Als mein Ich verschwand - Erich Ledersberger - E-Book

Als mein Ich verschwand E-Book

Erich Ledersberger

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Beschreibung

Es ist ein mutiges Buch. Wenn Frau Schuster nach Jahren der lähmenden Müdigkeit den Tod ihres Mannes als Befreiungsakt einer neuen Jugend empfindet.

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www.kakanien.eu

Das Leben ist eine Hausübung. Irgendwann musst du sie abgeben, egal, ob sie fertig geworden ist oder nicht.

Hat Einstein die Weltformel gefunden? Oder Hawkings?

Woher stammt dieser Wunsch nach endgültigen Lösungen?

Endgültig ist nur der Tod.

Hoffentlich.

Der Autor

Erich Ledersberger, 1951 in Wien geboren.

Lehrer und Schriftsteller,

lebt in Innsbruck und Wien.

Veröffentlichungen

Ich bin so viele, Kurzgeschichten, BoD, 2014

Filzbuch 01, Satiren, entertainyoumedia, 2008

Maria fährt, Erzählung, Kyrene, 2004

Schnitzel mit Beilage, Satiren, BoD, 2001

Wiener Brut, Satiren, rororo, 1986

Ein Autor sieht rot, Theaterstück, Bunte Bühne, 1985

Alles im Lot, Gedichte und Kurzgeschichten FF&LM, 1984

Ende der Salzstreuung, Gedichte, Eigenverlag, 1982

Inhalt

Der Himmel ist ein schwarzes Loch

Der Keller

Ein richtiger Bub

Wer bin ich?

Die Dini-Tant‘ ist tot

Die Schachtel

Ein schöner Tag

Das Atelier

Der gute Mensch von Simmering

Ich als Model

Als mein Ich verschwand

Ende und Anfang

Für Klaudia und Nina

Der Himmel ist ein schwarzes Loch

Boot gleitet über braunes Wasser. Himmel grün. Wind duftet nach frisch gefallenen Nüssen. Weit ist die Welt und keine Zeit, wohin das Auge reicht.

Nur abends ruft die Köchin. Kartoffelsuppe gibt es, wie beinahe jeden Tag. Danach geht es weiter, hin zu fremden Ländern, wo in Höhlen taube, einäugige Riesen lauern mit kinderfressenden Gänsen. Vor nichts haben sie Angst außer vor Rananana, der Hexe mit den blauen Haaren und den spitzen Krallen. Gefahren allüberall. Und ein Wunder ist es, dass Callas, die kreischende Katze, Beherrscherin der Meere, noch niemanden zerbissen hat.

Unter den Brettern wohnt Kaspar, der Zwerg. Er ist der gute Geist des Schiffes, doch ein Zauberwort verwandelt ihn in einen Dämon.

Sag nicht: ‚Es ist acht!‘

denn dann, hab´ acht,

kommt Kaspar, der Zwerg und die Welle wird Berg.

Der Steuermann lenkt das Schiff durch das Meer, da gischt eine Welle über ihn her. Er hält sich fest, am Steuerrad fest, und schreit voller Furcht: ‚Gebt acht, das Schiff ist verflucht.‘

Doch Kaspar, der Gute, hört leider schlecht und hört, ‚Es ist acht!‘ sein Böses erwacht, er schleudert das Boot, ans Ende der Welt. Und alle sind tot!

Hoi, wie weich die Landung ist.

„Noch einmal“, lacht das Kind. „Kaspar soll nochmal böse sein.“

Die harte Erde ist ein Bett, der Himmel eine Zimmerdecke, das Meer ein Bretterboden und das Schiff ein Trog mit Nüssen, das Schlafzimmer der Großeltern eine weite Welt.

„Schluss für heute“, lächelt der alte Mann. „Es ist schon dunkel.“

„Schläft die Sonne jetzt?“ fragt das Kind, das nicht schlafen will. Der Großvater nickt.

„Warum?“

„Weil sie den ganzen Tag wach war.“

„Erzähl mir noch eine Geschichte, Opapa. Was macht die Sonne den ganzen Tag?“

Das Kind kuschelt sich an den vertrauten Körper.

„Am Morgen erwacht sie. Dann streckt sie ihre Strahlen und dehnt sich, damit sie munter wird. Wie du. Sie atmet tief ein. So.“

Der Großvater wölbt seinen Bauch vor.

„Auch im Winter?“ fragt das Kind vernünftig und schaut erwartungsvoll.

„Im Winter kommt Itzeho, der Wind des Nordens. Er bläst seinen kalten Atem über die Erde.“

Der Großvater pfeift durch seine Zähne, so schaurig, dass es das Kind fröstelt.

„Die Gräser ducken sich, und die Tiere flüchten in ihre Höhlen. Dort warten sie auf den Frühling. Aber Itzeho trägt auch einen großen Rucksack voll Schnee, den streut er auf die Erde, damit die Kinder Schneemänner bauen können und Schlitten fahren und eislaufen.“

„Ich nicht“, schreit es. „Da falle ich tausendmal hin.“

„Dann wird es dir wie Opeka ergehen, dem Mädchen, das nicht laufen wollte. Weil es immer hinfiel, beschloss es, einfach sitzen zu bleiben. Das sah einfach aus, und so war es am Anfang auch. Bald aber …“

„Franz!“ unterbricht die dröhnende Stimme der Großmutter die Erzählung. „Du hast versprochen, dein Enkelkind spätestens um neun Uhr schlafen zu legen.“

„Ja“, ruft der Großvater in die Küche. Und leise sagt er: „Diese Geschichte erzähle ich dir morgen.“

Das Kind protestiert:

„Aber die Sonne! Was macht sie am Abend?“

„Sie ist müde. Wie du und ich. Sie legt sich in ihr Wolkenbett und deckt den Himmel unter einer Sternendecke zu. Es wird dunkel.“

„Wie in einem Loch?“

„Ja“, sagt der Großvater, „wie in einem Loch. Und morgen, wenn du deine Augen öffnest, ist die Sonne wach und leuchtet. Nur für dich.“

„Wenn es regnet aber nicht.“

„Nein, dann nicht. Aber du wirst sehen, morgen scheint die Sonne. Ich weiß es. Schlaf jetzt. Gute Nacht.“

„Noch eine Geschichte“, fordert das Kind maßlos.

„Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Er küsst seine Enkelin sanft auf die Stirn. Kurze Arme umfassen seinen Hals, ziehen großen Kopf zu kleinem Körper.

„Ich hab‘ dich lieb“, strahlt seine Stimme, die Augen leuchten.

„Ich hab‘ dich auch lieb“, flüstert der Großvater und erwidert gerührt den zarten Kuss des Kindes.

Am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne, wie der Großvater es versprochen hat. Und schien sie nicht wirklich, so bastelte er eine aus Pappe, malte sie gelb an und der Himmel war endlos blau.

*

„Wann darf ich Opapa besuchen?“ Die Augen des Kindes heften sich an die seiner Mutter.

„Bald. Dein Großvater ist im Krankenhaus.“

„Ich weiß“, nickt das Kind. „Dort wird er gesund.“

Die Mutter nimmt es in den Arm, drückt seinen weichen und festen Körper an sich.

„Was hast du?“ fragt es und entwindet sich der Umklammerung.

„Nichts. Ich hab´ dich lieb.“

„Das sagt Opapa auch. Ich will mit ihm Boot fahren. Und Kaspar soll mich auf die Erde schmeißen. Und Itzeho soll Schnee bringen. Undundund… Mama, wann darf ich zu Opapa?“

„Bald“, wiederholt die Mutter. „Hilfst du mir Wäsche waschen?“

„Oh ja!“ jubelt das Kind und stürmt in die Küche.

*

„Wann kommt mein Opapa?“ Die Augen glänzen nicht mehr, das Kind kennt die Antwort und hofft vergeblich auf eine neue. Die kommt nicht, wie der Großvater nicht kommt. Oder diesmal doch? Die Mutter atmet schwer. Sie setzt sich in den großen Stuhl und winkt ihr Kind zu sich. Das klettert auf ihren Schoß, richtet sich zurecht.

„Weißt du“, beginnt die Frau, „dein Opapa kann nicht mehr zu dir kommen.“

Das Kind richtet sich auf.

„Wann ist denn endlich bald? Du hast gesagt, er kommt bald.“

Die Mutter seufzt.

„Es geht nicht.“

„Warum?“ will das Kind wissen. „Ist er fortgegangen?“

Der Kopf vor ihm nickt.

„Wo ist er?“

Die Frau zögert, sagt schließlich:

„Der Großvater ist im Himmel.“

„Dort, wo die Sonne ist“, freut sich das Kind, rutscht vom warmen Schoß und läuft zum Fenster. „Hier bin ich, Opapa. Kannst du mich sehen? Wann kann ich dich besuchen?“

Die Mutter geht zu ihm.

„Ja, er kann dich sehen. Aber du kannst ihn nicht mehr besuchen. Der Himmel ist zu weit weg.“

„Warum ist Opapa dann dort?“

„Alle Menschen kommen in den Himmel, wenn sie ... Großvater war schon alt. Und müde. Er hat sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet. Und nun darf er bei seinen Freunden sein. Dort oben ist es schön. Großvater hat es warm, immer scheint die Sonne, und er kann sich endlich ausruhen. – Hörst du mir überhaupt zu?“

Das Kind steht still da. Es hat seinen Daumen in den Mund gesteckt, dreht mit der anderen Hand aus seinen kurzen Haaren eine kleine Locke, zieht stetig daran, zieht schließlich so heftig, dass sein Kopf sich zur Seite neigen muss.

„Liebes!“, ruft die Mutter.

Das Kind rührt sich nicht, seine Augen versuchen, die dunkle Wahrheit zu erfassen. Plötzlich lacht es.

„Spielen wir Clown, Mama?“

Die Mutter nickt erleichtert. Von nun an fragt es nicht mehr nach seinem Großvater. Es ist, als hätte das Kind ihn vergessen.

*

„Tut es hier weh?“ will der Mann wissen und drückt auf den kleinen Bauch. Der zuckt unter der Berührung zusammen, das Kind schüttelt den Kopf. Der Arzt wendet sich an die Frau.

„Sie muss sofort ins Krankenhaus. Akute Blinddarmentzündung, wir haben nicht viel Zeit.“

Die Mutter nickt und streicht ihrem Kind übers Haar.

„Ich will nicht ins Krankenhaus, ich bin nicht müde!“ Tränen sammeln sich langsam in seinen Augen. Die Mutter will ihr Kind umarmen, das wird plötzlich zornig.

„Nein!“ schreit es und läuft davon. Raus aus dem Zimmer. Ein Stuhl fällt. Das Kind achtet auf nichts, flüchtet in die Küche, unter den Frühstückstisch. Dort macht es sich klein, krümmt sich zusammen, zieht die Beine an sich, drängt sich an die Wand.

Die Mutter ist ihm gefolgt, sie hockt sich davor, versucht ihm zuzureden. Worte rieseln aus ihrem Mund, das Kind hebt beschwörend die Hände. Die Mutter versucht es hervorzuziehen. Es krabbelt blitzschnell an ihr vorbei, rennt wieder zurück ins Wohnzimmer, sieht den Arzt, bleibt mitten im Zimmer stehen, erstarrt.

Es atmet heftig ein, schreit einen unbekannten Schmerz aus sich heraus, atmet ein, schreit, lauter, immer lauter. Es scheint kein Ende zu nehmen. Das Gesicht rot. Tränen laufen, ein Sturzbach, die Wangen hinunter. Die Augen weit aufgerissen, darin Entsetzen, Angst.

Ratlos sieht die Mutter den Arzt an.

„Ich weiß nicht, was sie hat. Das ist das erste Mal, dass sie ...“

Sie zuckt mit den Schultern, Tränen nun auch in ihren Augen, während das Schreien einen nicht endenwollenden Höhepunkt erreicht.

„Warten Sie ein bisschen“, bestimmt der Arzt, als die Mutter sich ihrem Kind nähern will.

Er geht zu ihm. Dessen abwehrende Hände zögern. Der Mann nimmt es sanft in die Arme. Wie abgeschnitten endet das Weinen des Kindes. Sein Körper atmet aus, lehnt sich an den fremden Körper.

Es steckt den Daumen in den Mund, nimmt eine Locke seiner Haare, dreht sie. Das Boot auf braunem Wasser. Itzeho, der eisige Wind. Rananana, die Hexe. Die einäugigen Riesen und die Sonne aus Pappe, die über seinem Bett aufging.

„Es gibt keine Gänse, die Kinder fressen, weißt du“, nuschelt das Kind.

„Natürlich nicht“, stimmt der Mann zu.

„Haben die Gänse Opapa gefressen?“, will es endlich wissen und hält sich die Ohren zu.

„Wie kommst du denn darauf?“ fragt die Mutter aus dem Hintergrund. Das Kind hört nicht. Er klammert sich an den Arzt, der es entschieden hochnimmt.

„Wie fahren jetzt ins Krankenhaus. Dort wirst du gesund und bald kommst du wieder nach Hause.“

„Nein“, sagt das Kind leise und ergeben, „Opapa ist auch nicht bald gekommen. Vom Krankenhaus kommt man nicht wieder nach Hause.“

„Wohin denn?“ lächelt der Mann beruhigend.

„In den Himmel. Und der Himmel ist ein schwarzes Loch.“

Der Keller

Im Winter war sie ständig da: die Furcht, hinuntergeschickt zu werden, in das Grab unter dem Haus. Irgendwann war es immer soweit, irgendwann drohte der Ofen auszugehen.

„Holst du mir einen Kübel Koks?“

Da war er schon, dieser Satz.

„Warte. Gleich. Ich muss nur noch.“

Er zögerte. Die Mutter verstand sein Problem nicht.

„Das Auto einparken.“

Der Teppich war eine Stadt mit Straßen und Gassen. Die standen im rechten Winkel zueinander, darauf fuhren Autos. Ein VW-Bus mit Touristen, die die Stadt besichtigten. Ein Rettungsauto, das gerade zu einem Unfall gerufen worden war. Der Ford-Mustang, in dem sein Feind saß, ein Stück weiter sein Mercedes 300 SL. Neben ihm saß seine Freundin Martha, das kleine Mädchen mit den vielen Sommersprossen.

Soeben hatte er seinen Verfolger abgeschüttelt, war in eine schmale Gasse abgebogen, mit rasendem Tempo. Beinahe hätte sich sein Wagen überschlagen, aber dank seiner Fahrkünste hatte er ihn gerade noch querstellen können. Er deutete Martha mit dem Finger, still zu sein und parkte zwischen zwei Autobussen ein.

„Hol‘ jetzt bitte den Koks!“

Die Bitte wurde zum Befehl. Er wollte ihn nicht hören, aber die Mutter gab nicht auf, wiederholte den Satz. Widerrede war zwecklos.

„Leo“, sagt er zu den Autos am Teppich. Das war das Stichwort für Unantastbarkeit. Wer beim Fangenspielen ‚Leo‘ ruft, darf nicht berührt werden.

Er nimmt den Kübel, der neben dem Ofen steht. Er scheppert, wenn er ihn trägt. Drei Stockwerke sind es in den Keller. Dann die erste Tür öffnen. Sie quietscht wie ein kleines Schwein, das geschlachtet wird.

Eine Lampe glimmt am Eingang, danach die Stufen, sich windend wie er. Dann die absolute Finsternis, die Hölle ohne Hitze. Er schaltet die Taschenlampe ein. Sie leuchtet ein trauriges Licht in den Gang.

Er geht vorbei an fremden Türen, leise, um niemanden zu wecken. Keinen Mörder, keinen Teufel, keine Hexe. An Engel glaubt er nicht, die hat er noch nie gesehen. Die Angst ist da. Und endlich auch die Tür mit dem Schloss, in das der Schlüssel passt.