Altern mit geistiger Behinderung - Meindert Haveman - E-Book

Altern mit geistiger Behinderung E-Book

Meindert Haveman

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Beschreibung

Dieses Buch stellt ein umfassendes Kompendium relevanter Aspekte in der Arbeit mit älteren Menschen mit geistiger Behinderung dar. Vor dem Hintergrund der Zunahme dieser Personengruppe ergibt sich für die gerontologisch-psychologische, die pädagogische sowie die medizinische Forschung und Praxis die Notwendigkeit, sich auf ältere Menschen mit geistiger Behinderung einzustellen und Konzepte zu entwerfen, die ihrer Lebenssituation gerecht werden. Neben allgemeinen Grundlagen (Altersbegriff, Lebenserwartung bei Menschen mit geistiger Behinderung, Dimensionen des Alterns) werden in diesem Buch die gesamte Lebenslaufsperspektive und viele Lebenssituationen (Wohnen, Arbeit, Freizeit, Sterben etc.) angesprochen. Für die 3. Auflage wurden neue Studien und Literatur berücksichtigt und für den Lehrgang "Selbstbestimmt älter werden" 16 Lektionen beschrieben.

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Die Autoren

Prof. Dr. Meindert Haveman lehrte an der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund.

Prof. Dr. Reinhilde Stöppler lehrt am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Meindert Haveman, Reinhilde Stöppler

Altern mit geistiger Behinderung

Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation

3., überarbeitete und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© 2004/2010/2021 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036808-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036809-5

epub:     ISBN 978-3-17-036810-1

mobi:     ISBN 978-3-17-036811-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

Einleitung

1   Altern und geistige Behinderung

1.1   Altersentwicklung in Deutschland

1.2   Altersentwicklung und Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung

2   Begriffliche Implikationen

2.1   Der Begriff »Altern«

2.2   Zum Personenkreis der alten Menschen mit geistiger Behinderung

3   Theoretische Konzepte für die Altersphase

3.1   Deinstitutionalisierung/Enthospitalisierung

3.2   Normalisierungsprinzip

3.3   Soziale Integration

3.4   Selbstbestimmung

3.5   Inklusion und Teilhabe

3.6   Pädagogisches Handlungswissen

4   Dimensionen des Alterns

4.1   Biologisches Altern

4.2   Psychologisches Altern

4.3   Soziologisches Altern

4.3.1   Aktivitätstheorie

4.3.2   Loslösungstheorie (Disengagementtheorie)

4.3.3   Kontinuitätshypothese

4.3.4   Kompetenzmodell

4.3.5   Lebenslaufperspektive

4.3.6   Periodeneffekte

4.3.7   Institutionalisierungseffekte

4.3.8   Aktives Altern für Menschen mit geistiger Behinderung

4.4   Pädagogisches Handlungswissen

4.4.1   Biologisches Altern

4.4.2   Psychologisches Altern

4.4.3   Lebenslaufperspektive

4.4.4   Gesundheitsbildung

5   Gesundheit und Krankheit

5.1   Krankheiten des Alters in der Gesamtbevölkerung

5.2   Krankheiten des Alters bei Menschen mit geistiger Behinderung

5.2.1   Gesundheitsrisiken des Lebensstils

5.2.2   Sehen

5.2.3   Hören

5.2.4   Stütz- und Bewegungsapparat

5.2.5   Herz- und Kreislaufsystem

5.2.6   Atmung/Apnoe

5.2.7   Verdauungssystem

5.2.8   Niere und Blase

5.2.9   Schilddrüse

5.2.10 Immunsystem

5.2.11 Hepatitis

5.2.12 Krebs

5.2.13 Epilepsie

5.2.14 Multimorbidität und Polypharmazie

5.3   Gesundheitsversorgung

6   Demenz (Alzheimer-Erkrankung)

6.1   Ätiologie

6.2   Diagnose Alzheimer-Syndrom

6.3   Diagnose der Alzheimer-Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung

6.4   Prävalenz

6.5   Verlauf

6.6   Testverfahren

6.7   Medikamentöse Therapie

6.8   Psychologische und pädagogische Maßnahmen

6.9   Sozial-ökologische Intervention

6.10 Pädagogisches Handlungswissen

7   Der Übergang von der Arbeit in den Ruhestand

7.1   Bedeutung der Arbeit

7.2   Arbeitsstätten für Menschen mit Behinderungen

7.3   Ruhestand

7.4   Pädagogisches Handlungswissen

8   Wohnen

8.1   Bedeutung

8.2   Grundlegende Forderungen und Zielsetzungen

8.3   Aktuelle Wohnsituation

8.3.1   Wohnen im Elternhaus

8.3.2   Wohnen in Einrichtungen des »geschlossenen« Bereichs

8.3.3   Formen des gemeindenahen Wohnens

8.3.4   Gruppengegliedertes Wohnen in besonderen Wohnformen

8.3.5   Besondere Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung

8.3.6   Leben in der (ambulant) betreuten Wohngemeinschaft

8.3.7   Betreutes Wohnen in der Einzel- oder Paarwohnung   

8.3.8   Ageing in place

8.3.9   Quartiersbezogene Konzepte

8.3.10 Alternative Wohnformen

8.4   Pädagogisches Handlungswissen

9   Soziale Netzwerke

9.1   Angehörige

9.2   Die Bedeutung sozialer Netzwerke in besonderen Wohnformen

9.3   Partnerschaften

9.4   Mitbewohner

9.5   Mitarbeiter

9.6   Freundschaften und Bekanntschaften außerhalb der Wohneinrichtung

9.7   Pädagogisches Handlungswissen

10 Freizeit

10.1 Zentrale Aspekte

10.2 Ziele der Freizeitförderung

10.3 Bewegung und Sport

10.4 Spielen

10.5 Planung von Freizeitangeboten

10.6 Angebote zur Tagesstrukturierung in besonderen Wohnformen

10.7 Pädagogisches Handlungswissen

11 Mobilität

11.1 Bedeutung der Mobilität

11.2 Mobilitätsbehinderungen

11.2.1 Mobilitätsbiografie

11.2.2 Mangelnde Barrierefreiheit

11.3 Mobilitätsspezifische Kompetenzen

11.4 Unfallgeschehen bei älteren Menschen

11.5 Pädagogisches Handlungswissen

12 Assistive Technologie (AT)

12.1 Formen der Assistiven Technologie

12.2 Assistive Technologie und Alter

12.3 Anwendung von Assistiver Technologie

12.4 Gefahren der Anwendung von Assistiven Technologien

13 Sterben und Tod

13.1 Einleitung

13.2 Trauer

13.3 Zum Todesverständnis bei Menschen mit geistiger Behinderung

13.4 Zum Trauerverhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung

13.5 Palliative Care

13.6 Pädagogisches Handlungswissen

14 »Selbstbestimmt älter werden«: ein Lehrgang für Menschen mit geistiger Behinderung zur Vorbereitung auf die eigene Gestaltung des Alterns

14.1 Erwachsenenbildung in der dritten Lebensphase

14.2 Lehrgang »Selbstbestimmt älter werden«

14.2.1 Grundprinzipien

14.2.2 Ziele, Inhalte und Themen

14.2.3 Aufgaben der Kursleiter

14.2.4 Weitere wichtige Elemente des Kurses

14.3 Lektionen des Lehrgangs »Selbstbestimmt älter werden für Menschen mit geistiger Behinderung«

Literatur

Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Der goldene Herbst des Lebens?!

In Deutschland und anderen europäischen Ländern lässt sich in den letzten Jahren ein erheblicher Zuwachs der Gruppe von älteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung beobachten.

Das Altersbild hat sich gewandelt; Begriffe wie die »neuen Alten«, »Silverpreneure«, »Forever Youngsters«, »Downaging-Trend« weisen darauf hin, dass »alt« und »Alter« neu definiert werden. Allesamt liegt ihnen das Ziel einer zunehmenden Lebensqualität zugrunde. Aber gilt dieser neue »Silver Lifestyle« auch für Menschen mit geistiger Behinderung im Alter?

Das vorliegende Buch thematisiert die Herausforderungen in der Begleitung dieser größer werdenden und besonders vulnerablen Zielgruppe mit vielfältigen Teilhaberisiken. Es ist zu befürchten, dass sich die gesundheitliche und soziale Vulnerabilität im Kontext der aktuellen COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen noch mehr verstärken wird.

Das Leben im Alter, den sogenannten goldenen Herbst des Lebens, nicht nur als Summe von Verlusten zu erfahren, ist eine Aufgabe, die Menschen an der Schwelle zur dritten Lebensphase zumeist selbst meistern können. Dabei werden sie von Kindern oder Enkelkindern, vom Freundeskreis oder in Vereinszusammenhängen unterstützt. Bei Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere, wenn sie längere Zeit des Lebens in besonderen Wohnformen verbracht haben, muss diese Unterstützung aufgrund der besonderen Lebenslage derzeit vor allem von der Behindertenhilfe übernommen werden.

Kreuzer (1996, S. 173) charakterisiert die Lebensbedingungen der heute alten Menschen mit Behinderung als »Kumulierung von Nachteilen«, die man mit den Stichworten Traumatisierung, Hospitalisierung und gelernte Hilflosigkeit umschreiben kann. Es knüpfen sich konzeptionelle und pädagogische Aufgaben an die Frage, wie es gelingen kann, einer oftmals lebenslang benachteiligten Gruppe von Menschen in der Lebensphase des Alters passende Unterstützungen zu bieten und bei einer personenzentrierten Planung von Hilfen und Kompetenzerweiterungen viele Bereiche zu berücksichtigen, um ihnen »neue Lebenschancen« (Pitsch & Thümmel 2017, S. 9) zu eröffnen.

Die Geistigbehindertenpädagogik ist die einzige Disziplin, die sich mit dem Menschen mit geistiger Behinderung in seinem Entwicklungsprozess von frühester Kindheit bis zur Altersphase befasst. Es handelt sich um eine Disziplin, die die Beiträge anderer Disziplinen zur Erklärung des Älterwerdens prüft, modifiziert und entsprechende Lösungswege für Menschen mit geistiger Behinderung aufzeigt. Bei der Verwirklichung dieser Aufgabe spielt die Lebenslaufperspektive und der gerontologische Ansatz des »Aktiven Alterns« eine wichtige Rolle.

Das vorliegende Lehrbuch bietet ein breites Spektrum von Themen des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung und thematisiert die Herausforderungen in der Begleitung und Bildung.

Zehn Jahre nach der zweiten Auflage dieses Buches hat sich jedoch vieles in der Thematik des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung verändert. Zu fast allen Aspekten dieses Buches gibt es neue Ergebnisse und Erkenntnisse aus In- und Ausland, die neues Licht auf das vermeintliche Wissen von gestern werfen. Wir haben versucht, diese neuen Einsichten aufzunehmen. Über ein Thema ist im deutschsprachigen Raum noch relativ wenig geschrieben, nämlich assistive (unterstützende) Technologie für ältere Menschen mit geistiger Behinderung. Wir haben dieses Thema in das Buch aufgenommen, da eine Ungleichheit besteht in der Verteilung technischer Hilfsmittel im Vergleich mit Gleichaltrigen in der Gesamtbevölkerung, aber auch verglichen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Die Mehrfachbehinderungen und chronischen Krankheiten, die gerade bei alten Menschen mit geistiger Behinderung vorkommen, bedeuten, dass viele Probleme nicht identifiziert, vernachlässigt und mit technischen Mitteln nicht gelöst oder kompensiert werden. Des Weiteren werden technische Überwachungsmittel für pflegeabhängige Menschen oft fälschlicherweise als unterstützende Technologie angesehen.

Zu den biologisch-medizinischen Aspekten des Alterns sind weitere Subthemen hinzugefügt worden: Gesundheitsrisiken des Lebensstils, Krebs, Epilepsie, Multimorbidität und Polypharmazie, Gesundheitsversorgung für ältere Erwachsene mit geistiger Behinderung und Sterbevorbereitung und -begleitung. Auch wurden die Ausführungen über die Demenzerkrankung um Aspekte der medikamentösen Therapie erweitert.

Bislang fehlten theoretische Konzepte der Deinstitutionalisierung und der Inklusion in diesem Buch. Wir haben diese, zusammen mit dem gerontologischen Ansatz des aktiven Alterns, ergänzt.

Die größte Ergänzung dieses Buches fand jedoch im Bereich der Erwachsenenbildung für ältere Menschen mit geistiger Behinderung statt. Der neu überarbeitete Lehrgang »Selbstbestimmt Älterwerden« (Haveman & Heller, 2019) wurde integral in diesem Buch aufgenommen. Weniger stark behandelt werden dagegen medizinische Aspekte. Hierzu sei unsere Publikation »Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung« (Haveman & Stöppler, 2014) empfohlen.

So skizziert das erste Kapitel das Thema zunächst die Anfänge der Forschung und des systematischen Gedankenaustausches. In Kapitel 2 werden zentrale und grundlegende Aspekte zum Altersbegriff und Personenkreis erörtert. In Kapitel 3 werden aktuelle relevante Paradigmen der Geistigbehindertenpädagogik fokussiert. Das vierte Kapitel gibt einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Dimensionen des Alters: Biologische, psychologische und soziologische Aspekte werden unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit geistiger Behinderung beleuchtet. Darauffolgend gibt Kapitel 5 einen umfangreichen und differenzierten Überblick über verschiedene Alterserkrankungen. Eine häufig vorkommende Erkrankung bei Menschen mit Down-Syndrom, die Alzheimer- Erkrankung, wird in Kapitel 6 thematisiert. Es folgt ein weiteres zentrales Thema: der Übergang von der Arbeit in den Ruhestand, der im siebten Kapitel beschrieben wird. In Kapitel 8 geht es um Wohnen und Wohnformen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung. Die Bedeutung von sozialen Beziehungen und den Funktionen sozialer Netzwerke für Menschen mit geistiger Behinderung, insbesondere die Beziehungen zu Angehörigen, Mitbewohnern, Mitarbeitern etc. werden in Kapitel 9 geschildert. Kapitel 10 beschäftigt sich mit Bedeutung und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Eine zentrale Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellt die Mobilität dar, die in Kapitel 11 mit ihren Einschränkungen bei älteren Menschen dargestellt wird. Als neues Thema wurden in Kapitel 12 assistive (unterstützende) Technologien für ältere Menschen mit geistiger Behinderung in den Blick genommen. In Kapitel 13 folgt die wichtige Thematik des Sterbens und des Todes: Sowohl Trauerverständnis als auch Trauerverhalten und Möglichkeiten der Auseinandersetzung bei Menschen mit geistiger Behinderung werden diskutiert. Abschließend werden in Kapitel 14 die Bedeutung und Möglichkeiten der Bildung bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung thematisiert und durch die Beschreibung des neu überarbeiteten Lehrgangs »Selbstbestimmt Älterwerden« konkretisiert.

Die theoretischen Ausführungen der Kapitel 3 bis 13 werden durch pädagogisches Handlungswissen mit vielfältigen wichtigen Hinweisen für die Praxis der Pädagogik und Rehabilitation bei älteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung ergänzt.

Das Buch ist evidenzorientiert. Aussprachen und Informationen zu inhaltlichen Aspekten werden anhand der empirischen Fachliteratur dokumentiert. Dies kann für den Lesefluss störend wirken, gibt aber den interessierten und wissenschaftlich orientierten Lesern die Möglichkeit, die Aussagen im Kontext der jeweiligen wissenschaftlichen Quellen weiterzuverfolgen, um die Informationen des Buches für sich zu erweitern.

Aus pragmatischen Gründen wurden im Text oftmals nur die männlichen Formen benutzt, die selbstverständlich immer alle Geschlechtsformen einschließen (weiblich, männlich, divers).

Wir möchten es nicht versäumen, all denen zu danken, die uns bei der Entstehung des Buches unterstützt haben. Unser besonderer Dank gilt Dr. Melanie Knaup für die entspannte und überaus kompetente Unterstützung bei der Korrektur und für die sorgfältige Erstellung des Manuskripts.

Meindert Haveman und Reinhilde StöpplerAugust 2020

1          Altern und geistige Behinderung

 

 

 

Das Interesse für das Thema »Altern« bei Menschen mit geistiger Behinderung ist vor allem aus sozio-demographischen Entwicklungen zu erklären, nämlich als Teil der gerontologischen Fachliteratur und der politischen Diskussion rund um die Konsequenzen für die Sozialfürsorge. Das Thema »Altern bei Menschen mit geistiger Behinderung« hat inzwischen einen anerkannten Platz in der Fachliteratur erhalten, aber die Resonanz des politischen Interesses ist noch relativ gering.

Die Bevölkerungsalterung betrifft alle Länder. Der Umfang der Bevölkerung wird weltweit im Jahr 2060 etwas größer sein, während die Altersstruktur viel älter sein wird als das jetzt der Fall ist. Die Bevölkerungsalterung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaften. Sie beeinflusst z. B. Bildungseinrichtungen, Arbeitsmärkte, soziale Sicherheit, Gesundheitsfürsorge, Langzeitpflege und die Beziehung zwischen den Generationen. Die Lebenserwartung bei der Geburt steigt in allen Teilen der Welt. Es wird erwartet, dass die Lebenserwartung in einem Zeitraum von 45 bis 50 Jahren weltweit um 10% zunehmen wird, mit einem Maximum von 18% für Afrika und 6% für stärker entwickelte (nicht notwendigerweise zivilisiertere) Länder (Haub, 2006). Mit Ausnahme von Japan liegen die 15 nach Bevölkerungsstruktur ältesten Länder der Welt alle in Europa. Japan hat die meisten alten Menschen, aber danach folgen direkt Italien, Deutschland und Griechenland. Die US-Bevölkerung ist im europäischen Vergleich relativ »jung«, weniger als 13% der Einwohner sind 65 Jahre oder älter. In Deutschland wird nach Prognosen die Altersgruppe der 60 bis 80-Jährigen von 21,8 Millionen im Jahre 2010 auf 29,4 Millionen im Jahre 2030 ansteigen. Bei der Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen ist sogar ein Anstieg von 4,5 Millionen (2010) auf 10 Millionen (2050) zu erwarten (Birg, 2011, S. 24f).

Es bestand jedoch relativ wenig Interesse daran, die Konsequenzen des Alterns für Menschen mit geistiger Behinderung zu untersuchen. Bis Anfang der 1980er Jahre war das Altern von Menschen mit geistiger Behinderung kaum ein Thema. In Deutschland und in anderen Ländern wurde in Fachzeitschriften und Büchern, auf Tagungen und Kongressen der Prozess des Altwerdens und die Lebenssituation des älteren Menschen mit geistiger Behinderung nicht oder nur marginal angesprochen. In Praxis, Forschung und Lehre wurde der Personenkreis der älteren Erwachsenen mit geistiger Behinderung kaum beachtet.

Das fehlende Interesse an dieser Zielgruppe vor 30 Jahren kann durch verschiedene Umstände erklärt werden. So war durch eine vergleichsweise geringere Lebenserwartung die Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung, die älter als 50 Jahre waren, relativ klein. Darüber hinaus waren damals ältere Menschen mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft kaum sichtbar, da sie permanent in großen Wohneinrichtungen und psychiatrischen Anstalten (vgl. Haveman, 1982; Haveman & Maaskant, 1992) verblieben. Von wesentlicher Bedeutung war jedoch die damalige Auffassung, dass der Mensch mit geistiger Behinderung ein »permanentes Kind« sei. Sogar der ältere Mensch wurde in seiner Persönlichkeit zu einem Kind mit einem »mentalen Alter« von 0 bis 4 Jahren reduziert, zu einem Kind, das in einer frühen Phase seiner Entwicklung stehengeblieben sei. Die Betrachtung der weiteren Lebensphasen war bei dieser Sichtweise kaum relevant, da diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung der Persönlichkeit beitragen.

1.1       Altersentwicklung in Deutschland

Die steigende Anzahl alter Menschen in Deutschland ist seit einiger Zeit zu einem der wichtigsten Themen der Sozialpolitik geworden. »Nicht nur der einzelne Mensch, sondern eine ganze Gesellschaft, beziehungsweise ein ganzes Volk altert« (Lehr, 1998, S. 17). Wie in der Einleitung aufgezeigt wurde, wächst die Anzahl älterer Menschen im letzten Jahrhundert kontinuierlich.

Als bedeutendster Grund für diese Entwicklung ist der medizinisch-technische Fortschritt zu nennen, wie z. B. der Einsatz von Medikamenten, Impfstoffen und technischen Hilfsmitteln. Weiter hat es schon fast ein Lebensalter lang keinen Krieg gegeben, in dem viele Soldaten und Zivilisten starben. Die Weltkriege 1914–1918 und 1939–1945 haben das Leben vieler Menschen frühzeitig beendet. Auch die verbesserten Lebensbedingungen, wie gesicherte Ernährung, geregelte Arbeitszeiten, hygienische Maßnahmen sowie wirksame soziale Sicherungen, haben das Phänomen der hohen Lebenserwartung begünstigt (Imhoff, 1997, S. 14). Dieser Anstieg der Lebenserwartung der älteren Menschen hat erhebliche Auswirkungen auf die Altersstruktur und die damit verbundenen sozialen Fragen. Die ältere Generation ist heute zahlenmäßig größer als frühere ältere Generationen; dies bedeutet unter anderem, dass es bei gleichbleibenden Bedingungen potentiell mehr Rentenbezieher gibt und der Ruhestand als Lebensphase länger dauert (Eisenmenger et al., 2006, S. 39).

Die menschliche Lebenserwartung wird von verschiedenen Einflussfaktoren bestimmt. Sofern Populationen nicht durch Kriege, Seuchen und Hungersnöte dezimiert werden, spielt die Qualität der medizinischen Versorgung neben der biologischen Lebenserwartung (Zellalterung), Stress, Ernährung und Bewegung eine wichtige Rolle. Während vor 100 Jahren lediglich bei etwa 40 % der Neugeborenen davon ausgegangen werden konnte, dass sie ihren 65. Geburtstag erleben, sind es bei den heute gegebenen Sterblichkeitsverhältnissen mehr als 80 % der Männer und mehr als 90 % der Frauen (Weyerer & Bickel, 2007, S. 44). Unter guten Rahmenbedingungen können Menschen 100 Jahre und älter werden. Die bisher ältesten Menschen erreichten ein Lebensalter von knapp über 120 Jahren (maximale Lebenserwartung).

Im Jahr 2019 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung neugeborener Jungen in Deutschland 78,5 Jahre (Statistisches Bundesamt, 2019). Die entsprechende Zahl für neugeborene Mädchen lautet 83, Jahre. Die Lebenserwartung hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verlängert.

1.2       Altersentwicklung und Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung

Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist von den bereits beschriebenen demographischen Veränderungen gleichermaßen betroffen. Die steigende Lebenserwartung, eine höhere Anfälligkeit im Alter für chronische Erkrankungen, wie z. B. Demenzerkrankungen, aber auch Fragen über die Qualität des Wohnens, der Übergang von Arbeit zur Tagesstruktur sowie gestalteten Freizeit, verleihen dem Thema Altersentwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung eine hohe Relevanz. Ohne Wissen, ohne Information über diese Aspekte ist es schwierig, eine bessere Versorgungslage für – aber vor allem mit älteren Personen mit geistiger Behinderung vorzubereiten und zu planen.

Die Lebenserwartung steigt in allen Teilen der Welt. Menschen mit leichter geistiger Behinderung leben im Allgemeinen so lang wie ihre Altersgenossen ohne geistige Behinderung (Fisher & Kettl, 2005; Ouellette-Kuntz et al., 2005).

Wie entmutigend gerade falsche Aussagen über die Lebenserwartung ihres Kindes für Eltern sind, macht ein Zitat von Müller-Erichsen (1993) deutlich:

»In der medizinischen Buchhandlung stöberte ich zwei Bücher auf, um mich zu informieren. […] Ich habe beide Bücher gleich gelesen, war entsetzt über einige Bilder und habe nur daraus behalten, dass ›mongoloide Kinder sich bis zum zwölften Lebensjahr gut entwickeln, wenn sie keinen Herzfehler haben; ab diesem Zeitpunkt (etwa Pubertät) sich aber zurückentwickeln, d. h. frühzeitig altern und insgesamt nur eine Lebenserwartung von ca. 20 bis 25 Jahren haben‹. Ich muß gestehen, dass ich mir das gar nicht vorstellen konnte, zumal sich unser Sohn ganz munter entwickelte. Viel später, in den 80er Jahren, als ich schon Vorsitzende der Lebenshilfe Gießen war, habe ich immer wieder von Eltern den Satz gehört: ›Der Arzt hat gesagt, die leben nicht so lange‹. Leider verbreiten manche Ärzte noch heute diese ›Weisheiten‹, und Studenten lesen wohl noch immer solche Bücher. Es ist an der Zeit, mit diesen unzutreffenden Altersprognosen Schluß zumachen, denn es begegnen uns inzwischen 50- und 60-jährige Menschen mit Down-Syndrom.« (ebd., S. 127)

Inzwischen hat sich die Anzahl der Bücher vergrößert und wissensbezogene Inhalte verbessert. Trotzdem ist auch heute noch die letzte Bemerkung hervorzuheben. Informationen für Eltern über Lebenserwartungen müssen stimmen, man sollte nicht nur über die mittlere Lebenserwartung informieren, sondern auch über die Variationsbreite. Informationen, die nicht spezifisch sind, die veraltet und falsch sind und die keine positiven Auswirkungen haben oder unterstützen, verunsichern Eltern, Geschwister und andere Verwandte.

Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung ist, wie die der Gesamtbevölkerung, im 20. und 21. Jahrhundert stark gestiegen. Ein Teil dieses Anstiegs ist der Verbesserung der Ernährung, der Kontrollierung und Eindämmung von Infektionskrankheiten, den Impf- und Screeningprogrammen gefährlicher Krankheiten und der besseren Erreichbarkeit und Effektivität medizinischer Hilfen zu verdanken (Fisher & Kettl, 2005). Die größte Verbesserung der Lebenserwartung ist für Menschen mit Down-Syndrom dokumentiert. Im Jahr 1900 lag die Lebenserwartung für Menschen mit Down-Syndrom bei der Geburt zwischen neun und elf Jahren. 1946 (Penrose, 1949) hatte diese auf zwölf Jahre zugenommen. In den 1960er Jahren war die Lebenserwartung weiter gestiegen (vgl. Collman & Stoller, 1963), betrug aber bei der Geburt nicht mehr als 18 Jahre. Dagegen wurde 1989 eine durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt von ungefähr 55 Jahren errechnet (vgl. Eyman et al., 1989; Haveman et al., 1989). Aktuellere Daten berichten von einer mittleren Lebenserwartung von 56 Jahren (Carmeli et al., 2003). Yang et al. (2002) berichten in den USA, dass das durchschnittliche Sterbealter von Menschen mit Down-Syndrom von 1983 bis 1997 von 24 auf 49 Jahre gestiegen ist. In dieser 14-jährigen Periode ist dies ein Zuwachs von 25 Jahren. In derselben Periode nahm das Sterbealter in der Gesamtbevölkerung der USA nur um drei Jahre zu, nämlich von 73 auf 76 Jahre (Yang et al., 2002).

Anhand der epidemiologischen Untersuchungen über die Mortalität von Menschen mit geistiger Behinderung kann man feststellen, dass die Lebenserwartung für Menschen mit einer leichten und mäßigen geistigen Behinderung sich kaum von der der allgemeinen Bevölkerung unterscheidet (vgl. Janicki, 1997; Patja et al., 2000).

Für Personen mit einer schweren und mehrfachen Behinderung sind die Sterberaten in allen Altersgruppen jedoch noch immer höher im Vergleich mit der Personengruppe mit einer leichten und mäßigen geistigen Behinderung und der allgemeinen Bevölkerung (vgl. Eyman et al., 1990, 1993; Patja et al., 2001; Strauss & Eyman, 1996). Vor allem für Personen, die sich nicht oder kaum bewegen können oder eine ernste Form der Epilepsie haben, besteht ein erhöhtes Risiko (vgl. Eyman et al., 1990, 1993; Patja et al., 2000).

Dieckmann et al. (2016) veröffentlichen Resultate für Deutschland. In den Jahren 2007–2009 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen 70,9 Jahre, in Baden-Württemberg 65,3. Frauen erreichten 72,8 bzw. 69,9 Jahre. Im Vergleich mit internationalen Studien bestätigt sich hiermit der Trend der wachsenden Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung. Deutlich ist, dass die Lebenserwartung noch immer wesentlich geringer ist als in der Allgemeinbevölkerung.

Früher waren die häufigsten Todesursachen für Menschen mit Down-Syndrom Atemwegs- und andere Infektionskrankheiten, Krebserkrankung (z. B. akute Leukämie in der Kindheit), Herzversagen bei angeborenem Herzfehler (vgl. Fryers, 1986) und Epilepsie (vgl. Forssman & Akesson, 1970; Patja et al., 2000). Die Entdeckung und der verbesserte Zugang von Antibiotika in den 1940er Jahren reduzierte das Sterberisiko an Infektionen erheblich. Seit 1960 hat sich die chirurgische Fertigkeit, in sehr jungem Alter Herzkorrekturen vorzunehmen, erheblich verbessert. Lediglich bei 40–50 % der congenitalen Herzprobleme werden jedoch chirurgische Eingriffe vorgenommen. Bei Personen mit Down-Syndrom sind auch heute die Sterblichkeitsraten in den ersten 10 Jahren nach der Geburt und ab dem 50. Lebensjahr noch relativ hoch. In einer schwedischen Studie von Frid et al. (1999) wurde von 219 Kindern mit Down-Syndrom bei 47,5 % nach der Geburt ein Herzfehler entdeckt. Bei 42,1 % ging es dabei um einen totalen atrioventrikularen septischen Defekt. In den 14,5 Jahren nach der Geburt waren 24,4 % der Kinder dieser Geburtskohorte gestorben, nämlich 44,1 % der Kinder mit einem angeborenen Herzfehler und 4,5 % der Kinder ohne einen angeborenen Herzfehler.

Die häufigsten Todesursachen bei Personen mit Down-Syndrom sind Schlaganfall, Demenz und Infektionskrankheiten vor allem der Atemwege (vgl. Thase, 1982; Puri et al., 1995). Der wichtigste Faktor für die erhöhte Sterblichkeit ab dem Alter von 50 Jahren (vgl. Haveman et al., 1989b) sind die hohen Prävalenzraten der Alzheimer-Demenz und ihrer Folgeerscheinungen (Kap. 6).

Die Resultate der Studien zu Mortalitätsraten für Menschen mit geistiger Behinderung variieren untereinander durch Faktoren wie Selektion der Klienten, Stichprobenumfang, Qualität und Reliabilität des Datensatzes. In vielen Studien wurde die Information aus Registern von Einrichtungen und Organisationen entnommen (Eyman et al., 1989; Haveman et al., 1989; Janicki et al., 1997; Maaskant et al., 1995; Maaskant et al., 2002; Janicki, 2002; Bittles et al., 2002).

Die Mortalität steigt nach dem Alter von 40 Jahren stark an (Day et al., 2005; Strauss & Shavelle, 1998). Bei 40% der Menschen mit Down-Syndrom im Alter von über 40 Jahren wurde Lungenentzündung als Todesursache berichtet (Bittles et al., 2007). Diese ist wiederum eine der häufigsten Todesursachen im Zusammenhang mit Demenz (Keene et al., 2001). Angesichts der hohen Demenzraten bei älteren Menschen mit Down-Syndrom ist Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) vermutlich eine wichtige sekundäre Ursache für die hohen Sterberaten. Die Zunahme der Lebenserwartung ist besonders für Menschen mit Down-Syndrom ausgeprägt, nämlich von 12 im Jahr 1949 auf fast 60 im Jahr 2004 (Bittles & Glasson, 2004). Gründe für diese dramatische Verschiebung sind eine verringerte Kindersterblichkeit, besseres Wissen über syndromgebundene Krankheiten, adäquatere Gesundheitsversorgung in allen Lebensphasen und bessere Information von Eltern und Mitarbeitern für die Begleitung. Trotz dieses positiven Trends liegt die Lebenserwartung für Personen mit mittlerer und schwerer geistiger Behinderung immer noch deutlich unter der der Allgemeinbevölkerung. Mit einem durchschnittlichen Todesalter von 65 Jahren für Männer mit geistiger Behinderung und 63 Jahren für Frauen war die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in England 16 Jahre kürzer als bei der Allgemeinbevölkerung. Die Sterblichkeitsrate von Menschen mit geistiger Behinderung ist etwa doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung in England (Heslop & Glover, 2015).

Um gesicherte Aussagen über die Anzahl älterer Menschen mit geistiger Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland machen zu können, ist es bedeutsam, über zuverlässige Angaben zur Gesamtzahl der Menschen mit geistiger Behinderung zu verfügen, um auf die Anzahl älterer Menschen schließen zu können. Diese Angaben fehlen jedoch. Unter Zugrundelegung einer Prävalenzrate von 0,43 % der Länder Dänemark und Schweden leben im Jahre 2020 in der Bundesrepublik Deutschland schätzungsweise 350.000 Menschen mit geistiger Behinderung. Diese Schätzung ist sehr grob, da es in der Geburtenentwicklung und dem sozio-demographischen Aufbau der Bevölkerung zu den beiden skandinavischen Ländern Unterschiede gibt.

Die Begriffe »Mortalität« (Sterblichkeit) und »Lebenserwartung« haben für die Geburtskohorten von Menschen mit Behinderungen in Deutschland und Österreich vor 1945 einen bitteren Beigeschmack. Es geht um eine Personengruppe, die in vielen Fällen schon früh vernichtet wurde. Noch mehr als für andere Personen gilt die Aussage des deutschen Gerontologen Thomae (1968) für Menschen mit geistiger Behinderung im 20.Jahrhundert, nämlich, dass Altern primär als »soziales Schicksal« und erst sekundär als biologische Veränderung bezeichnet werden kann. Das »soziale Schicksal« traf junge Kinder systematisch, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, ein eigenes Leben aufzubauen. Durch Naziverbrechen sind in Deutschland und Österreich die Geburtsjahre vor 1945 kaum vertreten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Menschen mit geistiger Behinderung, die zur Gruppe der »Lebensunwerten« zählten, systematisch ausgelöscht. Diese systematische Tötung, deklariert mit »Euthanasie», begann im Oktober 1939 aufgrund eines »Führererlasses«. »Lebensunwerte« Kinder und Erwachsene galten als »Ballastexistenzen«, die durch Medikamente, Spritzen oder Gas in den ehemaligen Konzentrationslagern (z. B. Auschwitz, Hadamar) getötet wurden. Insgesamt fielen den Euthanasie-Verbrechen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten ca. 300 000 Menschen zum Opfer. Die bekannteste Zielgruppen-Aktion zwischen 1939 und 1945 war die »Aktion T4«, in der ca. 70 000 Anstaltspatienten in »Tötungsanstalten« (Bernburg, Hadamar, Grafeneck, Brandenburg/Havel, Pirna-Sonnenstein und Schloss Hartheim in) mit Giftgas ermordet wurden. Nach dieser Aktion folgten weitere Phasen des Krankenmordes sowie »Euthanasie-Sonderaktionen« (vgl. Ley & Hinz-Wessels, 2017).

2          Begriffliche Implikationen

 

 

 

2.1       Der Begriff »Altern«

Was ist eigentlich mit »alt« gemeint, wer gehört zu dieser Kategorie und wer nicht, und meinen wir mit demselben Begriff dieselben Personen? Sind es bereits alte Menschen, sind sie gealtert oder altern sie noch? Handelt es sich um Alte, Alternde, Betagte, Hochbetagte, Bejahrte, junge Alte, alte Alte, Vorgealterte, frühzeitig Gealterte, Vergreiste, Ergraute, Senioren, Menschen 60plus oder um Rentner? Hinter jedem Begriff stecken andere Annahmen und Implikationen, aber die Menschen, um die es geht, sind oft die gleichen. »Alter ist als Begriff inzwischen vielschichtiger und unbestimmter denn je« (Backes & Clemens, 2013, S. 11).

Einerseits gibt es »das Altern« auf der sozial-demographischen Ebene, andererseits das Altern als individuelles Phänomen. In manchen Ländern wird das sozial-demographische Altern auch begrifflich gesondert benannt. So wird z. B. in den Niederlanden das Phänomen des sozial-demographischen Alterns als »Vergreisung« bezeichnet. Sprachliche Neuschöpfungen bürgern sich in Deutschland sehr schnell ein. Wenn z. B. auf den großen Geburtenzuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg, den sogenannten »Babyboom« hingewiesen wird, so spricht man auch von »Vergrünung«.

In seinem Werk »Altersbilder« gibt Tews (1995) eine umfangreiche Übersicht über Kennzeichnungen älterer Menschen, wobei auch die Akzeptanz von Altersbegriffen durch unterschiedliche Altersgruppen untersucht wird.

Einige Begriffe und Aspekte, die Tews unterscheidet, sollen hier kurz skizziert werden:

1.  Die Gerontologie empfiehlt die Begriffe »junge Alte« und »alte Alte« zu benutzen.

2.  Die »Älteren« ist ein neutralisierender, alle umfassender Begriff.

3.  Die »Alten« hingegen wird als härter, negativer empfunden.

4.  Der Begriff »Senioren« bezieht sich auf die 10-Jahres-Phase nach der Berufsaufgabe.

5.  Häufig werden auch die Begriffe »Rentner« und »Pensionär« benutzt; sie entsprechen einem eher traditionellen Altersbild.

6.  Neutraler – und zur Präsentation gerontologischer Untersuchungsergebnisse verwandt – ist die Benutzung des Begriffs des »chronologischen Alters« (z. B. die über 60-Jährigen bis 80-Jährigen).

Auf der individuellen Ebene ist nur das kalendarische oder chronologische Alter eindeutig. Das deutsche Wort »bejahrt« ist wenig gebräuchlich, »betagt« schon mehr. Beide Begriffe treffen als gelebte Zeit nach der Geburt die chronologische Dimension des Alterns sehr genau. Weiterhin existiert keine allgemein akzeptierte Definition des Alters (vgl. Backes & Clemens, 1998, S. 88; Opaschowski, 1998, S. 23) oder Alterns.

Rüberg (1991, S. 13) differenziert zwischen zwölf verschiedenen Aspekten des Alters:

1.  Kalendarisches oder chronologisches Alter: die seit der Geburt vergangene Zeit.

2.  Administratives Alter: die Kategorisierung in Altersgruppen für Verwaltung und Statistik etc.

3.  Rechtliches Alter: die dem kalendarischen Alter entsprechenden Rechte, Pflichten, Mündigkeiten.

4.  Biologisches Alter: der körperliche Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge wie Wachstum, Reifung, Abbau und Verfall.

5.  Funktionales Alter: altersgemäße Funktionalität, Leistungsfähigkeit im Gesamt des sozialen Lebens, besonders des gesellschaftlichen Arbeitsteilungssystems.

6.  Psychologisches Alter: das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, die Selbstdeutung des eigenen Zustandes, sich »so alt« fühlen und entsprechend verhalten.

7.  Soziales Alter: Übernahme der in der Gesellschaft altersspezifisch üblichen Rollen und Positionen.

8.  Ethisches Alter: das altersgemäß sittlich verantwortliche Handeln aufgrund des ethischen Wertebewusstseins und ihm gemäßer Handlungsmuster.

9.  Geistiges oder mentales Alter: die geistige Aufnahme- und Lernfähigkeit bezüglich eigener Veränderungen, wie auch derer von Mit- und Umwelt, die kritische Auseinandersetzung damit sowie die Fähigkeit der angemessenen Verhaltensanpassung.

10. Geschichtliches Alter: das Geprägtsein durch zeitgeschichtliche Ereignisse in einem bestimmten Zeitabschnitt des eigenen Lebens.

11. Personales Alter: Zusammenwirken und Integration aller Altersaspekte während des gesamten Lebens- und Alternsprozesses zur personalen und sozialen Identität.

12. Religiöses Alter: altersgemäßer Glaube und Gottesbezeichnung, die entsprechenden Konsequenzen für Wertorientierung und Lebensführung, wie auch für die Art und Identität der Beteiligung am kirchlichen Leben.

In diesem Buch wird das administrative Alter bei der quantitativen Erfassung nach Altersgruppen regelmäßig in den Tabellen auftauchen. Das rechtliche Alter spielt eine Rolle bei der Pensionierung, dem Ausscheiden aus Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) (Kap. 7); Aspekte des biologischen Alterns werden in den Kapiteln 4 bis 6 angesprochen. Das psychologische Alter wird relevant, wenn das Alter nicht durch Fremdbeobachtung bestimmt wird, sondern durch das Selbsterleben des behinderten Menschen (Kap. 4.2). Mit dem chronologischen Alter wechseln auch soziale Rollen und Positionen des behinderten Menschen. Diese impliziten und expliziten Rollenveränderungen des sozialen Alterns werden vor allem in den Bereichen Arbeit, Freizeit und Wohnen deutlich. Das ethische, das personale und religiöse Alter werden jedoch nur indirekt angesprochen.

Bei den ethischen Aspekten des Alterns sind vor allem Respekt und Würde, aber auch das Ermöglichen von Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung relevant (Kap. 3 und Kap. 14). Wichtig erscheint vor allem der respektvolle Umgang auch in der Kommunikation; die – vor allem in der Pflege – häufig benutzten demütigenden und diskriminierenden Ausdrücke (z. B. »Heiminsasse«, »füttern«, »pampern«, Verniedlichungen wie »unsere Leutchen«, Ansprachen aus dem familiären Bereich wie »Oma«/»Opa«, das sogenannte »Pflege-Wir« usw.) sind zu vermeiden. Gefühltes und chronologisches Alter klaffen zunehmend auseinander (Silver Society).

Die geistige Aufnahme- und Lernfähigkeit spielt eine große Rolle bei den kognitiven Aspekten des Alterns (Kap. 4), aber auch Lernerfolge, z. B. bei dem Lehrgang »Selbstbestimmt Älterwerden« (Kap. 14), beziehen sich auf das geistige Alter. Sehr zentral, und in jedem Kapitel verankert, ist das geschichtliche Alter. Aspekte des geschichtlichen Alters sind die individuelle Biografie, das Einwirken der früheren Umwelt auf das heutige Leben, der Lebenslauf und Periodeneffekte auf Gruppenniveau (Kap. 4).

Fachlich bedingt müssen die Disziplinen Biologie, Psychologie und Soziologie als sehr bedeutungsvoll für die Praxis und Forschung des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung hervorgehoben werden. Aus Sicht der Biologie bedeutet Altern, dass ein Organismus ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben immer fragiler wird und letztendlich stirbt. Für die Psychologie hat das Altern vor allem mit dem verminderten Vermögen des Menschen, sich den Ansprüchen der Umgebung anzupassen, mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen, und mit Schwierigkeiten der Selbstregulierung zu tun. In der psychologischen Perspektive wird großen Wert auf die Meinung des alternden Menschen selbst gelegt, nämlich darauf, welche Bedeutung und Wichtigkeit die individuelle Person ihrer Situation und den Ereignissen ihres Lebenslaufes gibt. Für die Soziologie ist es von Bedeutung, dass Menschen in einer Gesellschaft älter werden, in der bestimmte Erwartungen bezüglich der Position und der zu erfüllenden Rollen gelten, wenn man zu einer anderen Generation gehört.

Zusammenfassend zeigt sich, dass Altern ein Begriff mit sehr verschiedenen Bedeutungsdimensionen ist. Es handelt sich um einen Begriff mit breiten Reichweiten, wobei jede Disziplin dem chronologischen Begriff des Alterns eine neue Dimension hinzufügt (Stöppler, 2006).

2.2       Zum Personenkreis der alten Menschen mit geistiger Behinderung

Nicht nur der »alte« Mensch, auch der »Mensch mit einer geistigen Behinderung« ist begrifflich nicht zu fassen. Die organische Beeinträchtigung und ihre Folgen im kognitiven und mentalen Bereich sind bei jedem betroffenen Menschen individuell andere. Zudem ist eine allgemeingültige Definition des Begriffs »geistige Behinderung« schwierig zu treffen, da es eine Vielzahl von Erklärungsversuchen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und theoretischen Ansätzen gibt. Speck (2005) betont in seinen Ausführungen, dass der Fachausdruck »geistige Behinderung« ein sehr komplexes Phänomen darstellt. Der Begriff beinhaltet verschiedene Dimensionen und ist immer abhängig vom jeweiligen Betrachter (ebd., S. 48).

In der gängigen Fachliteratur findet sich keine einheitliche und exakte Definition des Personenkreises. Der Begriff »geistige Behinderung« ist ein Sammelbegriff für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung von Kognitionen und Problemen mit der sozialen Adaption. Wir wissen, dass es bei den einzelnen Menschen nicht nur Schwächen, sondern oft auch Stärken gibt, meinen aber, dass Definitionsversuche, die als eine Self-destroying Prophecy in der Stigmatisierung funktionieren sollen, wie z. B. »Menschen mit Möglichkeiten«, in der Praxis nicht wirken. Einen allgemeinen Definitionsrahmen der Zielgruppe gibt die Definition der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD, 2011). Sie spricht von deutlichen Einschränkungen sowohl des Intellekts als auch des Anpassungsverhaltens, die vor dem Erwachsenenalter beobachtet werden können. Außerdem werden messbare Handlungskompetenzen benannt und differenziert beschrieben. Die Handlungskompetenzen umfassen:

•  abstrakte Fähigkeiten: Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit, Geld- und Zeitverständnis, generelles Zahlenverständnis und Eigenregie

•  soziale Fähigkeiten: soziale Kompetenz, soziale Verantwortung, Selbstwertgefühl, den Sinn von Regeln erkennen und diese befolgen

•  praktische Fähigkeiten: Tätigkeiten des täglichen Lebens im Bereich Hygiene, Gesundheit und Sicherheit, Beruf, Reise und Transport, der Gebrauch von Geld, die Benutzung des Telefons.

Die AAIDD schreibt vor, dass zusätzliche Faktoren wie das spezifische kulturelle und soziale Umfeld des Menschen mit geistiger Behinderung berücksichtigt werden müssen. Diese Umwelt vermittelt normative Orientierungen, die individuelle Verhaltensweisen, Sprachmuster und -kompetenzen ebenso »erklären« oder zumindest beeinflussen können (AAIDD, 2011).

Der Begriff der Adaption führt manchmal zu ungewollten Missverständnissen. Speck (2005, S. 62) hebt in seinen Ausführungen deutlich hervor, dass es bei der Unterstützung nicht darum geht, Menschen mit geistiger Behinderung an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen, vielmehr geht es um die Person, die – soweit dies möglich ist – zu einer selbstständigen Lebenswirklichkeit befähigt werden soll. Dies geschieht immer in Interaktion mit Anderen. »Der pädagogische Anknüpfungspunkt ist nicht seine Schädigung oder Behinderung, sondern sein zu verwirklichendes Entwicklungs- und Lernpotenzial« (ebd., S. 48).

Die »Behinderung« ist nicht nur an der Person festzumachen. Kulturelle, soziale und bauliche Umweltfaktoren behindern die Person ebenso. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinigten Nationen (UN-BRK; United Nations, 2006) legt in ihrer Präambel das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) zugrunde. Demnach entsteht Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit einer Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Gesundheitsprobleme wie Krankheiten, Gesundheitsstörungen, Verletzungen usw., werden innerhalb der Internationalen Klassifikation der WHO in der ICD-10 und ab 2018 in der ICD-11 (WHO, 2018) klassifiziert. Beide Systeme liefern einen ätiologischen Rahmen. Die Funktionsfähigkeit und Behinderung, die mit einem Gesundheitsproblem verbunden sind werden in der ICFgekennzeichnet. Damit ergänzen die ICD-11 und die ICF einander bei der nationalen und internationalen Klassifikation von Gesundheitsproblemen. Die ICF hat sich fortentwickelt von einer Klassifikation von ›Krankheitsfolgen‹ (wie die ICIDH, 1980) hin zu einer Klassifikation der ›Komponenten der Gesundheit‹. (DIMDI/WHO, 2005, S. 9ff.).

Die ICF befasst sich mit dem Aspekt der funktionalen Gesundheit und ihren Beeinträchtigungen. »Eine Person gilt dann als funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (dem Konzept der Kontextfaktoren):

•  ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und ihre Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),

•  sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und

•  sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen)« (Schuntermann, 2005, S. 23).

Die funktionale Gesundheit gilt als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen der Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren (bio-psycho-soziales Modell der ICF). Die Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) fließen in die Betrachtung mit ein und können sich sowohl positiv wie auch negativ auf die funktionale Gesundheit auswirken (Schuntermann 2005, S. 23ff.). Diese zweiseitige Sichtweise und Definition einer Behinderung, nämlich geistig/körperlich beeinträchtigt zu sein und durch die Umwelt gehindert zu werden (sich optimal zu entwickeln, zu funktionieren und als Mensch akzeptiert zu werden), hat weitreichende Konsequenzen für die Begleitung. In einem Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe (2015) wird diese Sichtweise wie folgt formuliert: »Wenn Behinderung erst durch Teilhabeeinschränkung (zum Beispiel durch gesellschaftliche Barrieren) entsteht, so ist offensichtlich, dass eine Unterstützung von älteren Personen allein oder auch nur schwerpunktmäßig auf der individuell persönlichen Ebene zu kurz greift. Die Begleitung von älteren behinderten Menschen muss daher sowohl eine persönliche als auch eine sozialräumliche Dimension haben« (ebd., S. 9).

Für die Begleitung und Rehabilitation von älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist die Einschätzung von Funktionen und Kompetenzen wichtiger als der Bereich der begrifflichen Eingrenzung und der Diagnostik. Im Zentrum der Begleitung und Rehabilitation von Menschen steht der Kompetenzbegriff, und zwar bestehende und zu erreichende Kompetenzen bei Menschen mit geistiger Behinderung.

Kruse (2001) fasst die für die Rehabilitation und Förderung alter Menschen mit geistiger Behinderung relevanten Erkenntnisse aus der Altersforschung zusammen, indem er von Kompetenzen und nicht von Defiziten dieser Personengruppe ausgeht:

•  »Die Kompetenz im Alter (und zwar sowohl im physischen als auch im seelisch-geistigen Bereich) ist in hohem Maße vom Schweregrad der geistigen Behinderung beeinflusst: Schon alleine aus diesem Grunde sind Verallgemeinerungen zu vermeiden.

•  Die Kompetenz im Alter ist in hohem Maße vom Grad der Förderung beeinflusst, die Menschen im Lebenslauf erfahren haben.

•  Die Kompetenz im Alter ist in hohem Maße vom Grad der sensorischen, kognitiven und sozialen Anregungen beeinflusst, die Menschen aktuell erfahren.

•  Der Alternsprozess von Menschen mit geistiger Behinderung verläuft nicht grundsätzlich anders als bei Menschen ohne geistige Behinderung.

•  Die Variabilität im Altern ist bei Menschen mit geistiger Behinderung noch stärker ausgeprägt als bei Menschen ohne geistige Behinderung.

•  Der Kreativität geistig behinderter Menschen ist im Alter genauso wenig eine Grenze gesetzt wie in früheren Lebensaltern: Zu nennen sind kreative Leistungen im künstlerischen Bereich.

•  Gefühle der Selbstverantwortung und Mitverantwortung sind bei Menschen mit geistiger Behinderung in gleicher Weise vorhanden wie bei Menschen ohne diese Behinderung.

•  Fehlen systematische Anregungen oder das systematische Training, so besteht bei Menschen mit geistiger Behinderung die besondere Gefahr, dass die im Lebenslauf entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten rasch verloren gehen – auch die im Lebenslauf entwickelten Kompensationsstrategien.

•  Aufgrund verringerter affektiver und emotionaler Kontrolle sind die Belastungs- und Trauerreaktionen bei Menschen mit geistiger Behinderung intensiver. Aus diesem Grunde muss nach dem Auftreten von Verlusten eher mit tiefgreifenden psychischen Reaktionen gerechnet werden.

•  Die körperliche Ermüdung und seelische Erschöpfung nehmen bei Menschen mit geistiger Behinderung im Alter besonders stark zu, der Antrieb ist verringert.

•  Bei einzelnen Formen geistiger Behinderung – hier ist vor allem das Down-Syndrom zu nennen – ist die Gefahr des Auftretens dementieller Erkrankungen im Alter erkennbar erhöht« (ebd., S. 103).

Da sich bis jetzt keine grundlegend andere Benennung durchgesetzt hat, wird bei der Beschreibung erst die Personengruppe und dann das einschränkende Merkmal (»Menschen mit geistiger Behinderung im Alter«) genannt. Im Rahmen unserer Ausführungen soll in Abhebung von einer starren Lebensaltersgrenze von einem individuellen Alterungsprozess und -beginn bei Menschen mit geistiger Behinderung ausgegangen werden.

3          Theoretische Konzepte für die Altersphase

 

 

 

Im Laufe der Geschichte der Geistigbehindertenpädagogik haben sich die Leitideen, die die Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung prägten, umfassend verändert (vgl. Stöppler, 2017, S. 69). Damit eingehend gab es in den letzten Jahrzehnten einschneidende Veränderungen in den Auffassungen über eine geeignete Begleitung von älteren Menschen mit geistiger Behinderung. Diese Konzepte basierten auf Normalisierung, sozialer Integration, Selbstbestimmung sowie Inklusion und Teilhabe.

Die grundlegenden Initiativen und Perspektiven sind inzwischen schon ein halbes Jahrhundert alt. Die praktische Umsetzung hat jedoch eine viel jüngere Geschichte und ist noch immer aktuell. In den verschiedensten Lebensbereichen wie Freund- und Bekanntschaften (Kap. 9), Wohnen (Kap. 8), Arbeit (Kap. 7), Freizeit und Erwachsenenbildung (Kap. 10 und Kap. 14) ist der Prozess des Umdenkens und Umsetzens dieser Prinzipien in die direkte Begleitung noch nicht abgeschlossen. Vieles ist wohlformuliert in Grundsatzerklärungen und Broschüren der Anbieter niedergeschrieben, jedoch noch immer oft gering und fragmentarisch in der Praxis realisiert.

Die Auseinandersetzung mit den im Folgenden skizzierten Grundideen zur Begleitung haben jedoch wesentlich zum Umdenken über die Gestaltung von Dienstleistungen für ältere Menschen mit geistiger Behinderung beigetragen.

3.1       Deinstitutionalisierung/Enthospitalisierung

Die meisten soziologischen Theorien der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung haben direkte oder indirekte Wurzeln in der Institutionenkritik auf Großeinrichtungen der Psychiatrie und der Behindertenhilfe. Mit der Kritik an die Psychiatrie fing es an. Im westeuropäischen Modell (z. B. Deutschland, Niederlande, Dänemark) lag (und liegt teilweise immer noch) ein starker Fokus auf institutionelle Behandlung, Versorgung und Begleitung. In den 1950er bis 1970er Jahren kommt erste Kritik an den Institutionen auf (z. B. Goffman, 1961; Basaglia 1973). Es gab zunehmend schockierende Erfahrungsberichte von Familienmitgliedern oder Personal in den Medien oder in der Literatur. Es wird über die »Totale Institution« (Goffman, 1961) mit allumfassender Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Insassen, völlige Überwachung und über behinderte Entwicklung und deutliche Verstöße gegen Menschenrechte berichtet. Mittels folgender vier Merkmale charakterisiert Goffman die von ihm als »total« bezeichneten Institutionen: (1) die Schranken zwischen den Lebensbereichen sind aufgehoben, (2) alle Angelegenheiten des Lebens finden an einem Ort unter einer Autorität statt, (3) alle Phasen des Alltags werden gemeinsam mit »Schicksalsgenossen« auf die gleiche Art und Weise verbracht, (4) alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant − die erzwungenen Tätigkeiten unterliegen einer rationalen Planung, die angeblich am Ziel der Institution ausgerichtet ist (vgl. ebd., S. 17).

Eine häufig genannte Auswirkung der kritisierten Institutionen ist der soziale Ausschluss – die Ausgrenzung für Menschen, die in einer totalen Institution leben. Bei Basaglia ist der soziale Ausschluss einerseits Definitionskriterium für die »Institutionen der Gewalt« wie auch Begründung für die Forderung nach Veränderungen (Falk, 2016, S.21). Basaglia analysiert, dass der soziale Ausschluss durch totale Institutionen eine gesellschaftliche Funktion hat. »Genauso ist die Existenz der Irrenanstalten […] nur Ausdruck für das Bestreben, alles einzuschließen, vor dem man sich fürchtet, weil es unbekannt und unzugänglich ist. Dieses Bestreben wird von einer Psychiatrie legitimiert und wissenschaftlich untermauert, die das Objekt ihrer Studien für unverständlich hielt und es infolgedessen in die Kolonie der Ausgeschlossenen abschob…« (Basaglia, 1973, S.146, zit. n. Falk, 2016, S. 22).

Der Begriff »Deinstitutionalisierung« umfasst zwei Bedeutungen, die miteinander zusammenhängen. Deinstitutionalisierung ist einerseits ein Ideal über die gewünschte Position des behinderten Menschen in unserer Gesellschaft, beschrieben mit den Konzepten Normalisierung, soziale Inklusion und Teilhabe von Menschen (Bouras & Ikkos, 2013; Chow & Priebe, 2013; Kunitoh, 2013; Nicaise, Dubois & Lorant, 2014). Der Begriff der Deinstitutionalisierung bezieht sich jedoch auch auf den gesamten Kapazitätsabbau großer Einrichtungen/Krankenhäuser und/oder deren Aufteilung/Dezentralisierung in kleine Begleitungseinheiten, die autonomer funktionieren.

Deinstitutionalisierung als der geplante Abbau der Großeinrichtungen wird danach in mehreren Ländern – oft nur teilweise – umgesetzt. Ab den 1950er Jahren fand diese Entwicklung in Skandinavien, den USA, Großbritannien und Italien und später in vielen anderen Ländern von Kontinentaleuropa statt. Die Großeinrichtungen standen unter medizinischer Leitung, vielfach eines Psychiaters, da die Ursache der geistigen Behinderung primär als eine Gehirnerkankung gesehen wurde. Alle körperlichen und geistigen Gesundheitsbedürfnisse sollten in diesen Einrichtungen abgedeckt werden. Menschen mit geistiger Behinderung kamen selten mit allgemeinen Dienstleistungen in Kontakt. Während der Deinstitutionalisierungsbewegung wurden viele dieser Langzeitkrankenhäuser geschlossen. In Großbritannien sank die Anzahl von Betten von 64.000 im Jahr 1970 auf 3.950 in 2013 (Royal College of Psychiatrists, 2013). Auch die Rolle der in diesem Bereich tätigen Psychiater änderte sich. Von Ärzten für geistige Behinderungen, die sich mit allen Aspekten der körperlichen und geistigen Gesundheitsversorgung von Menschen befassten, wurden sie zu Spezialisten, die in erster Linie für die Bewältigung psychischer Gesundheits- und Verhaltensprobleme verantwortlich sind.

Brennenwold et al. (2018, S. 2) nennen drei Ursachen für den Auszug von Patienten aus den großen psychiatrischen Einrichtungen.

Die erste Ursache war die Entwicklung wirksamer Psychopharmaka in den 1950er Jahren (Becker & Kilian, 2006, S. 9). Diese ermöglichte es den Patienten mit einer psychiatrischen Behinderung, ein relativ normales Leben in der Gemeinschaft zu führen, unterstützt von ambulanten Pflegeeinrichtungen.

Die zweite Ursache war die Entstehung eines Bürgerrechtsparadigmas für Menschen mit einer Behinderung, nämlich, dass sie als Patient und Bürger in einer Umgebung behandelt werden sollten, die ihre Bürgerrechte am geringsten einschränkt. Dieses Prinzip der Normalisierung wurde erst nach vielen Jahren, nämlich 2006 in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bekräftigt. Leben in einer großen Einrichtung gilt in der Regel nicht als »wenig restriktive Umgebung«, da dies die Selbstbestimmung begrenzt und die Abhängigkeit erhöht (Novella, 2010, S. 223; Trappenburg, 2013, S. 3). Weiter bilden Abhängigkeit und das Führen eines abgeschotteten Lebens außerhalb der sozialen Gemeinschaft Risikofaktoren für (sexuellen) Missbrauch (Crossmaker, 1991). Dagegen wird das Leben in der Gemeinschaft als Mittel zur Genesung und Rehabilitation sowie zur sozialen Eingliederung von Patienten angesehen (Bouras & Ikkos, 2013; Novella, 2010).

Die dritte Ursache für die Deinstitutionalisierung war die Hoffnung auf Kostensenkung, da die institutionelle Pflege als teuer angesehen wurde (Chow & Priebe, 2013; Parker, 2014). In ihrem Review über Untersuchungen beschreiben Brennenwold et al. (2018) sowohl positive als auch negative Resultate der Deinstitutionalisierung von psychiatrischen Einrichtungen und Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Da eine Differenzierung nach Alter fehlt und die Ausführungen im vorliegenden Kontext zu weit führen würde, wird an dieser Stelle auf diese Übersichtsstudie lediglich verwiesen.

Aktuell ist Deinstitutionalisierung eine sozialpolitische Forderung der EU in Richtung der neuen Mitgliedstaaten. Obwohl die Entwicklung von gemeindeorientierten Einrichtungen voranschreitet, bleibt in vielen Ländern, z. B. Deutschland, weiterhin die Möglichkeit bestehen, in größeren Wohnformen zu leben. Die Öffnung und Eingliederung der Bewohner in kleinere Wohneinheiten nimmt zu. Es entstehen ebenfalls Modelle zentraler Einrichtungen mit vielen kleinen gemeindenahen Wohnungen.

Im angelsächsischen Modell (Kanada, USA, Großbritannien, Australien) ist die Entwicklung der Lebensbereiche alter Menschen mit geistiger Behinderung stark an das Paradigma des Normalisierungsprinzips und der Deinstitutionalisierung gebunden. Einerseits bedeutet dies, dass große Wohneinrichtungen geschlossen wurden, andererseits, dass die älteren Menschen nicht immer in qualitativ geeigneten alternativen Wohnformen (u. a. Pflegeheime) aufgenommen wurden.

3.2       Normalisierungsprinzip

Das Normalisierungsprinzip wurde durch Nirje (1969, 1972) und Bank-Mikkelsen (1980) in Skandinavien eingeführt und fand durch Wolfensberger (1972) in den USA große Verbreitung. Das Streben nach Normalisierung präsentierte sich in Form einer Bürgerrechtsbewegung, als eine Reaktion gegen große Einrichtungen, in denen seit dem 19. Jahrhundert Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen abgeschirmt von der Gesellschaft in oft erbärmlichen Zuständen lebten. Die Lebensbedingungen waren für diese Bewohner nicht nur inhuman, sondern auch nicht »normal« im Vergleich mit dem Leben außerhalb dieser Einrichtungen. Nirje betonte die Relevanz, den Menschen mit geistiger Behinderung einen »normalen Lebensrhythmus« zu ermöglichen und bedeutungsvolle Aspekte, wie Wohnen, Freizeit und Arbeit, als separate Lebensbereiche zu gestalten. In seinem späteren Werk arbeitet Nirje (1994) diese Gedanken weiter aus und formuliert das Recht des Menschen mit geistiger Behinderung auf einen normalen Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus, auf normale Entwicklungserfahrungen während der Lebensspanne, auf die Respektierung von Wahlmöglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen, auf eine zweigeschlechtliche Lebenswelt, auf ein Leben unter normalen ökonomischen Standards und auf Wohnen in einer normalen Wohnung und Nachbarschaft.

Diese Forderungen führten in vielen europäischen Ländern und in Nordamerika zu einer progressiven Politik der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung. Wolfensberger und Thomas (1980) haben in den USA das Normalisierungsprinzip modifiziert und als Social Role Valorization Theory konzipiert. Bei dieser Theorie liegt der Fokus auf dem Gebrauch von kulturell positiv bewerteten Mitteln (Gesetzgebung, mediale Darstellung, usw.), wodurch es für Menschen mit Behinderungen möglich wird, als respektierter Bürger zu leben und nicht in einer sozialen Umwelt mit negativen Rollenerwartungen aufzuwachsen. Eine Strategie, zur Erreichung dieses Ziels, ist das Vermindern von Stigmata. Die andere Strategie besteht in der Veränderung von Auffassungen und Attitüden in der Bevölkerung durch die positive Bewertung von bisher eher negativ bewerteten Menschen mit Behinderungen (revaluing of »devalued« people).

3.3       Soziale Integration

Der Begriff der Sozialen Integration ist historisch verknüpft mit dem Konzept der Aussonderung, der separaten Bildung und der institutionellen Gestaltung der Lebensbereiche Arbeit, Freizeit, Wohnen sowie der medizinischen und pflegerischen Versorgung und Begleitung. Als Gegenbegriff wurde um 1980 der Begriff der Nichtaussonderung in die Debatte eingebracht (Schildmann, 1996). Man unterscheidet dabei physische Integration (gleichberechtigte Teilhabe/Teilnahme von Menschen mit Behinderung in der Mitte und geographischer Nähe von nichtbehinderten Menschen), funktionale Integration (gleichberechtigte Teilhabe/Teilnahme an allen Institutionen und Organisationen des öffentlichen Lebens) und soziale Integration (Akzeptanz des behinderten Menschen als vollwertiger Bürger der Gesellschaft).

Der Begriff der Integration hat heutzutage mit dem Begriff der Inklusion vieles gemeinsam. »Von vornherein (sollte) verhindert werden, dass Integration notwendig wird, denn der Begriff setzt ja eine vorangegangene Isolation voraus« (Schöler, 1983, in Schildmann, 1996, S. 22).

Nach Speck (1999) hat der Begriff der Integration zwei Seiten: sowohl benötigte Kompetenzen des Individuums als auch Motivation bzw. positives Bemühen der Gesellschaft. Diese Auffassung schließt sich an das Normalisierungskonzept von Nirje an (siehe oben), wobei dieser Integration als »die Beziehung zwischen Menschen auf der gegenseitigen Anerkennung der Integrität des anderen und auf gemeinsamen Grundwerten und Rechten« versteht (Nirje, 1994, S. 200). Die Gleichstellung aller Menschen mit oder ohne Behinderung, und die gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist dabei unbedingte Voraussetzung für ein funktionierendes, gleichberechtigtes Leben in der Gesellschaft (vgl. Stöppler, 2002, S. 29).

Seifert (1997) bezieht die Integrationsebenen auf den Wohnalltag von Menschen mit geistiger Behinderung. Sie unterscheidet:

»Räumliche Integration: Wohneinrichtungen sind in normalen Wohngegenden angesiedelt.

•  Funktionale Integration: Allgemeine Dienstleistungen werden auch von Menschen mit geistiger Behinderung in Anspruch genommen (z. B. öffentliche Verkehrsmittel, Restaurants, Schwimmbäder).

•  Soziale Integration: Die sozialen Beziehungen in der Nachbarschaft sind durch gegenseitige Achtung und Respekt gekennzeichnet.

•  Personale Integration: Das Privatleben wird durch das jeweilige Lebensalter entsprechende persönliche Beziehungen zu nahestehenden Menschen als emotional befriedigend erlebt. Im Erwachsenenalter beinhaltet dies ein möglichst selbstbestimmtes Leben außerhalb des Elternhauses.

•  Gesellschaftliche Integration: Menschen mit geistiger Behinderung werden in Bezug auf gesetzliche Ansprüche als Mitbürger akzeptiert. Sie können bei Entscheidungen, die ihr Leben und ihren Alltag betreffen, mitbestimmen – sowohl als Einzelperson als auch als Mitglied von Selbsthilfegruppen.

•  Organisatorische Integration: Die organisatorischen Strukturen einer Gemeinde fördern und unterstützen die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung« (ebd., S. 27).

Wirkliche Integration ist nur möglich, wenn Individuen einerseits die Normen, Werte und Regeln einer Gesellschaft internalisieren können und in partizipatorisches Handeln umsetzen können, die Gesellschaft aber andererseits alles dafür tut, eine gleichberechtigte Teilnahme zu ermöglichen. Für eine gelungene Sozialisation und das Ermöglichen einer Teilnahme braucht auch der Mensch mit geistiger Behinderung Anleitung und Unterstützung, um:

•  »Kommunikationsfertigkeiten und -möglichkeiten zu entwickeln und zu erschließen,

•  soziale Verhaltensweisen auszubilden und soziale Interaktionen zu unterstützen und zu erweitern,

•  die Übernahme, das Erlernen sozialer Rollen zu ermöglichen,

•  die Teilhabe an Gruppenerfahrungen und -aktivitäten auszubauen und das Zugehörigkeitsgefühl zu verstärken,

•  die konkrete Eingliederung in Spielgruppen, Lerngruppen, Arbeitsgruppen und Freizeitgruppen zu begleiten und zu stabilisieren,

•  die berufliche Eingliederung in eine Werkstatt sicherzustellen und lebensdienlich zu gestalten« (Speck, 1999, S. 183).

Die Position und Funktion der Werkstufen der Schulen zur Vorbereitung z. B. auf Arbeit und Wohnen, aber auch der Werkstätten und Wohnformen als Vermittler von Information und Bildung für erwachsene Menschen wird innerhalb des Integrationskonzepts zunehmend kritisch diskutiert.

Hinze (2007) formuliert dies so:

»Schon lange bildet ›Integration‹ für die Sonderpädagogik einen Leitbegriff. Bereits die Teilhabe an Bildung wird als wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Integration gesehen. Es geht primär darum, Menschen mit Beeinträchtigungen ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen – realisiert über den Weg separierter Bildungswege. Zu einer Kontroverse kommt es, seit eine Elternbewegung Integration nicht nur als Ziel, sondern auch als Weg proklamiert; alle Kinder und Jugendlichen haben demnach einen Anspruch auf den gemeinsamen Besuch von allgemeinen Kindergärten, Schulen und Freizeitgruppen sowie eine Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und auf das Wohnen innerhalb der Gemeinschaft« (ebd., S. 173).

Seit einigen Jahren vollzieht sich ein langsamer Paradigmenwechsel – von der Normalisierung und Integration hin zur Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe. Professionelle Begleiter, Familie und Bekannte stützen dabei die Selbstverantwortung des Menschen mit geistiger Behinderung, geben Informationen, helfen beim Lernen und unterstützen bei oder führen in Stellvertretung Tätigkeiten aus, bei denen Hilfe angefordert wird. Ein wesentlicher Ansatz dabei ist die Entwicklung flexibler und menschengerechter Lebens- und Wohnmodelle, die in der Lebensumgebung der Menschen ohne und mit Behinderungen angesiedelt sind. Der Umgang mit vertrauten Menschen, die Einbeziehung in das kulturelle und soziale Umfeld sind zentrale Gedanken des sogenannten »community based living«, das in ganz Europa zunehmend Eingang in die Planungen und Gestaltungen des Lebens von Menschen mit Behinderungen findet.

3.4       Selbstbestimmung

Selbstbestimmung ist nichts, was dem Menschen von Natur aus gegeben ist. Sie entwickelt sich in einem fortwährenden und lebenslangen Dialog zwischen Ich und Umwelt. Selbstbestimmung wird folglich durch die Gesellschaft ermöglicht, findet jedoch gleichzeitig in deren Werten, Traditionen und Richtlinien ihre Grenzen. Das Ziel der menschlichen Entwicklung besteht in der Förderung des biologischen Organismus zur autonomen Individualität. Dieses Ziel ist für alle Menschen gleich, der Weg von totaler Abhängigkeit zu mehr Unabhängigkeit; das Erreichen der optimal möglichen Autonomie und eines sozial-kompetenten Verhaltens.

Auch die Selbstbestimmung oder das Fehlen der Selbstbestimmung des Menschen mit geistiger Behinderung im Alter ist aus einer Lebenslaufperspektive heraus zu erklären, nämlich inwieweit durch Bildung und Sozialisation die Assertivität und Autonomie als Kind, Jugendlicher und Erwachsener gefördert und geübt, vernachlässigt oder durch gesellschaftliche Vorurteile und Kräfte sogar gehemmt wurden.

Die Entwicklung des jungen Menschen zu einem sozialen, moralisch verantwortlichen und bedeutungsverleihenden Wesen kann nur in einer dazu geeigneten Erziehungssituation geschehen. »Erziehung« meint u. a. das Stimulieren des Wachstums der potentiell vorhandenen Möglichkeiten. Sie ist ausgerichtet auf das allmähliche Loslösen des Kindes aus der elterlichen Umgebung, auf Selbstständigkeit und sukzessives Aufheben der Abhängigkeit.

Bei Menschen mit geistiger Behinderung verläuft dieser Prozess viel langsamer, die Entwicklung kann verzögert sein. In einigen Fällen wird sogar in allen Lebensbereichen keine Unabhängigkeit von anderen Personen erreicht. Wo Altersgenossen flexibel und erfahren an allen Bereichen des sozialen Lebens teilnehmen können (z. B. im Straßenverkehr, bei Bankgeschäften, der Familiengründung, beim Schreiben und Lesen, bei der Arbeit und in der Freizeit), können Personen mit einer geistigen Behinderung in vielen Aspekten von der Unterstützung durch andere abhängig bleiben. Peters (1981) unterteilt den Begriff der Autonomie in drei Komponenten: Authentizität, Rationalität und Willenskraft.

Authentizität ist das Handeln aus selbst umschriebenen Regeln oder Normen. Dies ist die Basis für das Streben nach Emanzipation.

Rationalität stellt die Möglichkeit der kritischen Reflexion über die Gültigkeit der Regeln oder Normen, um Intentionen zu formulieren, also Präferenzen abzuwägen und zu wählen, dar.

Mit Willenskraft ist die Fähigkeit gemeint, eine getroffene Wahl tatsächlich auszuführen; die Fähigkeit, die eigenen Wünsche und Intentionen auch wirklich zu realisieren.

Dem Begriff der Selbstbestimmung kommt inhaltlich gesehen Peters Authentizitätsbegriff am nächsten, nämlich das Handeln nach selbstumschriebenen Regeln und das Streben nach Emanzipation. Für die Realisation dieses Prinzips im täglichen Leben sind jedoch auch Rationalität und Willenskraft notwendig.

Je weiter sich das Kind entwickelt, desto größer ist der Anteil dessen, was das Kind in seinem Leben selbst bestimmt; entsprechend nimmt der Anteil des Erziehers ab. Im Erwachsenenalter schließlich ist die Erziehung zum größten Teil überflüssig geworden. Die Person ist in der Regel autonom und unabhängig. Da jedoch bei Menschen mit geistiger Behinderung die Entwicklung langsamer verläuft, wird die Erziehungsaufgabe im Erwachsenenalter intensiver und länger oder bei einer Schwerstbehinderung oftmals ständig notwendig sein. Es sollte viel Zeit und Mühe dazu verwendet werden, auch im Erwachsenenalter die Autonomie zu fördern und zu realisieren.

»Selbstbestimmung« ist jedoch nicht nur menschliche Entwicklung, sondern auch eine Forderung durch eine Gruppe von Menschen, denen Jahrhunderte lang eine Mündigkeit in der Gestaltung ihres Lebens abgesprochen wurde. Zurückzuführen auf die Independent-Living-Bewegung in den USA in den 1960er Jahren zielt Selbstbestimmung auf die Beseitigung gesellschaftlicher Benachteiligungen und die Schaffung einer selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen, unabhängig von der Art und Schwere der Behinderung (vgl. Stöppler, 2002, S. 31). Auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung bezogen, bedeutet Selbstbestimmung mehr Unabhängigkeit von Helfern, Institutionen und Organisationen. Es sollte den Menschen zugetraut werden, Entscheidungen eigenverantwortlich und frei von externen Einflüssen zu treffen und das eigene Leben nach eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu gestalten (vgl. Kulig & Theunissen, 2006, S. 237). Reinarz & Ochel (1992; zit. n. Stöppler, 2002, S. 35) formulieren sieben Grundaussagen, deren Erfüllung Bedingung und Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben sind:

1.  Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse

2.  Bewusstsein seiner selbst

3.  Akzeptanz und Vertretung seiner selbst

4.  Gefühl der Gleichwertigkeit in der Begegnung mit anderen Menschen

5.  ein freies Leben mit eigenverantwortlichen Entscheidungen

6.  in und mit der Gesellschaft leben

7.  ein politisches Wesen sein

Das Gegenteil der Selbstbestimmung ist die »erlernte Hilflosigkeit«. Dieser Zustand entsteht, wenn Personen die Kontrolle über ihr Leben verlieren und abhängig von anderen werden (Seligman, 1975; Weisz, 1982). Der oben beschriebene Zustand wird bedingt durch nicht ausreichende Wahlalternativen, ungenügend Möglichkeiten, die notwendig sind, Entscheidungen zu treffen und der selbstständigen Problemlösung, aber auch das Fehlen geeigneter Lernerfahrungen.

In der Entwicklungspsychologie werden Altersabschnitte benannt (Kindheit, junges und altes Erwachsenensein), die sich nach dem Grad der Autonomieentwicklung voneinander unterscheiden lassen, und zwar von kaum bestehender bis zur ausgereiften Autonomie und Selbstbestimmung. Schaut man sich die Biografien von Menschen mit geistiger Behinderung an, dann wird deutlich, wie abhängig solche Phaseneinteilungen von dem Bildungswillen und der aktiven Gestaltung des Lebens behinderter Menschen durch die Mitwelt ist. Autonomie, Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung haben kaum Chancen, um in einer Umgebung mit strikten Regeln, Befehlen, Unterwerfung und Abwertung zu gedeihen.

Der hier und im Folgenden gebrauchte Begriff der Selbstbestimmung ist sehr treffend mit der Definition von Mühl (2000) beschreibbar. Selbstbestimmung ist

»die Möglichkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen oder Wertvorstellungen entsprechen, und demgemäß zu handeln. […] Selbstbestimmung hat jedoch Grenzen. Sie liegen da, wo die Selbstbestimmung der eigenen Person die Selbstbestimmung anderer Personen in Frage stellt« (ebd., S. 80).

Bei der Begleitung von älteren Menschen mit geistiger Behinderung ist es fast selbstverständlich geworden, dass Wünsche und Bedürfnisse des Individuums nicht mehr aus der Fremdperspektive durch die Mitarbeiter definiert werden. Es wird viel mehr die Eigenperspektive des Menschen selbst befragt, Wahlmöglichkeiten vorgelegt und nach eigener oder gemeinsamer Entscheidung gehandelt. Dies gilt für viele Lebensbereiche: selbstbestimmte Wohnsituation, Freizeit, Erwachsenenbildung, Tagesstruktur, Arbeit, selbstbestimmte Wahl des sozialen Umfelds, der sozialen Kontakte und Beziehungen, der Formen der Gesundheitsförderung und des körperlichen Wohlbefindens und letztlich auch die selbstbestimmte Entscheidung für die persönlichen Lebensziele (Bensch & Klicpera, 2000, S. 30; Buchka, 2003, S. 198; Theunissen, 1998, S. 161).

Die UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen (2006) ist eine zentrale Perspektive für die Weiterentwicklung der Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens und für den Abbau gesellschaftlicher Barrieren in Richtung einer inklusiven Gesellschaft. In Artikel 19 der UN-Konvention wird selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gemeinschaft beschrieben: Menschen mit Behinderungen haben das Recht, sich frei zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Sie dürfen nicht gezwungen werden, in einer besonderen Wohnform zu leben. Sie haben das Recht auf volle Einbeziehung in die Gemeinschaft. Dazu gehört auch persönliche Assistenz.

3.5       Inklusion und Teilhabe

Inklusion ist kein Betreuungsprinzip, sondern eine gesamtgesellschaftliche Zielsetzung im Sinne eines Menschenrechts. Inklusion beschreibt, wie alle Mitglieder der Gesellschaft leben möchten: in einem Miteinander, in dem keine Person ausgeschlossen wird. Jeder Mensch hat dabei Anspruch auf selbstverständliche gesellschaftliche Teilhabe und ist ein wertgeschätzter Teil der Gesellschaft. Jedem Menschen mit Behinderungen werden Wahlmöglichkeiten in den verschiedenen Lebenslagen ermöglicht.

Die Auseinandersetzung mit der Lebenphase Alter von Menschen mit geistiger Behinderung umfasst auch eine politische Dimension, die u. a. in der UN-