Alte Schuld - Lea Stein - E-Book

Alte Schuld E-Book

Lea Stein

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Eine misshandelte Frau und ein mysteriöser Toter mitten auf St. Pauli - Schutzpolizistin Ida Rabe ermittelt in einem gefährlichen Fall

Hamburg, 1948: Die Währungsreform steht vor der Tür, Bargeld soll an die Zivilbevölkerung verteilt werden und die komplette Polizei ist in Bereitschaft versetzt worden. Doch Schutzpolizistin Ida Rabe hat einen viel brisanteren Fall auf dem Tisch: Eine misshandelte Frau, Vera, sucht ihre Hilfe. Der mutmaßliche Täter: ein Brite, der enge Kontakte zur Hamburger Polizei hat. Als wenig später der Verdächtige ermordet aufgefunden wird, womöglich mit einem hoch gefährlichen Kampfstoff vergiftet, und man Vera verhaftet, geht Ida einen riskanten Weg: Sie beginnt in den eigenen Reihen zu ermitteln.

Der zweite Fall für Ida Rabe

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Autorin

Lea Stein ist das Pseudonym der Autorin und Journalistin Kerstin Sgonina, die bereits mehrere Romane veröffentlichte. Als sie mit 18 nach Hamburg zog, verliebte sie sich sofort in die Stadt. Nach dem Abitur schlug sie sich auf der Reeperbahn als Türsteherin und Barfrau durch. Heute lebt sie mit ihrem Mann, den beiden Kindern und ihrem Hund in Brandenburg. Die Romane um Polizistin Ida Rabe sind ihre erste Krimi-Reihe.

Buch

Gerade erst hat Polizistin Ida Rabe einen brutalen Mord im Hamburger Umland geklärt, da steht schon der nächste Fall an: Eine junge Frau kommt verstört in das Kellerbüro der Weiblichen Polizei auf der Davidwache. Vera Pape berichtet von einem mysteriösen Mann, der sie belästigt hat. Bald stellt sich heraus, dass sie mit einem Mitglied der britischen Streitkräfte liiert war, der sie offenbar misshandelt hat – und der gesamte Hamburger Polizeiapparat hat weggeschaut. Aber nicht mit Ida! Sie geht den Dingen auf die Spur und stößt dabei auf eine halbtote Frau in einem Trümmerhaus, ein verschwundenes Kind, eine mysteriöse Puppe, auf zahlreiche Männer, die schweigen wie ein Grab, und wieder auf Marlise, die Königin der Unterwelt, die ganz offensichtlich einen neuen Coup plant … Als eine Leiche im Hinterhof von Vera Pape gefunden und die junge Frau daraufhin festgenommen wird, droht der Fall Ida zu entgleiten. Ihre Kolleginnen haben alle Hände voll zu tun – die Währungsreform steht kurz bevor, und die Gangster und Ganoven haben es auf die Geldtransporter abgesehen. Nur Gerichtsmediziner Ares Konstantinos kann Ida helfen, Vera Pape zu retten und die Frage nach den mysteriösen Morden zu klären, ehe Ida selbst ins Visier eines skrupellosen Täters gerät, der möglicherweise in ihren eigenen Reihen zu finden ist.

LEA STEIN

ALTE SCHULD

Ein Fall für Ida Rabe

Kriminalroman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 01/2024

Copyright © 2024 by Lea Stein

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von © Richard Jenkins Photography, Alamy Stock Photo (stock imagery), FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28272-1V001

www.heyne.de

Hamburg, 1948

KÄTHE

Leise gleitet sie in der Dunkelheit von der Holzpritsche, geht auf dem Steinboden in die Hocke. Wartet.

Ratsch.

Die Flamme flackert, dann erlischt sie. So lautlos wie möglich beginnt sie, über den Boden zu krabbeln. Als er das Streichholz angemacht hat, konnte sie sehen, dass er mit dem Rücken zu ihr auf seinem Schemel hockt. Er guckt zur Wand, merkt nicht, dass sie auf ihn zukriecht, aber was, wenn er sie hört? Sie hört sich selbst ja. Ihren Atem und ihr Herz, das ganz schnell klopft. Furchtbar laut in ihren Ohren. Was, wenn er was merkt und sich umdreht?

Ratsch, wieder Flackern, da sitzt er, ein Stück weiter hinten in dem langen, halbrunden Raum, der keine Fenster hat, und lässt seinen dürren Rücken ruckartig nach vorne und wieder zurückschaukeln. Das macht er nur, wenn er die komischen Pillen genommen hat. Dann wird Mister Haha noch unheimlicher als sonst. Manchmal flüstert er traurige Sachen. Dass man erst sterben muss, bevor man in den Himmel kommt, und so, aber dass das Unsinn wär’. Dass nach dem Tod in echt nix Gutes kommt. Dass man nur für immer leidet. Dann wieder greift er nach ihrem Arm und guckt sie mit diesen Augen an, die wie voller Nebel sind.

Solche Angst hat sie. Sie merkt, wie sie ihr den Nacken hochkriecht. Ihr ist eiskalt, und ihr Herz ist voller Ziehen. Nach Mama und sogar Oma manchmal, danach, irgendwo zu sein, wo ihr keiner was tut.

Es wird wieder dunkel. Ihre Knie tun weh. Der Boden ist voll kleiner Steine, die sich in ihre Haut bohren. An den Wänden sind Pritschen, aber Mister Haha schläft nie darin. Es gibt keine Decken, gar nichts, mit dem sie sich zudecken kann. Aber sie weiß sowieso nie, wann Nacht und wann Tag ist; sie schläft aus Erschöpfung ein, und wenn sie aufwacht, ist sie so kalt wie der Boden und die Wände und weint leise in ihre Hand hinein.

Käthe weiß jetzt, dass sie bedacht sein muss. Mama sagt das Wort immer, wenn sie glaubt, sie müsse Käthe helfen, sich mit den Schulsachen besser zurechtzufinden. Darauf bedacht, dass er nichts merkt. Dass sie leise ist. Dass sie immer nur ein kleines Stück näher kommt. Und immer in seinem Rücken.

Noch mal zündet er ein Streichholz an. Ratsch, macht es, und Käthe sieht die runden Wände, die glänzen von Tropfen, in denen sich die Flamme spiegelt. Was, wenn er ihre Bewegung sieht in der Spiegelung? Sie wagt nicht mehr, sich zu rühren oder auch nur zu atmen. Aber gleich wird alles wieder schwarz, und Mister Haha klopft mit den Fingern auf den Tisch und mit den Füßen auf den Boden, nimmt noch ein Zündholz, ratsch, Licht. Langsam dreht er den Kopf, sodass sie seine Nase sieht. Er horcht auf irgendetwas.

Auf sie?

Wie wild klopft ihr Herz, vielleicht zerspringt es gleich. Hört er es? Sie hört es, bummbummbumm, macht es, und immer schneller und schneller, als sie mehr spürt als sieht, dass er den Kopf ganz langsam zu ihr dreht. Spucke tropft aus seinem Mund. Sie hat solche Angst vor ihm, dass sie fest die Lippen zusammenpressen muss, um nicht zu wimmern.

Da wird es wieder dunkel.

Ratsch. Und schon wieder hell.

Noch ein Stück krabbeln.

Ratsch, nicht bewegen. Die Augen zusammenkneifen. An Mama denken und ihr liebes Gesicht. Kaum wird es finster, kriecht Käthe auf allen vieren voran.

Ratsch.

Fast ist sie bei ihm. Bestimmt sieht man ihren Schatten an der Wand, und sie kann an nichts anderes denken, als dass der liebe Gott ihren Schatten bitte wegnehmen muss, weil Mister Haha ihn sonst entdeckt.

»Geld«, flüstert er, »das hast du noch nie gesehen, nie-nie. Neues Geld. Gutes Geld. Amerikanisches Geld. Die Hälfte, das tut sie, die Hälfte gibt sie mir, hörst du, das tut sie. Die Hälfte von einem Riesenbatzen ist immer noch ein Riesenbatzen.« Sie hört, wie er mit der Zunge über seine Lippen fährt. »Und dann heiraten Merle und ich, hörst du, Roswitha?«

Roswitha.

Sie heißt nicht Roswitha. Sie weiß nicht, wer diese Roswitha ist. Und außer ihm und ihr ist hier auch sonst niemand. Vor Angst kann sie kaum atmen. Alles in ihr tut weh, weil sie daran denkt, dass er immer, wenn er so komische Sachen sagt, irgendwann zu weinen anfängt. Und wenn er weint, packt er sie grob beim Arm und reißt sie an sich, und sie riecht seinen Schweiß und diesen scharfen Geruch, der an ihm ist. Dann explodieren in ihr weiße Blitze, alles ist weiß und grell, und sie glaubt, sie muss zerspringen und sterben, weil sie sich so unendlich fürchtet vor ihm.

»Ich heirate Merle«, redet er weiter, ratsch, »und dann wird alles gut. Wir sind zusammen. Wir sind alle zusammen, du, Merle, Mutter und der große Vater. Wir sind zusammen. Alles wird gut.«

Das Streichholz erlischt. Sein Gestank dringt in ihre Nase. Er riecht nach Pipi und Schweiß. Sie streckt die Hand aus, ganz langsam. In seiner Jacke, die über dem Schemel hängt, auf dem er sitzt, ist der Schlüssel. Sie berührt den Stoff, streicht vorsichtig darüber, versucht, sich von den Nähten zu den Taschen führen zu lassen. Sie hat die Ohren gespitzt, weiß aber nicht, ob ihr Finger auf dem Stoff wirklich ein Geräusch macht oder ob sie es sich nur einbildet.

Da spürt sie, wie sich Mister Haha kerzengrade aufsetzt. Sie beißt die Zähne zusammen und zieht die Schultern hoch. Es ist dunkel, sie sieht nichts, gar nichts, aber sie merkt, dass er in die Stille reinhorcht und genau wie sie nicht atmet, nur lauscht und sich nicht rührt und dann, direkt neben ihrem linken Ohr –

Ratsch.

Vier Tage zuvor

1 Davidwache, Hamburg-Sankt Pauli

Mittwoch, 9. Juni 1948, 7:28 Uhr

»Ach, verdammter Mist!«, schimpfte Ida Rabe, nachdem sie die letzte Stufe hinabgestolpert war und fast der Länge nach hingeschlagen wäre. Die Treppe, die in den Keller der Davidwache führte, war schmal und halsbrecherisch steil, dazu gab es kaum Licht, stattdessen aber Unmengen von Spinnweben, die nicht mal den Anstand besaßen, sich in den Ecken zu verstecken.

Auf der Suche nach einem Schuldigen an ihrem Beinahesturz sah Ida an sich hinab. Und hatte ihn schon gefunden: Die Sohle ihres linken Schnürstiefels hatte sich aus der Verklebung gelöst. Wie die Zunge eines hechelnden Hundes hing sie von der Vorderkappe herab. Um vorwärtszukommen, würde sie den ganzen Tag mit Storchenschritten umherlaufen müssen. Die Herren in den oberen Stockwerken würden sich bei ihrem Anblick kugelig lachen. Verärgert schnitt Ida eine Grimasse und machte, dass sie weiterkam.

»Du hast nicht zufällig Schusterleim bei dir?«, fragte sie statt einer Begrüßung, als sie die Tür zu ihrem Büro aufstieß. Irgendwie reichte ihr der Tag schon jetzt, dabei war es gerade erst halb acht.

Heide antwortete ihr nicht, sondern blickte konzentriert auf ihr Merkbuch. »Vier Kaninchen«, sagte sie, ohne aufzusehen, und strich sich eine hellblonde Strähne aus der Stirn. Ihr Gesicht glänzte. Seit Tagen schon hing eine Hitzeglocke über der Stadt, die Idas Laune nicht gerade hob. Sie war ein Inselkind, sie liebte eine steife Brise, rasch dahinziehende Wolken und sogar Regen. Temperaturen von fast dreißig Grad, und das im Juni, war nichts, was ihr gefiel.

»Zwei Hühner«, redete Heide weiter, »und nicht zu vergessen: drei Brombeerranken. Kannst du das glauben? Wie schafft man es nur, die alle in einen Sack zu stopfen?«

»Wozu in aller Welt sollte man das tun?«, fragte Ida. Immer noch war sie damit beschäftigt, überhaupt einzutreten. Kein Kinderspiel angesichts des desolaten Schuhs und gleich doppelt so kompliziert, weil der Uniformrock der Weiblichen Polizei schmal war und dazu aus dermaßen festem Stoff, dass man daraus ein wetterfestes Zelt basteln könnte.

»Um sie zu stehlen«, erklärte Heide, »wozu denn sonst?«

»Womöglich gab es zwei Säcke«, erwiderte Ida und zog endlich die Tür hinter sich zu, wobei sie erneut ins Stolpern geriet und beinahe gegen den Schrank krachte, der wie alle Möbelstücke, die im Büro der Weiblichen Polizei an der Reeperbahn zu finden waren, in einem beklagenswerten Zustand war.

Heide hob den Kopf. »Was in aller Welt ist los mit dir? Bist du betrunken?«

»Ha, wovon denn?« Alkohol war ein seltenes Luxusgut – es sei denn, man war bereit, plötzliche Blindheit zu riskieren. Den selbst gebrauten Kartoffelschnaps, den sich die Verzweifelten reinschütteten, bekam man an jeder Ecke. Aber darauf verzichtete sie gern. »Hier.« Sie deutete auf ihren Schuh, von dem die Sohle kraftlos herunterbaumelte. »Der ist wohl hin.« Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und beugte sich hinab, um den Schaden zu begutachten. Diesen abgelatschten Schuh mit Leim zu reparieren konnte sie gleich vergessen.

Sie brauchte Nägel. Oder neue Schuhe. Die würde sie allerdings stehlen müssen, und das stand einer Polizistin und angehenden Oberbeamtin nun wirklich nicht gut zu Gesicht. Aber neue Schuhe würde sie sich in hundert Jahren nicht leisten können.

Heide beugte sich wieder über ihr Merkbuch und runzelte die Stirn. »Ich wünschte, das wäre unser einziges Problem.«

Ida verschränkte die Beine, um die vermaledeite Sohle nicht sehen zu müssen. Solange sie saß, konnte sie arbeiten. Und wenn sie arbeitete, ging es ihr gut. »Was gab’s noch?«

»Ich weiß nicht, ob die Leute nicht allesamt den Verstand verloren haben«, murmelte Heide statt einer Antwort. »Es kommt mir vor, als würden sie nachts nur deswegen ihr Zuhause verlassen, um irgendwem was wegzunehmen. Ganz egal, was! Und wenn es ein einziger abgelatschter Schuh ist!«

»Ich nehme ihn«, sagte Ida trocken. »Wenn es ein linker in Größe 41 ist.«

Heide warf ihr einen genervten Blick zu, wandte sich dann aber wieder den Aufgaben für den heutigen Tag zu. Nachdenklich betrachtete Ida ihre Kollegin, die leise vor sich hin murmelte und sich mit einer müden Geste erneut eine Strähne aus der Stirn zupfte. Blass sah Heide aus, besorgt und müde. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, ähnelte ihre Kollegin nicht einem frisch vom Himmel gehüpften Engel.

»Und es ist nicht nur so, dass jeder seinem Nachbarn die Haare vom Kopf klaut – da sind ja auch noch die anderen Sachen …«

Interessiert lehnte sich Ida vor. »Welche anderen Sachen?«

Heide klappte ihr Merkbuch zu. Schnippischer, als Ida es von ihr gewohnt war, fragte sie: »Warum sollte es dich interessieren?«

»Weil auch ich hier arbeite«, antwortete Ida verblüfft.

»Ja, aber du bist in vier Tagen weg, dann hocke ich allein da.«

»Du bist sauer«, konstatierte Ida. »Wegen des Lehrgangs?«

»Ich bin nicht sauer.«

Was verdammt sauer klang.

»Stört es dich, dass Miss Watson mich für den Lehrgang vorgeschlagen hat?«, fragte Ida. »Du weißt, dass ich nicht drum gebettelt habe.« Wenn sie vor Aufregung auch kaum mehr schlafen konnte.

Angenommen, ihr Schuh war bis Sonntag wieder in Ordnung, würde sie einen dreimonatigen Oberbeamtenlehrgang in Niedersachsen besuchen, und wenn sie Glück hatte, würde sie eines Tages entweder eine Leitungsposition innerhalb der Weiblichen Polizei einnehmen oder sich zu einer Stelle hocharbeiten, die schon lange zu ihren heimlichen Wünschen gehörte. Allerdings wusste Ida so gut wie jede andere, dass dieser Traum wohl ein Traum bleiben würde. Zwar gab es in keiner anderen Besatzungszone eine uniformierte Weibliche Schutzpolizei. Aber auch in Hamburg durften Frauen diesen besonderen Karriereweg nicht einschlagen, der Ida vorschwebte: den einer Kriminalkommissarin.

Weil Heide laut und verärgert in ihrem Merkbuch zu blättern begann, das sie gerade doch erst ostentativ zugeklappt hatte, hakte Ida nach: »Du hättest es genauso verdient wie ich, das weiß ich doch auch. Aber was erwartest du von mir? Dass ich den Lehrgang absage?« Da Heide darauf nicht antwortete, fügte Ida hinzu: »Oder gibt es etwas anderes, warum du wütend auf mich bist?«

»Ich bin nicht wütend!«

Was, erneut, sehr wütend klang.

Doch wahrscheinlich würde sie die Sache nur schlimmer machen, wenn sie weiterpulte, also machte Ida ein Friedensangebot: »Bis Sonntag sind es vier Tage. Vier Tage, in denen ich dich unterstützen kann. Was hältst du davon, wenn ich bis dahin keinen eigenen Fall mehr übernehme und ausschließlich dir zuarbeite?«

Die Skepsis in Heides Gesicht war unübersehbar.

»Ich assistiere dir nach Leibeskräften!«

»Ach, Ida.« Heide schnaubte. »Du wirbelst Staub auf, wo immer du hingehst, was bedeutet, dass ich andauernd mit einem Ascheeimer und einem Besen hinter dir herrennen und versuchen muss, alles so weit in Ordnung zu bringen, dass kein größerer Schaden entsteht. Und dafür habe ich gerade echt keine Zeit.«

Das saß! Natürlich stimmte es ein klein wenig, ansonsten würden sie die Worte ja nicht so treffen. Ida machte sich öfter unbeliebt als beliebt, aber dafür konnte sie sich auch durchsetzen – und war das nicht genau das, was eine gute Polizistin ausmachte? Außerdem räumte Ida selbst hinter sich auf. Und dass sie mehr Schaden als Nutzen anrichtete, entsprach auch nicht den Tatsachen.

»Es gibt keinen Grund, gemein zu werden«, sagte Ida nach einer Weile, in der sie mit sich gekämpft hatte, auch Heide ein paar Beleidigungen an den Kopf zu werfen.

Verstockt starrte diese auf ihren Schreibtisch. »Entschuldige«, rang sie sich schließlich ab und warf Ida ihr Merkbuch zu. »Seite achtzehn. Jablonski. Gestohlene Kaninchen und Hühner. Dein Fall.«

Reichlich verschnupft notierte sich Ida die Daten in ihr eigenes Merkbuch und warf Heide ihres zurück. Kaninchen. Hühner. Sie konnte sich Gott weiß was Spannenderes vorstellen. Am deprimierendsten daran allerdings war, dass die Chance, den Diebstahl aufzuklären, gegen null ging. In Zeiten wie diesen wurde alles geklaut. Und nicht nur das: Menschen wurden umgebracht, weil sie drei Mark in der Tasche hatten oder mit einer fast vollen Zigarettenpackung gesehen worden waren. Niemand scherte sich um zwei, drei Hühner, die den Besitzer wechselten, und die Polizei kam nicht einmal ansatzweise hinterher.

Da ihr nichts Besseres einfiel, rupfte Ida den Schnürsenkel aus den Löchern ihres Schuhs und umwickelte die Sohle damit. So würde sie zumindest vom Fleck kommen.

»Sag mir wenigstens, welche Fälle du auf dem Tisch hast, ich komme mir ja wie eine ungelernte Hilfskraft vor.«

Nach einem übertriebenen Seufzer begann Heide herunterzubeten, was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte. »… dann gab es noch die üblichen Streitereien und Schlägereien, Prügel für die Ehefrau, Prügel für den Ehemann und tausend andere Sachen. Die Kaninchen, Hühner und Brombeerranken, um die du dich kümmern sollst, wurden übrigens in Hamm gestohlen. Das heißt, es ist eine ganz schöne Strecke von hier. Damit bist du bis Sonntag beschäftigt. Ich mache den Rest.«

Ida wollte gerade anmerken, dass sie durchaus auch noch für das eine oder andere Zeit finden würde, da wurde sie durch ein leises Klopfen unterbrochen.

»Ja?«, rief Ida.

Nach kurzem Zögern wurde die Klinke heruntergedrückt. Die Tür öffnete sich zwei, drei Zentimeter, aber niemand trat ein. Kurz hatte Ida die Hoffnung, dass es sich um ihre Vertretung handeln könnte, die Polizeimeister Hildesund ihnen versprochen hatte, wobei diese besser ein bisschen Mut zusammensammeln und forscher auftreten sollte. Da allerdings nichts weiter geschah, stand Ida auf. Den Fuß mit dem kaputten Schuh in der Luft, hüpfte sie zur Tür. Hinter dem Spalt schwebte der Geruch von Kernseife durch den Kellergang.

Sie schaltete das Licht ein und entdeckte zwei Frauen, die auf den ersten Blick wie Schwestern wirkten. Die eine, wohl zehn Jahre ältere, war dunkelblond, zierlich, auf unauffällige Weise hübsch. Ihre Begleiterin sah aus wie gerade von der Leinwand gestiegen: fast schon überirdisch schön mit ihren gleichmäßigen Zügen, einer hohen Stirn, graublauen, leicht schräg stehenden Augen und dem hübsch geschwungenen Mund. Sie war ungeschminkt, was den Eindruck noch verstärkte, und trug ein hochgeschlossenes graues Kleid mit Ärmeln, die bis über die Handgelenke fielen, und das scheinbar sagen wollte: Ich bin niemand Besonderes, guckt woandershin.

»Guten Tag«, sagte Ida. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir suchen Fräulein Rabe oder Fräulein Brasch.« Das hatte die Ältere der beiden gesagt, die Ida auf Mitte dreißig schätzte. Ihr Kleid wirkte billig, aber nicht ganz so züchtig. Beim näheren Hinsehen fragte sich Ida, wie sie nur darauf gekommen war, dass die beiden Schwestern sein könnten. Die Ältere hatte etwas Mausgraues an sich, wirkte aber sympathisch und offen.

»Sie haben Glück, Sie haben sowohl Fräulein Brasch gefunden als auch mich. Ida Rabe.« Sie streckte die Hand aus, und die Ältere nahm sie.

»Karen Metzger, hallo.«

»Kommen Sie doch rein.«

Doch die Jüngere rührte sich nicht von der Stelle, sondern starrte wie hypnotisiert durch den Türspalt. Verdenken konnte Ida es ihr nicht. Das Kellerbüro lud kaum zum Verweilen ein: düster, wie es war, mit seinem winzigen Fenster und den monströsen Möbeln.

»Und Sie sind?«, wandte sich Ida an sie.

Fräulein Metzger gab ihrer Begleitung einen Stups, woraufhin diese aus ihrer Trance zu erwachen schien.

»Vera Pape«, sagte sie mit wohlklingender dunkler Stimme.

»Wir können natürlich gern hier im Flur über Ihr Anliegen sprechen.« Ida warf einen kurzen Blick zu Heide, die mit unbeteiligter Miene an ihrem Tisch saß. »Allerdings hätten wir dort drin mehr Privatsphäre.«

Angesichts des Aussehens von Fräulein Pape konnte sie sich gut vorstellen, dass die Kollegen von oben mit riesigen Ohren an der Tür zur Kellertreppe klebten. Die normale Klientel der Davidwache war weit weniger attraktiv. Zudem gab es die zahlreichen Kurzzeitbewohner der Zellen, deren schwere Metalltüren rechts und links von dem Gang abgingen, der zum Büro der Weiblichen Polizei führte. Die Jungs im Innern konnten Fräulein Metzger und Fräulein Pape zwar nicht sehen, doch es war auffällig, wie mucksmäuschenstill sie allesamt waren.

Fräulein Metzger tat einen Schritt ins Innere, zögerte aber, weil sich Fräulein Pape weiterhin nicht von der Stelle rührte.

»Vera«, sagte sie leise. »Willst du den Damen nicht sagen, was du uns erzählt hast?«

Die Jüngere schien sie nicht gehört zu haben. Stand sie unter Drogen oder war alkoholisiert? Ida nahm in der Luft nicht den üblichen Fuselgeruch wahr, auch wirkten Fräulein Papes Pupillen weder erweitert noch stecknadelkopfklein.

Fragend blickte Ida zu Karen Metzger, die einen leisen Seufzer ausstieß, und sagte: »Wir möchten Ihre Zeit nicht stehlen, aber meine Freundin wurde belästigt.«

Ida streckte die Hand aus, um Fräulein Pape behutsam am Arm zu fassen, was diese zusammenzucken und einen Satz zurücktun ließ. Die junge Frau flüsterte etwas, das Ida nicht verstand. Ihre Lippen bewegten sich, ihren Blick hielt sie starr auf ihre Freundin gerichtet.

»Er wird dich nicht umbringen, Vera«, sagte Karen Metzger ernst. »Das war nur Gerede.«

Augenblicklich war Ida hellwach, ihr Schuh und der Ärger über Heide waren vergessen. »Wer ist er, Fräulein Pape? Fräulein Metzger? Von wem sprechen Sie?«

Vera Papes Lippen bewegten sich weiter, doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Endlich schien sie in die Gegenwart zurückzukehren.

»Es war eine dumme Idee hierherzukommen«, flüsterte sie. »Man sagt mir nach, ich würde mir zu viel einbilden.«

»Dass sich eine Frau Dinge, die man ihr androht oder angetan hat, bloß einbildet, klingt in meinen Ohren nach der Erfindung eines Mannes«, kommentierte Ida das knapp. »Mir wäre es wirklich lieb, wenn Sie mich in mein Büro begleiten würden. Und dann erzählen Sie, was passiert ist.«

Endlich gab sich Vera Pape geschlagen. Nachdem Ida die Tür hinter ihr ins Schloss gedrückt hatte, zeigte sie auf ihren Stuhl, entschuldigte sich, dass es nur den einen gab, fügte hinzu, dass die anderen Möbel besser nicht berührt werden sollten, da sie sonst umfielen, und zückte ihr Merkbuch.

»Schießen Sie los. Und lassen Sie kein Detail aus, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint.«

Fräulein Pape war diejenige, die Platz genommen hatte. Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln, als Ida der Gedanke durchfuhr, ihr schon einmal begegnet zu sein. Unsinn, sagte sie sich, wahrscheinlich rührte der Eindruck daher, dass Vera Pape aussah wie eine Kinoschönheit.

Endlich begann sie zu sprechen. »Ich habe einen Spaziergang gemacht. Zu den Ruinen am Fischmarkt runter und dann am Wasser entlang. Plötzlich hatte ich dieses ungute Gefühl …« Sie fasste sich in den Nacken, als liefe ihr ein Schauder hinab. »Ich habe mich immer wieder umgedreht, aber da war niemand. Zuerst wollte ich weitergehen, dann habe ich doch entschieden umzukehren. Diese Gegend ist ziemlich einsam.«

Das Gebiet hinter den zerbombten Überbleibseln der Fischmarkthallen war selbst bei Tag wie ausgestorben. Es wunderte Ida, dass jemand auf die Idee kam, dort spazieren zu gehen. Wobei – der Weg ins schönere Övelgönne führte dort entlang, an der Elbe.

Als habe Fräulein Pape ihre Gedanken gelesen, erklärte sie: »Ich mag die Ruhe da. Niemand kümmert sich um einen, man muss nicht Guten Tag sagen.« Sie zuckte mit den Schultern und blickte auf ihre Hände hinab, die verkrampft in ihrem Schoß lagen. »Ich bin also umgekehrt und kam mir dabei ziemlich albern vor. Doch ich war noch nicht weit gekommen, als ich jemanden entdeckte. Er war plötzlich einfach da, obwohl ich mich doch umgesehen hatte.« Sie schluckte. »Ich bin mir nicht sicher, ob er sich versteckt hat. Jedenfalls kam er auf mich zu, ließ mich dabei nicht aus den Augen, und ich … Ich stand nur da. Wie angewurzelt. Und sah zu, wie er auf mich zulief und mich anstarrte, mit diesem … mit diesem unheimlichen Blick.«

»Und da hat er zu Ihnen gesagt, er bringt Sie um?«

Verwundert blickte Fräulein Pape zu ihr auf. »Er hat gar nichts gesagt. Das war ja so unheimlich.«

Jetzt war Ida gänzlich verwirrt. »Und wann hat er Ihr Leben bedroht?«

»Wie? Nein. Nein! Sie haben mich falsch verstanden.«

Karen Metzger sprang helfend ein. »Der Mann, der Vera belästigt hat, war ein anderer.«

»Dann wäre es hilfreich, wenn Sie beide Vorfälle schildern.«

»Ich möchte … nein …« Vera Pape starrte sie flehend an. »Das war nicht so gemeint, wirklich. Ich möchte nur etwas zu dem Mann sagen, der mir gestern gefolgt ist.«

Heide hob den Blick. Sie hatte also die ganze Zeit über zugehört.

»Gestern war das?«, wiederholte Ida. Sie konnten kaum davon ausgehen, dass der Mann noch heute irgendwo am Elbstrand herumstand. Warum hatte Vera Pape es erst heute gemeldet? Vor allem aber schien ihr mehr als suspekt, eine Morddrohung als etwas Dahergesagtes abzutun.

»Er folgte Ihnen«, wiederholte Ida, ohne sich ihre Gedanken anmerken zu lassen. »Was geschah dann?«

»Es war dieser Blick. Er sah mich an, als wäre er … als wäre er der Tod persönlich. Nach einer Weile«, fuhr Fräulein Pape leise fort, »bin ich aus meiner Starre erwacht und ging an ihm vorbei. Nach Hause. Ich habe es nicht gewagt, mich umzusehen.«

»Gar nicht?«, grätschte Heide dazwischen. »Ich meine, immerhin an der nächstgrößeren Straße würde man sich doch umgucken, oder nicht? Sie hätten dort jemanden um Hilfe bitten können.«

»Ja, sicher, aber … Ich hatte solche Angst und wollte nur fort. Außerdem helfen die Menschen nicht. Es stimmt nicht, dass eine Frau Unterstützung bekommt, wenn sie darum bittet. Ein Mann vielleicht. Eine Frau nicht.« Um das zu unterstreichen, schüttelte sie mit trauriger Miene den Kopf.

Als Ida der Begleitung der jungen Frau einen Blick zuwarf, bemerkte sie deren Frustration. Hier ging doch etwas ganz anderes vor sich, oder täuschte sie sich? Und welcher Mann machte Vera Pape wirklich Angst, war es tatsächlich der vom Elbstrand? Sie nahm sich vor, Fräulein Metzger unauffällig beiseitezunehmen, doch bevor sie dieser Überlegung Taten folgen lassen konnte, sagte Heide: »Es ist so, Fräulein Pape. Solange der Kerl Sie weder bedrohte noch Ihnen etwas antat, hat er nichts Strafbares getan. Wegen eines unheimlichen Blickes kann man niemanden anzeigen, und das ist auch gut so. Manche Menschen sehen unheimlich aus, sind es aber nicht, ich denke, das wissen Sie selbst. Wieso also sind Sie hergekommen? Sie müssen schon deutlicher werden, damit die Polizei Sie beschützt.«

»Die Polizei mich beschützen?« Fräulein Papes Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, dass ich deswegen hergekommen bin?«

»Und wieso dann, Fräulein Pape? Um zu schnacken?«, ließ sich Heide vernehmen.

»Heide!«, explodierte Ida, doch da war es schon zu spät.

Mit eckigen Bewegungen stand Vera Pape auf. »Lass uns gehen, Karen. Die Damen glauben mir nicht. Ich weiß ja auch kaum mehr, wie er aussah.« Mit gequälter Miene ging sie auf die Tür zu. »Es war dumm herzukommen!«

»Warten Sie!« Ida versuchte, vor ihr an der Tür zu sein, hatte aber erneut ihren kaputten Schuh vergessen. Daher rief sie ihr in den Flur nach: »Fräulein Pape, bitte!«

Aber da war die junge Frau schon auf der Treppe und eilte die Stufen hinauf. Mit einem entschuldigenden, aber zugleich vorwurfsvollen Nicken ging Karen Metzger ihr hinterher.

»Du hättest dich feinfühliger verhalten können«, schimpfte Ida, als sie an ihren Platz zurückkehrte.

»Ach ja? Die Leute haben doch allesamt den Verstand verloren. Das war hanebüchener Unsinn! Hast du nicht gehört, dass sie ihn nicht mal beschreiben konnte? Als hätten wir nicht Dringenderes zu tun, als nach einem Mann zu suchen, den es gar nicht gibt.«

»Du weißt so gut wie ich, was Angst bewirken kann. Manche Erinnerungen sind wie ausgelöscht, nur um eine Weile später mit aller Macht zurückzukommen.«

»Aber wenn der Kerl so beängstigend war, wie sie ihn darstellen wollte, hätte sie gestern herkommen müssen. Außerdem hat sie selbst gesagt, dass sie nicht mal angenommen hat, dass wir ihr glauben würden. Aus gutem Grund! Weil sie kein einziges wahres Wort gesagt hat, darum!«

Idas schlechte Laune kehrte in Siebenmeilenstiefeln zurück. Sie wollte Heide gerade entgegenschleudern, dass man manchmal etwas genauer hinsehen musste, doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, erklangen polternde Schritte aus dem Flur und Sekunden später steckte ihr Kollege Johann Meyerlich den rotblonden Schopf durch die Tür.

»Moin, die Damen!«

Über Heides Wangen zog ein lachsfarbener Schimmer, der Ida dazu veranlasste, gedanklich die Hände in die Luft zu werfen. Diese beiden! Seit Heides erstem Tag auf der Wache war Meyerlich bis zu den Haarwurzeln in sie verschossen, und Ida war sich sicher, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem hatten die beiden es noch nicht mal geschafft, sich zu einer Tasse Muckefuck zu verabreden.

Idiotisch. Allerdings musste auch Ida zugeben, nicht gerade eine Expertin in Liebesdingen zu sein. Obwohl sie sich dagegen wehrte, wanderten ihre Gedanken zu Ares Konstantinos und ihrem Streit, den sie vor zwei Wochen gehabt hatten. Seither waren sie einander nicht wieder über den Weg gelaufen, was eigentlich eine Kunst war. Immerhin führte ihre Arbeit sie regelmäßig zueinander. Vor allem aber fanden normalerweise beide ständig Gründe, der oder dem anderen einen Besuch abzustatten. Und sie gingen zusammen spazieren. Sie waren beide in dieser Hinsicht passioniert, stapften bei Wind und Wetter durch die Gegend, und wenn man es zu zweit tun konnte, umso besser!

Jetzt musste sie allein herumlaufen. Viel schlimmer aber war, dass sie ihn zum Schluss ihres Streites angefahren hatte, er solle nie wieder unaufgefordert bei ihr hereinplatzen. Und Ares hielt sich daran.

»Meyerlich«, sagte Ida und schluckte ihre Wut auf Heide fürs Erste hinunter, »du kommst gerade recht.«

Der Polizeimeisteranwärter hatte Mühe, seinen Blick von Heide zu lösen. Schließlich aber sah er Ida an und grinste.

»Na, wo drückt’n der Schuh?«

»Kannst du hellsehen? Es sind tatsächlich meine Schuhe, na ja, eigentlich nur einer. Du bist nicht zufällig im Besitz von Schusternägeln?«

»’türlich.«

Das wunderte sie nicht im Mindesten. Meyerlich war eine kleine Wundertüte. Er half, wo immer er konnte, und das Erstaunliche war: Meist war er dazu tatsächlich in der Lage.

»Ich bring gleich alles runter. Sohle ab?«

Ida nickte.

»Aber vorher muss ich den Damen noch was vertellen. Hab das junge Ding gesehen grad. Die war bei euch, wie?«

»Ja.« Wahrscheinlich sprach er von Fräulein Pape. Fräulein Metzger, die bei den Männern sicher weniger Punkte sammeln konnte, musste ihm entfallen sein, dachte Ida mit einem Hauch von Ärger.

Meyerlich runzelte die Stirn, grinste aber gleichzeitig über das gesamte Gesicht. »Is hier bestens bekannt. Als so ’ne Art Hippeltitsch.«

Mit der flachen Hand schlug Heide auf ihren Schreibtisch. »Wusste ich es doch.« Triumphierend starrte sie Ida an, die nur die Schultern zucken konnte.

»Hippeltitsch? Was in aller Welt soll das sein?«

»Na, der Holzbengel mit der Nase, die wächst, wenn er lücht.« Verwundert schüttelte Meyerlich den Kopf. »Den kennste gar nich’? Der aus einem Holzscheit geschni…«

Ungeduldig unterbrach sie ihn. »Jetzt mal Klartext, Kollege. Fräulein Pape hast du schon mal gesehen?«

»Und ob!« Er wackelte mit dem Kopf. »War vor zwo Jahren oder so öfter hier. Ärger mit ihrem Kerl. Hat sie geschlagen. Oder so hat sie’s jedenfalls behauptet. Konnte aber nie nachgewiesen werden, ne? Keine blauen Flecken oder Schwellungen zu sehen, nirgends. Und da hat der Verlobte dann Anzeige gegen sie erstattet wegen Verleumdung. Kann man ja auch nachvollziehen, nech?«

Heide nickte erhaben, was nichts anderes bedeuten sollte als: Hab ich’s dir nicht gesagt?

»Also …«, sagte Meyerlich und blickte sehnsüchtig zu Heide, die sich daranmachte, geschäftig in ihrem Notizbuch herumzuradieren. Immer noch herrschte Papiermangel. Heide allerdings übertrieb es mit der Sparsamkeit.

»Und was ist daraus geworden?«, fragte Ida missgestimmt. Der Gedanke, dass Vera Pape Heide und sie belogen haben sollte, passte ihr nicht. Aber warum sollte sie sich die Mühe machen? Außerdem hatte sich Ida bislang immer auf ihr Bauchgefühl verlassen können. Und das sagte ihr eindeutig, dass etwas an der Sache dran war.

Fragte sich nur, was.

»Aus der Verleumdung?« Meyerlich zuckte mit den Schultern. »Wurd’ zu den Akten gelegt irgendwann.«

»Der Verlobte hat es nicht weiterverfolgt?«

»Nee. Was weiß ich, die ham sich bestimmt wieder angefreundet oder so.«

»Und umgekehrt hat auch Fräulein Pape nie wieder etwas gemeldet?«

»Nö. Aber das, na ja, das is dann vielleicht auch kein Wunder.« Zuvor schien es Meyerlich nicht eingefallen zu sein, jetzt hingegen schon: Verlegen begann er, mit dem Schuhabsatz zu trippeln. »Also, man kann wohl nech so unbedingt sagen, dass man ihr hier geglaubt hat, nech? Also, vielleicht wollte sie dann auch nech mehr herkommen, weil, der Kollege hat sie nech grade mit Samthandschuhen angefasst.«

Das erklärte Vera Papes Einstellung gegenüber der Polizei. Ida tat ihr Möglichstes, den Kollegen eisig in Grund und Boden zu starren. Meyerlich wurde immer kleiner.

»Und trotzdem kommst du hier runter und erzählst erst mal, dass sie eine Lügnerin ist?« Wütend stützte sie die Hände in die Seiten.

»Na, also, so genau hab ich das aber nech gesacht!«

»Doch.«

»Na ja, also …«

»Welcher Kollege war mit dem Fall betraut?«

»Dura.«

»Kenne ich nicht.«

»War zum Schluss seiner Dienstzeit.«

»Berentet?«

»Na ja, also, eher nech. Du weißt, was ich meine.«

O ja, das wusste Ida durchaus. Die Briten hatten eine Zeit lang gründlich aussortiert. Wer unter den Nationalsozialisten die Karriereleiter erklommen hatte, sollte bei der Polizei nichts mehr zu suchen haben. Ida war ihnen höchst dankbar dafür, konnte sich leider jedoch immer häufiger des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gründlichkeit irgendwann nachgelassen hatte – und dass über manche Kollegen eine schützende Hand gehalten worden war. Hildesund würde ihr da gleich einfallen, auch wenn es nur eine Ahnung war.

»Er wurde entlassen«, folgerte sie.

»Jau.«

»Danke, Johann«, sagte Ida. Sie war immer noch sauer, allerdings hielt dieses Gefühl ihrem Kollegen gegenüber nie lange an. Er war einfach zu nett, man musste ihm alles verzeihen. »Soll ich wegen der Schusternägel doch lieber mit hochkommen?«

»Nee, nee, ich hol sie.« Mit einem weiteren liebestrunkenen Blick auf Heide wandte er sich um und verschwand.

»Ich glaube ihr«, sagte Ida. »Jetzt, nachdem ich von ihrer Vergangenheit weiß, sogar mehr als vorher.« Vor allem aber machte sie sich Vorwürfe, den beiden Frauen nicht auf den Zahn gefühlt zu haben.

»Tu mir den Gefallen«, sagte Heide aufgesetzt nonchalant, »und kümmere dich auch um den Fall, den ich dir gegeben habe. Mit den Karnickeln.« Damit wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ignorierte Ida.

Vielleicht war es nur gut, dass Ida am Sonntag für drei Monate verschwinden würde. Hier war es derzeit nur schwer auszuhalten.

*

Eine halbe Stunde später brachen Ida und Heide zu ihrem täglichen Streifgang über den Schwarzen Markt auf. Keine von ihnen sprach, genauer gesagt herrschte eisiges Schweigen. Im blanken Gegensatz dazu brannte schon jetzt, am frühen Vormittag, die Sonne auf die umliegenden Ruinen.

Selbst drei Jahre nach Kriegsende häufte sich in den Höfen noch der Schutt aus halb zusammengestürzten Häusern. Immer wieder las man die mit Farbe aufgepinselten Worte »Betreten verboten – Lebensgefahr« auf den Fassaden, woran sich natürlich keine Seele hielt. Wenn man nirgends einen Platz zum Schlafen fand und selbst die Heilsarmee kein Eckchen mehr anbieten konnte, kümmerte man sich um solche Warnungen nicht. Wie häufig hatte Ida davon gehört oder mit ansehen müssen, wie unter dem Schutt Tote geborgen worden waren. Manches Stockwerk hielt und hielt und stürzte dann plötzlich einfach ein.

Nachdem Meyerlich ihren Schuh repariert hatte und die beiden Kolleginnen endlich ihr Büro verlassen wollten, war Idas Laune noch weiter in den Keller gerauscht. Wer sonst könnte daran schuld sein als Polizeimeister Hildesund, der sie im Flur abgefangen hatte?

»Wir haben Ersatz für Sie, wertes Fräulein Rabe.« Ihr Vorgesetzter hatte über das ganze zerfurchte Gesicht gestrahlt.

Im ersten Augenblick war Ida erleichtert gewesen. Immerhin gab es jetzt einen Grund weniger, wieso Heide wütend auf sie sein konnte.

Dann allerdings hatte Hildesund weitergeredet: »Unser armes Fräulein Brasch kann schließlich nicht drei Monate allein Dienst tun. Man kann doch keinem Weibsbild zumuten, darauf zu verzichten, sich über Schönheitstipps auszutauschen, haha.« Er hatte Heide zugezwinkert, und Ida hatte schockiert bemerkt, dass Heide zurückgezwinkert hatte.

Gezwinkert! Dabei konnte Heide ihn doch so wenig leiden, wie Ida es tat.

»Sie kennen die Kollegin bereits. Erinnern Sie sich an Fräulein Pfeiffer von der Wache am Hauptbahnhof? Ich habe sie herbeordert. Sie wird am Montag anfangen.«

Ausgerechnet Kollegin Pfeiffer! Seit Ida ihr vor einem Jahr zum ersten Mal begegnet war, hegte sie tiefen Groll gegen sie. Die würde also an Idas Schreibtisch sitzen, sich um Idas Leute kümmern – um Frauen und Kinder, die immer wieder in Schwierigkeiten gerieten oder verprügelt wurden von Eltern, Ehemännern, Zuhältern. Ida mochte sich kaum vorstellen, wie die kaltherzige Pfeiffer damit umging.

Nachdem sie in die Talstraße eingebogen waren, wo reges Treiben herrschte, wurde Ida vor dem rot geklinkerten Haus der Heilsarmee, das wie durch ein kleines Wunder von den Bomben nicht zerstört worden war, langsamer. Sie zeigte mit dem Kinn darauf und sagte: »Ich frage mich, wieso jemand wie Fräulein Pfeiffer zur Polizei gegangen ist. Sie hasst Menschen. Nicht dass sie so großherzig sein müsste wie die da. Aber etwas Mitgefühl wäre schon angebracht, findest du nicht?«

Heide antwortete nicht, sondern musterte scheinbar interessiert eine Gruppe junger Männer, die bei ihrem Anblick verstummten und wie Ameisen in unterschiedliche Richtung wegströmten. Wie der Rest der Straße wirkten sie armselig und halb verhungert.

»Willst du überhaupt nicht mehr mit mir reden?«, fragte Ida ungeduldig, weil Heide sie nach wie vor ignorierte.

»Lass mich, Ida. Freu dich drauf, dass du den Sommer im hübschen Niedersachsen verbringen kannst, warmes Essen bekommst, was lernst und abends am Lagerfeuer sitzen darfst, während ich hier die Stellung halte. Und mich mit Hühnerdieben herumschlage, prügelnden Vätern und Müttern und Frauen, die Gespenster sehen.«

»Wenn du damit auf Fräulein Pape anspielen willst, solltest du …«

Mit verkniffener Miene schoss Heide zu ihr herum. »Können wir deine letzten Tage hier nicht einigermaßen über die Bühne bekommen? Dann ersetzt dich Fräulein Pfeiffer, und ich werde mich schon mit ihr zusammenraufen. Schließlich ist mir das auch bei dir gelungen.«

Peng. Wieder ordentlich einen vor den Latz bekommen, schon zum zweiten Mal heute.

»Danke«, sagte Ida spöttisch, weil ihr einfach nichts Besseres einfallen wollte. Traurig gestand sie sich ein, dass es wohl doch so war, wie sie geglaubt hatte: Für Freundschaften taugte sie einfach nicht. Sauer war sie allerdings auch. Am liebsten würde sie schon morgen nach Niedersachsen aufbrechen!

Inzwischen hatten sie die Schmuckstraße erreicht, in der sich bis vor wenigen Jahren ein chinesisches Lokal an das andere gedrängt hatte. Zeitungen hatten von Hamburgs China Town gesprochen; dem hatten die Nationalsozialisten jedoch ein brutales Ende gesetzt, indem sie sämtliche Bewohner entweder außer Landes verwiesen oder ermordet hatten.

Ihr Zorn auf Heide verblasste angesichts dessen. Jetzt war von der damals so exotisch wirkenden Umgebung nichts als Verfall übrig geblieben. Ida ließ den Blick über eine weitere Gruppe Männer gleiten, die sich gar nicht erst die Mühe machten, die Mäntel wieder zuzuklappen, in deren Innenfutter alles verstaut war, was sie zum Kauf oder Tausch anboten. Sie flüsterten bloß etwas leiser, als sich die Polizistinnen näherten.

»Moin, Moin, die Damen, na, alles schick?«

»Guten Morgen, Tibbes.« Dankbar, sie aus ihren düsteren Gedanken gerissen zu haben, nickte Ida dem Alten zu, der kaum mehr Zähne im Mund hatte und so gebückt lief, als suche er auf dem Pflaster etwas. In seinen abgerissenen Kleidern und mit dem verhärmten Gesicht schien er zu Sankt Pauli zu gehören wie die Reeperbahn und jene Etablissements, die als einzige nie pleitegingen. Tatsächlich aber stammte er gar nicht aus Hamburg. Davon hatte er ihr eines Winterabends erzählt, an dem er sich auf der Wache aufgewärmt hatte, obwohl dort auch nur spärlich geheizt werden konnte. Er war Nordfriese, genau wie sie. Das verband, selbst wenn sie von einer Insel stammte und er vom Festland.

»Wann kommtn nu dat neue Geld, die Damen, Sie wissen dat doch bestimmt? Will auch was abham, ich hoff nur, die vergessen mich nich’.«

Seit Wochen vermeldeten die Zeitungen, dass das Datum der Geldvergabe aus Sicherheitsgründen geheim bleiben musste. Das Einzige, was sicher zu sein schien, war, dass nur die Trizone mitmachen würde – also die von Frankreich, Großbritannien und Amerika besetzten Teile Deutschlands. Neues Geld für eine neue Regierung, denn auch die stand bevor, wie die Zeitungen vermeldet hatten. Nach langem Ringen hatte auch Frankreich zugestimmt, dass die drei westlichen Zonen zu einem Weststaat zusammengeführt werden sollten. Was mit dem Osten geschah, dem von der UdSSR besetzten Gebiet, wusste Ida hingegen nicht.

»Niemand wird Sie vergessen«, sagte Heide, die sich augenscheinlich etwas am Riemen riss.

Ob sie mehr Details kannte als Ida? Vielleicht durch ihren Vater, Oberkommissar Brasch. Irgendwer musste das Ganze schließlich organisieren und durchführen. Die Verbündeten würden kaum mit Flugzeugen über das Land fliegen und die frisch gedruckten Scheine einfach raussegeln lassen.

Ida klopfte Tibbes auf die Schulter, der ihr ein zahnloses Lächeln schenkte und weiterschlappte. Während sie kehrtmachte, um die Runde auf der anderen Straßenseite fortzusetzen, kam Ida ein seltsamer Gedanke: Sie würde ihn vermissen, während sie beim Lehrgang war. Ihn und die ganze Mischpoke hier, das verlotterte Sankt Pauli und ja, Heide auch.

Als sie sich zu ihrer Kollegin umdrehte, die mit stoischer Miene, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in genau abgemessen wirkendem Abstand zu ihr ging, verfing sich Idas Blick im Dunkel eines ehemaligen Hauseingangs. Irgendwer stand dort und gab ein Geräusch von sich, das einem ängstlichen Wimmern glich.

Ohne ein Wort der Erklärung setzte sich Ida in Bewegung. Falls sich jemand in dem Gebäude an der Ecke zur Reeperbahn häuslich einrichten wollte, würde sie ihn enttäuschen müssen. Es war viel zu gefährlich. Doch sie hatte das ehemals herrschaftliche Bauwerk, von dem nur noch die Fassade stand, kaum erreicht, da schoss ein Kind an ihr vorbei auf die Straße. Der Gesichtsausdruck des Jungen ließ sie hinter ihm herstürzen. Er sah aus, als habe er den Teufel gesehen.

Wendig war er und schnell, doch Ida hatte die längeren Beine. Dummerweise geriet sie schon nach wenigen Schritten ins Stolpern und stellte bei einem Blick nach unten fest, dass sich die Sohle ihres Schuhs schon wieder zu lösen begann. Egal! Weiter ging es, quer über die Reeperbahn, während sie hinter sich Heide etwas rufen hörte. Im letzten Augenblick, bevor der Kleine in der Silbersacktwiete verschwinden konnte, bekam sie ihn am Kragen zu fassen.

»Hiergeblieben. Und halt gefälligst still!« Stoßweise atmend versuchte sie, den zappligen Jungen am Schlafittchen festzuhalten und gleichzeitig seinen Tritten auszuweichen. »Hör sofort damit auf!«

Aus weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Dreckkrusten umrahmten seinen Mund und bildeten an seinem dürren Hals schwarze Ringe. Er war kalkweiß im Gesicht, auf seiner Wange prangte blutiger Schorf. Furchtsam begann seine Unterlippe zu beben, doch noch bevor Ida darauf reagieren konnte, begann er wieder, zu zappeln und um sich zu treten. Beim dritten Versuch gelang es ihr schließlich, den Arm um seinen schmalen Oberkörper zu schlingen.

»Ruhig jetzt!«

Das Zappeln wurde weniger.

»Wieso hast du es so eilig?«

Er stieß ein Wimmern aus. »Lass mich los, Frau Wachtmeisterin, bidde, lass mich los.«

Probeweise ließ sie etwas lockerer, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dann zeigte sie mit dem Kopf in Richtung Talstraße. »Erst wenn du mir sagst, was da los war.«

Er presste die Lippen aufeinander, so fest, dass sich seine Kieferknochen unter der schuppigen Haut abzeichneten. Er war strohblond, das Haar seit Längerem nicht mehr geschnitten.

»Wie heißt du?«

»Ichwardasnich’!«

»Komischer Name.«

»Was ist denn los?«, wollte Heide wissen, als sie mit verärgerter Miene angelaufen kam.

Mit einem Mal begann der Junge zu schluchzen. »Ich war das nich’!«

Ida wagte nicht, ihn loszulassen, beugte sich aber so weit zu ihm hinunter, dass sie mit ihrer Nasenspitze fast seine berührte. »Was warst du nicht?«

Er zeigte vage nach hinten. Seine zahnstocherdünnen Beine zitterten, und er zappelte weiter, bis Ida ihn nicht mehr halten konnte.

»Hilf mir doch!«, herrschte sie Heide an, die tatenlos dabeigestanden hatte und dem Kleinen jetzt mit hochgezogener Augenbraue nachsah, wie er die Silbersacktwiete runter in Richtung Hafen raste. Verärgert musste sich Ida eingestehen, dass die herabhängende Sohle keine weitere Verfolgungsjagd mitmachen würde.

»Was in aller Welt wolltest du überhaupt von ihm?«

»Er hat etwas gesehen.«

Verständnislos schüttelte Heide den Kopf. »Und was?«

»Das finde ich jetzt raus.«

Damit rauschte Ida davon. Hinter sich hörte sie ihre Kollegin genervt aufstöhnen, aber das war ihr egal. Sie hatte keine Lust mehr, sich für Heides schlechte Stimmung verantwortlich fühlen zu müssen – schließlich hatte sie sowieso keinen Einfluss darauf.

Ohne sich noch einmal umzusehen, steuerte sie das Haus mit der Nummer 1 an. Es stand an der Ecke Reeperbahn und Talstraße, und der Begriff Haus war wirklich eine schamlose Übertreibung. Nur noch die Mauer stand, und statt einer Tür klaffte ein großes, bis zum Boden reichendes Loch in der Mitte, rechts und links davon zwei etwas kleinere, in denen früher die Fenster gewesen waren und durch die man nun auf Schuttberge starren konnte. Neben dem einstigen Eingang hingen nach wie vor die blau-weißen Reklameschilder der Bavaria-Sankt-Pauli-Brauerei. Wenn man den Blick anhob, sah man durch die Fensteröffnungen keine Stockwerke, keine Decken, nur den Himmel. Bis zum Bombenregen hatte sich das Gebäude über drei Etagen erstreckt, mit dem legendären Hamburger Lokal Zur neuen Welt im Erdgeschoss.

Die Kinder liebten es, auf den Trümmerbergen, die davon übrig geblieben waren, Schlitten zu fahren. Was eine gefährliche Angelegenheit war. Nicht nur ragten hier und dort scharfe oder spitze Gegenstände heraus, auch fanden sich immer wieder Handgranaten oder Panzerfäuste darin. Wie viele von ihnen dadurch ihre Hände, Beine oder ihr Leben verloren hatten, war kaum mehr zu zählen. Denkbar, dass der Junge auf dem Hosenboden den Steinhang hinuntergeschlittert war. Aber was hatte ihm solche Angst eingejagt?

»Ida, wir müssen zur Wache zurück«, ertönte hinter ihr Heides Stimme. »Und ich habe das Gefühl, dass du dir nur deswegen noch mehr Ärger einhandeln willst, weil du dich am Sonntag sowieso verabschiedest.«

In einem kühlen Ton, der Ida selbst überraschte, sagte sie: »Denk, was du denken willst. Und sag Hildesund gerne, er kann mich hier abholen, wenn ihn das Bedürfnis überkommt, mich anzubrüllen.«

Damit wandte sie sich um und trat unter dem Türbogen in den schuttübersäten Hof. Obwohl sich ihr ein Anblick der Zerstörung bot, wie ihn nur ein Krieg anrichten konnte, überkam sie ein Gefühl der Ruhe und des Friedens. Die Geräusche des Schwarzen Markts waren nur gedämpft zu hören. Die Luft roch nach Erde und alten, feuchten Gemäuern. Staubpartikel schwebten durch das Sonnenlicht, das wegen des fehlenden Dachs bis ins Erdgeschoss fiel.

Auf den ersten Blick war nichts weiter zu entdecken als ein Berg von dunkelroten Ziegelsteinen, die langsam mit Efeu und Moos zuwucherten. In den beiden ersten Nachkriegswintern war jeder einzelne von ihnen tausendfach umgedreht worden, darauf würde sie wetten. Angesichts des Hungers und der Kälte hatten die Leute alles an sich gerafft, was Wärme oder Nährgehalt versprach oder eingetauscht werden konnte. Mittlerweile war ganz Sankt Pauli abgegrast.

Weil ihr nichts ins Auge fiel, machte sie sich daran, den Schuttberg zu erklimmen. Wieder und wieder rutschte sie ab und fluchte unterdrückt vor sich hin, während Heide, die ihr, statt zur Wache zurückzukehren, gefolgt war, mit verschränkten Armen und bitterböser Miene unten stand.

»Er hat bestimmt nur eine Ratte gesehen, Ida«, rief sie nach einer Weile. Immerhin klang sie ein wenig versöhnlicher. »Lass uns zurückgehen. Wir sind sowieso spät dran.«

»Eine Ratte sieht man jeden Tag. Wer sollte davor Schiss haben? Du hast sein Gesicht nicht gesehen. Er hatte Todesangst.« Außerdem, dachte sie, würde der Junge eine Ratte wohl eher fangen und braten. Manchmal war eine sogenannte Kanalforelle besser als gar nichts im Magen. Ida wusste, wovon sie sprach.

Staub kratzte ihr im Hals und ließ sie husten. Ihre Hände schmerzten vom Klettern, einer ihrer Finger blutete. Und natürlich hing nun fast die komplette Schuhsohle herunter, und zahlreiche spitze Steinchen stachen ihr in den Fuß. Irgendwann musste sie einsehen, dass sie kaum noch vorwärtskam.

»Na gut«, murrte sie schließlich. Sie setzte an, den Schutthügel runterzuschlittern, als ihr war, als habe sie in der Drehung aus dem Augenwinkel etwas entdeckt. Aber nein – als sie erneut in die Richtung sah, entdeckte sie nur Steine, Trümmer.

Ida begann die Abfahrt – mit dem rechten Fuß voran seitlich hinab und weit schneller, als ihr lieb war. Nach halber Strecke bremste sie unvermittelt ab. Seit wann gab sie so schnell auf? Nur, weil Heide unten stand und vor Ungeduld fast ihre Nägel abkaute?

»Ida? Och, nee!«

Doch sie hatte sich schon wieder umgedreht und begann ungeachtet Heides Murren aufs Neue emporzuklettern. Diesmal hielt sie sich weiter links. Und tatsächlich: Dort war wirklich etwas, das nicht ins Bild passte … etwas Helles, das aus dem Schutt herausragte und eine seltsame Form hatte …

Ida legte einen Zahn zu. Auf allen vieren kroch sie aufwärts und schürfte sich die Knie auf. Als sie näher kam, begriff sie, dass sie richtig gesehen hatte. Sonnenlicht fiel auf einen menschlichen Fuß und eine zerschundene Wade, an deren kalkweißer Haut Blut klebte. Das Knie, das andere Bein, der Leib, der Kopf waren unter Steinen verborgen. Atemlos rutschte Ida nach vorn, dorthin, wo sich ein schmaler Spalt zwischen den Trümmern auftat, und begann hektisch, die Steine beiseite zu schieben.

»Heide!«, schrie sie. »Hol Hilfe. Hier liegt jemand!«

Fieberhaft arbeitete sie sich vor, bis sie das zerschundene Gesicht einer Frau freilegte. Es war von dichtem, staubverklebtem Haar umrahmt und voller Schwellungen, grün, blau und verschorft; die Augen und der Mund kaum auszumachen.

Ida beugte sich hinunter und hielt ihr Ohr an die Lippen. Erleichtert stellte sie fest, dass die Frau noch atmete. Seltsam, dachte sie, als sie sich wieder aufrichtete. Es wirkte, als sei das Haus zusammengestürzt. Unmöglich. 1943 war Hamburg in Schutt und Asche gelegt worden, das war fünf Jahre her. Aber was war sonst geschehen? Hatte jemand die Frau unter dem Schutt vergraben?

Weil sie nicht wagte, den reglosen Körper zu bewegen, ließ Ida nur ihren Blick über die reglos daliegende Gestalt wandern. Die Frau machte einen ausgemergelten Eindruck, wirkte verhärmt, ihr Alter ließ sich kaum schätzen. Wo die Haut nicht mit Blutergüssen übersät war, besaß sie einen gelblich ungesunden Ton. Die Handgelenke waren so dünn, dass Ida ihre Finger hätte darumlegen können, ihre Nase mit Sicherheit mehrfach gebrochen. Sie trug einen abgetragenen Herrenmantel aus hellbraunem Stoff, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, eine Bluse darunter, die unterhalb des Nabels verknotet war. Der geblümte Rock starrte vor Schmutz. Ihre Beine in den heruntergerollten Strümpfen waren ebenfalls grün und blau geschlagen.

Vorsichtig begann Ida, die Manteltaschen zu durchsuchen. Eine durchfeuchtete Zigarette, zwei Knöpfe, sonst nichts. Sie sah sich um. Auf dem Schuttberg war es unmöglich zu erkennen, ob es einen Kampf gegeben oder jemand einen leblosen Körper hinter sich hergeschleift hatte.

Auf dem Schwarzen Markt, keine zehn Meter entfernt, ging das Leben weiter. Mit halbem Ohr horchte Ida auf die schnarrenden »Zucker, Kartoffeln, Tafelsilber«-Angebote und schlurfenden Schritte der Passanten. Wo blieb Heide samt Verstärkung? In der gesamten Stadt gab es nur sieben neue Krankenwagen, hatte Ares ihr erzählt. Die fünfzig alten waren Schrottlauben auf Rädern, die Gefährte, die die Briten aushilfsweise beisteuerten, auch nicht tauglicher. Endlich: Sie hörte Bremsen quietschen und gleich darauf Heides Stimme.

»Hier kommt Hilfe!«

Mit einem gurgelnden Geräusch versuchte die Frau, den Kopf zu drehen. Ihre Hand war eisig. Ida strich darüber, ängstlich, noch mehr kaputt zu machen.

»Wer hat Ihnen das angetan?«

Die Lider der Verletzten flatterten, erneut keuchte sie. Sie murmelte etwas, doch es ging im Knattern eines auf der Reeperbahn vorbeifahrenden Autos unter. Ida stieß einen unterdrückten Fluch aus.

Währenddessen versuchten zwei Männer, den Schuttberg zu besteigen, und schrien sich dabei hilfreiche Kommandos zu.

»M… mmmm… mmm…«

Ida musste an sich halten, ihr Ohr nicht an den Mund der Verletzten zu pressen.

»Ich bin Polizistin. Ich helfe Ihnen.«

»Mmm…«

»Ich bin Ida Rabe«, sagte sie. »Von der Davidwache. Verstehen Sie mich?«

Hilflos musste sie zusehen, wie das Bewusstsein der Verletzten schwand. Ida stand auf, wartete, bis die Männer die Frau vorsichtig den Hügel hinunterzutragen begannen, dann folgte sie ihnen.

»Wir müssen die Nachbarn befragen«, sagte Heide, als sie Ida auf sich zukommen sah.

»Mach du das. Ich schließe mich dir später an.« Ida ignorierte Heides angesäuerte Miene und eilte davon. Auf dem Schwarzen Markt war es still geworden. Niemandem war verborgen geblieben, dass eine leblose Frau aus den Ruinen getragen worden war. Der Schreck aber währte nicht lange. Es galt, Geschäfte zu machen, und Geschäfte waren wichtiger als alles andere....Ende der Leseprobe