahrelang getrennt gewesen, hatten sich am Ende gar aus den Augen verloren, weil jeder den Spuren seines eigenen Lebens hatte folgen oder Rücksicht auf allerlei Standeskonventionen nehmen müssen, und nun waren sie glücklich unglücklich wieder vereint. Am Ende hatte dies womöglich sogar mit den geheimnisvollen Briefen zu tun, welche die Vögel als die Boten der Toten in die Schneedecke geschrieben hatten. Jedenfalls war das Grab der Gräfin zu Roche von Stund an nicht mehr ungepflegt, sondern in bescheidenem Maße geschmückt, sodass man unzweifelhaft erkennen konnte, dass sich jemand regelmäßig darum kümmerte. Junger Efeu rankte sich um den Stein.
Solchen romantischen, von einschlägiger Literatur und traurig schönen Melodramen inspirierten Erklärungsversuchen hing ich nach, als ich mir eines Morgens, es war noch früh am Tag und außer uns beiden alten Männern kein Mensch unterwegs, ein Herz fasste, an jenem Grab von Rose Marie Gräfin zu Roche stehen blieb, eine Zeit lang schwieg und schließlich den fremden Herrn von auffallend zartem Wuchs ansprach. Jetzt sah ich, dass seine Kleidung durchaus den gängigen Vorstellungen von einem Repräsentanten des verarmten Adels entsprach. Hemdkragen und Manschetten waren abgewetzt und abgestoßen, am englisch geschnittenen Tweed-Jackett mit schräg aufgesetzten Taschenpatten und einem Extratäschchen für die Billets fehlte ein Knopf, die Krawatte mit weinrotem Paisleymuster, die um den mageren Hals geschlungen war und von einem locker sitzenden Windsorknoten gehalten wurde, saß schief und war ein wenig verkleckert, eine verschossen gelbe Cordweste war falsch geknöpft, die schokobraunen Cordhosen waren an den Knien ausgebeult, die vormals cognacfarbenen Budapester an den Absätzen abgetreten. An den Füßen trug er tatsächlich seitlich geknöpfte dunkelbraune Gamaschen. Insgesamt schien er mit seinem Gehstöckchen ein wenig aus der Zeit gefallen, aber das Gesicht des mageren alten Herrn war fein geschnitten, sein dünnes Haar war weiß wie Schnee, und seine Augen hatten jenes Blau, mit dem Peter O’Toole einst in den Sechzigern die Gestalt des Lawrence von Arabien berühmt gemacht hatte. Mit einem Wort: ein feiner alter Herr! Warum kein Graf, warum kein adeliger Liebhaber aus einer längst vergangenen Zeit, der jetzt am Grab seiner Angebeteten stand, ihr Blumen brachte, noch einmal seine Reverenz erwies, sein altes Knie beugte wie ein treuer Knappe, um die Kerze in der Grablaterne auszuwechseln, auf dass ein Lichtlein ewig leuchte?
Verzeihen Sie, brach ich das längere Schweigen und blinzelte ein wenig in die Sonne, erlauben Sie mir bitte die Frage, ob die hier auf die Ewigkeit wartende Gräfin wohl ihre …
Weiter kam ich nicht, denn Scham überfiel mich ob meiner Neugier, ich brach den Satz ab und blickte betroffen zu Boden. Jede meiner bereits ausgesprochenen Silben war mir zutiefst peinlich.
Könnte man glauben, könnte man durchaus glauben, denn sie ist exakt mein Jahrgang, jawohl: 1873.
Ich glaubte, mich verhört zu haben: 1873?
Und fragte sicherheitshalber noch einmal nach: wirklich 1873? Doch der alte Herr war nicht zu bremsen: Was für ein Jahr! Caruso wurde geboren und »Anna Karenina« erschien, vervollständigte seine dünne Stimme meinen abgebrochenen Gedanken mit einem freundlich-heiteren Grundton, der mir wieder Mut machte, aufzuschauen und in die Peter-O’Toole-blauen Augen des alten Mannes zu tauchen, in denen, wie mir augenblicklich schien, soeben die Jahreszahlen verschwammen, an welchen wir uns so gerne festhalten. Ach ja, die Gräfin Roche. Wir sind uns schon einmal begegnet. Das war – lassen Sie mich nachdenken, mein Herr – ja, ich erinnere mich, das war im Jahre 1898. Und zwar in Königsberg, wo ich einst den Macbeth gab, schaurig-schön:
Ich war nämlich Schauspieler, müssen Sie wissen. Und gar kein schlechter, wie allgemein behauptet wurde. Dabei strich sich der alte Herr geziert übers Haar. Womöglich wäre auch etwas aus mir geworden, wenn nicht dieser dumme Krieg … Ach, jetzt ist es zu spät, und der Vorhang ist für mich längst gefallen. Aber damals jubelte man mir zu, und ich erhielt so manches zarte Billet in meine Garderobe. Darunter eines jener nach Veilchen duftenden Gräfin Roche, mit der ich, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, eine rauschende Ballnacht verbracht habe. Danach sollten wir uns nie mehr wiedersehen. Was hätte ich ihr schon bieten können außer meinen Seufzern und meiner Leidenschaft, ich, ein brotloser Komödiant, und nicht einmal von Stand? Das Leben wollte uns nicht vereint wissen, es drückte nur in jener Nacht großzügig ein Auge zu, und deshalb trieb es uns auseinander wie der Herbstwind all die bunten Blätter. Bis zu dem Tag, da ich ihr Grab gefunden habe. Es hat mich Jahre gekostet, Jahre meines Lebens, mein Herr. Und er schmachtete nach Art alter Chargendarsteller.
Schon meinte ich, in den blauen Augen des alten Schmierenkomödianten eine verstohlene Schmerzensträne zittern zu sehen. Doch dem war nicht so, denn seine Augen tränten wegen des scharfen Sonnenlichts, wie ich es oft bei älteren Menschen beobachtet habe und neuerdings auch von mir selbst kannte.
Jaja, ich verstehe, was Sie jetzt andeuten wollen, sagte der feine Herr, und er setzte hinzu: Man wird ja, wenn man erst einmal einige Jahresringe angehäuft hat, rasch und zwangsläufig zum Hinter-, um nicht zu sagen zum Zurückgebliebenen und schämt sich bisweilen sogar dafür, nicht wahr. Und an dieser Stelle bekam der heitere Grundton für einen Augenblick eine bedrohliche Note.
Ich konnte nur nicken, um meinem Gegenüber genügend Raum zu lassen für weitere Worte, zu denen er sichtlich bereit schien.
In nunmehr wieder anhaltend heiter-resigniertem Grundton fügte er hinzu: Da stehen wir dann an den Marken fremder Tage, sind ein wenig neidisch auf jene, die das alles schon hinter sich haben, und kennen nach all den weiß Gott wofür durchlittenen Nächten nur noch eine einzige Sehnsucht: die auf ein gnädiges Ende.
Dann seufzte er, holte theatralisch mit großer Geste ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich umständlich, als stehe er an der Rampe ganz vorne.
Jaja, die Gräfin zu Roche, sagte der feine alte Herr schließlich in seiner irgendwie gewundenen Art: Wie mag sie wohl geworden sein nach jener Nacht, in der ich sie umschlungen hielt mit meinen heißen Schwüren? Ich kann sie mir lebhaft vorstellen, o ja, das kann ich, obgleich ich ihr später nie mehr begegnet bin. Doch als ich hier eines Tages auf meinem Spaziergang vorbeikam, um eine Stelle für mich selbst auszusuchen, denn man muss im Leben und im Tod wissen, wohin man gehört, fiel mir dieses armselige Grab der Gräfin auf und brach mir ob seines erbärmlichen Anblicks fast das Herz. Und alles kam zu mir zurück, jede Einzelheit, jede Kleinigkeit. Alles war auf einmal wieder da, wie durch ein Wunder. Doch diese Erbärmlichkeit! Das durfte doch nicht sein! Da musste doch etwas geschehen! Ich konnte das unmöglich so hinnehmen. Schließlich handelte es sich um eine Dame von Stand ...
Und so beschloss ich, zunächst nur ihre Vögel zu füttern, schließlich das Frühjahr abzuwarten und mich der Gräfin vorsichtig zu nähern. Natürlich diskret, auch nicht aufdringlich oft und stets mit einem Blumenstrauß, wie sich das gehört und es zu meiner Zeit üblich war. Nächste Woche beispielsweise habe ich vor, ihr mit ein wenig Flieder die Aufwartung zu machen. Er blüht und duftet ganz wunderbar. Was meinen Sie? Vielleicht erhört sie mich eines Tages ja doch. Aber ich hoffe, mein Herr, und er legte seinen krummen alten Zeigefinger auf seine Lippen, Sie verraten mich nicht, denn wenn dann der Sommer kommt, möchte ich sie mit etwas ganz Besonderem überraschen. Ja, wenn erst der Sommer kommt ... wecke ich in ihr das Käthchen und sprech’ unterm Holunderbusch die Worte dann:
Er schluckte. Dann verbarg er sein Gesicht, und alles andere in ihm schien zu zerbrechen.
Wann, wo und wie das Verschwinden anfängt, weiß keiner so genau. Vielleicht in der Ebene, wenn der Fluss den Nebel ausschwitzt und der Himmel mit seinen hängenden Wolken hoch, breit und tief bis zur Erde reicht und sein Licht die Grenzen der Tageszeiten aufhebt? Nein, in der letzten Nacht des Monats Oktober, wenn am nächsten Morgen überall im christlichen Abendland das Fest Allerheiligen gefeiert wird, obwohl neuerdings eine amerikanische Unsitte namens Halloween wie Fleckfieber grassiert, habe ich von Oscar Mario B. geträumt, dem Büffel, wie er allgemein genannt wurde, und davon, dass er nicht mehr da ist. Weg ist er. Verschwunden. Abgetaucht. Nicht plötzlich, sondern irgendwie gleitend, als habe er sich klammheimlich davongeschlichen und ganz allmählich in Luft aufgelöst. Über die Jahre sozusagen.
Genannt Büffel, ja: weil er einmal in Amerika gewesen sei, in den Great Plains, in Nebraska, wo Büffel zu Hause sind und er nachts den Gesang von einem Dutzend verstorbener Indianer gehört haben will. Angeblich. Oder war es Fairbanks, Alaska, wo die Büffel aus tief fliegenden Hubschraubern heraus von Tiroler Jägern abgeschossen werden? Keiner konnte mit Sicherheit sagen, ob das stimmte oder gelogen war. In der Chronik unseres Hochplateaus aber steht geschrieben, unter welchem Gesetz er hier stand. Man hat ihn lediglich geduldet, und das ließ man ihn auch spüren. Manche, die den Büffel näher kannten oder vielmehr glaubten, ihn näher zu kennen, denn richtig gekannt hat ihn in Wirklichkeit keiner, also manche von denen, die sich damit wichtig machen wollen, sind überhaupt nicht überrascht von seinem Verschwinden, weil sie der felsenfesten Überzeugung sind, so richtig sei der Büffel sowieso nie »da gewesen«, man sei seiner Gegenwärtigkeit nie vollständig sicher gewesen, denn es sei stets etwas Flüchtiges an ihm und um ihn geschwebt. Als Beispiel und Beweis dafür wird dann regelmäßig seine Teilnahme am Johanniterlauf genannt, bei dem er zwar für jedermann sichtbar an den Start gegangen, niemals jedoch im Ziel angekommen sei.
Eines schönen Tages stand er mitten auf dem Dorfplatz. Niemand wusste, woher er kam. Er war noch ein junger Schauspieler, die große Hoffnung, eine Sonderbegabung, und hatte eine glänzende Karriere vor sich, er galt als der beste Prinz von Homburg aller Zeiten, welch einen sonderbaren Traum träumt’ ich, als er sich von einem Tag auf den anderen von der Bühne zurückzog in unser Nest hoch oben in den Bergen. Als Begründung dafür soll er einmal gesagt haben, der Weg zum Broadway sei ihm zu weit und zu anstrengend, es habe ihm nicht gereicht, nur eine Begabung und schon »ziemlich gut« gewesen zu sein. Künstler sei man ganz oder gar nicht. »Ziemlich gut« gebe es in dieser Branche nicht. Das bedeute am Ende nur: miserabel. Basta.