Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete - Emily C. Rose - E-Book

Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete E-Book

Emily C. Rose

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Beschreibung

Emily C. Rose, Amerikanerin jüdischer Abstammung, schildert jüdische Geschichte aus einer lang vergangenen Zeit: die Geschichte von einfachen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten im ländlichen Württemberg zwischen 1730 und 1880. Und sie weiß, wovon sie spricht: Es ist die Geschichte ihrer Vorfahren, die sie nach intensiver Quellensuche lebendig werden lässt. Ein handgeschriebenes jüdisches Familienregister, das sie 1992 zufällig von einem Verwandten erhielt, brachte sie auf die Spur ihrer Ahnen, die in den Hungerjahren um die Mitte des letzten Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert waren,. Sie recherchierte in den Archiven zahlreicher Städte und Gemeinden – und nach fünf Jahren hielt Emily Rose das Material einer faszinierenden Familiengeschichte in den Händen. Im Verlauf ihrer Spurensuche erfuhr sie auch, dass einer ihrer Vorfahren sogar in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Moises Kaz rettete 1799 die Reichsstadt Rottweil vor Napoleons Armeen. Zwar liegen die Schauplätze dieser in die allgemeinen Entwicklungen der Zeit eingebetteten Familiengeschichte in Süddeutschland, ihre Bedeutung reicht aber weit über diesen Raum hinaus. Sie spricht jeden an, der mehr über das Leben deutscher Landjuden vor dem 20. Jahrhundert erfahren möchte.

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Emily C. Rose

ALS MOISES KAZSEINE STADTVOR NAPOLEONRETTETE

Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur

Aus dem Amerikanischenvon Matthias Steffen Laier

Zur Autorin:

Emily C. Rose, in Scarsdale/New York geboren, ist studierte Historikerin und lebt nach zehn Jahren in Peru heute in Naples/Florida.

Das Buch ist 1999 erstmals im Konrad Theiss Verlag GmbH unter der ISBN 3-8062-1436-0 erschienen und mittlerweile vergriffen.

Es erschien mit freundlicher Unterstützung des Staatsministeriums Baden-Württemberg, der Stadt Rottweil, des Rottweiler Geschichts- und Altertumsvereins e.V., der Gesellschaft für Vor- und Frühgeschichte in Württemberg und Hohenzollern e.V. und von Herrn Werner Kraus, Kornwestheim.

Autorin: Emily C. Rose

Übersetzung: Matthias Steffen Laier, Neustadt a. d. W.unter Mitwirkung von Christine Brenner und Edith Breitling

Umschlaggestaltung: Silke Nalbach, Stuttgart, unter Verwendung einer Aufnahme aus dem Kreisarchiv Schwäbisch Hall (Inneres der Synagoge von Michelbach an der Lücke um 1930)

Typographie: Silke Nalbach, Stuttgart

Satz: Utesch GmbH, Hamburg

Ein Nachdruck im verlag regionalkultur erscheint 2019: Ca. 440 S. mit ca. 38 Abbildungen, Broschur. ISBN 978-3-95505-144-0.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Weder Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

© 2019 verlag regionalkultur Alle Rechte vorbehalten. Emily C. Rose.

verlag regionalkultur Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Basel

Korrespondenzadresse: Bahnhofstr. 2 • D-76698 Ubstadt-Weiher • Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29 • E-Mail: [email protected] • Internet: www.verlag-regionalkultur.de

Inhaltsverzeichnis

Zwei Porträts

Wurzeln schlagen

Neue Zeiten

Die »Hep-Hep!«-Krawalle

Übergangszeiten

Rückschritte

Veränderungen in den Familien

Die neue jüdische Gemeinde

Abkehr vom Schacherhandel

Ruhigere Zeiten

Kampf um die Bürgerrechte

Unruhige Jahre

Der Wind dreht

Ein deutsches Dorf in Chicago

Die deutschen Juden

Porträts meiner Vergangenheit

Traditionelles jüdisches Leben in den Dörfern und Kleinstädten

Danksagung

Quellenhinweise

Auswahlbibliographie

Abbildungsnachweis

ZWEI PORTRÄTS

Ölgemälde von Joseph David Berlizheimer (1761–1855), Maße: 36 x 45 cm

Ölgemälde von Gustel Berlizheimer, geb. Kaz (1780–1861), Maße: 36 x 45 cm

ÜBER DEM Kaminsims im Wohnzimmer meiner Großeltern in ihrer weitläufigen Wohnung in New York hingen zwei große, alte Ölporträts. Auf dem einen Bild hielt ein stattlicher, gut gekleideter Herr eine Schnupftabaksdose und blickte gebieterisch von der Leinwand herunter. Auf dem anderen trug eine ältere Frau eine Haube mit roten Schleifen, um ihren Hals hing eine dreifache Perlenkette. Sie schaute mich nicht an, ihre Augen blickten ins Leere.

Ich hatte niemals Fragen über die Porträts gestellt, und niemand hatte mir ihre Geschichte erzählt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie einmal für mich bedeuten würden. 1992 begann ich, die Herkunft meiner Familie zu erforschen, und unter den Dokumenten, die ich zusammentrug, befanden sich einige handgeschriebene Seiten aus einem jüdischen Familienregister in deutscher Sprache. Mit fremder Hilfe konnte ich den Namen »Berlizheimer« lesen, den ich kannte, ferner »Gundelfinger,« einen Namen, den ich noch nie gehört hatte. Oben auf der Seite konnte ich den Namen des Ortes »Mühringen« entziffern. Man hatte mir keine Geschichten überliefert, und niemand hatte jemals Mühringen erwähnt.

Bevor mein Mann und ich 1994 nach Deutschland reisten, steckte ich die Seiten aus dem Familienregister in meinen Koffer. Ich hatte angenommen, daß ich aufgrund der Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage sein würde, Informationen über meine Familie zu finden. Trotzdem fuhr ich während der Zeit, in der mein Mann an Kursen in einer Sprachschule teilnahm, einige Stunden von Frankfurt am Main aus nach Süden, um das Dorf meiner Vorfahren zu finden.

Ich reagierte auf Mühringen ganz anders, als ich erwartet hatte. Es war kein Ort mit engen, dunklen Straßen, sondern ein typisches deutsches Dorf, in dem die Fensterbänke vor hellroten Blumen überzuquellen schienen, welche den imposanten Häusern entlang den Sträßchen freundliche Farbkleckse gaben. Da alle aus meiner direkten Linie mütterlicherseits Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert waren, hatte meine Familie keine persönlichen Berührungspunkte mit der Vernichtung durch den Holocaust gehabt. Mit diesem Gefühl des Abstands konnte ich relativ unbelastet in die Zeit eintauchen, die Jahrhunderte vor dem tragischen Ende der Juden in Deutschland lag. An dem Tag, als ich durch dieses kleine Dorf ging und einige der Gräber der Berlizheimers auf dem abgelegenen jüdischen Friedhof am Hang fand, fühlte ich eine unmittelbare emotionale Verbundenheit mit meinem Urururgroßvater Berlizheimer. Der Friedhof lag im Mühringer Wald, wo hohe Laubbäume ihren Schatten über Grabsteine warfen, die im Laufe der Jahrhunderte ins Erdreich eingesunken waren. Bemerkenswerterweise stehen immer noch über 850 Steine in willkürlich angelegten Reihen. Der Friedhof liegt im Wald vor den Blicken versteckt und war der Schändung während des Holocaust entgangen. Direkt unter der Gemeindehalle und dem Kindergarten kennzeichnet eine Gedenktafel den Platz, an dem früher die Synagoge stand. Sie war am 9. November 1938 in der »Reichskristallnacht« beschädigt worden und diente dann im Krieg als Gewehrfabrik; später wurde sie abgerissen und machte einer neuen Schule Platz. Auf einigen alten Fotografien des Dorfes ist sie in ihrer schlichten Eleganz noch zu sehen. Ich fand eines der Häuser, in dem meine Vorfahren gelebt und gearbeitet hatten. Es stand neben der jüdischen Volksschule, wo auch der Rabbiner und der Lehrer ihre Wohnungen hatten. Im Keller sah ich die Mikweh, das rituelle Frauenbad, das immer noch mit Wasser aus einer unterirdischen Quelle gefüllt war. Als ich die Straße hinunterging, bemerkte ich an einigen der alten Gebäude flache Meißelspuren im Stein am rechten Türpfosten, die alle die traditionelle Form einer Mesusah hatten. So entdeckte ich in ganz kurzer Zeit unendlich viele Spuren meiner Vergangenheit.

Von diesem Erfolg beflügelt, studierte ich das handschriftliche Familienregister und fand den Namen des Ortes, in dem meine Ururgroßmutter Gundelflnger gelebt hatte. Ich besuchte ihr Dorf, Michelbach an der Lücke, auch ein typisches deutsches Dorf, aber noch kleiner und ländlicher als Mühringen. Wieder empfand ich diese Verbundenheit, als ich die Gräber meiner Vorfahren im Schatten der Bäume auf dem jüdischen Friedhof direkt außerhalb des Ortes entdeckte. Der Friedhof war in der Nazizeit geschändet, aber nach dem Krieg wieder hergestellt worden. Ich konnte durch die Sträßchen gehen, in denen die Gundelfingers jahrhundertelang gelebt hatten. Hier war die Synagoge in der Pogromnacht von 1938 geplündert und während des Krieges als deutsches Munitionslager zweckentfremdet worden. In den achtziger Jahren wurde sie als Gedenkstätte restauriert und gilt heute als die älteste in Baden-Württemberg noch vorhandene Synagoge. Leicht konnte ich mir vorstellen, wie meine Verwandten damals für den Gottesdienst am Sabbat die Judengasse hinuntergegangen waren.

Ich fühlte das Bedürfnis, alles über diese Menschen zu erfahren, aber ihr Leben war für mich in Dokumenten verborgen, die ich nicht lesen und verstehen konnte. Ich beschloß, die Unterlagen zu fotokopieren, die mir Aufschluß über ihr Leben geben könnten. Die Archive in diesen Dörfern und Städtchen haben den Zweiten Weltkrieg fast unversehrt überstanden, da sie nicht Ziel der Bombardements der Alliierten waren. Die Dokumente in den Regional- und Staatsarchiven waren während des Krieges an sichere Orte verbracht worden, und die meisten von ihnen sind noch vorhanden. Ich konnte offizielle Familienregister, Steuer- und Grundbesitzaufzeichnungen, Auswanderungsanträge, Regierungsdokumente über die jüdischen Gemeinden und Unterlagen über meine Familie fotokopieren. Die alte deutsche Schrift konnte ich nur so weit entziffern, um in den Stapeln von alten Registern und Dokumenten Familiennamen zu entdecken. Jedesmal, wenn ich die Unterschrift eines meiner Vorfahren in Deutsch oder Hebräisch auf einer brüchigen, vergilbten Seite entdeckte, fühlte ich, wie sich meine Geschichte mit Leben füllte. Ich war mit meinen Funden mehr als zufrieden und überwältigt von der Menge der Dokumente, die ich zusammengetragen hatte.

In den vergangenen Jahren hatten christliche Historiker und Archivare viele lokale und regionale Geschichtsbücher über die Juden in Deutschland verfaßt. Zu meiner großen Überraschung erwähnten einige dieser Studien insbesondere auch meine Vorfahren und ihre Familien im 18. und 19. Jahrhundert. Als Teil meiner Nachforschungen suchte ich die Autoren der Werke auf, die Informationen über, wie ich sie nun in meinen Gedanken nannte, »meine Familien« enthielten. Sie haben zusammen mit zahlreichen anderen Fachleuten großzügig ihr Wissen mit mir geteilt.

Kurz vor Ende meines Aufenthalts in Deutschland, als einer dieser Historiker einige Dokumente für mich übersetzte, las er: »Joseph David Berlizheimer übernahm in Rottweil das Haus, das früher Moises Kaz gehörte.« Der Name »Moises Kaz« sprang aus der Seite heraus! Es handelte sich um meinen Ururururgroßvater, der im handschriftlichen Familienregister aufgeführt war. Rottweil liegt nur 45 Minuten südlich von Mühringen entfernt, also machte ich mich sofort auf den Weg. Hier zeigte mir der Leiter des Stadtarchivs die großen Häuser, die Moises Kaz und seine Nachkommen im 19. Jahrhundert besessen hatten. Ich konnte mir vorstellen, wie die sehr kleine Gemeinde in der Synagoge gebetet hatte, die sich im oberen Stockwerk seines Hauses befunden hatte. Ich stellte fest, daß sich das Leben dieser Menschen von demjenigen der Juden aus Orten wie Michelbach und Mühringen unterschieden hatte.

Zurück in Amerika, blickte ich auf den Stapel von Unterlagen. Ich wußte, daß sie meine Geschichte enthielten, aber ich konnte kein Wort lesen. Glücklicherweise konnten einige ältere Deutsche, die in meiner Nähe lebten, die Dokumente aus der sehr schwierigen alten deutschen Schrift übersetzen. Stückchen für Stückchen setzte ich das Leben meiner Vorfahren zusammen. Hier ein Wort, da ein Datum, der Name eines Ehepartners oder Kindes in einem Familienregister – dies alles lenkte meine Nachforschungen in viele Richtungen. Durch akribische Detektivarbeit und intensives Forschen nahm ihre Geschichte langsam Gestalt an.

Allmählich erkannte ich, daß die Porträts meiner Vorfahren eine geschichtliche Bedeutung hatten. Ich erfuhr, daß wir nicht wissen, wie viele Ölporträts von Landjuden im frühen 19. Jahrhundert gemalt wurden, aber sicherlich waren diese unter den Juden seltener als bei den Christen. Doch egal, wie viele solche Bilder jüdische Wohnstätten im frühen 20. Jahrhundert geschmückt haben mögen – durch die Verschleppung und Zerstörung durch die Nationalsozialisten sind heute nur noch sehr wenige von ihnen erhalten.

Zunächst hatte ich gedacht, daß die Informationen, die ich aus den Dokumenten zog, nur auf meine Familie zuträfen, da sie nicht zu meinen Vorstellungen über das Leben der Juden in Deutschland paßten. Doch als ich Geschichtsbücher über andere Regionen Süddeutschlands las, stellte ich fest, daß die Lebensgeschichte meiner Familie sogar typisch für diejenige der Landjuden war. Und dann begriff ich: Meine Vorstellungen vom Leben der Juden in Deutschland waren sehr einseitig und in vielerlei Hinsicht vollkommen falsch gewesen. Ich hatte ihre Geschichte entweder im Zusammenhang mit dem Leben der Hausierer oder der Talmudgelehrten in Osteuropa oder dem Leben der berühmten Bankiers gesehen, die vor dem 19. Jahrhundert in den großen deutschen städtischen Ghettos gelebt hatten. Meine Vorstellungen waren direkt von dem Schrecken, dem die Juden im Mittelalter ausgesetzt waren, zu ihrer mittelständischen, städtischen und integrierten Existenz des 20. Jahrhunderts gesprungen. Ich teilte die in Amerika sehr weit verbreitete Ansicht, daß die meisten Juden im 19. Jahrhundert aufgrund des unerträglichen Antisemitismus oder der Enttäuschungen nach der gescheiterten Revolution von 1848 zum Auswandern gezwungen worden waren oder daß sie das Land verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen. Durch Bücher und Filme hatte ich den Eindruck gewonnen, daß die Beziehungen zwischen Christen und Juden entweder nur gut oder nur schlecht gewesen waren: Entweder war es ihnen vor der Zeit des Dritten Reiches gut gegangen, oder sie waren jahrhundertelang durch offenen oder versteckt gewalttätigen, weit verbreiteten Antisemitismus eingeschränkt worden. Verglichen mit den Juden in Osteuropa, wurden die Juden in Deutschland in der Regel als nicht traditionell religiös und als intensiv, wenn nicht sogar verzweifelt um Anpassung bemüht dargestellt. Die meisten dieser und anderer Klischees und Allgemeinplätze über die Juden in Deutschland paßten überhaupt nicht zu den Dokumenten und anderen Quellen, die ich studierte.

Meine »neue Familie«, die Verwandten, die ich bei meinen Nachforschungen »entdeckte«, wurden zu einem bedeutenden Wissensschatz und waren gleichzeitig Quelle der Inspiration und Ansporn. Obwohl diese Verwandten, die seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Amerika lebten, nichts über das Leben ihrer Urgroßeltern oder über die historischen Vorgänge wußten, die sich im 19. Jahrhundert ereignet hatten, erzählten sie mir über ihren Alltag in Mühringen, Michelbach und Rottweil im frühen 20. Jahrhundert. Ich merkte, daß zwischen meinem Aufwachsen unter den Nachkommen deutscher Juden in Amerika und ihrem Leben als Landjuden in Deutschland Welten lagen, aber ich erkannte auch, daß uns in vielen bedeutenderen Dingen ein gemeinsames Band und Erbe gegeben war.

Obwohl ich meine Forschungen zugegebenermaßen recht unprofessionell begonnen hatte, nutzte ich in den nun kommenden Jahren das Forschungsgeschick und die analytischen Fähigkeiten, die ich mir in meinem Geschichtsstudium angeeignet hatte. Im darauffolgenden Sommer kehrten mein Mann und ich nach Deutschland zurück, und dieses Mal war ich besser für ernsthafte Nachforschungen gerüstet. Da ich nun die alte deutsche Schrift besser entziffern konnte, konnte ich auch mehr Dokumente zuordnen. Das Ergebnis waren wieder Tausende von Seiten an Primärdokumenten.

Bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bestand Deutschland aus einer Vielzahl eigenständiger Staaten, und meine genealogischen und historischen Forschungen konzentrierten sich auf das Königreich Württemberg im Südwesten. Historische Daten, spezielle Gesetze und sogar Sitten und Gebräuche unterschieden sich von einem politischen und geographischen Bereich zum anderen, aber ich fand heraus, daß sich die Lebenserfahrungen der Juden in ganz Süddeutschland immer wiederholten. Allmählich weitete ich meine Studien von meinen direkten Vorfahren auf ihre weiter verzweigten Familien und andere Mitglieder ihrer Gemeinden aus. Fortan war es nicht mehr nur die Geschichte meiner Familie. Meine Vorfahren erzählten nun vielmehr die Geschichte der Landjuden in Süddeutschland. Durch die Unterlagen erstreckten sich meine Forschungen auch auf die Juden in ihren Gemeinden sowie auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignisse, die sich direkt und nachhaltig auf ihr Leben auswirkten. In unzähligen Stapeln verstaubter Verträge suchte ich nach Informationen über Aussteuern und Erbschaften. In den Protokollen der Dorf- und Stadträte entdeckte ich alltägliche und ungewöhnliche Ereignisse aus dem Leben der Juden.

Im Sommer 1996 fand ich im Württembergischen Hauptstaatsarchiv Stuttgart eine Petition aus dem Jahr 1827. Darin ging es um die frühen Anfänge der Emanzipation. Erstaunt sah ich, daß mein Vorfahr Berlizheimer einer der Unterzeichner war. Natürlich wollte ich mehr über seine Beteiligung und die Auswirkungen dieser globalen Ereignisse erfahren. Nachdem Hunderte von Seiten an Reden, Parlamentsdebatten und Streitschriften übersetzt waren, war meine frühere Sicht vom Leben der Landjuden durch die historischen Quellen erneut verändert worden. Ich war gezwungen, die Dokumente und persönlichen Erinnerungen, die ich bis dahin gesammelt hatte, vor dem weiter gefaßten Hintergrund der Geschichte zu untersuchen, und daher mußte ich meine Forschungen über die Grenzen von Mühringen, Michelbach und Rottweil hinaus ausdehnen.

Als ich meine Nachforschungen 1997 weiterführte, spürte ich – nun mit noch mehr Erfahrung, die alte deutsche Schrift zu lesen – zusätzliche Details auf. Ich weitete meine Untersuchungen auf das Leben und die Nachfahren der Töchter und Ehefrauen aus, die durch die arrangierten Eheschließungen Verbindungen zu anderen Gemeinden in Württemberg und anderen deutschen Staaten geschaffen hatten. Ich konnte nun diese Heiratskreise sowie Familien- und Geschäftsnetze durch ganz Süddeutschland nachzeichnen.

In den vergangenen Jahren habe ich die Geschichten über die süddeutschen ländlichen Gegenden von Berthold Auerbach, einem sehr beliebten Autor aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, gelesen. Ich empfand eine besondere Affinität zu seinen Erinnerungen an die Jugendzeit in einem Dorf in der Nähe von Mühringen, denn ich hatte herausgefunden, daß er durch Heirat mit meiner Familie verwandt war. Als ich die Bücher und Memoiren der deutschen Juden aus dem 20. Jahrhundert las, konnte ich mir vorstellen, wie meine Verwandten gebetet und ihre Religionsriten befolgt hatten. Da die Leser meines Buches unterschiedliche religiöse Hintergründe und Kenntnisse haben, habe ich einen Überblick über das traditionelle religiöse Leben im ländlichen Deutschland beigefügt.

Eine letzte »Entdeckung« war die kürzlich erfolgte Dokumentation und Analyse eines kleinen Schatzes jahrhundertealter Schriften über das Dorfleben. Diese Sammlung heiliger Schriften, eine Genisa, war in der Dachstube der Michelbacher Synagoge aufbewahrt worden, bis sie zufällig bei Restaurierungsarbeiten entdeckt wurde. Die Arbeiter hatten keine Ahnung, was sie da gefunden hatten, und warfen die Papiere auf den Müll. Glücklicherweise konnte der Bürgermeister des Ortes einen kleinen Teil davon retten. Es war ein unglaubliches Erlebnis, die zerfallenden Gebetbücher, Seiten aus dem Talmud und Jahrbücher zu betrachten, die in Hebräisch, Deutsch oder Deutsch in hebräischer Schrift verfaßt waren. Ein kleines Gebetbuch eines frommen Hausierers war unversehrt erhalten. Vielleicht hatte es ein Gundelfinger bei seinen täglichen Gebeten in den Händen gehalten.

Diese vergilbten Fragmente der Vergangenheit schlossen für mich den Kreis und verknüpften meine Vergangenheit mit der Gegenwart. Heute leben in Mühringen, Michelbach und Rottweil oder den anderen verstreuten ländlichen Gemeinden keine Juden mehr. Es bleiben nur wenige Überreste der Vergangenheit. Und so müssen die Porträts aus dem Wohnzimmer meiner Großeltern ein weiteres Symbol für und eine weitere Erinnerung an die abertausend deutschen Landjuden sein. Diese Geschichte über ihr Leben im 18. und 19. Jahrhundert ist mein Versuch, diesen stummen Andenken Gehör zu verschaffen.

Die innerste Empfindung, welche die Persönlichkeit des Landjuden ausmachte, war ein einfaches, tiefes und aufrichtiges Gefühl der Ehrfurcht und der Liebe zu Gott… Der Begriff »Religiosität« gibt dieses Gefühl nicht präzise wieder. Der Jude auf den Dörfern versuchte nicht einmal, seine Haltung gegenüber der Religion zu definieren, geschweige denn, seine unbeschreibliche Verwunderung über das Rätsel des Lebens in Worte zu fassen, wenn man Gott am Morgen pries, aber er hatte diese Empfindungen, und sie waren in unerschütterlichem Glauben in der jüdischen Tradition verankert… Nie hätte er den Tag begonnen, ohne wie seine Vorfahren zu beten. Er wußte instinktiv, daß ihm nur der Minjan das Gefühl geben konnte, Gott öffentlich gehuldigt zu haben, denn beim Gottesdienst sind wir Angehörige des Reichs Gottes, genau, wie wir Bürger unserer Heimat sind, ob wir dies nun bekennen oder aussprechen oder nicht. ... [Diese] emotional-religiöse Haltung des Dorfjuden [war] etwas, was ihn stark und beständig machte … Man muß diese Frömmigkeit des Dorfjuden unterstreichen, denn ohne sie könnte man unmöglich seinen Charakter oder seine Persönlichkeit beschreiben …

… Ich erinnere mich, wie sich die jüdischen Männer der Dorfgemeinde an einem Samstagabend vor der Synagoge versammelten. In gemütlicher Unterhaltung erwarteten sie das Auftauchen der Sterne, die Weltuhrzeit für den Ausgang des Sabbats. Danach traten sie in das Gotteshaus ein, um den Ruhetag mit den traditionellen Gebeten zu beschließen. Diese Handlung erschien mir symbolisch: Die Männer aus dieser ländlich-jüdischen Heimatgemeinde hoben ihre Augen zum Himmel, um aus ihm Kraft für die Arbeit der kommenden Woche zu schöpfen.

Rabbi Emil Schorsch

WURZELN SCHLAGEN

JOSEPH David Berlizheimer und Gustel Kaz standen unter dem Hochzeitsbaldachin, Chuppah, im Hof der Synagoge. Er war sechsunddreißig Jahre alt und wahrscheinlich nicht ganz so stattlich, wie ihn das Porträt zeigt. Sie war siebzehn und noch nicht die blinde, ältere Frau, die mit leeren Augen von der Leinwand herunterblickte. Das Fest fand in einem kleinen Dorf am Fuße eines bewaldeten Hügels an den Ufern eines ruhig seinen Biegungen folgenden Flusses statt. Es war im Jahr 1797, kurz vor dem Eintritt in ein neues Jahrhundert und zu Beginn einer neuen Ära für die Juden in den deutschen Gebieten. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Mühringen versammelten sich um das Brautpaar, als das rituelle Glas am Hochzeitsstein zerschmettert wurde.

Wie kam es, daß David und Gustel in einem kleinen Dorf in Süddeutschland heirateten? Wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach waren ihre Vorfahren in den Jahrhunderten nach 70 n. Chr. aus Palästina nach Südeuropa verbannt worden, wo sie ihr Leben als Juden in der Diaspora in Siedlungen fern dem Land Israel begannen. In der Endphase der Herrschaft der Römer wanderten einige ihrer Vorfahren aus Frankreich und Italien nach Norden in die Handelsstädte entlang der großen Flüsse. In den wenigen Orten und Städten, in denen sie sich niederlassen und in Ghettos leben durften, arbeiteten sie als Händler, Geldverleiher und Handwerker. In ihren Gemeinden blühte ein reges kulturelles und reügiöses Leben. Im frühen Mittelalter wuchs ihre Zahl in den deutschen Gebieten auf 20 000 bis 25 000 Menschen an. All jene, die in den deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas lebten, wurden Aschkenasim (nach dem hebräischen Wort für »Deutsch«) genannt und somit von den Sephardim unterschieden, die im Orient, in Afrika und in Spanien lebten.

Sie lebten in einer unsicheren Welt. Die allmächtige Papstkirche predigte, daß die Juden Jesus als Messias abgelehnt und dann seinen Tod am Kreuz verschuldet hätten. Als Strafe dafür, so die Kirche, waren sie verurteilt, auf Erden ein untergeordnetes Leben zu führen. Man stellte sie als blind dar, unfähig, das Licht zu sehen. Die Christen glaubten, die Juden hätten ihre Daseinsberechtigung nur als geduldete Fremde, um als sichtbarer Beweis für die Wahrheit des Christentums zu existieren. Von den Fresken an den Wänden großer Kathedralen bis hin zum Priester einer kleinen Gemeinde in seiner Predigt stellten alle sie als Teufel dar; damals begann das Wort »Jude« in jeder europäischen Sprache einen diabolischen Beigeschmack zu bekommen. Als Erzfeind der Christenheit waren die Juden in den Augen der Christen dazu verdammt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts durch die Welt zu ziehen; so entstand die Legende vom wandernden Ewigen Juden.

Im Jahr 1096 wandte sich der Eifer der christlichen Kreuzritter, die Ungläubigen zu bekämpfen, auch gegen den Feind, den man im eigenen Land zu erkennen meinte, gegen die Juden, die in den Städten auf dem Weg ins Heilige Land lebten. Die Kreuzritter schlachteten mehr als 12000 Juden ab, und viele, die man vor die Wahl zwischen Taufe und Tod stellte, wählten den Märtyrertod. Ab dieser Zeit war es den Juden untersagt, den Ständen beizutreten, sie konnten lediglich als Pfandleiher oder Geldverleiher arbeiten, also in Berufen, die den Christen durch das Kirchenrecht verboten waren. Papst Innozenz III. verfügte beim Vierten Laterankonzil von 1215, daß die Juden ein gelbes Abzeichen oder spitze »Judenhüte« tragen müßten, damit jegliche irrtümliche sexuelle Beziehung zwischen einem jüdischen Mann und einer christlichen Frau vermieden würde; damit stigmatisierte er die Juden noch mehr. Juden durften Eide nach ihrer Religion schwören. An manchen Gerichtshöfen allerdings wurden sie gezwungen, gegen ihre rituellen Ernährungsgesetze zu handeln, indem sie den Eid ablegten, während sie auf der Haut eines frisch geschlachteten Schweins stehen mußten.

Seit dem 12. Jahrhundert fanden die falschen Beschuldigungen des Ritualmords und der Entweihung der Hostie einen fruchtbaren Nährboden. In gezielt an die Öffentlichkeit gebrachten Fällen beschuldigte man Juden des Mordes an Christenkindern. Es hieß, daß sie in der Zeit des Pessach, des jüdischen Osterfests, bei jüdischen Ritualen Christenblut tränken, und man bezichtigte sie des Diebstahls und der Entweihung der Hostie und deren ritueller Schändung. Damit, so hieß es, inszenierten die Juden ihre Ermordung Christi erneut. Wenn ein Christenkind – vor allem in der Zeit des Pessach und in der Osterzeit – verschwand oder unter mysteriösen Umständen verstarb, kam es zu Spannungen, und manchmal nahmen Christen die Gerechtigkeit selbst in die Hand und massakrierten den fälschlich Beschuldigten. Schwierige politische Umstände und eine angebliche Entweihung der Hostie führten in einigen deutschen Städten zu judenfeindlichen Aufständen, bei denen 5000 bis 6000 Juden ermordet wurden.

Die Juden lebten weiterhin in der Angst vor Verfolgung, Einschränkungen und maßlos hohen Steuern. Dennoch bauten sie ihre Gemeinden wieder auf und gründeten neue, und manche von ihnen waren Ende des 13. Jahrhunderts zu Wohlstand gelangt. Ein halbes Jahrhundert später kam es erneut zu wirtschaftlichen und politischen Spannungen, als Hunger, Armut und eine große Pestepidemie Europa verwüsteten. Der Schwarze Tod, der von 1346 bis 1351 schätzungsweise 25 Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung Europas – dahinraffte, verschonte auch die Juden nicht, da vor allem die dicht bevölkerten Städte entlang den Handelsstraßen davon heimgesucht wurden. Für die Massen war es einfach, sich der verleumderischen Klage anzuschließen, die Inkarnation des Teufels habe – wie in früheren Zeiten – die Brunnen vergiftet, um die Christen zu vernichten. Mit diesem Hetzschrei ermordete der Pöbel diejenigen Juden, die die Pest überlebt hatten, und es wurden mindestens 300 jüdische Gemeinden zerstört.

Die wenigen überlebenden Juden durften nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Wo immer dies möglich war, ließen sie sich in benachbarten Dörfern nieder, so daß sie ihre Geschäfte mit ihren früheren Kunden wieder aufnehmen konnten. Kaum hatten sie sich jedoch niedergelassen, wurden sie zuweilen vom Herrn des Dorfes aus einer Laune heraus wieder verjagt. Gelegentlich lebten ein oder zwei Familien in einer Stadt, aber Gesetze oder Vorschriften schränkten ihre Tätigkeiten stets ein. Während sich zahlreiche Christen Familiennamen zulegten, um sich als Mitglied der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts auszuweisen, verwendeten die meisten Juden immer noch ihren hebräischen Vornamen, gefolgt vom Vornamen ihres Vaters.

Das Leben der Juden in Mitteleuropa war nicht so vielversprechend, als daß sie bessere Aussichten anderswo völlig ignorieren konnten. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert waren viele Juden aus Mitteleuropa in die osteuropäischen Gebiete in Polen und Litauen ausgewandert, wo die Herrscher eine wirtschaftliche Mittelklasse schaffen wollten und deshalb bessere Entfaltungsmöglichkeiten boten. Sie nahmen das Hochdeutsch und den jüdisch-deutschen Dialekt mit, den sie seit Jahrhunderten gesprochen hatten. Von seinen deutschen Ursprüngen abgetrennt, wurde dieser Dialekt zur Grundlage des Ostjiddisch. In jenen Jahrhunderten wuchs die jüdische Bevölkerung im damaligen Polen und Litauen von 5000 auf 30000 Menschen an.

In den deutschsprachigen Gebieten fanden die Themen der mittelalterlichen antijüdischen Literatur einen neuen Sprecher in dem protestantischen Reformator Martin Luther. In seinen frühen Jahren versuchte dieser, die Juden zum Christentum zu bekehren, aber als sie seine Lehren nicht annehmen wollten, änderte sich seine Haltung: Nach 1530 predigte er seinen Anhängern eine strenge judenfeindliche Doktrin und veröffentlichte mehrere Pamphlete, beispielsweise Von den Juden und ihren Lügen und Vom Sehem Hamphoras und vom Geschlecht Christi. Luther erklärte, daß er keinerlei Mitleid mehr mit den Juden und ihrer erbärmlichen Lage habe, da sie ihr Leiden wohlverdient hätten, weil sie sich weigerten, zum Christentum überzutreten, und somit seien sie »junge Teufel, zur Hölle verdammt«. Er sprach ausdrückliche Empfehlungen an seine Anhänger aus:

 

Daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte … Daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten … Daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren … Daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe … Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen.

 

Luthers Pamphlete riefen Bestürzung hervor – sowohl unter den Juden als auch unter bekannten Protestantenführern –, und sie erfuhren nur begrenzte Verbreitung. Vielleicht waren die Schärfe der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen und die Bedeutung der Juden im Wirtschaftsleben jener Zeit dafür verantwortlich, daß keine seiner Empfehlungen gegen die Juden umgesetzt wurden.

 

Die religiösen Bewegungen im 16. Jahrhundert führten dazu, daß jeder Landesfürst über die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen bestimmen konnte. Ein letzter großer Machtkampf, der Dreißigjährige Krieg (1618–1648), erschütterte die deutschen Regionen, als sich Katholiken und Protestanten bekämpften und dabei große Teile Mitteleuropas zerstört wurden. Einige jüdische Händler und Kaufleute konnten ihre Geschäfte ausbauen. Eine kleine, elitäre Minderheit, die Hofjuden, wurde aufgefordert, die finanziellen Bedürfnisse des Königshauses, des Hochadels und der katholischen Kirche zu erfüllen.

Durch den Krieg benötigten viele Regenten dringend Bargeld, um ihre Armeen sowie ihren verschwenderischen Lebensstil zu finanzieren. Sie griffen auf die Dienste der Geldverleiher und Lieferanten zurück. Darüber hinaus besaßen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über dreihundert Adlige und die Kirche kleine autonome Hoheitsgebiete oder Staaten. Einige dieser unabhängigen Regenten forderten Juden auf, sich in ihrem Land niederzulassen, so daß nach und nach kleine Siedlungen auf dem Land entstanden. Kein Herrscher gab jedoch vor, daß er sie aus humanitären Gründen geduldet hätte. Sie dienten vielmehr dazu, die Zahl der steuerpflichtigen Untertanen des Regenten zu mehren und die Möglichkeiten für Handel und Geschäft auszubauen. Sie stellten einen Vermögenswert dar – genau wie Ländereien und Gebäude.

Wie hatten sie ihr jüdisches Leben durch die Jahrhunderte der Zerrissenheit hindurch beibehalten können, als es ihnen nicht erlaubt war, in jüdischen Gemeinden zu leben? Manchmal waren sie vielleicht nicht in der Lage gewesen, das Quorum von zehn erwachsenen Männern für das gemeinsame Gebet, das Minjan, zu bilden oder die Mazzoth, die ungesäuerten Brote, für Pessach zu backen, oder auch Wein für den Kiddusch, die feierliche Weinsegnung, zu beschaffen. Aber das jüdische Leben konnte überleben, und aus diesen Zeiten ging eine Kontinuität des Glaubens, der Geschichte und der Bräuche hervor.

 

Nachdem sie jahrhundertelang in kleinsten Gruppen versprengt gewesen waren, konnten sich die jüdischen Familien nun wieder zum Gottesdienst versammeln und ihre religiösen Gemeinden bilden. Die Familien Kaz und Berlizheimer gehörten zu denjenigen, die sich in Mühringen ansiedeln durften. Der Ort war eines unter Hunderten von kleinen Dörfern und Weilern in Süddeutschland und lag am oberen Neckar zwischen dem Schwarzwald und der Schwäbischen Alb. Mühringen war an einen steinigen Hügel gebaut, und anstelle von Straßennamen war jedes Gebäude durch seine Lage im oberen, mittleren oder unteren Teil bezeichnet. Vom Oberdorf aus führte ein steiler Weg in den Ort Nordstetten und weiter in die Marktstadt Horb am Neckar. Der Fluß Eyach verlief vom Unterdorf zum nur wenige Kilometer entfernten Neckar.

Die Besitzer von Mühringen wechselten in dieser Zeit einige Male. Die Feudalherren gestatteten jedoch weiterhin die Ansiedlung der Juden, und 1677 stellten diese acht der 25 Steuerzahler. 1735 war der Freiherr von Münch, ein Bankier aus Augsburg, zum Feudalherrn von Mühringen und zweier benachbarter Dörfer geworden. Seine kleine Schloßfestung erhob sich auf einem Hügel über dem Ort. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts hatte er die Anzahl der Juden auf 44 Handelsleute anwachsen lassen, 37 von ihnen waren Steuerzahler. Einige von ihnen waren wahrscheinlich Nachkommen der Juden, die Jahrhunderte zuvor aus Horb und aus Rottweil vertrieben worden, jedoch aus Gründen des Handels in der Gegend geblieben waren.

Nur wenige jüdische Familienaufzeichnungen hatten die Jahrhunderte der Unruhen überdauert. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Joseph David Berlizheimer oder seinen Eltern, David und Nanette, gestattet gewesen, sich in dieser Zeit in Mühringen anzusiedeln. Sie kamen wohl aus dem Dorf Markt Berolzheim, das im frühen 18. Jahrhundert eine Synagoge und ein Gemeindebad unterhielt. Die Zuwanderer waren rund zweihundert Kilometer nach Westen in ihre neue Heimat gezogen. Gustels Großeltern, Löw (Leopold) Kaz und Karoline, ließen sich vor 1766 hier nieder. Ihr Familienname gibt keinerlei Hinweis auf ihre Herkunft, denn der Name »Kaz« bedeutet nur, daß sie Kohanims, Nachkommen des Stammes von Aaron, den Priestern des Tempels in Jerusalem, waren. Ihr Sohn Moises heiratete 1779 im Alter von 29 Jahren. Seine Braut Sara war die vierzehnjährige Tochter von Samuel.

Genau wie früher ihre Vorfahren an anderen Orten, bildeten diese Familien eine Religionsgemeinschaft. Es handelte sich dabei nicht um freiwillige Gemeinden. Eher – wie die Christen notwendigerweise zu einer Kirche gehörten – wurden die Juden an einem Ort dessen religiöser Gemeinde angeschlossen. Jeder verheiratete Mann war Mitglied der Kehilla, der Gemeinde, die für die Leitung ihrer Mitglieder und deren Vertretung in weltlichen Dingen zuständig war. Diese Organisationsform kam den Regenten sehr entgegen, die ihre Untertanen über diese Gemeinschaften besteuerten. Da die Pflicht zur Zahlung der erhobenen Steuern der ganzen Gemeinde auferlegt wurde, mußten deren reichere Angehörige oft für Zahlungen bürgen und sogar die Steuern für die ärmeren Mitglieder entrichten. Die Gemeinde bezahlte zudem Steuern, die ihr der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation pauschal auferlegte.

Die Mitglieder dieser lokalen Gemeinden wurden zu einer größeren Landjudenschaft zusammengefaßt, die es nur in den deutschsprachigen Gebieten gab und die ihre Angelegenheiten selbständig regelten. Die Gemeinden im Umkreis von Mühringen schlossen sich zum Schwarzwaldkreis zusammen, der sich um den dringendsten Bedarf der Region – eine geweihte Begräbnisstätte – bemühte. Die Landjudenschaft richtete einen eingezäunten Friedhof ein und bezahlte dessen Kosten. Jede Gemeinde zahlte einen Beitrag für seine Unterhaltung. Ihr wurde ein kleines, bewaldetes Landstück an einem steilen Hügel im Mühringer Wald, etwa 400 Meter vom Ortskern entfernt gelegen, zugewiesen.

Bis 1728, als man der Gemeinde den Bau einer Synagoge gestattete, beteten und studierten die Mühringer Juden in Privathäusern. Die Synagoge wurde am höchstgelegenen Punkt des Hauptortsteils errichtet und erfüllte so die Auslegung des Thora-Spruches, daß eine Synagoge höher als die anderen Häuser sein soll. Da sich die Juden sicherlich bewußt waren, daß die Ortskirche alle anderen Gebäude überragen sollte, war das Dach der Synagoge niedriger als der Kirchturm der katholischen Kirche am Fuße des Hügels. Üblicherweise verkaufte die Gemeinde die Rechte an den Sitzen in der Synagoge an ihre Mitglieder, um ihre Einkünfte zu erhöhen, und diejenigen mit einem ausreichenden Vermögen steuerten zusätzliche Gelder sowie rituelle Gegenstände bei. Es war keine Überraschung, daß manche Mitglieder für ihre Sitze in mehreren Raten bezahlen mußten. Das geschah beispielsweise, als Joseph Epstein für sich einen Sitz in der Männerabteilung »neben David Marx« sowie einen weiteren im Frauenbereich »neben Gustel Hirsch« erwarb. Die Kosten dafür waren mit 72 Gulden, verglichen mit anderen festen Preisen (120 Gulden für eine Wohnung), recht hoch. Die Plätze der Frauen waren durch eine hölzerne Abschirmung oder einen Vorhang von der Männerabteilung abgetrennt.

Jüdischer Friedhof in Mühringen: Getreu den Sitten und Gebräuchen waren alle Grabsteine nach Osten in Richtung des ehemaligen Standorts des alten Tempels in Jerusalem ausgerichtet. Alle Inschriften wurden in hebräischen Buchstaben eingraviert.

Die Landjudenschaft stellte 1728 ihren ersten Rabbiner ein, nämlich Rabbi Elias Weil aus Haigerloch. Für seine Dienste bekam er ein Gehalt und eine Wohnung. Der zweite Rabbiner, Rabbi Nathanael Weil (Nethanel ben Naphtali Zevi Weil), brachte die Schatten der schwerwiegenden Ereignisse in entfernten Teilen Europas mit in die kleine Gemeinde: 1692, als er gerade fünf Jahre alt war, wurden seine beiden Brüder in Stühlingen ermordet und starben als Märtyrer, kurz darauf verstarb sein Vater. Mit seiner Mutter reiste er nach Fürth, wo er an der Jeschiwa, einer berühmten Talmud-Hochschule, studierte. Danach ging er an die bedeutende Jeschiwa in Prag, das im damaligen Kaiserreich Österreich-Ungarn eine Hochburg für jüdische Studien war. Als hervorragender Student des bekannten Rabbiners Rabbi Abraham Brod ging Weil mit diesem an die Jeschivot im französischen Metz sowie in Frankfurt am Main und ehelichte Brods Tochter. Rabbi Weil kehrte 1717 nach Prag zurück, um dort für Tausende von Studenten die Stelle eines Leiters einer Jeschiwa und Rabbinatsassessors anzunehmen – Positionen, die ihm allerdings nur einen kümmerlichen Lebensunterhalt bescherten. Jahrzehnte später versuchten Soldaten, sein Haus und diejenigen anderer Juden in der Judengasse zu plündern. Drei Tage lang verteidigten sich die Juden erfolgreich unter Weils Führung. Im darauffolgenden Monat, am 18. Dezember 1744, ordnete Kaiserin Maria Theresia, eine der angeblich aufgeklärten Herrscher, die Vertreibung der Juden aus Prag an und zwang mehrere tausend Familien zum Verlassen der Stadt. Im Alter von 57 Jahren wurde Rabbi Weil zum Rabbiner des Schwarzwaldkreises berufen. Viele seiner Jeschiwa-Schüler folgten ihm nach Mühringen, und einer seiner vier Söhne arbeitete als sein Schreiber, während Nathanael seine Lehrtätigkeit fortsetzte und Kommentare über den Talmud verfaßte, darunter das Werk Korban Netanel. Sein 1755 veröffentlichter Kommentar war das erste in Karlsruhe gedruckte und veröffentlichte Buch in hebräischer Sprache. Er blieb nur fünf Jahre in Mühringen, dann wurde er als Oberrabbiner der badischen Juden nach Karlsruhe berufen. Erfolglos versuchte er, einen seiner Söhne zu seinem Nachfolger ernennen zu lassen. Er war so angesehen und geachtet, daß bei seinem Tod 1769 Juden in ganz Europa um ihn trauerten und die Regierung Leibhusaren für den Leichenzug bewilligte.

Rabbi Nathanael Weil (1687–1769), Rabbiner in Mühringen 1745–1750, Rabbiner in Karlsruhe 1750–1769.Die hebräische Inschrift auf seinem Grabstein lautet:»… Hier ruht der Herr, der große, weitbekannte Gelehrte, Pracht der Generation, all seinen Anhängern Lehrer und Meister… Wie viele Wunder widerfuhren ihm…[Sein Andenken] bestehe bis zum Ende der Tage, von Geschlecht zu Geschlecht.«

Obwohl Mühringen nicht Teil des protestantischen Herzogtums Württemberg war, lag es nahe an dessen Grenze. 1733 brachte der katholische Herzog, selbst ein Fremder, das Finanzgenie Joseph Süß Oppenheimer aus Frankfurt mit, der die Württemberger Finanzen überwachen sollte. Süß füllte die Tresore des Herzogs und häufte selbst ein großes Vermögen an. Er genoß das luxuriöse Leben am Hof, darunter auch Liebschaften mit Damen aus dem christlichen Adel. Dabei widersetzte er sich allen etablierten Machtstrukturen und war nur als »Jud Süß« bekannt. Dennoch blieb er Jude. Am Tag nach dem unerwarteten Ableben des Herzogs kam er ins Gefängnis und wurde zahlreicher Verbrechen beschuldigt. Eine Sonderkommission konnte keine bestimmten Anschuldigungen beweisen, also verurteilte man ihn wegen moralischer Verdorbenheit und wegen Verletzung der Landesgesetze zum Tod. Priester versuchten ihn zum Christentum zu bekehren, um seine Seele zu retten, aber er starb als Jude und sagte: »Ich lebe als Jude und sterbe als Jude.« An dem verschneiten Morgen des 4. Februar 1738 versammelten sich mehrere tausend Menschen aus Stadt und Land und mehr als 600 Würdenträger, die auf speziell errichteten Tribünen saßen, auf dem Marktplatz in Stuttgart. Die Christen jubelten und klatschten Beifall, als Süß in einem Käfig gehängt wurde. So machten sie ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Vertreter des Wandels, dem Symbol der neuzeitlichen Regierung, dem Fremden und dem Juden Luft. Noch Jahre später waren diese Ereignisse Thema in antijüdischen Pamphleten und Zeichnungen. Die Juden ihrerseits gedachten seiner ungerechtfertigten Hinrichtung als Märtyrer mit einem Fasten- und Bußtag, und jedes Jahr begingen sie so den Jahrestag seines Todes.

Die Hinrichtung von Süß Oppenheimer. Sein Leichnam wurde viele Monate lang in dem Käfig belassen.

Diese Einstellungen wirkten sich zweifellos 1750 auf Mühringen aus, als die Zahl der jüdischen Familien fast derjenigen der sechzig christlichen Familien entsprach und die katholischen Dorfbewohner begannen, ihre Besorgnis zu äußern. Zwei Jahre später bekämpften Christen die Juden auf der Straße, plünderten ihre Häuser und zerstörten die Einfassung des Friedhofs. Trotz dieser Geschehnisse gestattete der Freiherr noch mehr jüdische Bewohner, und die jüdische Bevölkerung des Dorfes nahm weiter zu. 1766 zog er von den Mitgliedern der Gemeinde einen hohen Betrag an Steuern für »Handwerker und Commercia« ein (1245 Gulden). Drei Juden besaßen Häuser mit im ganzen Dorf verstreuten kleinen Gärten und zahlten Steuern in beträchtlicher Höhe (150 Gulden). Vier weitere entrichteten weit geringere Beträge (40 bis 80 Gulden), und fünfundzwanzig bezahlten eine noch geringere, wenn auch immer noch bedeutende Summe (15 bis 25 Gulden). Drei Männer und vier Witwen bezahlten gar keine derartigen Gewerbesteuern. Nicht einmal zwei Jahrzehnte später besaßen zwanzig Familien Wohnungen in verschiedenen Gebäuden, und eines davon wurde als »Judenbau« bezeichnet.

Der jüdische Schwarzwaldkreis wurde immer größer und zog bedeutende Rabbiner an. Rabbi Simon Veis, ein Gelehrter aus Flehingen, wirkte von 1751 bis 1771 in Mühringen, bis er nach Darmstadt gerufen wurde. Der nächste Rabbiner, Rabbi David Dispeck, stammte aus dem kleinen Ort Dispeck. Nach seinen Studienjahren an den Jeschivot in Frankfurt am Main und Fürth ernährte er seine Familie durch seinen Handel mit Gold, Silber, Waren und Schmuck, bis er 1767 sein gesamtes Vermögen verlor. Nach Bezahlung aller seiner Schulden erhielt er 1772 die Berufung zum Rabbiner in Mühringen. Vier Jahre später erwarb die Gemeinde ein geräumiges, zweistöckiges Haus nahe der Synagoge. Der Vorsänger, Chasan, lebte in einer Wohnung im Erdgeschoß, die Wohnung des Rabbiners befand sich zusammen mit einem Gemeinderaum im oberen Stockwerk. Die Gemeinde baute ein rituelles Bad im Keller, wo es mit Wasser aus einer natürlichen Quelle gefüllt werden konnte.

Mühringen im 18. Jahrhundert

Rabbi Dispeck gründete eine Jeschiwa in Mühringen. Probleme und interne Querelen zwangen ihn jedoch, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. 1779 wurde er Rabbiner an der Jeschiwa in der Stadt Metz. Dort wirkte er als Rabbiner des Beerdigungsvereins, Lehrer und Leiter der Jeschiwa, später war er Kreisrabbiner in Baiersdorf. Er veröffentlichte Garten Davids, Pardes David, eine Sammlung von Auslegungen des Talmud.

Rabbi Dispeck bemühte sich, seinen Sohn Jacob Samuel Schwabacher als Nachfolger einzusetzen. Rabbi Schwabacher kam aus Fürth und war zuvor Rabbiner einer großen Gemeinde in Gailingen gewesen. Aus irgendeinem Grund lehnte Mühringen ihn ab, aber die anderen Gemeinden nahmen ihn an, und so behielt er seinen Sitz in Nordstetten, bis ihn auch Mühringen zum Rabbiner wählte. Daraufhin wurde beschlossen, daß er die eine Hälfte des Jahres in Mühringen und die andere in Nordstetten verbringen sollte.

Als die Gemeinden ihren Friedhof erweitern mußten, überließen ihnen der Schultheiß, der Bürgermeister und die christliche Gemeinde Land neben dem bisherigen Friedhof (für 24 Gulden). Die Leiter der Gemeinde Mühringen, Bär Hilb und David Küsel, Unterzeichneten im Namen der örtlichen Judenschaft in deutscher Sprache. Rabbi Abraham Weil, der Enkel von Rabbi Nathanael Weil und Sohn des bedeutenden Rabbi Tia Weil von Karlsruhe, war zwischen 1789 und 1797 Rabbiner, bis er zum Oberrabbiner im badischen Sulzburg berufen wurde.

Diese Reihe gelehrter und in Deutschland geborener Rabbiner brachte der Gemeinde innerhalb der anderen ländlichen Gemeinden großes Ansehen. Viele von ihnen konnten sich nur geringfügig ausgebildete Rabbiner aus Osteuropa leisten. Selbst die ärmsten Hausierer und Bettler waren stolz darauf, einer so bedeutenden Gemeinde wie Mühringen anzugehören.

 

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hatten Joseph David Berlizheimer und Moises Kaz in Mühringen beide den Status eines »Schutzjuden« erlangt. Freiherr von Münch erlaubte es nur denjenigen in seinem Feudalstaat zu leben, die ein ausreichendes Vermögen besaßen. Gegen eine Zulassungsgebühr und ein jährliches Schutzgeld stellte er ihnen einen Schutzbrief aus. Dieser wurde von einem Schreiber ausgefertigt und durch das Wachssiegel des Regenten offiziell beglaubigt. Natürlich konnte dieser die Zahlungen nach Belieben heraufsetzen. 1773 beispielsweise erhöhte er die Beträge beträchtlich (Zulassungsgebühr in Höhe von 75 Gulden und Schutzgeld in Höhe von 25 Gulden). Der Schutzbrief umfaßte auch Zutritt zu den Gerichten und häufig auch die öffentliche Genehmigung für Geschäfte. Solange die vertragliche Vereinbarung gültig war, konnte der Jude nicht vertrieben werden. Doch seine Witwe und seine Kinder genossen diesen Schutz nach seinem Tod nicht mehr. Da es sich nur um einen Vertrag zwischen dem Schutzherrn und dem Juden handelte, behielt er auch nicht unbedingt seine Gültigkeit, wenn der Schutzherr verstarb oder seinen Lehnsbesitz verkaufte. In den öffentlichen Transaktionsunterlagen und Registern nannte man diese Juden stets »Schutzjuden«, denn dieser Titel zeigte an, daß sie einen besonderen rechtlichen Status genossen.

Als Joseph David 1797 heiratete, hatte er sich als Tuchhändler und Kaufmann etabliert. Andere Händler spezialisierten sich auf andere Waren, am häufigsten waren dies Getreide, Hopfen, Kurzwaren, Leder oder Federn. Manche Männer begannen ein Geschäft als Viehhändler, weil sie auch als Metzger für koscheres Fleisch arbeiteten, die sowohl eine jüdische als auch christliche Kundschaft bedienten. Diese Männer durften Familiennamen annehmen, doch häufig war dies nicht erforderlich, da sie meist direkt mit ihren Kunden oder Lieferanten zu tun hatten. Manche reisten mit Pferdewagen oder nur zu Pferde und legten etwa fünf Kilometer in der Stunde zurück. In ihren Dörfern kauften sie Wohnungen und Häuser und zahlten Gewerbesteuern. In der Regel reichte ihr Vermögen für den Status eines Schutzjuden aus.

Der weitaus überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung allerdings konnte sich die hohen Schutzgelder oder Zulassungsgebühren nicht leisten und hatte auch kein ausreichendes Vermögen, um für die Aufnahme zu bürgen. Sie waren nur durch die elementaren gesellschaftlichen Normen geschützt: Man durfte sie nicht ermorden oder notzüchtigen. In allen offiziellen Registern der deutschen Territorien stand vor ihrem Namen das Wort »Jud«. Sie lebten im Dorf, aber sie konnten auch jederzeit aus einem beliebigen Grund vertrieben werden.

Die meisten dieser Juden ohne den Status eines Schutzjuden waren Hausierer. Sie reisten über die schmutzigen Straßen und Wege von einem Weiler zum andern. Sie boten alte Kleider feil oder verkauften Waren in Kommission für die jüdischen Kaufleute. Oft brachen sie am Samstagabend nach dem den Sabbat beschließenden Gottesdienst auf und wanderten die ganze Nacht hindurch mit ihrem schweren Gepäck auf dem Rücken, um bis Sonntagmorgen ein christliches Dorf zu erreichen. Dort blieben sie dann bis zum darauffolgenden Freitagmorgen; sie waren zwar im Dorf zugegen, aber sie gehörten nicht dazu. Sie sahen nicht aus wie die Kleinbauern. Auch als sie nicht mehr verpflichtet waren, das Judenabzeichen oder den Hut zu tragen, unterschieden sie sich durch ihre besondere Kleidung, die eher der Stadtkleidung entsprach, sowie durch ihre Bärte. Ihre Vor-Schriften machten es ihnen schwer, bei dem Bauern koschere Nahrung zu erhalten. Obwohl die Bauern diese religiösen Riten nicht verstanden, wußten sie um sie. Daher setzten sie den Juden nur Wasser, schwarzen Kaffee oder eine Scheibe Brot vor. In manchen christlichen Herbergen ritzte der Besitzer eine Markierung in einen Metalltopf ein (bisweilen ein »K« für koscher, kaschrut); so konnten sie darin ihre Mahlzeit zubereiten, und für die Christen war dies das Zeichen, diesen Topf nicht zu verwenden. Die Hausierer bereiteten sich Kartoffeln zu oder geräuchertes Fleisch, das sie von zu Hause mitgebracht hatten. Wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit kein offenes Gasthaus erreichen konnten, mußten sie die Nacht in einer Scheune auf einem Bauernhof verbringen. Der Bauer konnte hören, wie sie ihre hebräischen Abendgebete auswendig sprachen oder aus ihrem kleinen Reisegebetbuch lasen. Am nächsten Morgen konnte man sehen, wie sie ihre Gebetsriemen, die Tefillin, anlegten und beteten.

Gebetbuch für die Reise aus der Genisa Michelbach. Dieses Büchlein aus dem späten 18. Jahrhundert ist 6 cm breit und 10 cm hoch.

Die Hausierer führten in ihrem sperrigen Gepäck Tuchwaren, Felle und Häute mit sich, ferner Kurzwaren, Federn, Bettzeug oder Wolle. Viele handelten mit allen möglichen Waren oder mit allem, was sie kaufen oder tauschen konnten. Wenn sie es sich nicht leisten konnten, eine Kuh zu kaufen und wieder zu verkaufen, handelten sie nur als Vermittler, Schmuser, und verdienten sich eine kleine Summe damit, daß sie den Handel vorbereiteten. Sie variierten ihr Sortiment je nach den Bedürfnissen ihrer Kunden, den wirtschaftlichen Veränderungen, der Verfügbarkeit von Waren und den saisonalen Gegebenheiten.

Die Christen, die ihren Lebensunterhalt auf die gleiche Weise verdienten, wurden ebenfalls Hausierer genannt, doch viele Christen verwendeten für die jüdischen Hausierer den abwertenden Begriff Schacherjuden. Das Wort Schacher, das sich aus dem hebräischen Wort für »Schwarzhandel« oder »Geschäfte unter der Hand« ableitet, war seit dem 17. Jahrhundert eine Vokabel der kriminellen Unterwelt. Die Worte Schacher, Schacherer und Schacherjude hatten damals viele Bedeutungen: Kurzwarenhändler, Lumpenhändler, Pfandleiher, Gebrauchtwarenhändler, Straßenhändler, Hausierer, Feilscher.

Auf einer noch niedrigeren wirtschaftlichen Stufe gab es die jüdischen Bettler und Wanderer, die Schnorrer, die nicht von einem Regenten beschützt wurden, um die sich jedoch die örtlichen jüdischen Gemeinden kümmerten. Sie wanderten von einer Gemeinde zur nächsten und lebten am Sabbat von Almosen. Kleinere Gemeinden luden die Bettler häufig ein, über den Sabbat bei ihnen zu bleiben, damit sie das erforderliche Quorum von zehn erwachsenen Männern für das Abhalten des Gottesdienstes bilden konnten. In allen Gemeinden erhielten die Bettler einen Gutschein für eine Mahlzeit in einem Privathaus. Die Bettler vergalten die Gastfreundschaft ihrer Gastgeber dadurch, daß sie ihnen die Neuigkeiten aus anderen Gemeinden erzählten, manchmal dienten sie auch als Vermittler. Je nach Wirtschaftslage, Gesundheit und Glück arbeiteten diese Juden auch als Hausierer im Schacherhandel, oder sie verkauften auf den Märkten jüdische Gebetbücher und andere kleine rituelle Gegenstände. Für die Gemeinde waren sie eine wirtschaftliche Belastung, und häufig zwang sie die Gemeinde, nach dem Sabbat weiterzuziehen. Obwohl die Verwaltungsbehörden nichts zu ihrer Unterstützung beitrugen, beklagten sich die Beamten oft über ihre Anwesenheit.

Eine ganz kleine, aber auffällige Gruppe war eine Unterwelt aus jüdischen Dieben und Gaunern, die vor allem Kaufleute und Reisende ausplünderten. Verbrecherbanden aus Christen und Juden lebten und arbeiteten zusammen. Ihr spezieller Diebesjargon, Jenisch oder Rotwelsch, war eine Mischung aus Deutsch und Hebräisch, was in der Öffentlichkeit noch den Irrglauben stärkte, daß es sich bei den Mitgliedern dieser Gruppe nur um Juden handelte.

In vielerlei Hinsicht spiegelten diese Schichten auch die Hierarchie in den christlichen Gemeinden wider: Die Adelsfamilie, die Bauern, die genug Land besaßen, um dieses mit Hilfe eines Pferdegespanns zu bestellen, die ärmeren Bauern, die nur einen Zugochsen hatten, die Handwerker im Dorf ohne Landbesitz und die Tagelöhner. Während die Christen selten ihre gesellschaftliche Stellung wechselten, wiesen die Juden, wie wir noch sehen werden, binnen relativ kurzer Zeitspannen eine größere Klassenmobilität (und zwar sowohl nach oben als auch nach unten) auf.

 

Moises, Joseph David und die anderen Männer waren stets auf Reisen – sie gingen bei ihren wöchentlichen Geschäften von ihrem Dorf in die Nachbardörfer und zu den wöchentlichen und saisonalen Märkten. Die Händler und Hausierer besuchten den Vieh- und Warenmarkt im nahegelegenen Ort Horb sowie in Rottweil und Schramberg, die jeweils acht Wegstunden entfernt lagen. Sie machten ihre Geschäfte, tauschten Neuigkeiten aus und knüpften direkte Kontakte zu möglichen Ehepartnern für ihre Söhne und Töchter. Die jüdischen Händler waren ein fester Bestandteil der Märkte. Wenn die Veranstalter versehentlich einen Markt auf einen Samstag oder einen jüdischen Feiertag ansetzten, wurde dieses Datum noch geändert. In den lokalen Zeitungen gab es dann durch die einfache Zeichnung einer Kuh auf einem Markt die Meldung, daß die Juden an dem bisherigen Marktdatum nicht anwesend sein könnten, und es wurde das neue Marktdatum angegeben.

Juden aus allen sozialen Schichten reisten zu den wichtigen regionalen Messen, von denen manche sogar internationale Veranstaltungen waren. Die Messe in Frankfurt am Main fand im Frühjahr und im Herbst über mehrere Wochen hinweg statt. Über tausend jüdische Händler nahmen an den Leipziger Messen teil (obwohl sie dort nicht ihren Wohnsitz nehmen durften) und führten ihre großen Geschäfte, meist mit Textilien und Pelzen, durch. Die Bedeutung dieser Veranstaltungen spiegelte sich in den jüdischen Almanachen, den Kalendern, wider, in denen die Daten der Märkte und Messen in ganz Mittel- und Westeuropa aufgeführt waren.

Diese Kalender wurden in Hebräisch oder in Deutsch mit hebräischen Buchstaben gedruckt und enthielten die Marktorte und Daten sowie die christlichen Feiertage. Die Kalenderseite hatte verschiedene Überschriften, darunter den hebräischen Wochentag, den hebräischen Kalendermonat, den zivilen Monat und Tag, die wöchentliche Thora-Lesung, die genaue Uhrzeit für Sonnenuntergang und verschiedene religiöse Fasttage. Oft waren die Monate mit Sternzeichenbildern illustriert, und in den Almanachen fanden sich auch Sprichwörter mit Volksweisheiten.

Wenn sie die Grenzen verschiedener Staaten und Hoheitsgebiete überschritten, wurden die Juden häufig erniedriegend behandelt. Zollbeamte erhoben einen Zoll auf die Waren und den Viehbestand aller Händler, egal, ob Christen oder Juden. Aber die Beamten verlangten von den Juden noch eine zusätzliche Gebühr, den Leibzoll, angeblich als eine Schutzgebühr, und die einzelnen Städte und Regenten setzten den jeweiligen genauen Betrag für ein Gebiet fest. Diese Gebühr machten das Handeln teurer und verringerte natürlich den mageren Gewinn für die armen Kleinhändler. Schlimmer zu ertragen waren jedoch die persönlichen Diskriminierungen. Der Jude wurde besteuert, als sei er eine Kuh; an einigen Grenzen wurden die Zollgebühren in die folgenden Kategorien eingeteilt: »Honig, Hopfen, Holz, Juden, Kreide, Käse und Holzkohle.« Selbst wenn ein Trauerzug die Zollgrenzen passieren wollte, wurde der jüdische Leibzoll für jeden im Zug erhoben – sogar für den Leichnam!

Gelegentlich konnten die Juden über den genauen Betrag des Leibzolls verhandeln, besonders dann, wenn die örtliche Regierung ihren Beitrag zur Wirtschaft schätzte. Nach 1780 beispielsweise bat der Präsident einer Landjudenschaft, die drei Gemeinden einschließlich Mühringen vertrat, den Bürgermeister von Rottweil in einem Schreiben darum, den vor kurzem erhöhten Leibzoll für die Juden wieder auf den vorherigen Stand zu senken. Der Stadtrat entschied, daß der Zollbeamte den Leibzoll für Juden bei den jährlichen Märkten und in den ländlichen Gebieten, die zu Rottweil gehörten, senken sollte, so daß die durchreisenden Juden 10 Kreuzer und diejenigen, die zu Handelszwecken kamen, das Doppelte entrichten mußten.

Christliche Kleinbauern hatten ein gespaltenes Verhältnis zu den Juden. Positiv war, daß sie jahrein jahraus über Generationen hinweg mit denselben Juden und deren Nachkommen Handel trieben. Mehrere Male im Jahr kamen die Hausierer auf ihren Bauernhof und zeigten in der Küche ihre Waren. Die Bauern kauften dann ein wenig oder teilten den Juden mit, was sie brauchten. Sie hörten Neuigkeiten über das Dorf, die Nachbarn und sogar über die entfernten Städte, welche die Juden bei den jährlichen Messen besuchten. Die Bauern und die jüdischen Hausierer profitierten so gleichermaßen von den Kontakten.

Manchmal konnten die Bauern jedoch die benötigten Waren nicht bezahlen oder – wie etwa in den Wintermonaten vor der Pflanz- und Erntezeit – nur einen geringen Betrag anzahlen. Die Hausierer und die Bauern trafen dann eine mündliche Vereinbarung, nach welcher der Bauer die Waren nach der Ernte bezahlen könnte. Manchmal wurden auch einfache Schuldscheine unterzeichnet. Häufig brauchte der Bauer Kühe, die er aber nicht kaufen konnte. Die Händler schlossen dann eine sogenannte Viehverstellung ab: sie verpachteten dem Bauern die Kühe. In den Pachtverträgen waren die Rechte der Parteien genau festgelegt: Der Jude war Besitzer der Kühe, während der Bauer die Kühe und ihre Milch sowie ihren Dung nutzen konnte und für sie sorgen mußte. Der Ertrag aus einem späteren Verkauf der Kühe und ihrer Kälber ging in der Regel an die Eigentümer, manchmal bekamen jedoch auch die Bauern einen Anteil davon.

Die christlichen Kleinbauern bestellten kleine, vererbte Höfe und zahlten den Lehnsherren Pacht und Steuern in Höhe eines Drittels ihrer Getreideernte. Die Landesherrscher setzten die finanziellen Verpflichtungen fest, und ab dem 17. Jahrhundert verlangten sie vorwiegend Barzahlungen. Die jüdischen Kaufleute und Händler dienten den Kleinbauern als Geldverleiher, damit diese die Barmittel aufbringen konnten. In der Regel verliehen sie kleine Summen und gewährten kurzfristige Vorauszahlungen. In anderen Fällen gaben sie Darlehen oder stellten Wechsel oder Schuldscheine aus, die auf mehrere Monate oder sogar Jahre befristet waren. Wenn die Kleinbauern Geld für ihre Vermögensverpflichtungen oder für die Ausrichtung der Hochzeit ihrer Kinder brauchten, besaßen sie häufig nicht die erforderlichen Sicherheiten oder Vermögenswerte, um das Geld von den traditionellen Darlehensinstituten zu bekommen. Dann wandten sie sich an die Juden. Da diese Darlehen häufig nicht öffentlich eingetragen wurden und die Juden ihre Aufzeichnungen in Hebräisch oder in Deutsch in hebräischer Schrift führten, konnten die Kleinbauern ihre finanziellen Angelegenheiten vor ihren Nachbarn oder ihren Geschäftspartnern geheimhalten.

Auf der anderen Seite konnten sich diese Geschäftsbeziehungen aber auch als sehr schwierig und voller Spannungen erweisen, wenn die Bauern nicht genug Geld hatten, um die Händler für die benötigten Waren zu bezahlen oder ihre Schulden abzuleisten. Es gab auf beiden Seiten kleinere Fälle von Mißbrauch und unlauteren Geschäftspraktiken. So verkauften Christen beispielsweise eine kranke Kuh als gesundes Tier, ein altes Pferd als ein junges, Korn mit falschen Gewichtsangaben und gebrauchte Sachen als neu. Die Juden ihrerseits verlangten für ihre Waren mehr als den üblichen Marktpreis und verhandelten stundenlang. Wenn eine Seite feststellte, daß sie erheblich übervorteilt worden war, wandten sich beide Seiten anderen Geschäftspartnern zu. Die Juden verliehen Geld zu höheren Zinsen als andere Verleiher, aber sie verlangten keine Sicherheit und übernahmen das gesamte Risiko. Die Darlehensnehmer, die ein Darlehen von Christen oder anerkannten Kreditinstitutionen bekommen konnten, nahmen es auch bei ihnen auf, aber wenn sie das Geld rasch oder heimlich benötigten, wandten sie sich an die Juden. Die Einschätzung, ob die Juden Geldverleiher oder Wucherer, Hausierer oder Schacherjuden waren, hing von der Wirtschaftslage und dem Ausmaß möglicher antijüdischer Einstellungen der Christen ab. Wenn die Kleinbauern mit den Juden in harten Zeiten Handel trieben, war es unvermeidlich, daß sie diese zumindest für einen Teil ihrer Schwierigkeiten verantwortlich machten.

Im 18. Jahrhundert sprachen fast alle Juden eine Mundart, die eine Mischung aus hebräischen Worten und den einzelnen lokalen Dialekten war. Diese Mundart war linguistisch stark mit den verschiedenen lokalen Dialekten verwandt, so daß jeder sie verstehen und einen großen Teil davon sprechen konnte. Sie wurde Westjiddisch, Judeo-deutsche Sprache oder Jüdisch-Deutsch genannt. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begann mit dem Aufkommen hochsprachlicher deutscher Texte, die in hebräischer Schrift (Hebräisch-Deutsch oder Judeo-Deutsch) abgefaßt wurden, der langsame Übergang vom Westjiddisch zum Hochdeutsch. Bücher, die auf Hochdeutsch in hebräischer Schrift geschrieben waren, enthielten in der Regel Glossare für diejenigen Leser, die nur über einen begrenzten deutschen Wortschatz verfügten. Die Sprache jedes einzelnen wurde von dessen wirtschaftlichem, gesellschaftlichem, religiösem und kulturellem Hintergrund bestimmt. Die einzelnen Sprachen schlossen einander nicht aus, die Juden vermischten sie in Wort und Schrift. So, wie die lokalen Dialekte im Vergleich zum Hochdeutsch als ein Ausdruck des Unwissens und der Rückständigkeit gewertet wurden, wurde auch der jüdische Dialekt als ein Symbol des Andersseins der Juden und ihres Mangels an Bildung gewertet.

Die Juden waren eine kleine Minderheit in der Gesamtbevölkerung und spielten in der Gesamtwirtschaft eine marginale Rolle. Für die Christen allerdings schienen sie zahlreich und allgegenwärtig zu sein. In den Augen der Kleinbauern waren sie nicht nur alle gleich und austauschbar, sondern auch fremd und anders. Zwischen den wirtschaftlichen Grundlagen des Lebens von Juden und Christen lagen Welten. Christliche Bauern und Handwerker arbeiteten mit den Händen und verrichteten harte körperliche Arbeit. Für sie sah es so aus, als würden die jüdischen Hausierer nur reden und mit Geld umgehen, und die Christen konnten sich nicht vorstellen, wie mühsam die Juden tatsächlich ihren Lebensunterhalt verdienten.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war dies der gesellschaftliche und kulturelle Hintergrund für Joseph David Berlizheimer, seine Braut Gustel und die Juden, die ihrer Hochzeitsfeier unter dem Baldachin beiwohnten. Hier – und nicht in den Stadtghettos oder in Osteuropa – waren sie ansässig geworden. Sie lebten in den hügeligen ländlichen Gebieten im südlichen Deutschland. Die Geschichte der vorangegangenen Jahrhunderte war schwierig gewesen, aber sie freuten sich darauf, eine Familie zu gründen und in ihrer jüdischen Gemeinde im Mühringen des Freiherrn von Münch zu leben.

 

Die Geschichte von Moises Kaz, dem Vater von Gustel, war nicht typisch für das Leben im Wohlstand, das die Hofjuden führten, oder für das entbehrungsreiche Dasein der Hausierer und Bettler. Sein Leben spiegelte weder das Dasein der Juden auf dem Land noch das in den Kleinstädten wider. Seine Rolle als hoher Lieferant und Geldverleiher in einer Stadt gab seinem Leben als integraler Bestandteil der Geschichte der Juden auf dem Land besondere Bedeutung.

Der Vater von Moises Kaz hatte einer Mehrheit von Steuerzahlern angehört, die 1766 in Mühringen den geringsten Betrag an Handwerker- und Commercia-Steuern gezahlt hatten (15 Gulden). Durch harte Arbeit und die Pflege eines effizienten Netzes konnte sich Moises selbst vom Kleinhändler zum Kaufmann entwickeln. 1788 kaufte er zwei Wohnungen (für 240 Gulden) in dem großen Gebäude, dem Judenbau, das sich im Besitz des Freiherrn befand. Einige Jahre später erwarb er an einem bevorzugten Platz im Mitteldorf (für 1822 Gulden) ein großes, teures Haus, das »Blaue Haus«. Es stand mitten im Dorf an der Ecke der Straße nach Süden. Das Haus hatte zwei Stockwerke und war aus großen Steinen errichtet worden; im oberen Stockwerk gab es einen gußeisernen Ofen, ferner hatte es einen Keller und einen separaten Heuboden. Seine Nachbarn waren die Wirtschaft »Zum Hirsch« und die Brauerei. Nach ihrer Heirat zogen Joseph David und Gustel Berlizheimer in das große Haus und lebten dort zusammen mit Moises Kaz, Sara und ihren beiden Söhnen.

Es muß um 1780 gewesen sein, als Moises seinen Handelsbereich auf Rottweil ausdehnte. Es war sicherlich eine Herausforderung, hier sein Geschäft aufzuziehen. Während die Besitzer einiger Dörfer die Juden einluden, sich auf ihrem Gebiet – als Quelle für bequem einzunehmende Steuern und Abgaben – niederzulassen, erlaubten größere Ortschaften, die über andere Einnahmequellen verfügten und stark judenfeindliche Gefühle hegten, den Juden in der Regel nicht, innerhalb ihrer Grenzen zu leben. Selbst wenn es den Juden hier gestattet war, ihren Geschäften nachzugehen, beschränkten diese Kleinstädte ihren Handel, um die eigenen Interessen zu schützen oder zu fördern. Diese für Juden mit Einschränkungen belegten Kleinstädte, Ortschaften und Dörfer waren bei weitem zahlreicher als diejenigen, in denen die Juden leben und arbeiten durften. Doch da diese Orte große wirtschaftliche Möglichkeiten in sich bargen, gingen die Juden hier trotz Einschränkungen und Feindseligkeiten ihren Geschäften nach.

Rottweil war typisch für die Ortschaften und Kleinstädte, die keine jüdischen Einwohner brauchten oder wollten und sich dem Eingreifen der jüdischen Händler in ihre internen Angelegenheiten widersetzten.

Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war Rottweil eine Reichsstadt. Als solche war sie ein Stadtstaat mit eigenen Gesetzen und eigener Politik unter der obersten Autorität des Habsburgerreichs in Wien. Unter dieser Regierung hatten die Handwerkerzünfte und Kaufmannsgilden bedeutende wirtschaftliche und politische Macht. Das nur etwa 60 Kilometer nördlich der Schweizerischen Eidgenossenschaft und knapp 80 Kilometer östlich von Frankreich gelegene Rottweil war ein wichtiges Handels- und Handwerkszentrum für Metalle und Stoff gewesen. Im 13. Jahrhundert hatte die Stadt etwa 3000 Einwohner, darunter 200 Juden, die zusammen mit wenigen Christen in der Judengasse wohnten. Der jüdische Bezirk mit seiner Schule und dem rituellen Frauenbad lag direkt nördlich vom Stadtzentrum. Die Juden in Rottweil waren nicht vom Schwarzen Tod verschont geblieben, und diejenigen, die nicht der Pest zum Opfer gefallen waren, waren ermordet oder gezwungen worden, ins Umland zu fliehen. Den wenigen Überlebenden war es nicht gestattet, in die Stadt zurückzukehren.

Rottweil, Postkarte um 1850. Der Ort liegt strategisch günstig über einer Schlucht des Neckars, und die Kirchtürme der gotischen katholischen Kirchen erhoben sich weit über die Mauern und Befestigungstürme der Stadt.

Durch die Wirren und Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges sowie die nachfolgende Isolation als katholische Stadt in protestantischer Umgebung war Rottweils starke politische und wirtschaftliche Stellung erheblich geschwächt worden. Die Stadt war nur in der Lage gewesen, ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung aufrechtzuerhalten, weil die 25 umliegenden Dörfer gezwungen waren, ihre Waren zu niedrigen Preisen an die Stadtbewohner zu verkaufen und der Stadt Getreide und Futtermittel zu liefern. Viele jüdische Händler und Hausierer legten den beschwerlichen, zehnstündigen Weg aus der Mühringer Gegend nach Rottweil zurück.