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Rette sich, wer lesen kann! Nach dem "Sieg über die Schrift" haben Fanatiker das Zeitalter der "Piktatur" ausgerufen. Ihr Credo: Worte in Schriftform lassen sich verbiegen, sie seien eine Gefahr. Nur aus dem Bild spreche die Wahrheit. Das Volk hat sich längst daran gewöhnt: Schrift in jeglicher Form ist nicht nur hinfällig, sondern auch verboten. Sogar die Verfassung kann man sich allenfalls vorlesen lassen. Wer gegen das Schriftverbot verstößt, wird mit Entidentifizierung bestraft. In dieser Welt arbeitet Orik Adamant für das Große Dreieck. Kein anderer Ermittler der Behörde deckt so viele Schriftverbrechen auf wie er. Als er einen heiklen Mordfall lösen soll, stößt er auf eine illegale Werkstatt. Die Tote hat etwas entwickelt, das es gar nicht geben darf: eine Schriftart. Was wollte sie damit anstellen? Und wie soll Orik ermitteln, ohne der Dienststelle sein gefährlichstes Geheimnis zu offenbaren? Er kann lesen und schreiben. Als Orik auf die rebellische Freundin der Ermordeten trifft, geraten seine Ermittlungen zusehends außer Kontrolle. Der Aufstand der Alphabetisten und ihr geheimnisumwitterter Anführer Zwiebelfisch stellen alles in Frage, wofür er gelebt und gearbeitet hat
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Seitenzahl: 331
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Ihre Augen waren auf die Zimmerdecke gerichtet, als suchten sie dort etwas. Die linke Hand schien nach dem Rocksaum zu greifen. Ihre weiße Bluse war voller Flecken. Sie lag ausgestreckt in einem dunkelroten See und umklammerte mit der Rechten das Messer in ihrem Bauch.
»Speichern und Ende.«
Orik stand vor dem Eingang zur Wohnung und streckte die Finger aus. Kleiner als ein Golfball, schwebte der Pionier zu ihm zurück und schmiegte sich in seine Handfläche. Er steckte die Sonde ein. Die Auswertung war schon im Gange.
Er wandte sich um. »Wer hat sie gefunden?«
Jörg Breitenfeld, 1963 in Berlin Friedenau geboren, schrieb gemeinsam mit Jörg Liemann das Sachbuch Steven Spielberg - Tiefenscharfe Analysen (2018) und den durch die Zeit reisenden Roman Bar Codes (2019). Er setzte sich intensiv mit Schriftdesign auseinander, bevor er an der Universität der Künste schon 1995 seine Diplomarbeit über Chancen und Risiken des World Wide Web vorlegte. Heute ist er Senior Projektmanager einer Digitalagentur
Drei geschwärzte Finger kreisten über dem Holzkasten und griffen mal in kleinere, mal in größere Fächer. Sie ertasteten flache, längliche Quader. An den matt glänzenden Kopfenden der Metallstreifen hoben sich filigrane, geometrische Formen ab. Ihre Gänge und Einschlüsse erinnerten an ein winziges Labyrinth.
Flink ordneten die Finger ein Sammelsurium silbriger Streifen von rechts nach links in einer Reihe an. Im Handumdrehen kamen zwei weitere Reihen hinzu. Das Ergebnis landete auf einer Metallplatte. Ein letztes Klopfen, damit nichts hervorsteht.
Die weißen Büschel seiner Augenbrauen hüpften auf und nieder, als der Mann zufrieden das Setzschiff betrachtete:
PIKTATUR
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
ALPHABETISMUS
Kapitel A
Kapitel B
Kapitel C
Kapitel D
Kapitel E
Kapitel F
Kapitel G
Kapitel H
Kapitel I
Kapitel J
Kapitel K
Kapitel L
Kapitel M
Kapitel N
Kapitel O
Kapitel P1
Kapitel P2
ANHANG
DANKSAGUNG
Schaumkronen überschlugen sich und endeten in zäh fließenden, milchigen Bahnen. Aus der Gischt stieg Sprühnebel auf. Er schien sich zu wispernden Formen zu verdichten, als sollte man in ihnen lesen. Doch bevor sich Details bilden konnten, flackerte der Tropfenschleier, und zuckende Linien durchkreuzten ihn.
Orik fuhr sich über die Augen. Er tastete nach dem Stahlzylinder im Regal, schenkte sich Vinbrond nach und stand auf. Mit dem Schwenker in der Hand begann er den Rundgang entlang der Glasfassade, die seine Wohnung umfasste. Die wenigen bewohnten Häuser in der Umgebung erschienen ihm dunkler als sonst. Die Anzahl beleuchteter Fenster hatte sich in den letzten Wochen weiter verringert.
War das sein Spiegelbild? In jungen Jahren war er athletisch gewesen, jetzt hatte er den Bauchansatz eines Fremden. Seine Augen konnte er in der Reflexion kaum erkennen. Ließ ihn noch müder aussehen. Was hatte die Gestalt, die ihn aus dem Glas anglotzte, in den Bildern des Ozeans gesehen, bevor die elektromagnetische Störung alles überlagerte?
Er hatte geträumt, gestern Nacht.
Unter der Glutsonne quält sich eine noch schlupffeuchte Wasserschildkröte durch den Sand. Ihr Rückenpanzer glänzt im Licht. Sie bewegt sich in die falsche Richtung, aber dessen ist sie sich nicht bewusst. Die kleine, verwundbare Gestalt zieht eine Spur ins Nirgendwo. Achtlos rieseln die Sandkörner zur Seite.
Ich sehe meinen Schatten, als ich sie aufnehme und zum Meer trage, während ihre winzigen Flossen sinnlos in der Luft herumrudern. Bevor ich sie ins Wasser setze, drehe ich sie um. Der Bauch ist nicht ebenmäßig. Ich glaube, Konturen auszumachen und senke mein Gesicht. Versuche, etwas zu erkennen …
Orik setzte seine Runde fort und nippte am Glas. An der Ecke der Westfassade blickte er hinunter auf Mauerreste und Trümmer. Im schwachen Licht kaum zu erkennen. Er wusste nicht mehr, zu welchem Gebäude sie einmal gehört hatten. Etwas Sakrales womöglich, aber schon deshalb war es gut, sich nicht zu erinnern. Wichtiger als die Bedeutung alter, unnützer Steine war in seinem Leben schon immer das gewesen, was sich dazwischen bewegte: Wesen, von denen Gefahr ausging. Schattenvolk. Um diese Uhrzeit hielt sich jemand wie er besser nicht da unten auf.
An der Südseite blieb Orik auf halbem Wege stehen. Eine breite Spur aus Kondenswasser floss an der Innenseite der Scheibe entlang. Unten versickerte sie in der schwarz-schimmligen Isolierung. Um diese Sauerei würde sich sein Nachbar kümmern.
Alwing Zenrik war der einzige Mitbewohner des Gebäudes und hatte ein Händchen für Reparaturen. Er lebte seit seiner Kindheit hier. Vor dem Krieg mochte es noch andere Hausbewohner gegeben haben, aber das war lange her. Für einen Spottpreis hatte Alwing ihm die andere Hälfte seiner Etage überlassen. Inzwischen war Orik klar, warum: Auf Ebene Zwanzigeins konnte es verdammt einsam werden.
Am Ende seines Rundgangs angelangt, durchschritt er die halbtransparente Wand seines Schlafbereichs und ließ sich aufs Bett fallen. Orik gab sich den gedämpften Protosota-Klängen hin, die er sich aus obskuren Quellen auf seine Digikarte gezogen hatte. Angenehmer Kontrast zu dieser fürchterlichen KIsik, mit der sich das Volk die Ohren ramponierte.
Er sah sich um: Sanfte Hügelketten, Tupfen spitz zulaufender Bäume. Links schlängelte sich ein Pfad hinauf zu den Weinhängen und zum alten Kastell. Für seine Schlafzone hatte er das Motiv Belwederi abonniert. Unter ihm huschte ein Gecko über den ausgetrockneten Rasen. In einem festen Zyklus erschien er an derselben Stelle. Auf der Liege zu seiner Rechten räkelte sich seine Verflossene, Mita, und schenkte ihm ein Lächeln in Dauerschleife. In einem schwachen Moment hatte er sie hinzugebucht.
Oriks Etagenhälfte war unterteilt in ein Raster aus künstlichen Räumen, jeder von ihnen mit einer lebendigen Kulisse, die ihm die Deckenprojektoren vorgaukelten. Lauranien bei Sonnenaufgang. Meeresrauschen am Strand. Nachtleben im Arkonia-Distrikt. Auf dem Weg zum Bad musste er keine Türen benutzen, sondern ging quer durch alles hindurch. Die Position seiner spärlich verteilten Möbel hatte er sich – nach schmerzhaften Kollisionen – mittlerweile eingeprägt.
Der Gecko war wieder aufgetaucht, aber irgendetwas stimmte nicht. Das Tier verharrte auf der Stelle und zitterte. Durch Mitas Grinsen zog sich eine Linie wie eine Zahnspange. Die Weinhänge begannen zu flackern, der Pfad bebte. Die Landschaft erlosch, und er lag im Dunkeln. Klickend sprang die Notbeleuchtung an. Schmutziggrünes Deckenlicht.
Er richtete sich auf. Im trüben Panorama seiner Wohnung bemerkte er die abgeschabten Stützpfeiler, die entlang der Glasfassade verliefen. An der Decke mäanderten rostige Rohre in allen Größen, vereinzelt tropfte Wasser auf den rissigen Boden.
»Alwing, kannst du kommen? Die Projektoren sind schon wieder ausgefallen.« Es summte, als er die Nachricht versandte. Hoffentlich war sein Nachbar da. Manchmal blieb er tagelang verschollen. Er sprach nie darüber. Orik legte sich zurück aufs Bett und wartete. Mehr konnte er nicht tun.
Was war das jetzt mit diesen seltsamen Zeichen in der Gischt und … Alles kam ihm anstrengend vor, das Denken vor allem. Wie so oft, wenn er hier lag, ging seine Hand zur getarnten Klappe am Kopfende des Bettes. Normalerweise tastete er nur, ob das Geschenk seines Bruders noch da war. Jetzt zog er es nach langer Zeit mal wieder hervor.
Der fleckige Einband musste einmal weiß gewesen sein. Das ließ sich erahnen, wenn man ihn aufklappte. Sorgsam zusammengehaltene Flächen aus biegsamem Material sprangen hervor. Sein Bruder hatte sie als Seiten bezeichnet und das Material als Papier. Orik erinnterte sich, wie begeistert er war, als ihm Hanrod zum ersten Mal daraus vorgelesen hatte.
Die Geschichte kam aus den Feldern winziger Muster, von denen die Seiten bedeckt waren. Sie handelte von einem Detektiv aus einem fernen Land zu einer Zeit, als man noch Kohle verbrannte, um sich zu wärmen und Fahrzeuge auf Schienen damit zu betreiben.
Den Inhalt der Seiten kannte Orik inzwischen auswendig. Er blätterte vor und begann zu lesen.
»Musste erst Werkzeug holen.«
Orik fuhr hoch. Sein Nachbar stand hinter ihm.
Natürlich. Alwing hatte Zugang zu Oriks Wohnung. Gerötete Augen, zerzaustes Haar. Hing da eine Reisnudel in seinem Bart?
»Was treibst du so am Abend?« Alwing reckte den Hals, während Orik die Lektüre unter das Bett schob.
»Hab mir Arbeit nach Hause geholt«. Er sprang auf und lief zum Fenster. »Alwing, schau dir das an.«
Sein Nachbar folgte ihm. »Scheibe kaputt?«
»Siehst du’s nicht? Kondenswasser. Ganze Bäche.«
Alwing kratzte sich am Kopf. »Klar, ist die Klimaanlage.«
Orik starrte ihn an.
»Schon gut! Ersatzteile habe ich vor Monaten bestellt, man weiß ja, dass sowas ständig ausfällt, aber das dauert. Für so ein altes System müssen die neu angefertigt werden. Ein ge-wal-ti-ger Aufwand, kannst du dir nicht vorstellen, kleine Gefälligkeiten werden auch erwartet, wenn du verstehst. Im Haus gegenüber haben sie dasselbe …« Er hielt inne. »Moment mal!«
Alwing fiel vor ihm auf die Knie und öffnete die schimmelige Leiste an der Fensterfront. »Mist.«
»Was ist?«
»Das Wasser. Es hat den Außenleiter überbrückt.« Alwing leuchtete hinein.
»Und das heißt?«
»Kurzschluss.« Alwing kramte in seinem Kasten und begann herumzuschrauben. »Hat deine Projektoren zum Absturz gebracht. Das haben wir gleich. Hier und hier und hier. Kommst du morgen zum Essen? Hab zwei Freundinnen eingeladen. Könnten etwas Spaß vertragen, wir beide, meinst du nicht?«
Orik verzog das Gesicht. »Nein, danke. Mit deiner Art von Freundinnen habe ich es nicht so.« Er kam sich nutzlos vor, während Alwing werkelte.
»Glaub mir, Orik, du solltest ausspannen und dir was gönnen. Ich mach uns Caloni Arata. – Ui ui ui, hier sieht’s schlimm aus. – Bis zum Nachschmeck haben wir uns alle kennen gelernt, und dann ziehen wir uns in meine Landschaften zurück.«
»Schon klar, aber ein Nein ist ein Nein.«
Alwing sah zu ihm auf.
»Ein anderes Mal«, ergänzte Orik und ärgerte sich, dass er sich schuldig fühlte. Trotzdem, die nächste Einladung sollte er annehmen. Alwing trug gern nach.
»Ich nehme dich beim Wort, Orik. Weißt du, wie lange ich Punkte für die Puppen gesammelt habe?«
Orik verschränkte die Arme. »Jetzt mach mal halblang. Du musst doch keine Punkte sammeln. Ein Kollege hat mir zugesteckt, dass dir hier im Umkreis ein paar Häuser gehören. Warum krauchst du vor mir auf dem Boden rum und machst das alles noch selbst? Du kannst dir drei Handwerker leisten.«
Alwings Lötzange fiel klappernd zu Boden, als er aufsprang. Seine Augen funkelten. »Sprich nie wieder über die Häuser! Die haben meinem Vater gehört. Und was ist passiert? Er wurde enteignet. Das hat ihn umgebracht. Nur dieses eine beschissene Haus haben sie mir gelassen. Solange ich mich darum kümmere, dass es nicht irgendwann in sich zusammenfällt. Erzähl mir also keinen Wirrfug über Wohlstand. Herr Oberst!« Dazu bohrte er ihm den Finger in die Brust.
Orik war elend zumute. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.«
Alwing fixierte ihn eine Weile, dann zuckte er mit den Schultern. »Entschuldigung angenommen. Irgendwie duftet es hier nach Vinbrond. Reich mir mal nen Becher rüber.« Er setzte seine Arbeit fort und schob einen gefährlich aussehenden Stab in die beschädigte Leiste. Es blitzte und lärmte, während Alwing weiterredete, als sei nichts vorgefallen. »Übrigens: Die Peppas. Sagen dir was? Aus dem Nachbarhaus. Sind weggezogen. Er hat es mit der Hüfte, und wo nun auch der letzte Aufzug den Geist aufgegeben hat … fühlt sich niemand mehr zuständig. Die Dame braucht ihre Einkaufsmeile. Haben eine schöne Siedlung im Blauen Viertel gefunden. Hier im Zentrum, sagt sie, ist es ihr zu ruhig geworden. Man grüßt sich ja schon auf der Straße. Zu viele seltsame Leute. Ihre Worte. Und was hat sie davon? Jetzt ballern diese Alphas am Stadtrand rum.«
Orik blickte skeptisch. »Alpha-Milizen im Blauen Viertel? Wohl kaum.«
»Hab so meine Quellen. Ah, ein feiner Vinbrond!«
»Abso integer, nehme ich an. Deine Quellen.«
»Japp. So, hier muss ich nochmal ran.« Es klapperte. »Jetzt sollte es eigentlich …« Alwing schaute auf einen unbestimmten Punkt an der Decke und wartete. Nichts tat sich. Er schwitzte, als er sich vornüberbeugte und mit dem Stab in der Leiste herumrührte. Es roch nach verbranntem Plastik. Die Notbeleuchtung fiel aus, und sie standen in völliger Finsternis.
»Toll. Und jetzt?«, fragte Orik in die Dunkelheit.
»Shhhh!« machte Alwing, als hätte Orik den Gott der Elektrizität gestört. »Abwarten.« Aus der Schwärze drang ein satter Basston. Ein Kammerkonzert aus Klicken und Brummen, als die Projektoren hochfuhren.
Alwing richtete sich auf. »Bittesehr«, sprach er mit ausladender Geste. Seine Hand verdeckte das Kastell auf den Weinhängen.
»Ewig Dank, Alwing!«. Orik ging zurück zu seinem Bett, wo der Gecko wieder zuverlässig seine Runden drehte. »Jetzt muss ich weiterarbeiten. Ich begleite dich noch zur Tür. «
Sein Nachbar verstaute das Werkzeug und folgte ihm.
»Gute Nacht, Alwing.« Er wollte die Tür schließen, doch Alwings Gesicht schob sich in den Spalt.
»Orik? Im Vertrauen …«
»Ja?«
»Ich konnte sehen, was du da vorhin in der Hand hattest.«
Orik setzte einen gleichgültigen Blick auf. »Du meinst …?«
»Deine Scharteke«, raunte Alwing ihm zu. »Aber keine Sorge, ich sag’s nicht weiter. Niemandem. Kein Wort.«
Zacken aus zerborstenem Glas ragten aus den geschmolzenen Fensterrahmen. Ein kühler Abendwind strich hindurch, aber der Temperatur-Balken in ihrem Visier verharrte auf orange. Am Morgen war das noch ihr Zuhause gewesen.
Während der Löschschaum von der Decke tropfte, stocherte sie in den schwarzen Klumpen am Boden. Reste eines Schuhs, Henkel ihres Kaffeebechers, das Spielbrett aus Kindheitstagen, halbverkohlt. In der Ecke ein Objekt wie aus erstarrter Lava: Das war ihre Digitafel gewesen, mit angeschlossenem Tastenfeld. Eigenkonstruktion.
Sie war den Tränen nah, und das lag nicht am beißenden Geruch der Asche, sondern an der Wut, die in ihr aufkam. Was war geschehen? Wer …? Sie griff in die Innentasche ihrer blauen Kunstlederjacke und zog einen noch blaueren Kautschik hervor. Zweimal faltete sie den Streifen, bevor sie ihn in den Mund steckte. Die Zähne begannen zu mahlen. Half beim Nachdenken.
Vor zwei Stunden hatte sie an einer Besprechung im Hauptquartier teilgenommen. Einladung der Chefetage. Ungewöhnlich, sie hätte sich von zu Hause zuschalten können, aber sie hatte sich nichts dabei gedacht. Vielleicht was Wichtiges. Planung für das neue Jahresprogramm. Erinnere dich.
Ihr Vorgesetzter saß ihr am anderen Ende des ovalen Konferenztischs gegenüber. Auf den restlichen Plätzen leuchteten die halbtransparenten Abbilder ihrer Kollegen. Über dem Konferenztisch drehte sich die Projektion eines Tortendiagramms. Fehlten nur noch die Kerzen, ging ihr durch den Kopf.
»Liebe Luxis, wir haben uns gewaltig hochgepilzt. Marktabdeckung kompletta. Ohne Luxor kann und will draußen niemand mehr leben. Wir kommen mit der Lieferung von Linsen kaum hinterher.« Mit einem Hüsteln deutete er auf den schmalen Spalt in der Torte. »Nur eine Handvoll Hirntote, die wir nicht erreichen. Bedeutungslos.« Er wartete, bis das Gemurmel links und rechts verstummt war. »Diesen Erfolg verdanken wir dir und deinen Leuten. Ohne euch kein technisches Fundament.« Er lehnte sich vor und stützte die Arme auf den Tisch. Mit anerkennendem Nicken ließ er seinen Blick über die Runde schweifen.
Ein Knall durchbrach die Stille, als seine Handflächen aufeinandertrafen. Ein-, zwei-, dreimal, immer schneller. Nacheinander schlossen sich die anderen an. Sie behielt die Hände unter dem Tisch und ließ das Weitere auf sich zukommen, als sein erhobener Finger den Applaus zum Erliegen brachte. »Ist gut, ist gut. Kann sich jemand an unsere erste Produktlinie erinnern? Panovision. Begehbare Panoramen für zu Hause. Stationär. Hat uns einen schönen Anfangsumsatz beschert. Und heute? Wenn ihr mich fragt: Danke, nächster bitte. Mit Omnivision versetzen wir das Volk in Vollrausch. Sehen, was andere sehen. Fühlen, was andere fühlen. Mein Leben mit anderen teilen, wo immer ich bin, und was immer ich mache. In Echtzeit, rund um die Uhr.« Er lächelte. »Und wisst ihr was? Die wenigsten schalten ihre Aufzeichnung zwischendurch ab, obwohl sie es können.«
Eine Wolke mit Auszügen laufender Übertragungen zog über sie hinweg.
Jemand balanciert auf einem Holzbalken über den Innenhof; ein anderer lässt sich von Kommentaren durch ein Labyrinth aus Gängen leiten; ein Keller voll schwitzender, zuckender Leiber in pulsierendem Violett (Tanz oder Orgie?); im Backofen wird Teig zu Kuchen; Aufprall eines Fahrzeugs, gesehen aus dem Inneren; eine Rentnerin badet ihren Terrier; ein Jugendlicher lässt einen Regenwurm auf seine Zunge fallen und schluckt; Ferkel tapsen durch Farbtöpfe.
Lärmende Bild- und Toneffekte überlagerten die Aufnahmen und wetteiferten um Aufmerksamkeit. Am Bildrand prasselten bunte Piktogramme herunter.
»Unser Prämiensystem kommt an. Wir belohnen alle, deren Aufnahmen von vielen gesehen und hochgewertet werden. Immer mehr Kunden haben eine große Anhängerschaft, einige leben gut von ihren Einnahmen. Soll uns recht sein. Um aufregende Bilder zu liefern, reißen sie sich ein Bein aus. Bitte, nicht wörtlich verstehen.«
Gejohle. Ihre Kollegen waren leicht zu erheitern.
»Alles schön und gut. Aber – was wir für die Prämien ausgeben, ist nichts im Vergleich zu dem, was wir mit Luxor Max verdienen.«
Unscharfe Ausschnitte leuchteten auf, die von Sperrsymbolen überdeckt waren.
»Diese Kanäle wollen wir teraplus machen.«
Sie sah ihm dabei zu, wie seine Finger in der Luft Klavier spielten und animierte Bilder aufriefen. Er glaubte daran. Mehr noch, er war davon besessen. Sie war nicht anders gewesen. Schon mit neunzehn hatte sie sämtliche Rotozess-Variablen auswendig beherrscht und ihre Entwickler zu Höchstleistungen angetrieben. Doch ihre anfängliche Begeisterung war verflogen. Sie konnte es kaum glauben. War das alles schon fünf Jahre her?
Ihr Gegenüber breitete die Arme aus. »Und hier, liebe Luxis, kommt eure Aufgabe. Wenn wir schon aus der Ich-Perspektive miterleben können, was andere so machen, warum nicht auch von außen draufschauen? Wir haben massenhaft Dronos angeschafft. Lassen wir sie fliegen! Rundum-Sicht, überall. Unsere Kunden können Zeitfenster kaufen, in denen sie ihren berühmten Lieblingen auf Schritt und Tritt folgen, aus allen Perspektiven. Hinter die Kulissen, Blick in Privates, verruchtes Nachtleben. Ihr wisst schon.«
Sie spürte, wie sein Blick auf ihr ruhte.
»Bekommt ihr das hin?«
»Irgendwelche Quomis auf der Straße verfolgen und nachts beim Nägelschneiden zeigen? Kein Prob.«
Er gestikulierte ihre Bemerkung weg. »Noch wichtiger: Aufzeichnungen. Unsere zahlenden Kunden wollen von der ersten bis zur letzten Übertragung eines Lebens vor- und zurückspringen können. Nach Tagen sortiert. Am Abosystem seid ihr dran, richtig?«
Sie nickte. »Im Prinzip fertig.«
»Aber?«
»Was ist mit den Filtern?«
Sein Blick wich ihr aus. »Ach, du meinst…«
»Genau. Wie lange liege ich dir damit schon in den Ohren?«
»Du kennst meine Antwort.«
Ihr Stuhl rasselte über den Boden, als sie aufstand.
»Heißt nicht, dass ich mich damit zufriedengebe.«
»Bitte, meine Liebe, setz dich.«
Sie rührte sich nicht, während ihre Kollegen nervös von einem Tischende zum anderen blickten.
Er räusperte sich. »Es wäre besser, wenn wir das im kleinen Kreis fortsetzen. Ich danke euch. Macht weiter mit eurer Arbeit.« Auf sein Handzeichen flackerten die Abbilder ihrer Programmierer und verschwanden.
»Ich kapier‘s nicht«, sagte sie und nahm wieder Platz. »Wir blockieren alle Aufnahmen, die Schrift enthalten. Aber diese Irren können einfach weitermachen und ihren Dreck übertragen, hinter den Türen der Exklusiv-Kanäle. Oder sogar frei zugänglich. Tierquäler, Vergewaltiger, Mörder …«
Ihr Chef drehte beschwichtigend die Handflächen nach unten. »Hör zu, das ist nicht meine Entscheidung.« Er seufzte. »Ja, es sind schreckliche Dinge, die da zu sehen sind. Mir wird auch regelmäßig schlecht. Aber diese Dinge bleiben nicht ohne Folgen. Wir melden sie an die Sekuritaten, und die greifen hart durch, wo immer nötig. Das Volk bekommt, was es will.«
Sie nickte. »Bild und Spiele.«
»Beschwer dich nicht, wir verdienen Geld damit.«
»Wann habt ihr vor, unseren Kunden von den Hintertüren zu erzählen? Durch die das Große Dreieck zuschaut, auch wenn sich die Leute ausgeklinkt haben.«
»Meine Güte, seit wann siehst du alles schwarz? Wir haben unsere Abonnenten befragt. Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch kein Problem damit. Dafür ist der ganze Spaß kostenlos. Jedenfalls für die große Masse.«
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Seine Assistentin stöckelte heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mit jedem Satz verfinsterte sich seine Miene. Sie ging, und die beiden waren wieder allein.
»Was ist?«
Eine Zeitlang blieb er ohne Regung, dann richtete er sich im Stuhl auf. Er hatte sie noch nie so angesehen.
»Ich muss dich das fragen. Und denk nach, bevor du antwortest: Arbeitest du an etwas, von dem ich wissen sollte?«
»Keine Ahnung.«
»Der Sicherheitsdienst ist besorgt. Sie haben auf deinem System etwas gefunden. Außergewöhnlich gut getarnt. Unbekanntes Format. Lässt sich nicht öffnen.«
»Sagt mir nichts. Lass mich sehen.«
»Geht nicht, sie haben dich gesperrt. Ich hoffe, es stellt sich als Fehlalarm heraus.« Er sah aus dem Fenster, die Stirn in Falten gelegt. »Geh nach Hause. Du kannst hier nichts tun.«
In ihrem Visier leuchtete ein roter Punkt.
Das war der Moment, als sie vom Brand in ihrer Wohnung erfuhr. Jetzt stand sie in den schwarzen Brocken, die davon übrig waren. Sie spuckte den Kautschik durch den Fensterrahmen.
Was tun? Dem Sicherheitsdienst war ihr Hypositron-Programm aufgefallen, das war blöd, aber sie hatte vorgesorgt. Ein paar Fehlversuche beim Öffnen, und die eingebauten Löschroutinen würden den Rest erledigen. Vermutlich war längst keine Spur mehr davon vorhanden. Luxor würde sich bei ihr entschuldigen müssen. Und wenn nicht? Das Feuer konnte kein Zufall sein. Wie passte das alles zusammen?
Um es herauszufinden, musste sie eine Zeitlang von der Bildfläche verschwinden. Sie setzte das Visier ab und betrachtete es in ihren Händen. Keine Wahl. Sie ließ es fallen und trat es mit ihren Stiefeln in Stücke.
Vom Eingang kam ein Geräusch. Jemand stand in der Tür.
»Armes Ding. Tsss. Gute Diensten, und so dank.«
Nur die Ruhe, dachte sie. »Sind Sie vom Sicherheitsdienst? Haben Sie was gefunden?«
»Sicherheits… Japp, gut. Gut das. Tsss.« Er schien an einer Shotozig zu paffen. Sein Gesicht blieb im Schatten, während er sich langsam näherte.
Sie wich zurück. »Ich würde Ihnen ja was anbieten, aber Sie sehen ja …«
»Vertickte Rommelei, das hier. Tsss.« Er steckte die Shotozig weg und griff in seine schwarze Weste.
»Was haben Sie vor?« Ihre Gedanken rotierten auf der Suche nach einem Fluchtweg.
»Die Handschohen? Nur Vorsacht. Wenn nit einsig werden. Du ond mich.«
Ein Glassplitter stach in ihren Rücken, als sie gegen das offene Fenster stieß.
»Was wollen Sie?«
»Oh, bitt. Nit men Zeit schwinden. Mich im Bild. Du hast Kart imbesetz.«
»Warten Sie.« Mit ausgestreckter Hand versuchte sie, ihn auf Abstand zu halten. Der Abdruck ihres Zeigefingers öffnete ein Seitenfach ihrer Jacke. »Geht es um das?« Sie zog eine Digikarte hervor.
Der Mann kam einen Schritt auf sie zu.
»Schlaue Schikka. Ruck röber die Kart, dann mich sin nett zu dich.«
»Fang!« Sie schleuderte den Speicher in sein Gesicht. Nur knapp konnte er ihm ausweichen. Sie hörte ihn etwas Unverständliches fluchen, während er den Boden absuchte. Zum Zögern blieb ihr keine Zeit.
Sie sprang aus dem Fenster.
Das Krachen war ohrenbetäubend, als sie drei Meter weiter unten auf dem Wellblech-Vordach landete und sich abrollte. Sie rutschte über die Kante. Mist. Sie versuchte sich irgendwo festzukrallen. Vergeblich. Ihr zweiter Sturz wurde zum Glück durch einen Berg gelber Müllsäcke abgemildert, doch ihre Erleichterung währte nur kurz. Bei ihrem Aufprall waren einige der Säcke geplatzt und gaben ihren Inhalt frei. Eine weiche, undefinierbare Masse. Der Gestank war unerträglich. Sie musste gegen den Würgereflex ankämpfen, als sie sich erinnerte, dass nebenan ein Schönheits-Chirurg arbeitete. Menschliches Gewebe.
Sie fuhr hoch. Den Schmerz in der Schulter und in den Sprunggelenken nahm sie kaum wahr. Ohne sich umzuschauen, humpelte sie durch das Tor und verschwand im Gewühl der Straße.
Alwing weiß Bescheid. Warum war ich nicht vorsichtiger? Hätte ich an der Tür leugnen sollen? Zu spät. Ich könnte eine freiwillige Meldung abgeben. Das Bett hätte ich gebraucht gekauft und erst jetzt das Geheimfach und das Unaussprechliche, das sich darin befand … Nein, das würde niemand glauben. Erst recht nicht, wenn mir Alwing zuvorgekommen ist. Man würde mich in die Mangel nehmen, und ich würde gestehen. Unausweichlich. Soll ich es aus dem Versteck holen und wegwerfen? Verbrennen?
Nein, kommt nicht in Frage. Dafür hänge ich zu sehr daran. Und wenn ich Alwing darauf anspreche? Um rauszufinden, was er im Schilde führt. Will er mich erpressen? Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass ich etwas gegen ihn in der Hand habe. Für alle Fälle. Wenn er weiß, was eine Scharteke ist, besitzt er womöglich selbst ein Exemplar? Berufsbedingt kannte Orik die Bezeichnung „Buch“, aber der Begriff war aus der Sprache getilgt und seine Verwendung unter Strafe gestellt.
Beim Passieren der Tunnelkurve quietschten die Räder in den Gleisen. Orik legte die Zeigefinger auf seine Ohren. In der Nacht hatte er kaum ein Auge zugetan. Sein Kopf schmerzte vom Grübeln, wie er sich nach Alwings Entdeckung verhalten sollte.
Vielleicht war es auch der Vinbrond. Er versuchte sich abzulenken und blickte in die Gesichter der Fahrgäste. Ließ sich erkennen, ob jemand von ihnen lesen konnte? Woran erkannte man das? Abgekaute Fingernägel, gekrümmter Rücken, verträumter Blick, Sorgenfalten?
Mehr als einmal war ihm der Gedanke gekommen, dass wohl die wenigsten Menschen die Schriftverbote als Einschränkung empfanden. Schon ihre Eltern und Großeltern hatten Bilder und Symbole bevorzugt. Irgendwann hatten die allermeisten aufgehört zu lesen. Da waren die Gesetze und Verordnungen eine willkommene Bekräftigung der gewohnten Praxis.
Was war mit ihm selbst: Verhielt er sich auffällig? Er musste gleichgültiger schauen, sonst würde man ihn vielleicht präventiv melden. Er stach schon genug hervor. Kaum ein Fahrgast trug ein Visier vor dem Gesicht. Fast alle hatten es gegen die bequemere Kombination aus Linsen und Ohrstecker eingetauscht. Ihre leeren Blicke waren auf Bilder gerichtet, die nur sie wahrnahmen. Sah nicht nur dämlich aus, das war es auch. Es blieb ihm ein Rätsel, was daran reizvoll sein sollte, fremde Menschen bei ihrem alltäglichen Tun stundenlang zu beobachten. Oder gar das eigene mit anderen zu teilen.
Er hatte von Nebenwirkungen der Luxor-Linsen gehört. Darauf wollte es Orik nicht ankommen lassen. Wann immer es ihm passte, konnte er sein Visier mit einer kleinen Handbewegung absetzen. Das war mit den Linsen nicht möglich. Schon deshalb legte er keinen Wert darauf.
Der Zug drosselte das Tempo. Auch die nächste Station durchfuhren sie ohne Halt. Die Gleise wurden regelmäßig von Trümmern freigeräumt, aber viele Zugänge waren noch verschüttet und die Bahnsteige von Rissen durchzogen – verfallene Läden und umgestürzte Sitzbänke in mattes, grünes Licht getaucht. Auf den wenigen Fliesen, die noch an der Wand klebten, erkannte Orik Elefanten und andere ausgestorbene Tiere. Hier in der Nähe, so hatte ihm sein Bruder erzählt, gab es einmal lebende Exemplare, in Gehegen gehalten. Orik hätte das gern erlebt, aber das war alles in der Erstzeit. Solange er sich erinnern konnte, war die halbe Innenstadt verwüstet. Auch die Tiergehege hatte es erwischt.
Er stand auf und stellte sich an die Tür, um während der Fahrt mehr zu sehen. Gelassen und gleichgültig, als wolle er nur die müden Beine strecken. Die Langsamfahrt durch die Geisterbahnhöfe war der Höhepunkt auf seinem Weg zur Arbeit. Im Vorbeifahren hielt Orik jedes Mal Ausschau nach Überbleibseln aus der Vergangenheit, die er noch nicht entdeckt hatte. Die Beschriftungen sagten ihm nichts, aber sie hatten etwas Magisches:
denzentru fee to go caCol legte Bröt
Dass sie nichts bedeuteten, war wohl der Grund, warum man sie bisher nicht übertüncht oder abgeschlagen hatte.
Pling! Ein Glockenton in Oriks Visier riss ihn aus den archäologischen Gedanken. Das Foto seines Chefs legte sich über das Bahnhofsgrün. Daneben leuchtete ein Tortensymbol mit Kerzen. Er blinzelte – und die Geburtstagserinnerung verschwand.
Schon vor zwei Wochen hatte er sich um ein Geschenk gekümmert. Die Miniatur in der Schachtel, die Orik bei sich trug, war eine Rarität. Hoffentlich gefiel sie seinem Vorgesetzten. Bei der Gelegenheit wollte er ihn auf die Beförderung ansprechen. Da konnte er gute Stimmung gebrauchen. Ein höherer Rang war ihm nicht wichtig, aber mit ihm stünde ihm ein schönes Haus in der Neustadt zu. Endlich keine Stromausfälle mehr, kein tropfendes Wasser, kein Alwing.
»Großes Dreieck.«
Seine Station. Die Türen öffneten sich, und Orik stieg aus der Bahn. An der Fußgängertunnelkreuzung wollte er wie immer den rechten Abzweig nehmen, doch rote Balken im Visier brachten ihn zum Stehen. Der Pfeil zeigte nach links und blinkte beharrlich. Orik wunderte sich. Das wäre ein Umweg. Er beschloss, die Anweisung zu ignorieren und schlug den gewohnten Weg ein. Auf dem Rollweg nach oben war er der Einzige. Auch auf der Straße traf er niemanden an. Kein Verkehr. Ein paar Meter entfernt stand ein weißes Fahrzeug.
»Halt. Was machen Sie hier?« Ein Uniformierter stellte sich ihm in den Weg.
Orik bemerkte den gepanzerten Miliporter in der Seiteneinfahrt. Ja, was genau hatte er hier zu schaffen? Er musste improvisieren.
»Ermittlungen.« An der Außenseite seines Visiers leuchtete Oriks Kennung auf. Sein Gegenüber nickte, und er durfte passieren.
Als er sich dem weißen Wagen näherte, bemerkte er dahinter zwei Männer und zwei Frauen mit kahlen Schädeln, die eine Fassade reparierten. Das Haus war mit einem Kolibri-Schwarm bemalt. Er blieb stehen. Die vier schauten kurz auf und setzten wortlos ihre Arbeit fort. Orik sah sich die Wand genauer an und stutzte. Das waren keine schadhaften Stellen, sondern Löcher. Gleichmäßig über die Wand verstreute Vertiefungen. Offenbar hatte jemand mit großem Projektil auf die Fassade gefeuert. Die Einschüsse waren nicht wahllos verteilt, sie folgten einem Muster. Der Schütze hatte eine Botschaft hinterlassen. Jetzt erkannte Orik die Schriftzeichen: ALPHA. Alwing hatte recht gehabt. Die Alpha-Milizen waren im Blauen Viertel angekommen. Nicht bloß an der Stadtgrenze.
Schnell weg, dachte er, er hatte hier nichts zu suchen. Er bog um die Ecke und mischte sich unter die Menschen, die aus dem Bahntunnel quollen. Sie steuerten auf den spitz zulaufenden Turm zu, der den Stadtteil um das Doppelte überragte.
Der Aufzug brachte ihn in seine Abteilung. Als Orik den Gang durchschritt, vernahm er vertrautes Gemurmel, das aus den abgedunkelten Arbeitskabinen drang. Hinter den Trennscheiben wirbelten große und kleine Bilder durch die Luft und vollführten einen eigenwilligen Formationstanz. Ein steter Strom aus Fotos, Thermografie- und Nachtsicht-Aufnahmen, Zeichnungen, Diagrammen und Filmen floss in die Kabinen. Spezialisten werteten die Bilder aus, verglichen und klassifizierten sie. Mit Leuchtstiften brachten sie Markierungen in verschiedenen Farben an. Ihre mündlichen Protokolle bestanden aus standardisiertem Vokabular. Orik war an der Entwicklung dieser Methode beteiligt gewesen und hatte die Leute ausgebildet.
Am Ende des Gangs betrat er sein Büro und setzte das Visier ab. Er nahm Platz hinter der Ermittler-Säule. Die Projektion ließ sich durch Handbewegungen und Sprachkommandos aufwärts und abwärts bewegen, drehen oder an der gewünschten Stelle vergrößern. Balken gaben Auskunft über den Bearbeitungsstatus. Es gab viel zu tun.
Gerade wollte er sich die ersten Auswertungsergebnisse ansehen, als sich das Gesicht seines Chefs darüberlegte. Stechender Blick, großer Mund, strahlende Zähne. Die ehemals dicke, krumme Nase, die er noch aus seiner Anfangszeit im Büro kannte, war inzwischen operativ begradigt.
»Dein Bild sei unser.«
»Unser sei dein Bild«, antwortete Orik.
»Oberst Adamant, wie war Ihr Wochenende? Mit Verlaub, Sie sehen beschissen aus! Sie sollten sich weniger anstrengende Omnivisionen anschauen.« Sein Chef brach in schallendes Gelächter aus, das in Husten überging.
Orik lächelte höflich und bewahrte Haltung. »Werde ich beachten, Herr Generalleutnant. Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Geburtstag! Was kann ich für Sie tun?«
»Danke, danke. Ach, kommen Sie doch gleich mal zu mir. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«
Das Gesicht löste sich auf, und Orik machte sich auf den Weg. Nervös umklammerte er sein Geschenk, als er aus dem Aufzug trat.
Brogan Wuelfenstrat kam ihm entgegen. »Adamant! Machen Sie es sich bequem.«
Er klopfte ihm auf den Rücken und führte ihn zu den edel bezogenen Sesseln. Orik war länger nicht mehr im Büro seines Chefs gewesen. Im Augenwinkel nahm er wahr, dass sich an der Projektion der Ermittler-Säulen etwas verändert hatte. Eine achte war hinzugekommen.
Sie setzten sich, und Orik eröffnete: »Wie geht es Ihrer Gattin und den Kindern?«
»Gut, gut. Mirtha geht es wieder besser.«
Sein Chef schien nicht bei der Sache zu sein. Er beäugte die Schachtel in Oriks Hand. »Für mich?«
»Eine kleine Aufmerksamkeit.«
Wuelfenstrat nahm das Geschenk entgegen. »Soll ich’s öffnen?«
»Ich wüsste gern, ob es Ihnen gefällt.«
Wuelfenstrat lugte in die Box.
»Es ist doch nicht …«
»Ich weiß, Sie mögen Schiffe.« Orik beobachtete, wie sein Chef das Modell behutsam hervorangelte.
»Mögen?! Vergöttern! Ich bin sprachlos. Die HMS Terror.« Seine Augen leuchteten, während er die Miniatur von allen Seiten betrachtete. »Ein prachtvolles Exemplar.« Er sah Orik an. »Wissen Sie, ich bewundere den Willen dieser Männer, das Unmögliche zu wagen. Auch wenn sie ihren Mut mit dem Leben bezahlt haben.« Wuelfenstrat widmete sich den Details der Miniatur aus Epi-Zermitan.
Orik brach das Schweigen. »Dort, wo die Männer starben, ist längst kein Packeis mehr. Man hätte vielleicht abwarten sollen.«
Wuelfenstrat lächelte. »Ich sehe, Sie haben sich schlau gemacht.« Er erhob sich und ging zum Podest hinter den acht Säulen, wo er das Modell neben der HMS Erebus absetzte. »Was ich an dem Schiff bemerkenswert finde, ist sein Name. Terror. Darin schwingen multiple Bedeutungen. Kennt heute kaum jemand.« Er setzte sich wieder zu Orik. »Vor der ersten Französischen Revolution stand Terror für das Schreckensregime des Königs. Kaum war die Monarchie abgeschafft, deuteten die neuen Machthaber den Begriff um. Terror diente nun als legitimes Mittel zur Bekämpfung der Feinde des Volkes. Auch der Rote Terror berief sich darauf. Rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit.« Er nahm einen Schluck Wasser und setzte seinen Vortrag fort. »Als sich das Forschungsschiff Terror auf Erkundungsfahrt in die Arktis begab, wollte man damit Ansprüche geltend machen. Der Begriff stand nun für Vormachtstellung. Wir springen hundert Jahre weiter. Nun verbindet man Terror mit Anschlägen, die Angst und Schrecken in der Bevölkerung erzeugen sollen, um Regierungen zu schwächen.«
Orik spielte mit dem Gedanken, die perforierte Fassade am Kolibri-Haus zu erwähnen, entschied sich aber dagegen.
Wuelfenstrat lehnte sich zurück. »Bestimmt fragen Sie sich, woher ich das alles weiß. Eins ist sicher: Scharteken werde ich wohl nicht gewälzt haben. Ha!« Er schüttelte sich. »Was käme noch in Frage? Luxor. Das ist nur ein Spaßverein, keine Quelle für solche Informationen. Alle anderen Netzanbieter sind enteignet oder unter ikonokratischer Kontrolle. Also, woher habe ich das?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Adamant, so kenne ich Sie gar nicht. Sie schwächeln. Na, gut. Ich will Sie nicht länger zum Dividuum halten. Was ich Ihnen nahezubringen versucht habe, stammt aus den Prolektionen unseres Bildungs-Tribuns. Sollten Sie hingehen. Sehr aufschlussreich. Hier oben, auf Ebene Hundertzehnzwei. Aber Sie gehen ja lieber zu diesen Schmierereien, äh, Malkursen.«
»Danke für die Empfehlung, ich werde es bei nächster Gelegenheit einrichten.«
Sein Chef beugte sich vor. »Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Ganz einfach. Das Bild ist rein, aus ihm spricht die Wahrheit. Wörter lassen sich verbiegen, bis zum Zerreißen. Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft. Erst recht in Schriftform oder gar in anderen Sprachen. Aus der Überlieferung wissen wir, was die Schreckensherrschaft am Ende der Erstzeit angerichtet hat. Mit ihren Sprachverdrehungen, Parolen und widerlichen Schriftzügen an jeder Straßenecke. Dazu darf es nicht noch einmal kommen. Wir müssen das Volk bewahren. Schützen wir unsere stabile Wertegemeinschaft, die wir unter unglaublichen Opfern aufgebaut haben.«
»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte Orik.
»Was uns zum Thema bringt.« Mit einem Wink ließ Wuelfenstrat eine Fotoprojektion erscheinen. »Erkennen Sie die beiden Personen?«
Ein Schauer lief über Oriks Rücken. Das Bild war aus erhöhter Position aufgenommen und zeigte zwei Jungen, die ihre Köpfe zusammensteckten. Die Naheinstellung brachte zutage, womit sie sich beschäftigten. Das Objekt, das sie in den Händen hielten, bestand aus Seiten mit Text.
Er wollte etwas sagen, doch Wuelfenstrat kam ihm zuvor: »Wir wissen beide: Sie waren damals zu jung, um sich den Manipulationen Ihres Bruders zu widersetzen. Das ist vorbei, er ist nicht mehr. Ich kenne Sie als loyalen Mitarbeiter. Sie haben die meisten Fälle gelöst. Mit Abstand. Das zählt für mich. Und darum wird das hier kein Nachspiel haben. Bleibt unter uns.« Das Bild erlosch.
Orik wusste nicht, wie er reagieren sollte. »Ich danke Ihnen. Für Ihr Vertrauen, Herr Generalleutnant«, sagte er vorsichtig.
»Schon gut, schon gut. Wir haben eine Situation, die … Ich stecke gewissermaßen in der Klemme.«
Orik richtete sich auf. »Wie kann ich helfen?«
»Man hat unserer Abteilung einen Fall übertragen, der – wie soll ich sagen – heikel ist.«
Wuelfenstrat sah ihm in die Augen. »Mir ist nicht entgangen, dass Sie seit längerem Anspruch auf eine Beförderung hegen, mein lieber Oberst.«
Orik blickte so ausdruckslos wie möglich.
»Geben Sie’s ruhig zu. Ist nichts Anstößiges.«
»Sagen wir, ich bin nicht abgeneigt.«
»Gut. Zeigen Sie mir, dass Sie es verdient haben.«
»Sie sprachen von einem Fall.«
Wuelfenstrat grinste und packte ihn bei den Armen. »Sie sind mein Mann.«
Er erhob sich und begann auf- und abzulaufen. »Es handelt sich um … einen Fall, von dem die Öffentlichkeit unter keinen Umständen erfahren darf. Eine Frau wurde ermordet.«
»Tötungsdelikt. Das hatten wir länger nicht mehr. Jedenfalls nicht offiziell.«
»Das Besondere ist nicht der Mord an sich.«
»Sondern?«
»Woran sie arbeitete. Diese Frau war illegal tätig. Wie soll ich sagen …« Wuelfenstrat blieb vor ihm stehen. »Ihr Arbeitsgebiet existiert weder theoretisch noch praktisch.«
»Ich verstehe nicht.«
»Es geht um Schrift. Die Tote hat eine eigene Schrift entwickelt.«
Endlich eine Aufgabe, die ihn forderte, die ihm geistige Höhenflüge bescherte. Der dumpfe Trott des Daseins hatte ihn mit Abscheu erfüllt. Orik sog die Bilder in sich auf, die vor seinen Augen vorbeizogen.
Eine Wand in Holzoptik, daran befestigt Fotoausdrucke mit privaten Motiven:
Zwei Frauen, Arm in Arm. Blond. Rothaarig.
Marienkäfer, der auf einer Hand herumkrabbelt
Hinterkopf einer Frau vor abstraktem Gemälde (möglicherweise eine Arbeit von Inro-Kiechter)
Ecke eines Fotos, das jemand heruntergerissen hatte …
Orik richtete den Fokus nach unten und trug weitere Details zusammen: Eine Kiste mit Patronen aus einem Speisendrucker-Abo. Daneben ein umgestürzter Ablagetisch aus Metall. Am Boden verstreut: graue Plastikwürfel in diversen Größen, dazwischen ein goldener Armreif und eine intakte, halbvolle Flasche Kweichow Maotai. Vereinzelte Blutstropfen auf dem Parkett, in Linie zum Eingang.
An der Rückseite der Wand eine Wäschetruhe und ein beweglicher Garderobenständer mit weißen Blusen, dazu Hosen und Minikleider, durchweg in Schwarz. Rechts daneben das Bett mit aufgeschlagener Decke und eingedrücktem Kopfkissen. Haarspuren, rot. Halt – auch blond. Die altmodische Lampe auf dem Nachttisch leuchtete noch.
Im Staub unter dem Bett ein Ohrstecker-Verschluss und eine vertrocknete Rosine. Zwei große Fenster im Dunkelmodus. Oberlicht ausgeschaltet. Gegenüber dem Bett drei Schiebetüren, aufgezogen, der Inhalt durchwühlt.
Weiter in den Flur, zum hinteren Bereich der Wohnung. Links das Badezimmer. In der zugeschalteten Nachtsicht erschienen Glasfläschchen und Kosmetikbehälter vor dem runden Spiegel. Dusche, Toilette, nichts Auffälliges. Aus dem Zimmer am Ende des Korridors drang Licht. Eine Schublade, halb offen: Gabeln, Löffel und Messer in bunter Mischung. Beschmierte Wand hinter dem Esstisch. Am Boden, neben dem umgerissenen Stuhl, lag jemand.
Ihre Augen waren auf die Zimmerdecke gerichtet, als suchten sie dort etwas. Die linke Hand schien nach dem Rocksaum zu greifen. Ihre weiße Bluse war voller Flecken. Sie lag ausgestreckt in einem dunkelroten See und umklammerte mit der Rechten das Messer in ihrem Bauch.
»Speichern und Ende.«
Orik stand vor dem Eingang zur Wohnung und streckte die Finger aus. Kleiner als ein Golfball, schwebte der Pionier zu ihm zurück und schmiegte sich in seine Handfläche. Er steckte die Sonde ein. Die Auswertung war schon im Gange.
Er wandte sich um. »Wer hat sie gefunden?«
Domrich, sein neuer Auszubildender, fuhr sich nervös über den blaugrau gefärbten Kurzhaarschädel, aber er war vorbereitet. »Ihre Freundin.«
»Die blonde Frau auf dem Foto. Name?«
»Karna Rolenka.«
»Veranlassen Sie die Vernehmung.«
»Wird erledigt, Herr Oberst.«
Er sah Domrich schief an.
»Wird erledigt, Orik.«
»Kommen Sie mit.«
Die beiden betraten den Flur und nahmen den Geruch des Todes wahr.
»Was denken Sie, Domrich?«
»Sexualdelikt … scheidet aus. Soweit ich die Übertragung mitverfolgen konnte, war die Leiche vollständig bekleidet. Ich denke, wir haben es mit Raubmord zu tun.«
Orik lächelte in sich hinein. »Und was bringt Sie darauf?«
»Niedermilieu. Hier treibt sich dieses Schattenvolk herum. Töten für alles, um damit ihre Dosis Hexarin zu bezahlen. Das Opfer besaß einen Speisendrucker. Platin-Edition, sehr teuer.«
»Die leeren Patronen, hm?«
Domrich nickte. »Das Gerät ist weg. Hier, ich zeig Ihnen …«
Oriks Arm schnellte hoch und hielt Domrich auf. »Was habe ich gesagt? Den Tatort …«
»… immer zuerst mit den Augen begehen, danach erst mit den Füßen«, stammelte Domrich.
»Na, also. Was sehen Sie? Schauen Sie hin.«