Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung - Meindert Haveman - E-Book

Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung E-Book

Meindert Haveman

0,0

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Die gesunde Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung an der Gesellschaft kann nur gelingen, wenn die beteiligten Disziplinen Pädagogik, Medizin und Psychologie eng kooperieren. Über ein gemeinsames Fachvokabular hinaus ist dafür ein praxisnaher gemeinsamer Wissensbestand zum Thema Krankheit und Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung notwendig. Gerade auf diesem Themenfeld entwickelte sich in den letzten Jahren ein neues Verständnis körperlicher und psychischer Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung und der Möglichkeiten ihrer medizinisch-pädagogischen Begleitung sowie gesellschaftlichen Teilhabe. Der Band liefert über die Grundbegriffe und Grundkonzepte des Umgangs mit Krankheit und Gesundheit hinaus das Basiswissen hinsichtlich der Entwicklung, der Erkrankung, der Diagnostik, Prophylaxe, Gesundheitsförderung und Prävention.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 753

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meindert HavemanReinhilde Stöppler

Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung

Handbuch für eine inklusive medizinisch-pädagogische Begleitung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für Alie, Anna, Fritz und Theo

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-020912-1

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023915-9

epub:  ISBN 978-3-17-025674-3

mobi:  ISBN 978-3-17-025675-0

Inhalt

Vorwort

1   Einführung in die Thematik

1.1   Enthospitalisierung und inklusive medizinische Begleitung

1.2   Aktuelle Paradigmen der pädagogischen Begleitung und die Konsequenzen für die medizinische Praxis

1.2.1   Normalisierungsprinzip

1.2.2   Selbstbestimmung, Partizipation und Teilhabe

1.2.3   Integration und Inklusion

1.3   Die Bürgerschaftsperspektive

2   Die Definition von Gesundheit und Krankheit

2.1   Begriffsklärungen

2.2   Definition und Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

2.3   Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)

3   Menschen mit geistiger Behinderung

3.1   »Behinderung« als Konstrukt

3.2   Der Versuch einer Definition von »geistiger Behinderung«

3.3   Ursachen (Ätiologie)

4   Kooperation

4.1   Die Notwendigkeit der Kooperation durch eine Häufung der Erkrankungen

4.1.1   Multimorbidität

4.1.2   Polypharmazie

4.2   Interdisziplinäre Zusammenarbeit

4.3   Kooperation mit Sozialwissenschaftlern (Pädagogen und Psychologen)

4.4   Koordination medizinischer Leistungen

4.5   Kooperation mit Begleitpersonen (Familienangehörige und Betreuer)

4.6   Interaktion und Kooperation mit den Patienten

4.6.1   Rechtliche Grundlagen

4.6.2   Die informierte Zustimmung (informed consent)

4.6.3   Das Arzt-Patienten-Verhältnis

4.6.4   Interaktion in der Arzt-Patienten-Beziehung

4.6.5   Das patientenzentrierte Arbeiten als Methode zum Aufbau einer gleichwertigen Beziehung

4.6.6   Interaktion von Ärzten mit Menschen mit geistiger Behinderung

5   Barrieren für eine inklusive medizinische Begleitung

5.1   Barrieren durch Klientfaktoren

5.1.1   Erschwerter Zugang zum Gesundheitssystem

5.1.2   Kommunikative Schwierigkeiten beim Arztbesuch

5.1.3   Mangelnde Kommunikationsfähigkeit und Folgeleistung

5.1.4   Darstellung von Schmerzen und Krankheitssymptomen

5.2   Arztbasierte Probleme

5.3   Barrieren des Gesundheitssystems

6   Entwicklung und Krankheit

6.1   Bausteine der Entwicklung

6.2   Einschätzung der Entwicklungsstufen durch Bezugspersonen

6.3   Entwicklungsbereiche

6.3.1   Die grob- und feinmotorische Entwicklung

6.3.2   Die Kommunikationsentwicklung

6.3.3   Die sozial-emotionale Entwicklung

6.3.4   Die sexuelle Entwicklung

6.3.5   Die kognitive Entwicklung

7   Gesundheit und Krankheit in der Lebensspanne

7.1   Lebenserwartung in der Allgemeinbevölkerung

7.2   Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung

7.3   Der Begriff der Lebensspanne

7.3.1   Kindes- und Jugendalter

7.3.2   Erwachsenenalter

7.3.3   Seniorenalter

7.3.4   Das »Ableben«: Terminale Krankheit, Sterben, Tod und Trauer

8   Das Gehirn als Organ der geistigen Entwicklung

8.1   Das Gehirn als komplexes Organ

8.2   Funktionsstörungen des Gehirns und geistige Behinderung

8.3   Das Gehirn als Grundlage für adaptive und kognitive Fähigkeiten

9   Psychische Gesundheit, Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störung

9.1   Diagnostik

9.2   Stress und Coping (Bewältigung)

9.3   Verhaltensauffälligkeiten

9.3.1   Begriffsklärung »Verhaltensauffälligkeiten«

9.3.2   Verhaltensauffälligkeiten in Lebensphasen oder -kontext

9.3.3   Verhaltensauffälligkeiten als Verhaltensphänotyp

9.4   Angststörungen

9.5   Depressionen

9.6   Autismus

9.6.1   Ätiologie

9.6.2   Autismus und geistige Behinderung

9.6.3   Erscheinungsbild

9.6.4   Einschätzung und Diagnostik

9.6.5   Prävalenz

9.6.6   Pädagogische Konsequenzen

9.7   Deprivationssyndrom (psychischer Hospitalismus)

9.8   Schizophrenie

9.9   Demenzerkrankungen

9.9.1   Einleitung

9.9.2   Die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)

9.9.3   Prävalenz und mögliche Ursachen von DAT bei Menschen mit geistiger Behinderung

9.9.4   Die Diagnostik von DAT

9.9.5   Medizinische und psychologische Interventionen bei Demenz und geistiger Behinderung

9.9.6   Ökologische und soziale Interventionen

10   Risikofaktoren für physische Erkrankungen

10.1   Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum

10.2   Körperbewegung

10.3   Nahrung

10.4   Übergewicht und Adipositas

10.5   Blutdruck

11   Körperliche Krankheiten bei Menschen mit geistiger Behinderung

11.1   Neurologische Erkrankungen

11.1.1   Epilepsie (Krampfanfälle)

11.1.2   Zerebralparese

11.1.3   Demenz

11.1.4   Zerebrovaskuläre Erkrankung

11.2   Erkrankungen des Verdauungstraktes (Mund, Magen, Darm)

11.2.1   Erkrankungen im Mundraum

11.2.2   Speiseröhre und Magen

11.2.3   Darm

11.3   Urogenitalsystem

11.4   Immunerkrankungen

11.5   Stoffwechselerkrankungen/Diabetes Mellitus (»Zuckerkrankheit«)

11.6   Herz-Kreislauf-Erkrankungen

11.7   Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates

11.7.1   Skelettveränderungen

11.7.2   Muskuloskeletale Veränderungen

11.7.3   Arthritis

11.7.4   Veränderungen des Bewegungsapparates im Alter

11.7.5   Frakturen

11.7.6   Osteoporose

11.8   Erkrankungen der Atemwege

11.9   Wahrnehmungsstörungen

11.9.1   Sehstörungen

11.9.2   Hörstörungen

11.10   Krebs

12   Syndromspezifische Risiken und Erkrankungen

12.1   Angelman-Syndrom

12.2   Cornelia-de-Lange-Syndrom

12.3   Cri-du-chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom)

12.4   Down-Syndrom (Trisomie 21)

12.4.1   Allgemeines

12.4.2   Entwicklungen in der Geburteninzidenz

12.4.3   Formen des Down-Syndroms

12.4.4   Muskelhypotonie

12.4.5   Überflexibilität der Gelenke bzw. Sehnen

12.4.6   Angeborene Herzfehler

12.4.7   Magen-Darm-Obstruktionen

12.4.8   Sehstörungen

12.4.9   Infektionskrankheiten

12.4.10   Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion)

12.4.11   Leukämie

12.4.12   Atlanto-axiale Instabilität

12.4.13   Schlafstörungen

12.5   Muskeldystrophie Typ Duchenne

12.6   Fetales Alkohol-Syndrom (Alkoholembryopathie)

12.7   Fragiles-X-Syndrom

12.8   Hurler-Syndrom (MPS IH)

12.9   Hurler-Scheie-Syndrom (MPS IH/S)

12.10   Myotonische Dystrophie (kongenital)

12.11   Noonan-Syndrom

12.12   Phenylketonurie (PKU)

12.13   Prader-Willi-Syndrom (PWS)

12.14   Rett-Syndrom

12.15   Sanfilippo-Syndrom (MPS III)

12.16   Smith-Lemli-Opitz-Syndrom

12.17   Smith-Magenis-Syndrom

12.18   Tuberöse Sklerose

12.19   Williams-Beuren-Syndrom

12.20   Wolf-Hirschhorn-Syndrom

12.21   X-chromosomaler Hydrozephalus

13   Ungleichheit in der medizinischen Versorgung

13.1   Determinanten für Gesundheitsunterschiede

13.2   Das europäische POMONA-Projekt

13.3   Soziale Ungleichheit von behinderten Menschen im Gesundheitsbereich

14   Bedeutung und Möglichkeiten einer frühen Diagnostik für die Prophylaxe

14.1   Pränataldiagnostik

14.2   Neugeborenen-Screening

14.3   Vorsorgeuntersuchungen für Kinder

14.4   Vorsorgeuntersuchungen für Jugendliche

14.5   Zahnmedizinische Untersuchung und Prophylaxe

15   Gesundheitsförderung und Prävention

15.1   Gesundheitsförderung (health promotion)

15.2   Prävention

15.2.1   Primäre Prävention

15.2.2   Sekundäre Prävention und Screening

15.2.3   Tertiäre Prävention

15.3   Gesundheitsförderung in Settings

15.3.1   Schulische Gesundheitsförderung

15.3.2   Gesundheitsförderung im Förderschwerpunkt »Geistige Entwicklung«

16   Inhalte und Bausteine der Gesundheitsförderung in schulischen und außerschulischen Settings

16.1   Ernährungserziehung

16.2   Bewegungs- und Mobilitätserziehung

16.2.1   Diskurs: Institutionelle schulische Bewegungsprojekte

16.3   Versorgung mit Hilfsmitteln

16.4   Suchtprävention

16.5   Zahngesundheitsförderung

16.6   Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten

16.7   Prävention von sexueller Gewalt

16.8   Unfallprävention

16.8.1   Sichere Beförderung

16.8.2   Prävention von Mobilitätsunfällen

16.9   Erste Hilfe

17   Aus- und Weiterbildung

17.1   Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung

17.2   Aus- und Weiterbildung für pädagogische Mitarbeiter

17.3   Aus- und Weiterbildung von Ärzten

Literatur

Sachwortverzeichnis

Vorwort

 

»Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.«

(Arthur Schopenhauer, 1788–1860)

In der pädagogischen Fachliteratur wird beim Thema »Inklusion« vor allem an die jeweils eigene Profession gedacht, nämlich als die zentrale Disziplin, die die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderungen ermöglichen kann. Dies zeugt jedoch nur von einem übertriebenen professionellen Selbstverständnis und einer Übertreibung der Möglichkeiten dieser Disziplin. Durch Eltern und andere Begleitpersonen werden schon vor der Geburt bis viele Jahre danach Fragen gestellt, die Pädagogen nicht oder nur mit Unterstützung anderer Disziplinen beantworten können. Eine dieser Schlüsseldisziplinen formen die Ärzte (z. B. Hausärzte, Neurologen, Kinderärzte, Zahnärzte und Psychiater), aber auch diejenigen, die sich aus ihrer Disziplin mit gesundheitlichen Fragen befassen wie Physiotherapeuten, Logopäden und Psychologen. Mit diesem Buch wird der Versuch unternommen, zwischen diesen Berufsgruppen eine Brücke zu schlagen. Mit dem gemeinsamen Ziel einer gesunden Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung an der Gesellschaft gilt es, Kernkonzepte und Grundbegrifflichkeiten der verschiedenen Disziplinen auf verständliche Weise in ihrer Bedeutung kennenzulernen und in gemeinsamer Kommunikation zu nutzen.

In den letzten zwei Jahrzehnten ist es sowohl in den Bereichen der Medizin als auch der Psychologie und Pädagogik zu vielen neuen Erkenntnissen über die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen mit Behinderungen gekommen. Einige dieser Ergebnisse werden systematisch in diesem Buch vorgestellt. In einer Arbeitsgruppe der IASSID (International Association for Scientific Study of Intellectual Disabilities) war es möglich, systematisch den Wissensstand zum Thema »Gesundheit im Alter bei Menschen mit geistiger Behinderung« in den letzten 20 Jahren zu erfassen und zu dokumentieren. In diesem Sinne sind wir den Kollegen Tamar Heller (Chicago), Lyn Lee (Sydney), Marian Maaskant (Maastricht), Shahin Shooshtari (Winnipeg) und Andre Strydom (London) dankbar für ihre Hilfe und Unterstützung. Das gleiche gilt für die neuen Ergebnisse, die in dem europäischen Kooperationsprojekten POMONA I und II zu dem Thema der Gesundheitsindikatoren für Menschen mit geistiger Behinderung gewonnen wurden. Partner in diesen Projekten waren: Patricia Noonan Walsh (Dublin), Christine Linehan (Dublin), Germain Weber (Wien), Geert van Hove (Gent), Tuomo Määttä (Helsinki), Bernard Azema (Montpellier), Serafino Buono (Troina), Arunas Germanavicius (Vilnius), Jan Tøssebro (Oslo), Henny Van Schrojenstein Lantman-de Valk (Nijmegen), Luis Salvador (Barcelona), Alexandra Carmen Cara (Bukarest), Dasa Moravec Berger (Ljubliana) und Mike Kerr (Cardiff). Wir haben keineswegs die Intention, in diesem Buch Pädagogen als Hilfsmediziner und Ärzte in den Sozialwissenschaften auszubilden. Um zu kooperieren, brauchen jedoch alle Beteiligten ein Grundwissen über und Einsicht in Begriffe und Kompetenzen der anderen Disziplin.

Bei der Redaktion dieses Buches stellten wir uns immer die Frage, welche Informationen aus den anderen Disziplinen bei der Lösung praktischer Fragen über die körperliche als auch die psychische Gesundheit sowohl für den Arzt als auch für den Sozialwissenschaftler wichtig sein können. Natürlich ist es unmöglich, alle Aspekte aus den Disziplinen in einem Buch zu behandeln. Wir haben eine deutliche Auswahl treffen müssen und hoffen, dass diese Informationen für den Leser hilfreich sind. Für den Sozialwissenschaftler haben wir medizinische Basiskonzepte erläutern müssen, die für den Mediziner selbstverständlich sind. Auch für den Mediziner werden sozialwissenschaftliche Basiskonzepte erläutert, die für Pädagogen und Psychologen im Grundstudium vermittelt wurden. Diese Redundanz war angesichts der interdisziplinären Zielsetzung dieses Buches nicht zu vermeiden.

In diesem Buch wird bewusst viel auf Quellen verwiesen, um die empirische Basis der Aussagen anzugeben, aber vor allem um das Weiterlesen primärer Quellen zu ermöglichen und den Stoff vertieft zu behandeln. Auch werden bei der Gesundheitsvorsorge und der Prävention von Erkrankungen praktische Beispiele und Materialien genannt. Wir hoffen, mit diesem Buch eine Brücke zwischen den verschiedenen Disziplinen zu schlagen, um zusammen praxis- und wohnortnahe Angebote in der Gesellschaft zu schaffen, die Menschen mit geistiger Behinderung eine optimale Gesundheit ermöglichen.

 

November 2013Meindert Haveman und Reinhilde Stöppler

1          Einführung in die Thematik

 

»Gesundheit« und »Krankheit« sind Faktoren, die unser subjektives Wohlbefinden stark beeinflussen, nämlich in der Form von Erwartungen, Hoffnungen, Glück, Kompetenzen, Unsicherheiten, Ängsten, Einsamkeit und Konflikten. Gesundheit ist gleichzeitig die wichtigste Bedingung für Lebensqualität. Man könnte es auch so formulieren: Wenn der Mensch an heftigen Schmerzen leidet oder durch Krankheit stirbt, ist Lebensqualität ein irrelevantes Thema. Die Medizin gibt Grenzen an und schafft gleichzeitig Freiräume für Entscheidungen über Leben und Tod sowohl am Anfang als am Ende des Lebens, nämlich bei der Schwangerschaft und bei terminalen Erkrankungen. Die wesentliche Funktion der Medizin sollte jedoch sein: die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von »Gesundheit« und die Steigerung der Lebenserwartung und der Lebensqualität. Sowohl für den Arzt als auch für den Pädagogen ist vor allem das Erreichen einer optimalen Lebensqualität des Menschen ein zentrales Konzept für die Begleitung. Dies gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen.

In ihrer Publikation zu Gesundheit und Behinderung formulieren die vier deutschen Bundesverbände der Behindertenhilfe die Beziehung der medizinischen Hilfen zur Lebensqualität wie folgt:

»Gesundheit ist stets und für alle Menschen ein wichtiges Element von Lebensqualität, ein wichtiger Einflussfaktor auf Lebensqualität und eine wesentliche Voraussetzung für möglichst uneingeschränkte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Deshalb sind gesundheitsbezogene Hilfen und Leistungen ein wichtiges, integratives Element der umfassenden Förderung von behinderten Menschen zur Überwindung von Behinderungsfolgen und zur Partizipation. Umfassende gesundheitsbezogene Leistungen sind mehr als die bloße Erfüllung eines gegebenen Anspruchs auf Vorbeugung, Linderung oder Beseitigung von Gesundheitsstörungen, Krankheiten usw.; vielmehr sind umfassende gesundheitsbezogene Leistungen wesentliche Voraussetzung für das Wirksamwerden aller übrigen Hilfen und Unterstützungen zur Partizipation.« (BEB, 2001, 7)

Für Menschen mit geistiger, insbesondere aber mehrfacher Behinderung sind Gesundheitsleistungen und pädagogische Hilfen oft Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, dazu gehören beispielsweise Kommunikationssysteme oder Mobilitätshilfen.

1.1       Enthospitalisierung und inklusive medizinische Begleitung

Zu lange wurde bei somatischen und psychiatrischen Problemen über die Köpfe der Patienten entschieden, welche Therapien und Behandlungen für sie wichtig waren. Es wurde kaum Zeit darauf verwendet, sie über Gesundheitsprobleme zu informieren, nachzufragen, ob die Informationen verstanden und verarbeitet wurden, und vielfach wurde auch versäumt, sie um Zustimmung für eingreifende Formen der Diagnostik und Behandlung zu fragen. Dies galt nicht nur für Kinder, sondern auch für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung.

Viele von ihnen verblieben in großen Wohneinrichtungen. In den meisten westlichen Gesellschaften werden oder wurden diese Anstalten und Großeinrichtungen im Zuge der Enthospitalisierung geschlossen. In diesem Kontext wird auch der Begriff »Deinstitutionalisierung« gebraucht. Der Begriff der Deinstitutionalisierung ist der treffendere, da mit diesem Begriff der Kultur- und Religionssoziologie der allmähliche Verfall von bestehenden gesellschaftlichen Werten aufgezeigt wird. Enthospitalisierung, die Verkleinerung und Aufhebung der Großeinrichtungen, ist eher eine der Konsequenzen einer umfassenden Werteverschiebung (Deinstitutionalisierung) in unserer Gesellschaft hinsichtlich der Position des behinderten Menschen. Der Begriff »Enthospitalisierung« verweist dabei auf sowohl die Loslösung des behinderten Menschen aus einem medizinischen Modell, das alle Lebensbereiche umfasste, als auch auf die Implementation von gemeindeintegrierten Wohnalternativen.

Viele der ehemaligen Bewohner dieser großen Einrichtungen sind heute Teil der Gesellschaft und erhalten medizinische Dienstleistungen zusammen mit anderen Bürgern. Menschen mit geistiger Behinderung fallen in den meisten Fällen bei medizinischen Fragen nicht mehr in den Verantwortungsbereich des institutionellen Personals, sondern in die Zuständigkeit der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Dies gilt nicht nur für Menschen mit Formen leichter oder mäßiger geistiger Behinderung, sondern immer mehr auch für Menschen mit Schwerstbehinderungen und komplexer medizinischer Problematik. Die Einrichtungen für Menschen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen hatten die Merkmale, dass sie groß und institutionell ausgerichtet waren, eher losgelöst von der Gesellschaft standen und medizinisch-pflegerisch ausgerichtet waren. Das Prinzip der medizinischen Verwaltung aller Lebensbereiche in Anstalten voriger Jahrzehnte, wobei Fremdbestimmung und abgeschiedenes Gruppendasein eine wichtige Rolle spielten, wird heutzutage eingetauscht gegen das Prinzip des dezentralen und selbständigen Wohnens in der Gesellschaft. Selbstbestimmung spielt dabei eine große Rolle, aber auch eine Trennung der Lebensbereiche des Wohnens, der Arbeit, der Freizeit und der medizinischen Begleitung. Im traditionellen Modell wurde der Akzent der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung auf Verbleib an einem Ort, Gruppendenken, Stabilität des Verhaltens, Sicherheit und Sondererziehung und -behandlung gelegt. Bei der heutigen Begleitung wird dies oder soll dies verlagert werden auf neue Akzente der Mobilität, Förderung der Individualität und des Selbstbewusstseins, Toleranz der Variabilität von Verhaltensweisen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Rollen, Mut zum Risiko und Erkundung von Neuem sowie Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten und Institutionen – also auf ein Leben, wie es jedem anderen Bürger freisteht zu führen.

Der Auszug aus dem Schonraum der Institutionen hat positive Konsequenzen für die Rechtsposition, Gesundheit und die Qualität des Lebens, impliziert aber auch einige neue Gesundheitsrisiken. Die großen Wohnzentren bemühten sich vor einigen Jahrzehnten wenig um die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit, Aktivitäten in der Gemeinschaft und die Entwicklung sozialer Beziehungen ihrer Bewohner. Auch hatten die Bewohner im Vergleich mit anderen Bürgern weniger Zugang zu Maßnahmen der Früherkennung von Krebs, kardiovaskulären Erkrankungen, Anämie, Grippeschutzimpfung, Hörgeräten und Brillen (Kerr et al., 2003). Für Menschen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen, die gemeindenah betreut werden, besteht heutzutage bei Begleitern und im sozialen Umfeld mehr Interesse für soziale Aspekte wie Erwachsenenbildung, Selbstbestimmung und soziale Integration.

Auch soll nach Vorbildern des Auslands die Infrastruktur der medizinischen Dienste und Unterstützung so entwickelt und angepasst werden, dass es auch Menschen mit geistiger Behinderung und komplexen Gesundheitsproblemen ermöglicht wird, in kleineren und gemeindenahen Wohnungen zu leben. Bei den meisten Modellen im Ausland wird dabei in der Pflege und Begleitung durch ein Team von Medizinern und verbundenen medizinischen Fachkräften eng mit der Familie und der Person mit der Behinderung kooperiert. Diese Dienste bieten entweder direkt oder sorgen für die Bereitstellung …

•  … von hochindividuellen Support-Teams, wobei eine Schlüsselkraft für den Kontakt mit den Klienten und der Familie eingesetzt wird zur Koordinierung der Pflege einschließlich:

–  Bereitstellung von Technologie, um das Leben in der Gemeinschaft zu unterstützen

–  Hausbesuche für Diagnostik und Folgeabsprachen/-konsultationen

–  Absprachen mit Ärzten, Fachärzten, Krankenschwestern und anderen medizinischen Fachkräften

–  Entwicklung der medizinischen Versorgungspläne und Notfall-Protokolle

–  Unterstützung und Klientenzentrierte Fürsprache bei Krankenhausaufenthalten

•  … flexibler individueller Unterstützung einschließlich:

–  der Fähigkeit, einen individuell passenden Satz von Ressourcen und Unterstützung für jeden Einzelnen zu finden oder zu entwickeln

–  der Ausbildung der Person mit Behinderung in Gesundheitsfragen, ihrer Familie, Freunden und der Mitarbeiter (AIID, 2006, 42).

Der Exodus der Menschen mit Behinderungen aus den großen Wohneinrichtungen hat ihre Krankheiten mehr sichtbar gemacht, ist aber auch Anlass zur Sorge. Es ist heute sichtbar und deutlich, dass die Gesundheit von behinderten Menschen im Allgemeinen schlechter ist als die anderer altersgleicher Bürger. Was wir nicht wissen ist, ob Menschen mit geistiger Behinderung heute kränker sind im Vergleich zu früher oder ob ihre Krankheiten zuvor zu häufig als selbstverständlich und zur Behinderung gehörend gehalten wurden. Die große Ungleichheit im Gesundheitszustand, aber auch in dem Zugriff auf das Gesundheitssystem zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ist durch eine große Anzahl von empirischen Studien inzwischen deutlich belegt worden (Kap. 13). Menschen mit geistiger Behinderung benötigen aktuell häufiger Gesundheitsleistungen, da sie immer älter werden und weniger in Heimen leben. Eine normalisierende Wohnsituation wie in einigen skandinavischen Ländern und den USA, nämlich im unterstützten Wohnen mit einer bis drei Personen pro Wohnung und kleinere (zwei bis drei Personen) oder größere Wohngemeinschaften (vier bis sechs Personen), ist in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern noch immer nicht realisiert worden. Trotzdem nutzen immer mehr Menschen mit geistiger Behinderung im Vergleich zu früher gemeindeintegrierte (para-)medizinische Dienste. Wie andere Bürger besuchen sie die Praxis des Haus- und Zahnarztes. Nicht ein Facharzt der Institution ist für sie primär verantwortlich, sondern der Hausarzt, der, wenn nötig, zu klinischen Spezialisten, Physiotherapeuten usw. überweist. Eine weitergehende Öffnung und Schließung von großen Wohneinrichtungen in den nächsten Dekaden bedeutet auch für diese Berufsgruppe, dass ungefähr 300 000 Menschen mit geistiger Behinderung unter ihre Verantwortlichkeit fallen und in Haus- und Zahnarztpraxen registriert sind.

Die Qualität der primärärztlichen Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung ist jedoch oft nicht adäquat durch einen Rückstand von Information über häufig vorkommende medizinische Probleme und sozialen Fertigkeiten, um sich effektiv zu verständigen (Jansen, Krol, Groothoff & Post 2006). Lennox & Kerr (1997) konstatieren, dass die primärärztliche Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung in der Gesellschaft durch eine hohe Prävalenzrate von vielen (a) unbehandelten, aber behandelbaren einfacheren Erkrankungen (wie Hör-/Sehschäden und Thyroid-Erkrankungen), (b) unbehandelten spezifischen Gesundheitsproblemen, die im Zusammenhang mit der individuellen Behinderung stehen (wie Demenz bei Menschen mit Down-Syndrom), und (c) durch eine geringe Teilnahme an allgemeinen Gesundheitschecks (wie Blutdruckkontrolle) gekennzeichnet wird. In einer internationalen Übersichtsstudie der Fachliteratur zu diesem Thema (Haveman et al., 2009; 2010) hat sich diese Annahme für viele andere ernste oder weniger ernste Erkrankungen bestätigt. 2001 wiesen die Bundesverbände der Behindertenhilfe auf einige Probleme der Angebote medizinischer Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland hin.

»Die bisherige Diskussion zum Themenkomplex Gesundheit für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung ist bestimmt

•  von einer deutlichen Reduzierung auf ein kuratives Verständnis anstelle eines umfassenden – präventive, kurative und rehabilitative Aspekte gleichermaßen berücksichtigenden – Verständnisses gesundheitsbezogener Leistungen,

•  von einer zergliedernden Betrachtungsweise der gesundheitsbezogenen Handlungskonzepte anstelle eines lebensweltlich orientierten integrativen Ansatzes,

•  von einer berufsbezogenen Sicht anstelle einer berufsgruppenübergreifend kooperativen Sicht der gesundheitsbezogenen Maßnahmen,

•  von einem Mangel an differenzierender und konkreter Betrachtung der notwendigen gesundheitsbezogenen Maßnahmen,

•  von einer Orientierung am nichtbehinderten Durchschnittspatienten mit seinen verfügbaren Kompetenzen und persönlichen Ressourcen anstelle der Berücksichtigung eingeschränkter Kompetenzen und Ressourcen behinderter Patienten und dem daraus abzuleitenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf und

•  von der mangelhaften Wahrnehmung der fachlichen und Kontext-Besonderheiten der gesundheitsbezogenen Hilfe- und Unterstützungsbedarfe geistig und mehrfach behinderter Menschen.« (BEB, 2001, 15)

In den kleinen Wohneinrichtungen (im ambulant betreuten Wohnen und den Außenwohngruppen) wird deutlich, dass die Verbesserungen der Rechte und der Angebote für Bildung, Freizeit, Arbeit und Wohnen nicht immer einhergehen mit Verbesserungen zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, regelmäßigen Arzt- und Zahnarztbesuchen und der Entwicklung eines gesunden Lebensstils. Die Lebensweise von Menschen mit geistiger Behinderung nähert sich der nichtbehinderter Menschen und gleicht sich dieser immer mehr an. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch die Gesundheitsprobleme und -risiken immer mehr annähern. So kann eine selbständigere Verkehrsteilnahme von Menschen mit geistiger Behinderung zu einer höheren Frequenz von Verkehrsunfällen führen. Durch mehr Kontakte mit Gleichaltrigen in Schule, Beruf und Freizeit gibt es auch mehr Gelegenheiten, sich Essgewohnheiten, das Rauchen und den Konsum von Alkohol und Drogen anzugewöhnen, wodurch gesundheitliche Probleme entstehen können. Auch kann ungeschützter Geschlechtsverkehr zur Häufung von Geschlechtskrankheiten führen.

Die Ungleichheit im Gesundheitsstatus zwischen Menschen mit und ohne einer geistigen Behinderung ist heute deutlicher als früher und diese Ungleichheiten werden wie bei anderen sozialen Gruppen (z. B. nach sozialem Status oder Migrationshintergrund) politisch und sozial nicht mehr akzeptiert (Cohen, 2001). Die Teilhabe an der Gesellschaft, das Führen eines selbstbestimmten und »normalen« Lebens wie andere Menschen, ist ein Phänomen, das die Qualität des Lebens von Menschen mit geistiger Behinderung ebenso definiert wie biologisch-medizinische Aspekte, wie die Länge des Lebens (Mortalität, Lebenserwartung) und Erfahrungen des eigenen Körpers (Schmerzen, krank sein, Morbidität). Wenn Menschen gefragt werden, was für sie am Wichtigsten ist, dann stehen »Gesundheit« und »ein langes Leben« sogar an erster Stelle, und dies gilt auch für Menschen mit geistiger Behinderung.

1.2        Aktuelle Paradigmen der pädagogischen Begleitung und die Konsequenzen für die medizinische Praxis

1.2.1     Normalisierungsprinzip

Kaum ein anderer Reformimpuls hat die Praxis der Behindertenhilfe in den letzten Jahrzehnten so nachhaltig verändert wie das »Normalisierungsprinzip«. Unter der Maxime »Ein Leben, so normal wie möglich!« (Bank-Mikkelsen, Nirje, Wolfensberger) richtete sich diese Reformidee von Anfang an auf die Veränderung der strukturellen und institutionellen Lebens- und Betreuungsbedingungen in den Einrichtungen der Geistigbehindertenhilfe (Gröschke, 2007, 242). War früher die pädagogische und medizinische Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung in Sondereinrichtungen/-institutionen (Kindergärten, Schulen, Freizeitclubs, Wohnheime, Werkstätten) die Regel, wird die Selbstverständlichkeit dieses separatistischen Systems immer mehr in Frage gestellt und als nicht passend für eine Gesellschaft erfahren, die sich als tolerant, heterogen, aber inklusiv für alle Bürger erklärt.

1.2.2     Selbstbestimmung, Partizipation und Teilhabe

Vor allem im Kontext der Empowerment- und Independent-Living-Bewegung ist Selbstbestimmung zu einem wichtigen und zentralen Leitbild bei der Begleitung von Menschen mit Behinderungen geworden. Unter Selbstbestimmung wird die Möglichkeit des Individuums verstanden, seinen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen und Wertvorstellungen entsprechend Entscheidungen zu treffen und demnach zu handeln. Selbstbestimmung soll – in Abgrenzung zur Fremdbestimmung – Ziel der Erziehung von Menschen mit sowie ohne geistige Behinderung sein (Mühl, 2000, 80).

Zusätzliche Autonomie und Partizipation in einem sozialen Prozess der Selbstbestimmung ist für Menschen mit geistiger Behinderung von großer Relevanz, da ihre Lebenswirklichkeit überwiegend von Fremdbestimmung geprägt worden ist. Wenn Familienmitglieder sowie Betreuerinnen und Betreuer vor diesem Hintergrund der Selbstbestimmung handeln und vor allem die Betroffenen nach ihren Haltungen und Wünschen befragen, kann Emanzipation und Selbstbestimmung gefördert werden. Selbstbestimmung stößt bei fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz an ihre Grenzen, daher geht das Recht auf Selbstbestimmung unabdingbar mit dem der Teilhabe einher.

Der Begriff der Teilhabe umfasst »das Einbezogensein in eine Lebenssituation« (Weltgesundheitsorganisation, 2005, 19), das Mitmachen, Mitgestalten und die Mitbestimmung im gesellschaftlichen Zusammenleben. Auch Menschen mit geistiger Behinderung sollen sich aktiv in die Gesellschaft einbringen. Weiter müssen die individuellen Bedürfnisse und Bedarfe festgestellt und entsprechende Hilfestellungen gegeben werden, um so Chancengleichheit zu gewährleisten (Wacker, 2005, 13 f.).

1.2.3     Integration und Inklusion

Nach dem Grundgesetz (Art. 3 GG) lässt sich Integration als gesellschaftliche Aufgabe beschreiben, der zufolge alle Menschen mit geistiger Behinderung in jeglichen Bereichen des Lebens die gleichen Chancen zur Teilnahme beanspruchen dürfen wie Menschen ohne Behinderung. Integration kann sowohl Ziel als auch Weg sein, damit alle Menschen, unabhängig von Art und Schwere einer Behinderung, in allen Bereichen der Gesellschaft gleichwertig teilhaben können (Begemann, 2002, 126).

Der Begriff der Inklusion beschreibt den in der Integration gewünschten Idealzustand und legt seinen Schwerpunkt auf den Aspekt der Unterstützung und Zuteilung der Ressourcen für alle Menschen, nicht nur für Menschen mit einer identifizierten Behinderung. »Behinderung« wird dabei lediglich als eine Dimension der gesellschaftlichen Heterogenität beurteilt (Doose, 2007, 16). Der Inklusionsbegriff soll den Begriff der Integration sowohl begrifflich als auch inhaltlich ablösen (Schmidt & Dworschak, 2011, 269). Der Begriff der Inklusion, der für Nichtaussonderung und unmittelbare gesellschaftliche Zugehörigkeit steht (Theunissen & Schirbort, 2006; Theunissen, 2007), spielt seit einigen Jahren bei der Gestaltung von Hilfen in den verschiedenen Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungen eine wichtige Rolle. Inklusion setzt »Lebenswelten (Familie, Kindergarten, Schule, Stadtbezirke, Wohnsiedlungen, Arbeitsstätten etc.) voraus, in denen alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, willkommen sind und die so ausgestattet sein sollten, dass jeder darin, mit oder ohne Unterstützung, sich zurecht finden, kommunizieren und interagieren, kurz sich wohlfühlen kann« (Hinz, 2002, zit. n. Theunissen, 2007, 171). Behinderung stellt in diesem Kontext keine funktionelle Einschränkung dar, sondern beschreibt lediglich ein Merkmal von diversen Gesellschaftsminderheiten (Hinz, 2006, 98).

Besonders im Rahmen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung gewinnt der Begriff der Inklusion an Bedeutung (Schmidt & Dworschak, 2011, 269). Die Behindertenrechtskonvention konkretisierte vor dem Hintergrund der Lebenslage behinderter Menschen universal gültige Menschenrechte und präzisierte Ziel- und Förderverpflichtungen für den Staat, um geeignete Maßnahmen zu ergreifen (Aichele, 2008, 4). Demzufolge lassen sich viele grundlegende Elemente der allgemeinen Menschenrechte, beispielsweise das »Recht auf Leben« oder das »Recht auf Freiheit«, aber auch spezielle Bestimmungen für die Lebenssituation behinderter Menschen sowie Verpflichtungen zur Bewusstseinsänderung in diesem Übereinkommen finden, das in 2009 in der BRD als Gesetz angenommen wurde. Im Rahmen dieses Übereinkommens und Gesetzes werden die Problemlagen behinderter Menschen konkret benannt und auf die Lebenssituation behinderter Menschen zugeschnitten (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2009, 10).

»Die Bedeutung […] besteht vor allem darin, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht nur einer Gesamtbetrachtung unterzogen, sondern unter Berücksichtigung aller Lebensfelder genauer analysiert und teilweise detailliert beschrieben werden.« (Deutsche Behindertenhilfe Aktion Mensch e. V., 2011, 4)

Ziel der Konvention ist es,

»den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.« (Art. 1 Abs. 1 BRK)

Laut Bielefeldt (2008, 10 f.) erhebt keine andere Menschenrechtskonvention diese Forderung nach sozialer Inklusion mit ähnlich prägnanter Deutlichkeit wie die Behindertenrechtskonvention. In den meisten Staaten ist noch ein traditionell medizinisches Modell von Behinderung vorzufinden (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2009, 11). Der Konvention liegt dagegen ein Verständnis von Behinderung zugrunde, welches deutlich macht, dass Behinderung kein fester Zustand, sondern ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess ist, der sich nachteilig auswirkt, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen auf einstellungs- und umweltbedingte Barrieren stoßen, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (BRK).

»Erschwernisse bei der Teilhabe am Leben der Gesellschaft sind nicht in erster Linie in Art und Ausmaß ihrer Beeinträchtigung begründet, sondern in einer mangelnden Passung zwischen den individuellen Bedürfnissen und Unterstützungsbedarfen und den jeweils gegebenen Umweltbedingungen.« (Seifert, 2010, 385)

Im Kontext von Behinderung geht es der Behindertenrechtskonvention nicht mehr um Fürsorge oder Rehabilitation behinderter Menschen, sondern um eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe. Im Rahmen unserer Ausführungen sind insbesondere die Artikel 16, 22, 25 und 26 von Bedeutung und sollen deshalb näher erläutert werden. Wir folgen dabei der Arbeitsübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention:

»Artikel 16: Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch

1. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die körperliche, kognitive und psychische Genesung, Rehabilitation und soziale Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen, die Opfer irgendeiner Form von Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch werden, zu fördern, auch durch die Bereitstellung von Schutzdiensten. Genesung und Wiedereingliederung müssen in einer Umgebung erfolgen, die Gesundheit, Wohlergehen, Selbstachtung, Würde und Autonomie des Menschen fördert und geschlechts- und altersspezifischen Bedürfnissen Rechnung trägt.

Artikel 22: Achtung der Privatsphäre

2. Die Vertragsstaaten schützen die Vertraulichkeit der personen-, gesundheits- und rehabilitationsbezogenen Informationen von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen.

Artikel 25: Gesundheit

Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit ohne Diskriminierung auf Grund ihrer Behinderung an. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtersensiblen Gesundheitsdiensten, einschließlich der gesundheitlichen Rehabilitation, zu gewährleisten. Die Vertragsstaaten werden insbesondere

a)  Menschen mit Behinderungen dasselbe Angebot, dieselbe Qualität und denselben Standard an kostenloser oder bezahlbarer Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen wie anderen Menschen, einschließlich auf dem Gebiet der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie bevölkerungsbezogener Programme im Bereich der öffentlichen Gesundheit

b)  die Gesundheitsdienste anbieten, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, gegebenenfalls einschließlich der Früherkennung und Frühintervention, sowie Dienste, um weitere Behinderungen möglichst gering zu halten oder zu vermeiden, insbesondere bei Kindern und älteren Menschen

c)  diese Gesundheitsdienste so gemeindenah wie möglich anbieten, auch in ländlichen Räumen

d)  die Angehörigen der Gesundheitsberufe verpflichten, Menschen mit Behinderungen Betreuung von gleicher Qualität wie anderen Menschen zu erbringen, namentlich auf der Grundlage der freien Einwilligung nach vorheriger Aufklärung, indem sie u. a. durch Schulungen und den Erlass ethischer Normen für die staatliche und private Gesundheitsversorgung das Bewusstsein für die Menschenrechte, die Würde, die Autonomie und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen erhöhen

e)  die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung und in der Lebensversicherung, soweit eine derartige Versicherung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist, verbieten; derartige Versicherungen sind zu angemessenen und vernünftigen Bedingungen anzubieten

f)  die diskriminierende Vorenthaltung von Gesundheitsversorgung oder Gesundheitsdiensten oder von Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten auf Grund einer Behinderung verhindern.

Artikel 26: Habilitation und Rehabilitation

(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, namentlich auch durch Rückgriff auf Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzten, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Teilhabe und Teilnahme an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Zu diesem Zweck organisieren, stärken und erweitern die Vertragsstaaten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -Programme, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste, dergestalt, dass diese Dienste und Programme

a)  im frühestmöglichen Stadium beginnen und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen

b)  die Teilnahme und Teilhabe an der Gemeinschaft und an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens unterstützen, freiwillig sind und Menschen mit Behinderungen so gemeindenah wie möglich zur Verfügung stehen, auch in ländlichen Räumen.

a.  Die Vertragsstaaten fördern die Entwicklung der Aus- und Fortbildung für Fachkräfte und Mitarbeiter in Habilitations- und Rehabilitationsdiensten.

b.  Die Vertragsstaaten fördern die Verfügbarkeit, Kenntnisse und die Verwendung von Geräten und assistiven Technologien, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, für die Zwecke der Habilitation und Rehabilitation.«

In der Behindertenrechtskonvention werden in Art. 25 also Standards für die gesundheitliche Versorgung formuliert, wobei die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung anerkennen. Zu einer umfassenden teilhabeorientierten Gesundheitssorge in diesem Sinne gehören auch Gesundheitsdienste, die von behinderten Menschen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, um Folgeerkrankungen und weitere Behinderungen zu vermeiden.

Zusätzlich fordert Art. 26 gesundheitsbezogene Maßnahmen, die behinderte Menschen in die Lage versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit sowie die volle Teilhabe und Teilnahme an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, im frühestmöglichen Stadium beginnen, auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen und behinderten Menschen so gemeindenah wie möglich zur Verfügung stehen. Die Forderungen der UN-Konvention gehen in diesem Sinne weiter als die Formulierungen im Sozialgesetzbuch V und IX. Während das SGB IX die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen umfassend zum Thema macht, werden im SGB V die besonderen Bedarfe behinderter Menschen nur allgemein in § 2a SGB V (Leistungen an behinderte und chronisch kranke Menschen) angesprochen: »Den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen.« Das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten und -alternativen und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Möglichkeiten des gesunden Lebens sollten beim pädagogischen Handeln unbedingt gegeben sein. Der Bereich der Gesundheit ist in diesem Kontext zur Teilhabe in der Gesellschaft von ganz besonderer Bedeutung. Menschen mit geistiger Behinderung haben sowohl das Recht auf Gesundheit als auch das Recht auf gesundheitsfördernde Bildungsmaßnahmen.

1.3       Die Bürgerschaftsperspektive

Die Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung wird heutzutage vor allem durch die Bürgerschaftsperspektive geprägt (Van Schrojenstein Lantman-de Valk, 2010). Menschen mit geistiger Behinderung sind rechtmäßige Bürger in unserer Gesellschaft mit denselben Rechten und Pflichten. Wolfensberger verlangt eine umfassende »social role valorization«, d. h. eine Erweiterung und vor allem Aufwertung der sozialen Rollen für behinderte Menschen mit dem Ziel ihrer sozialen Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft und ihrer uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe. Solche erweiterten Rollen und ihnen entsprechende komplementäre Rollenbezüge wären etwa die Rollen als Staatsbürger/Wähler, Kunde, Nachbar, Ehegatte und Eltern (Gröschke, 2007, 243), aber auch die erweiterte Rolle des mündigen Patienten. Theunissen meint dazu: »Diese Vorstellung mutet visionär an, fußt jedoch auf einer rechtlichen Verankerung von gesellschaftlichen Teilhabeansprüchen und entspricht damit einer ›inklusiven Bürgergesellschaft‹« (Theunissen, 2007, 171 f.).

Eine intellektuelle Behinderung ist keine Krankheit, oder eine zu isolierende Beschränkung oder Schädigung, sondern ein komplexes und multifaktoriell zu erklärendes Phänomen mit Wurzeln in der Kultur (Mont, 2007). Weltweit unterstützt die United-Nation-(UN-)Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2007) diese Forderung über Menschenrechte und Freiheiten, die garantiert sein sollten, um für alle Menschen mit Behinderungen dafür zu sorgen, dass sie sich eines höchstmöglichen Standards der Gesundheit ohne Diskriminierung erfreuen können. Die Konvention soll den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen fördern, schützen und gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde fördern. Mit dieser Zielsetzung steht die Konvention als menschenrechtliches Abkommen zunächst für das »Empowerment« der in dieser Gesellschaft behinderten Menschen. Außerdem steht die Konvention für die Überwindung des Defizitansatzes, der in einigen Punkten noch dem sog. Medizinischen Modell anhaftet. Demzufolge wurde und wird »Behinderung« eher als individueller Mangel, Fehler oder Krankheit gesehen. Das medizinische Modell ist in dieser Weise im Denken und gesellschaftlichen System immer noch weit verbreitet und wirkt sich – gewollt oder nicht – in der Gesellschaft benachteiligend auf das Leben von Menschen mit Behinderungen aus (Hirschberg, 2005; Kayess & French, 2008). Der Psychiater Gaedt (1999) formuliert dies so: »Aus den Erfahrungen mit den traditionellen medizinisch geleiteten Anstalten wissen wir, welche katastrophalen Folgen es für die Gesundheit von Menschen hat, wenn die medizinische Verantwortung zum organisatorischen Prinzip des Alltags wird« (ebd., 28).

Schon vor der UN-Konvention, im Jahr 2003, wurden während einer Konferenz in Rotterdam Gesundheitsstandards für Hilfen an Menschen mit geistiger Behinderung formuliert (Scholte, 2008). Diese Standards waren so entworfen, dass sie gültig sein sollten für Länder mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen, und sollten anwendbar sein in der generellen Gesundheitsbetreuung (mainstream health services). Menschen mit geistiger Behinderung können aber Gesundheitsprobleme haben, die sich von denen in der allgemeinen Bevölkerung unterscheiden. Sie haben in der Regel mehr Erkrankungen (Van Schrojenstein Lantman-de Valk et al., 2000), auch können die Erkrankungsmuster sich unterschiedlich äußern und mit der Ursache der Behinderung zusammenhängen. Viele Menschen, die als stark bis hochgradig geistig behindert bezeichnet werden, haben oft Gesundheitsbeschwerden wie zerebrale Lähmungen, sensorische Störungen, Epilepsie mit schweren und ständigen Anfällen, Skelett-Probleme, Probleme durch unzureichende Nahrungsaufnahme, rezidivierende Infektionen der Atemwege, Muskelschwund, Herz-Probleme und Austrocknung. Schwierigkeiten in der Kommunikation und im Verhalten können sich negativ auf den diagnostischen Prozess und die Behandlung auswirken. Isermann beschreibt dies in seiner Einleitung zur Kasseler Medizintagung 2001 wie folgt:

»Wenn Menschen mit Behinderung krank werden, beobachten wir häufig, dass die Krankheit sich im Erscheinungsbild und Verlauf anders als bei nichtbehinderten Menschen zeigt, in abgewandelter Form. Die Krankheit kann dabei zunächst verborgen bleiben, unzutreffend diagnostiziert und im Verlauf falsch eingeschätzt werden. Das ärztliche Bemühen bei Menschen mit Behinderung setzt besondere Erfahrung sowie individuelles Einfühlungsvermögen, geduldige Beharrlichkeit, einen vermehrten Zeitaufwand und mitunter ein kostenintensiveres Vorgehen voraus.« (Isermann, 2002, 15)

Es geht jedoch nicht nur um unzutreffende Diagnostik, falsche Einschätzungen, Zeitaufwand und Mehrkosten; auf derselben Tagung verweist Niklas-Faust (2002) auch auf Veränderungen des Bildes, das Ärzte von Menschen mit Behinderungen haben:

»Bestimmte Maßnahmen wie Herzoperationen, Nierentransplantationen und andere wurden anfangs nicht bei Menschen mit Behinderungen durchgeführt, was teilweise sicher auf die Sichtweise vom Leben mit Behinderung zurückzuführen ist. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings geändert, wohl vor allem dadurch, dass Menschen mit Behinderung viel mehr an der Gesellschaft teilhaben.« (ebd., 27)

Die soziale Integration und Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung in unsere Gesellschaft ist nicht selbstverständlich und führt nicht automatisch zu Verbesserungen im Gesundheitszustand.

»Die Akzeptanz der Menschen mit Behinderung in Gesellschaft und Politik ist immer noch gering. Die finanziellen Mittel im Gesundheits- und Sozialwesen sind knapp. Das betreuende Personal reicht nicht aus, ist vielfach nicht genügend qualifiziert und findet ungünstige Arbeitsbedingungen vor. Unter diesen unzulänglichen Bedingungen kann eine für Menschen mit Behinderungen befriedigende Arbeit nicht gelingen. Wir versuchen zwar durch besonderen persönlichen Einsatz Mängel in der Betreuung auszugleichen, stoßen dabei aber an die Grenze der eigenen Belastbarkeit. Was ist zu tun? Wir, die wir in der Arbeit mit behinderten Menschen stehen, also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege, Heilpädagogik, Physio-, Ergo- und Sprachtherapie sowie in den psychologischen und ärztlichen Diensten, müssen immer wieder auf die Notwendigkeit einer besseren Versorgung von Menschen mit Behinderungen hinweisen.« (Isermann, 2002, 16)

Das medizinische Modell und das Paradigma des Schutzes und der Absonderung hatte neben den negativen Effekten der erlernten Hilflosigkeit und pädagogischen Verwahrlosung auch eine Schutzfunktion. Die Bewohner wurden systematisch und ungefragt vor potentiell ungesunden Einflüssen der Gesellschaft abgeschirmt. Gesundheitsschädliche Aspekte im Lebensstil, wie der Konsum von Zigaretten, Alkohol und Drogen, hatten in der Subkultur der Institution wenig Gelegenheit zu gedeihen. In der zentralen Küche wurden im Allgemeinen diätisch ausgewogene Mahlzeiten zubereitet. Für Körperbewegung wurde im Rahmen von Arbeit und Freizeit gesorgt. Durch die physische und soziale Absonderung der Einrichtung gab es kaum Verletzte und Tote im Straßenverkehr. In vielen Einrichtungen arbeiteten erfahrene Ärzte, die sich präventiv, in Vorsorgeuntersuchungen und auf Abruf durch Betreuer um die Bewohner kümmerten.

Mehr noch als früher sind eine verbesserte Gesundheitserziehung, Gesundheitslern- und Lesefähigkeiten (Health Literacy) sowie geeignete Stützen in der sozialen Umgebung notwendig, um Menschen mit geistiger Behinderung die Kontrolle über ihre Gesundheit und Gesundheitsdeterminanten zu ermöglichen, um mit chronischen Erkrankungen umzugehen und um als Bürger in der Gesellschafft ihre Rechte einzufordern (World Health Organisation, 2001b). Andererseits benötigen viele Personen mit geistiger Behinderung auch personenzentrierte Assistenz von Familienmitgliedern und Betreuern, um die Gesundheit aktiv fördern zu können. Im Mittelpunkt der personenzentrierten medizinischen Planung steht dabei, stets bei den selbst geäußerten Bedürfnissen des Menschen anzuknüpfen – Bedürfnisse, die für sie den Besuch eines Arztes sinnvoll machen. Meistens unterscheiden sich diese Bedürfnisse (wie Schmerzerleichterung, Funktionseinschränkungen) kaum von denen anderer Patienten, die den Arzt aufsuchen. Durch Gesundheitsinformation, Beratung, Kommunikationsförderung, Rollenspiele usw. können auch Patienten mit geistiger Behinderung mündiger gemacht werden, um selbst ihre Probleme vorzutragen. Wenn jedoch diese Mündigkeit fehlt, ist es Aufgabe der Begleitpersonen (Eltern, Geschwister, Betreuer), die Probleme als Vertretung und aus der Perspektive des Patienten vorzutragen. Auch bei der Ausführung von ärztlichen oder therapeutischen Verordnungen, Absprachen und Durchführung von Arztterminen, speziellen pflegerischen Erfordernissen, Beobachtung und Überwachung des Gesundheitszustandes, Unterstützung bei der Teilnahme von Vorsorgeuntersuchungen und Hilfen bei der Anbahnung und Erhaltung eines gesundheitsfördernden Lebensstils sollte so viel wie möglich aus der Perspektive der Person selbst gehandelt werden – und nicht aus der Perspektive der Begleitperson. Das Ziel des ärztlichen Handelns sollte dabei die selbständige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an einem gemeindeintegrierten sozialen Leben sein.

2          Die Definition von Gesundheit und Krankheit

»Wie geht‘s, sagte ein Blinder zu einem Lahmen. Wie Sie sehen, antwortete der Lahme.«

(Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, 98)

2.1       Begriffsklärungen

»Gesund« und »krank« sind Begrifflichkeiten in der Umgangssprache und der Medizin, die genauso ungenau und pauschal sind wie Begrifflichkeiten wie »nichtbehindert« und »behindert« in der Umgangssprache und der Heil- und Sonderpädagogik. In dem Positionspapier der vier Bundesverbände (Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e. V., 2001) wird »Gesundheit« wie folgt formuliert: »Gesundheit ist für jeden Menschen ein wesentlicher Aspekt erfüllten Lebens und eine grundlegende Voraussetzung für sinnvolle und erfolgreiche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft« (ebd., 5). Diese Perspektive sollte auch die Grundlage für ärztliches Handeln bei Menschen mit geistiger Behinderung sein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!