Am Anfang war die Liebe - Nora Roberts - E-Book
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Am Anfang war die Liebe E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Nora Roberts, Nancy Warren, Roxanne St.Clair und Lisa Renee Jones - diese Bestsellerautorinnen stehen für Liebe und Leidenschaft von der ersten bis zur letzten Seite. Diesmal setzen ihre Romanheldinnen für die Liebe alles aufs Spiel - auch die Karriere! Nora Roberts - Gegen jede Vernunft: Lebenslänglich - nichts anderes will Zackary, als er die hübsche Rachel kennen lernt. Leider verteidigt die Juristin seinen Bruder vor Gericht. Steht ihr Job ihrer Liebe im Weg? Nancy Warren - Sinnliche Spiele im Büro: Seit Jane von einem Kollegen belästigt wurde, trägt sie einen falschen Ehering, um ihre Ruhe zu haben. Doch diese Idee bereut sie schnell, als sie ihren attraktiven neuen Boss Spencer kennenlernt … Roxanne St. Claire - Darf ein Boss so zärtlich sein?: Cade ist hingerissen von seiner Praktikantin Jessie. Leider muss er befürchten, dass sie für die Konkurrenz spioniert - und nur deshalb einwilligt, ein romantisches Wochenende mit ihm zu verbringen. Lisa Renee Jones - Verbrenn dir nicht die Finger!: Amandas Traum wird wahr: Die Reporterin trifft den Baseballstar Brad - und beginnt einen heißen Sommerflirt mit ihm. Aber damit setzt sie nicht nur ihr Herz sondern auch ihre Karriere aufs Spiel …

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Seitenzahl: 804

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Am Anfang war die Liebe

Nora Roberts

Gegen jede Vernunft

____________________

Nancy Warren

Sinnliche Spiele im Büro

____________________

Roxanne St. Claire

Darf ein Boss so zärtlich sein?

____________________

Lisa Renee Jones

Verbrenn dir nicht die Finger!

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Falling For Rachel

Copyright © 1993 by Nora Roberts

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Fringe Benefits

Copyright © 2003 by Nancy Warren

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

The Intern Affair

Copyright © 2006 by Roxanne St. Claire

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Hard And Fast

Copyright © 2007 by Lisa Renee Jones

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya GAuse

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95649-469-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Nora Roberts

Gegen jede Vernunft

Roman

Aus dem Amerikanischen von Annegret Hilje

PROLOG

Wie konnte er nur so dumm sein!

Es war das erste Mal, dass er ein Gesetz übertrat.

Na ja. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, korrigierte er sich, als er durch das zerbrochene Fenster in das Elektronikgeschäft einstieg. Mit den Bagatelldelikten, auf die er sich bisher eingelassen hatte, war diese Sache hier allerdings nicht zu vergleichen. Nicht mit den Hütchentricks drüben am Madison für Touristen und andere Trottel und nicht mit den heißen Uhren, die er auf der Fifth Avenue verhökerte. Eine Weile hatte er in einer Werkstatt gearbeitet, die gestohlene Autos ausschlachtete. Er hatte sich auch ein paar Messerstiche bei Kämpfen mit den Hombres eingefangen, aber das war eine Sache der Ehre.

Nein, das hier war anders. Ein weiter Sprung nach vorn. Er brach in ein Geschäft ein, um Rechner und Stereoanlagen mitgehen zu lassen. Bei ein paar Bieren hatte sich das Ganze noch wie ein großer Ulk ausgenommen. Jetzt allerdings hatte er sich in eine Situation hineinmanövriert, aus der er sich nur schwer befreien konnte.

„Mann, das ist echt besser, als einen Schokoriegel zu klauen, was?“ Reece ließ seine gierigen Blicke über die gefüllten Regale schweifen. Der Zwanzigjährige, der bereits einige Jahre in Jugendverwahrung zugebracht hatte, war nicht sonderlich groß. „Wir werden riesig absahnen.“

T. J. kicherte. Cash, der gewöhnlich seine Meinung für sich behielt, verstaute bereits die ersten Videospiele in einer großen Tasche.

„Los, komm schon, Nick.“ Reece drückte ihm einen Seesack in die Hand. „Stopf ihn voll.“

Nick spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterrann, als er die Radios und Kassettenrecorder in dem unförmigen Sack verschwinden ließ. Was, zum Teufel, tust du hier überhaupt? fragte er sich. Er raubte irgendeinen armen Schlucker aus, der sich mit diesem Laden seinen Lebensunterhalt zu verdienen versuchte. Das war kein Kavaliersdelikt mehr, sondern handfester Einbruch.

„Hör zu, Reece, ich …“ Er schwieg, als Reece das Licht der Taschenlampe in seine Augen hielt.

„Hast du Probleme, Bruder?“

Selbst wenn er jetzt ausstieg – die anderen würden den Laden trotzdem ausräumen. Und er würde sich nur erniedrigen. „Nein, Mann, null Probleme“, erwiderte er hastig und packte einige kleinere Lautsprecherboxen ein. „Wir sollten jetzt abhauen. Wir haben mehr eingesackt, als wir verhökern können.“

Reece klopfte ihm auf die Schulter und grinste boshaft. „Du denkst immer so zweckmäßig. Das mag ich an dir. Aber mach dir keine Gedanken, wie wir das Zeug loswerden. Ich hab da so meine Beziehungen.“

„Alles klar.“ Nick leckte sich über die trockenen Lippen und erinnerte sich daran, dass er ein Cobra war. Er gehörte zur Bande. Er war ein Cobra und würde es auch immer bleiben.

„Cash, T. J., bringt die erste Ladung schon mal ins Auto.“ Reece klapperte mit den Schlüsseln. „Und schließt ab. Wir wollen doch nicht, dass uns einer beklaut, oder?“

T. J.s Kichern hallte von der Decke wider, als er durch das Fenster nach draußen stieg. „Klar, Sir.“ Er schob die Sonnenbrille zurecht. „Heutzutage wird ja überall geklaut. Oder, Cash?“

Cash brummte nur missmutig und quetschte sich durch das Fenster.

„Dieser T. J. ist ein richtiger Vollidiot.“ Reece hob einen Videorecorder hoch. „Pack mal mit an, Nick.“

„Wir wollten doch nur Kleinzeug mitnehmen.“

„Ich hab’s mir anders überlegt.“ Er stemmte den Karton in Nicks Arme. „Meine Alte liegt mir schon lange wegen so einem Ding in den Ohren.“ Reece strich sich die Haare zurück, bevor er ebenfalls aus dem Fenster kletterte. „Weißt du, was dein Problem ist, Nick? Dein Gewissen. Und was hat dir das je eingebracht? Nur gegenüber uns Cobras, deiner Familie, solltest du ein Gewissen haben.“ Er nahm Nick den Recorder ab und verschwand in der Dunkelheit.

Familie. Reece hat recht, überlegte Nick und begann aus dem Fenster zu klettern. Die Cobras waren seine Familie. Er konnte, ja, er musste sich auf sie verlassen. Er schob alle Zweifel beiseite und schulterte den Seesack. Und er musste an sich selbst denken. Sein Anteil an der Beute garantierte ihm für weitere zwei Monate ein Dach über dem Kopf. Er hätte die Miete ja auch längst bezahlt, wenn er bei der Spedition nicht entlassen worden wäre.

Lausige Wirtschaftslage! Wenn er stehlen musste, um über die Runden zu kommen, konnte er immer noch die Regierung dafür verantwortlich machen. Bei dem Gedanken schwang er grinsend ein Bein durch die zerbrochene Glasscheibe. Reece hatte recht. Man musste selbst zusehen, wie man am besten zurechtkam.

„Darf ich dir beim Aussteigen behilflich sein?“

Nick erstarrte. Im Halbdunkel erkannte er den Lauf einer Pistole und das metallene Glitzern einer Dienstmarke. Einen Moment überlegte er, ob er den Seesack auf die Silhouette werfen und sein Heil in der Flucht suchen sollte. Aber da trat der Cop auch schon mit einem Kopfschütteln näher. Er war jung, ein dunkler Typ. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Nick erkennen ließ, dass er mit Kerlen wie ihm Erfahrung hatte.

„Tu dir einen Gefallen, Junge, und versuch es erst gar nicht. Du hast eben Pech gehabt“, bemerkte der Polizist trocken.

„Gibt es denn überhaupt eine Alternative zu Pech?“ Nick stieg resigniert aus dem Fenster, stellte den Seesack ab und drehte sich mit dem Gesicht an die Wand, während ihm seine Rechte vorgelesen wurden.

1. KAPITEL

Die Aktenmappe in der einen, einen Bagel in der anderen Hand, eilte Rachel die Stufen zum Gerichtssaal hinauf. Sie hasste Unpünktlichkeit, und bei der morgendlichen Anhörung sollte sie ausgerechnet auf den überkorrekten Richter Snyder treffen.

Zwei Jahre arbeitest du nun schon als Strafverteidigerin, überlegte sie, während sie die Treppen hinaufeilte. Sie nahm den letzten Bissen ihres Bagels und wünschte sich sehnlichst eine Tasse Kaffee.

Vor der Tür des Gerichtssaals rückte sie ihre blaue Jacke zurecht und glättete ihr halblanges, schwarzes Haar. Noch ein letzter Blick auf die Uhr und einmal tief durchgeatmet. Pünktlich auf die Minute, Stanislaski, lobte sie sich und betrat gefasst den Gerichtssaal. Während sie ihren Platz einnahm, wurde ihr dreiundzwanzig Jahre alter Mandant in Begleitung eines Wachmannes in den Saal geführt.

Rachel hatte ihrem Mandanten bereits erklärt, dass er nicht auf Verständnis hoffen könne, wenn er seine Mitmenschen um zweihundert Dollar und eine Scheckkarte erleichterte.

„Erheben Sie sich von Ihren Plätzen!“

Der große, massige Richter trat in seiner schwarzen Robe ein. Sein rundes, unfreundliches Gesicht entsprach farblich einem guten Cappuccino.

Rachel tauschte einen freundlichen Blick mit dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, der die Anklage vertrat, und ging ans Werk.

Mit einer Verurteilung zu neunzig Tagen Haft kam ihr Mandant vergleichsweise schlecht davon. So war es nicht verwunderlich, dass er sich nicht gerade überschwänglich bei ihr bedankte, als er von einem Gerichtsdiener aus dem Saal geführt wurde.

Etwas mehr Glück bescherte ihr der nächste Fall, bei dem es um tätliche Beleidigung ging …

„Euer Ehren, mein Mandant bezahlte die Bestellung in dem guten Glauben, ein warmes Essen zu erhalten. Als die Pizza eiskalt serviert wurde, wies er auf das Problem hin, indem er der Bedienung ein Stück derselben zukommen ließ. Unglücklicherweise führte seine Offenherzigkeit dazu, dass er dem Kläger die Pizza zu heftig empfahl und das Objekt im darauffolgenden Handgemenge fahrlässigerweise auf dem Kopf desselben landete …“

„Ein ausgesprochen amüsanter Vortrag der Verteidigung. Fünfzig Dollar erscheinen mir eine angemessene Strafe.“

Rachel hangelte sich durch die morgendlichen Sitzungen. Taschendiebstahl, Trunkenheit in Verbindung mit Ruhestörung, zwei weitere Beleidigungen und ein Bagatelldelikt. Gegen Mittag schlossen sie mit einem Fall von Ladendiebstahl ab. Rachel musste all ihre juristischen Fähigkeiten aufbieten, um den Richter davon zu überzeugen, dass zunächst ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden sollte.

„Nicht übel.“ Der Staatsanwalt war nur wenige Jahre älter als die sechsundzwanzigjährige Rachel, zählte sich aber im Geschäft bereits zu den alten Hasen. „Schätze, der Vormittag ist unentschieden ausgegangen.“

Rachel lächelte und schloss die Aktenmappe. „Keineswegs, Spelding. Bei der Sache mit dem Ladendiebstahl habe ich dich ganz schön alt aussehen lassen.“

„Möglich.“ Spelding begleitete sie zum Gerichtsgebäude hinaus. „Dein Mandant wird bald wieder zurechnungsfähig sein.“

„Aber sicher. Der Typ ist zweiundsiebzig, stiehlt bevorzugt Einwegrasierer und lässt Glückwunschkarten mitgehen, auf denen Blümchen abgebildet sind. Zweifellos handelt er bei klarem Verstand.“

„Ihr Strafverteidiger seid einfach zu mitleidig“, erwiderte er freundlich. Rachels Fähigkeit, juristisch zu argumentieren, fand seine ungeteilte Bewunderung. Diese Einschätzung traf übrigens auch auf ihre Beine zu. „Weißt du was? Ich werde uns etwas zu essen besorgen, und du kannst dabei versuchen, meine Einstellung zur Gesellschaft zu ändern.“

„Tut mir leid.“ Sie lächelte ihm zu und stieg die Treppen hinunter. „Ich muss noch zu einem Mandanten.“

„Ins Gefängnis?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Üblicherweise treffe ich sie dort. Also, viel Glück bei unserem nächsten Zusammentreffen, Spelding.“

Das Untersuchungsgefängnis war ein Gebäude mit hohem Lärmpegel, in dem es ständig nach abgestandenem Kaffee roch. Rachel trat leicht fröstelnd ein. Eine dichte Wolkenschicht hing über Manhattan, und sie ärgerte sich, dass sie weder Mantel noch Regenschirm mitgenommen hatte.

Sie legte ihren Besucherausweis vor. „Nicholas LeBeck“, erklärte sie dem wachhabenden Sergeanten. „Einbruch und Diebstahl.“

„Ja, ja …“ Der Sergeant blätterte die Papiere durch. „Dein Bruder hat ihn eingelocht. LeBeck ist gerade erst zu uns gekommen.“

Rachel seufzte. Die Tatsache, dass ihr Bruder Polizist war, machte ihr das Leben nicht gerade leichter. „Ich habe davon gehört. Hat LeBeck von seinem Recht zu telefonieren Gebrauch gemacht?“

„Nein.“

„Hat ihn jemand besucht?“

„Nein.“

„Na großartig.“ Rachel hob die Aktenmappe hoch. „Dann lass ihn bitte holen.“

„Sieht so aus, als bekämst du wieder einen waschechten Verlierertypen, Rachel. Raum A, wenn’s beliebt.“

„Danke.“ Sie holte sich einen Kaffee und ging zu dem kleinen Raum, der nur mit einem langen Tisch und vier Stühlen ausgestattet war. Sie setzte sich, öffnete die Mappe und nahm die Akte von Nicholas Le-Beck heraus.

Ihr Mandant war neunzehn, arbeitslos und wohnte in einem Zimmer in der Lower East Side. Sie seufzte beim Anblick seines Vorstrafenregisters. Keine weltbewegenden Delikte, stellte sie fest, aber es reichte, um diesmal erheblich in Schwierigkeiten zu kommen. Mit dem versuchten Einbruch war er eine Stufe höher geklettert, und auch die Möglichkeit, ihn als Minderjährigen einzustufen, war nur ein schwacher Lichtblick. Immerhin hatte er elektronische Geräte im Wert von mehreren Tausend Dollar in einem Seesack bei sich, als Detective Alexej Stanislaski ihn schnappte.

Alex würde ihr den Sachverhalt ausgiebig schildern. Ihr Bruder tat nichts lieber, als sie mit der Nase auf alle Einzelheiten einer Straftat zu stoßen.

Sie nahm noch einen Schluck aus dem Pappbecher, als ihr Mandant von einem griesgrämigen Polizisten hereingeführt wurde.

Nicht übergroß, dafür etwas untergewichtig, dunkelblonde, struppige Haare, eigentlich ganz attraktiv, schätzte sie ihn auf den ersten Blick ein. Wenn er nicht so verbittert aussehen würde.

„Danke, Officer.“ Auf ihr Nicken hin verließ der Polizist den Raum und ließ sie allein. „Mr LeBeck, ich bin Rachel Stanislaski, Ihre Pflichtverteidigerin.“

„Ach ja?“ Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und lehnte sich zurück. „Mein letzter Verteidiger war klein, dürr und glatzköpfig. Scheint, dass ich diesmal mehr Glück habe.“

„Ganz im Gegenteil. Sie wurden dabei ertappt, wie Sie aus dem zerbrochenen Fenster eines verschlossenen Lagerraumes kletterten. In Ihrem Besitz befand sich Ware im Wert von sechstausend Dollar.“

„Unglaublich, was das Zeug wert ist.“ Nick lächelte hämisch. Er hatte keine sehr angenehme Nacht in der Zelle verbracht, aber sein Stolz war ungebrochen. „Haben Sie eine Zigarette für mich?“

„Nein. Mr LeBeck, ich möchte Ihre Anhörung vor dem Untersuchungsrichter möglichst bald ansetzen, damit wir die Kaution aushandeln können. Es sei denn, Sie möchten Ihre Nächte lieber hier in der Zelle verbringen.“

Er versuchte, gleichgültig zu wirken. „Ich überlasse das alles Ihnen, Süße.“

„Fein. Und nennen Sie mich ruhig Stanislaski“, erwiderte sie freundlich. „Miss Stanislaski. Angesichts der Vorstrafen und des Straftatbestands, dessen Sie hier beschuldigt werden, hat die Staatsanwaltschaft beschlossen, Sie nach dem Erwachsenenstrafrecht anzuklagen. Die Verhaftung war rechtens, Sie werden also keine Nachsicht erwarten können.“ Sie schloss die Akte. „Also, Mr LeBeck, so wie es aussieht, werden Sie sich mit dem Gedanken einer Haftstrafe anfreunden müssen.“

Nick grinste herablassend.

„Die Sache stinkt. Sie haben sich schuldig gemacht. Die Höhe der Strafe hängt allerdings von Ihnen ab.“

Er schaukelte weiter mit dem Stuhl. Diesmal werden sie dich richtig einsperren, in eine Zelle … nicht für ein paar Stunden, sondern für Monate oder Jahre, dachte er. „Die Gefängnisse sind überfüllt, soweit ich weiß. Das kostet die Steuerzahler eine Menge Geld. Der Staatsanwalt könnte sich doch auf einen kleinen Handel einlassen.“

„Waren im Wert von fünfzehntausend Dollar sind verschwunden. Sie waren also nicht allein, LeBeck. Ich weiß das, Sie wissen das, die Polizei weiß es und der Staatsanwalt ebenfalls. Geben Sie ihnen die Namen der Mittäter, einen Hinweis, wo sich die gestohlene Ware befinden könnte, und ich wäre in der Lage, einen Handel mit der Staatsanwaltschaft zu Ihren Gunsten abzuschließen.“

„Den Teufel werde ich tun. Ich habe nie gesagt, dass jemand dabei war. Niemand kann das Gegenteil beweisen.“

Rachel beugte sich vor und sah ihn herausfordernd an. „Ich bin Ihre Verteidigerin, LeBeck, und Sie sollten mich unter gar keinen Umständen anlügen, sonst lege ich den Fall nieder. Wenn Sie mitarbeiten, springen sechs Monate auf Bewährung heraus. Aber erzählen Sie mir nicht, Sie hätten das Ding allein gedreht.“

Nick schüttelte den Kopf. „Ich werde meine Freunde nicht verraten. Also, kein Handel.“

Rachel holte tief Luft. „Sie trugen bei der Verhaftung eine Jacke mit der Aufschrift Cobra.“

„Und weiter?“

„Man wird nach Ihren Freunden fahnden, denselben Freunden, die sich aus dem Staub gemacht haben und Sie die Suppe jetzt allein auslöffeln lassen. Die Staatsanwaltschaft wird aus der Sache einen vorsätzlich vollendeten Einbruch zimmern und Ihnen eine Zwanzigtausenddollarschuld aufladen.“

„Keine Namen“, erwiderte er stur. „Kein Handel.“

„Ihre Loyalität ist bewundernswert, aber leider völlig fehl am Platz.

Ich werde alles tun, die Strafe so gering wie möglich ausfallen zu lassen und eine Kaution zu erwirken. Aber ich glaube, es werden nicht weniger als fünfzigtausend werden. Könnten Sie zehn Prozent selbst zusammenkratzen?“

Keine Chance, dachte er. „Ich könnte ein paar Schulden eintreiben.“

„Also gut. Ich komme wieder.“ Sie stand auf und zog eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. „Falls Sie mich vor der Anhörung sprechen wollen oder falls Sie Ihre Meinung geändert haben, rufen Sie mich an.“

Sie klopfte gegen die Tür. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Hüfte legte.

„Hallo, Rachel, lange nicht gesehen“, begrüßte ihr Bruder sie freudig.

„Ja, das muss schon etwas mehr als vierundzwanzig Stunden her sein.“

„Du bist gereizt.“ Er warf einen Blick auf LeBeck. „Ach so, haben sie dir den Burschen angedreht?“

Sie stupste ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Lass deine Gehässigkeiten. Besorg mir lieber einen Kaffee.“

Sie verließen das Gebäude und gingen zum Präsidium, das nur wenige Blocks entfernt war. Rachel setzte sich hinter Alex’ Schreibtisch und wartete darauf, dass ihr Bruder mit den Pappbechern kam.

Am nächsten Schreibtisch saß ein kleiner, rundlicher Mann, der sich mit einem Taschentuch immer wieder über die verschwitzte Stirn wischte, während er kurzatmig eine Aussage zu Protokoll gab. Irgendwo ließ jemand eine laute Schimpftirade in Spanisch auf sein Gegenüber niederprasseln. Eine Frau mit einem Bluterguss im Gesicht saß auf einer Bank und wiegte ein Kleinkind in den Armen, während ihr unaufhörlich Tränen über die Wangen strömten.

Der Geruch von Verzweiflung, Wut, Hoffnungslosigkeit erfüllte das Revier. Rachel hatte schon immer gedacht, dass nur jemand mit einem ausgesprochen feinen Geruchssinn unter dieser erdrückenden Atmosphäre den kaum wahrnehmbaren Hauch von Gerechtigkeit erkennen konnte. Nicht anders war es in den Räumen, in denen die Verteidiger arbeiteten.

Sie musste an ihre Schwester Natasha denken, wie sie ihrer Familie in dem großen hübschen Haus in West Virginia das Frühstück in der gemütlichen Küche zubereitete. Oder die Tür zu dem wunderbaren Spielzeugladen aufschloss, um die ersten Kunden des Tages zu empfangen.

Das Bild ließ sie leise lächeln, ebenso auch das, wie ihr Bruder Mikhail in seinem hellen Atelier saß und leidenschaftlich an einem Holzblock schnitzte, um etwas unvergleichlich Schönes mit seinen Händen entstehen zu lassen.

Und sie saß hier, in einem muffigen Raum, angefüllt mit den Bildern und den Gerüchen und den Geräuschen, die so typisch für das großstädtische Elend waren.

„Danke.“ Rachel seufzte, als ihr Bruder zurückkam und ihr den Kaffee in die Hand drückte. „Was ist bloß los mit uns, Alex?“

„Was soll schon los sein? Wir schlagen uns durchs Leben, schlecht bezahlt und ohne Dank.“

Sie lachte leise und nahm einen Schluck von dem Kaffee, der nach Motorenöl schmeckte. „Du bist immerhin gerade befördert worden, Detective Stanislaski.“

„Ich bin eben gut. Ich riskiere mein Leben, um die Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen, während du dafür sorgst, dass sie wieder frei herumlaufen können.“

Rachel schnaubte abfällig. „Die meisten Leute, die ich vertrete, versuchen nur zu überleben.“

„Ja, indem sie stehlen und betrügen.“

Sie merkte, wie es in ihr zu brodeln begann. „Heute Morgen bei Ge richt habe ich einen alten Mann verteidigt, der ein paar Einwegrasierer hat mitgehen lassen. Richtig gefährlich! Wahrscheinlich hätte man ihn wohl lebenslang in Einzelhaft stecken sollen, was?“

„Aha, es ist also in Ordnung, dass man stiehlt, solange es sich dabei um nichts Wertvolles handelt?“

„Der Mann braucht Hilfe, keine Gefängnisstrafe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die Zeit, mit dir über Recht und Ordnung zu diskutieren. Ich wollte von dir etwas über Nicholas LeBeck erfahren.“

„Und was? Du hast doch den Bericht gelesen.“

„Du hast ihn verhaftet.“

„Ja, und? Ich wollte gerade nach Hause, als ich ihn mit einem prall gefüllten Sack aus dem Fenster klettern sah. Ich habe ihm seine Rechte vorgelesen und ihn eingelocht.“

„Was ist mit seinen Komplizen?“

Alex zuckte mit den Schultern. „Er hatte vermutlich Komplizen, aber außer LeBeck habe ich niemanden am Tatort gesehen. Dein Mandant hat von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Und er hat ein ansehnliches Vorstrafenregister.“

„Er ist ein Cobra.“

„Nach seiner Jacke zu schließen, ja“, stimmte Alex zu. „Und er verhält sich auch so.“

„Er ist ein verängstigtes Kind.“

Alex warf den leeren Becher in den Papierkorb. „Er ist kein Kind mehr, Rachel.“

„Es ist mir egal, wie alt er ist, Alex. Jetzt sitzt er wie ein ängstliches Kind in seiner Zelle und spielt den starken Mann. Das könntest auch du sein, oder Mikhail, ja sogar Tash oder ich … wenn wir andere Eltern gehabt hätten.“

„Verdammt, Rachel.“

„Wenn unsere Eltern nicht so hart für uns gearbeitet hätten, wären wir auch auf der Straße gelandet. Das weißt du.“

Alex widersprach seiner Schwester nicht. Aber was glaubte sie, warum er Polizist geworden war? „Fakt ist, wir wussten immer zu unterscheiden, was richtig und was falsch ist. Und das ist der springende Punkt.“

„Manchmal entscheiden sich die Menschen für den falschen Weg, weil sie niemanden haben, der ihnen den richtigen zeigt.“

Sie hätten noch stundenlang weiterreden können, aber Alex musste zum Dienst. „Du bist zu weichherzig, Rachel. Pass auf, dass dein Verstand nicht ebenfalls aufweicht. Die Cobras sind eine der härtesten Gangs in Manhattan, und dein Mandant ist einer von ihnen.“

Rachel sah ihren Bruder an. „Hatte er eine Waffe bei sich?“

„Nein.“

„Hat er Widerstand geleistet?“

„Nein, aber das ändert nichts an dem, was er getan hat und was er ist.“

„Das mag nichts an dem ändern, was er getan hat, aber es sagt doch möglicherweise eine Menge darüber aus, wer er ist. Die erste Anhörung ist um zwei.“

„Ich weiß.“

Sie küsste ihn und lächelte. „Wir sehen uns dort.“ Sie drehte sich um und verließ den Raum.

„Miss Stanislaski!“

Rachel blieb im Gang stehen und warf einen Blick über ihre Schulter.

Hinter ihr stand ein großer, breitschultriger Mann in einem ausgebeulten Sweatshirt und abgetragenen Jeans. Er sah ziemlich verärgert aus. Seine dunkelblauen Augen verrieten, wie aufgebracht er war.

„Rachel Stanislaski?“

„Ja.“

Er schüttelte ihre Hand und begleitete sie die Treppe hinunter. „Ich bin Zackary Muldoon“, stellte er sich in einem Tonfall vor, als besage das bereits alles.

„Kann ich Ihnen helfen, Mr Muldoon?“

„Das will ich schwer hoffen.“ Er strich sich mit der Hand durch das pechschwarze Haar, fasste sie am Ellbogen und nötigte sie die restlichen Stufen hinunter. „Wie kriegen wir ihn da raus? Und warum, zum Teufel, hat er Sie und nicht mich angerufen? Wozu muss er die ganze Nacht in der Zelle verbringen? Was für eine Anwältin sind Sie eigentlich?“

Rachel befreite sich aus seinem Griff und hob die Aktenmappe, bereit, sich gegen ihn zu schützen. „Mr Muldoon, ich weiß nicht, wer Sie sind und wovon Sie sprechen. Und zufälligerweise bin ich ziemlich beschäftigt …“

„Das interessiert mich nicht die Bohne. Antworten Sie mir. Wenn Sie keine Zeit haben, Nick zu helfen, werden wir einen anderen Anwalt nehmen. Ich möchte nur wissen, warum er sich eine so durchgestylte Tussi wie Sie aussuchen musste.“

Rachel hielt die Luft an und stieß ihm einen Finger auf die Brust. „Tussi? Sie sollten erst einmal richtig hinsehen, bevor Sie derartige Ausdrücke benutzen, oder …“

„Oder Sie lassen mich durch Ihren Freund in eine Zelle sperren, stimmt’s? Welche Art Verteidigung sollte Nick wohl von einer Frau erwarten, die ihre Zeit damit verbringt, Bullen zu küssen und sich mit ihnen zu verabreden?“

„Das geht Sie überhaupt nichts an.“ Sie holte tief Luft. Nick. „Sprechen Sie von Nicholas LeBeck?“

„Von wem denn sonst? Und jetzt erwarte ich klare Antworten, sonst sind Sie den Fall los.“

„Hallo, Rachel.“ Ein Polizist in Zivil stellte sich hinter Rachel und sah Zackary argwöhnisch an. „Bist du in Schwierigkeiten?“

„Nein.“ Sie lächelte ihn gezwungen an. „Nein, alles klar, Matt. Vielen Dank.“ Sie wandte sich an Zackary und dämpfte ihre Stimme. „Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig, Mr Muldoon. Und Beleidigungen sind kein Erfolg versprechender Weg, mich zur Mitarbeit zu bewegen.“

„Dafür werden Sie bezahlt“, erwiderte er. „Also, wie viel?“

„Wie bitte?“

„Was ist dein Preis, Süße?“

Rachel biss die Zähne zusammen. Süße war in ihren Augen nicht minder beleidigend als Tussi. „Ich bin Pflichtverteidigerin, Mr Muldoon. Die Stadt New York hat mir den Fall LeBeck übertragen. Ich bin nicht sein Privatbesitz.“

„Sie sind Pflichtverteidigerin? Wozu braucht Nick einen Pflichtverteidiger?“

„Weil er völlig mittellos ist. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“

„Er hat seinen Job verloren? Aber …“ Diesmal wirkte Zackary eher resigniert. „Er hätte doch zu mir kommen können.“

„Und wer, zum Teufel, sind Sie?“

Zackary strich mit der Hand über sein Gesicht. „Ich bin sein Bruder.“ Rachel schob die Lippen vor und hob eine Augenbraue. Sollte er etwa auch zu den Cobras gehören? „Gibt es bei den Cobras keine Altersbegrenzung?“

„Bitte? Sehe ich so aus, als wäre ich Mitglied einer Straßengang?“ Rachel betrachtete ihn von oben bis unten. Er sah so aus, als könne er sich mit seinen großen Fäusten den Weg frei machen. Das scharfkantige Gesicht und der hitzige Blick bestärkten sie in der Annahme, dass er es möglicherweise genoss, anderen den Schädel einzuschlagen. „Ihr Benehmen passt wie die Faust aufs Auge zu meiner Annahme. Sie sind unverschämt und primitiv.“

Es wurde Zeit, mit dieser Frau Klartext zu reden. „Ich bin Nicks Bruder – genauer gesagt Stiefbruder. Seine Mutter heiratete meinen Vater. Kapiert?“

„Aber er sagte, er habe keine Verwandten.“

„Er hat mich, ob er will oder nicht. Und ich kann mir einen richtigen Anwalt leisten.“

„Zufällig bin ich eine richtige Anwältin, Mr Muldoon. Und wenn LeBeck einen anderen Rechtsbeistand wünscht, so kann er das selbst bestimmen.“

„Das hat noch Zeit.“ Er war sichtlich um Geduld bemüht. „Im Augenblick möchte ich nur wissen, worum es eigentlich geht.“

„Na schön.“ Rachel warf einen Blick auf die Uhr. „Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten meiner Zeit, und zwar, während ich etwas esse. Ich muss in einer Stunde wieder im Gericht sein.“

2. KAPITEL

So, wie sie aussah – elegant und sexy in einem Dreiteiler –, hätte Zackary darauf gewettet, dass Rachel ihn in ein kleines Restaurant führen würde, in dem raffinierte Nudelgerichte und Weißwein serviert wurden. Stattdessen eilte sie mit großen Schritten den Gehweg entlang, blieb vor einem Imbissstand stehen und bestellte sich einen Hotdog.

Bei dem Gedanken, zu dieser Tageszeit etwas zu essen, das auch nur annähernd Ähnlichkeit mit einem Hotdog haben könnte, drehte sich ihm der Magen um. Er entschied sich für eine Cola und zündete sich eine Zigarette an.

Rachel nahm einen Bissen und leckte sich den Senf vom Daumen. Trotz des intensiven Zwiebel- und Fettgeruchs nahm Zackary einen Hauch ihres verführerischen Parfums wahr.

„Die Anklage lautet auf Einbruchsdiebstahl“, erklärte Rachel mit vollem Mund. „Daran gibt es kaum etwas zu rütteln. Er wurde dabei ertappt, wie er aus einem Fenster kletterte, im Besitz von Waren, die mehrere Tausend Dollar wert sind.“

„Reine Dummheit.“ Zackary trank das Glas halb leer. „Er hat es nicht nötig zu stehlen.“

„Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Er wurde erwischt, steht unter Anklage, und er leugnet die Tat auch nicht. Die Staatsanwaltschaft schlägt einen Handel vor. Wenn Nick mitmacht, könnte er mit einer Strafe auf Bewährung rechnen.“

Zackary stieß eine Rauchwolke aus. „Dann wird er also mitmachen.“ Rachel zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe so meine Zweifel. Er fürchtet sich zwar vor den Folgen, aber er ist auch sehr dickköpfig. Und er deckt die Cobras. Da es seine erste Straftat dieser Art ist, glaube ich, dass er mit drei Jahren davonkommen wird. Bei guter Führung könnte er nach einem Jahr entlassen werden.“

Zackary zerdrückte den Pappbecher in seiner Hand. „Ich möchte, dass er überhaupt nicht ins Gefängnis muss.“

„Mr Muldoon, ich bin Anwältin, keine Magierin. Was erwarten Sie?“

„Sie haben die Waren doch zurückerhalten, oder?“

„Ja, aber das macht die Tat nicht ungeschehen. Außerdem fehlen noch Waren im Wert von mehreren Tausend Dollar.“

„Ich bringe das wieder in Ordnung.“ Irgendwie, dachte Zackary und warf den Becher in einen Mülleimer. „Hören Sie, ich werde den Gegenwert des gestohlenen Guts ersetzen. Nick ist erst neunzehn. Wenn Sie den Staatsanwalt dazu bringen, ihn als Minderjährigen einzustufen, wäre alles viel einfacher.“

„Der Staat behandelt Bandenmitglieder besonders streng, und Nicks Vorstrafenregister wird ihn auch nicht gerade besänftigen.“

„Dann muss ich mir einen anderen Anwalt suchen.“ Zackary hob die Hand, bevor sie etwas erwidern konnte. „Ich weiß, ich habe Sie schon einmal angegriffen. Es tut mir leid. Ich arbeite nachts und bin deshalb morgens nicht besonders gut drauf. Als ich mit Nick sprach, hat er mir die üblichen Antworten gegeben: ‚Ich brauche dich nicht. Ich brauche niemanden. Ich werde das schon schaukeln.‘“ Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Ich weiß, dass er schreckliche Angst vor dem Knast hat.“ Er seufzte und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Er hat niemanden außer mir, Miss Stanislaski, und ich möchte um jeden Preis verhindern, dass er ins Gefängnis muss.“

Rachel wischte sich die Finger an einer Serviette ab. „Haben Sie denn genug Geld, um den Schaden zu begleichen? Fünfzehntausend Dollar?“

Zackary erschrak einen Moment, dann nickte er. „Kann ich besorgen.“

„Das bringt uns schon einen Schritt weiter. Wie viel Einfluss üben Sie auf Nick aus?“

„So gut wie keinen.“ Er lächelte. „Aber das kann sich ja ändern. Ich habe ein gut gehendes Geschäft und ein großes Apartment. Ich kann jede Menge Referenzen vorweisen, und mein polizeiliches Führungszeugnis ist makellos. Ich saß zwar während meiner Dienstzeit bei der Marine dreißig Tage im Bau, aber das wird mir wohl kaum jemand ankreiden, da es zwölf Jahre her ist.“

Rachel überlegte einen Moment. „Wenn ich Sie recht verstanden habe, wollen Sie dem Gericht vorschlagen, Nick in Ihre Obhut zu nehmen.“

„Ja. Eine Bewährungsstrafe ist okay, und Nick erhielte die Chance, endlich erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen.“

„Sie sollten nicht allzu gefällig sein, Mr Muldoon.“

„Er ist immerhin mein Bruder.“

Für dieses Argument hatte sie vollstes Verständnis. Rachel warf einen Blick in die Wolken. Die ersten Regentropfen fielen. „Ich muss zurück ins Büro. Ich werde ein paar Anrufe tätigen und sehen, was ich erreichen kann.“

Eine Bar! Warum musste er ausgerechnet Besitzer einer Bar sein, überlegte Rachel, als sie sich Argumente für die Anhörung am Nachmittag überlegte. Irgendwie passte es zu ihm. Die breiten Schultern, die großen Hände, die gekrümmte Nase, die offensichtlich einmal gebrochen war, und natürlich sein raues, irisches Temperament.

Nicks zweiunddreißig Jahre alter Stiefbruder, Besitzer einer Bar – mit dem Namen „Lower the Boom!“ an der East Side –, wollte die Verantwortung für einen Neunzehnjährigen übernehmen! Das würde den Richter nicht gerade überzeugen.

Der Ladenbesitzer war hocherfreut darüber, seinen Schaden ersetzt zu bekommen. Dass er dabei die Preise erhöhte, war Muldoons Problem. Immerhin bestand damit eine kleine Chance, das Gericht auf ihre Seite zu bringen.

Rachel blieb nicht viel Zeit, den Staatsanwalt dazu zu bringen, Nick als Jugendlichen einzustufen. Mit den Informationen, die Zackary ihr gegeben hatte, machte sie sich auf den Weg in einen der kleinen Konferenzräume des Gerichtsgebäudes.

„Kommen Sie, Haridan, verschwenden wir nicht unnötig unsere Zeit und das Geld der Steuerzahler. Den Jungen hinter Gitter zu bringen ist keine Lösung.“

Haridan ließ seinen fülligen Körper in einem Sessel nieder. „Es ist meine Lösung, Stanislaski. Er ist ein Punk. Ein Bandenmitglied mit einer langen Vorgeschichte asozialen Verhaltens.“

„Das waren harmlose Delikte.“

„Tätlichkeiten.“

„Er ist ein verängstigter Junge, der in einer Bande nach Sicherheit suchte. Wir wollen ihn da rausholen, keine Frage. Aber nicht, indem wir ihn ins Gefängnis stecken. Sein Stiefbruder bezahlt nicht nur den Schaden, sondern möchte in Zukunft die Verantwortung für ihn übernehmen. LeBeck wird eine Arbeit erhalten, ein Zuhause, jemanden, der auf ihn achtgibt. Sie müssen nur zustimmen, dass er als Minderjähriger behandelt wird.“

„Ich möchte die Namen der Mittäter.“

„Die wird er nicht preisgeben, ganz gleich, was geschieht. Er ist kein Krimineller, noch nicht. Also sollten wir auch keinen aus ihm machen.“

Nachdem sie eine Zeit lang das Für und Wider verhandelt hatten, gab Haridan schließlich nach. „Aber die Anklage lautet auf Einbruch, darauf bestehe ich“, erklärte er stur. „Doch selbst wenn wir ihn nach dem Jugendstrafrecht behandeln, so wird das Gericht einer Bewährung nicht zustimmen.“

„Den Richter überlassen Sie ruhig mir. Mit wem haben wir es denn zu tun?“

Haridan grinste schelmisch. „Beckett.“

Marlene C. Beckett war eine Exzentrikerin. Wie eine Magierin schüttelte sie überraschende Satzkonstruktionen aus den Ärmeln ihrer Robe, als seien es weiße Kaninchen. Sie war Mitte vierzig, ausgesprochen attraktiv, mit einzelnen weißen Haarsträhnen, die unter ihrer feuerroten Kappe hervorragten.

Als Privatperson mochte Rachel sie sehr gerne. Richterin Beckett war eine unerschütterliche Feministin, die bewiesen hatte, dass eine unverheiratete Frau, die sich auf ihre Karriere konzentrierte, durchaus erfolgreich sein konnte. Mitten in einer von Männern dominierten Arbeitswelt hatte sie nichts von ihrer Fraulichkeit eingebüßt. Rachel respektierte und bewunderte sie. Vielleicht, so hoffte sie, trat sie eines Tages in ihre Fußstapfen.

Während Rachel ihr Gesuch vortrug, stülpte Richterin Beckett die Lippen vor. Ein schlechtes Zeichen. Mit einem ihrer perfekt manikürten Nägel klopfte sie auf den Tisch und ließ den Blick zwischen dem Angeklagten und Zackary hin- und herwandern.

„Die Verteidigung erklärt also, dass der Angeklagte den Verlust der Sachwerte ersetzen wird, und beantragt, ihn nach dem Jugendstrafrecht zu behandeln sowie eine Verbringung in eine Strafanstalt auszusetzen.“

„Euer Ehren, ich bitte aufgrund der familiären Vorgeschichte von einer Haftstrafe abzusehen. Mr Muldoon erklärt sich bereit, die Verantwortung für seinen Stiefbruder zu übernehmen. Die Verteidigung geht davon aus, dass die Situation des Angeklagten stabilisiert wird und die Verbringung meines Mandanten in eine Strafanstalt nicht geeignet ist, ihn für einen Fehler büßen zu lassen, den er von ganzem Herzen bereut.“

Richterin Beckett warf einen Blick auf Nick. „Trifft es zu, junger Mann, dass Sie die Straftat tief bereuen?“

Nick zuckte mit den Schultern und sah Rachel mürrisch an. „Sicher, ich …“ Ihr mahnender Blick machte ihm deutlich, sich die Chance nicht zu verderben. „Es war dumm von mir.“

„Zweifellos“, stimmte ihm Richterin Beckett zu. „Mr Haridan, wie steht der Vertreter der Anklage dazu?“

„Die Staatsanwaltschaft ist nicht gewillt, die Anklage fallen zu lassen, Euer Ehren. Wir stimmen allerdings zu, den Angeklagten als Jugendlichen zu behandeln. Sollte er die Namen der Mittäter preisgeben, so bestünde die Möglichkeit, ganz auf die Anklage zu verzichten.“

„Er soll also die Namen derer preisgeben, die er fälschlicherweise als seine Freunde betrachtet?“ Richterin Beckett sah Nick herausfordernd an. „Würden Sie das in Erwägung ziehen?“

„Nein, Ma’am.“

Sie flüsterte etwas Unverständliches und deutete auf Zackary. „Erheben Sie sich bitte, Mr Muldoon.“

Zackary folgte ihrer Aufforderung. „Ma’am. Euer Ehren.“

„Mr Muldoon, sind Sie davon überzeugt, Ihren Bruder aus allen Schwierigkeiten heraushalten zu können und ihn zu einem verantwortungsbewussten Staatsbürger zu machen?“

„Ich … ich weiß nicht. Aber ich wünsche mir, es wenigstens versuchen zu dürfen.“

Beckett klopfte mit den Fingern auf den Tisch. „Nehmen Sie wieder Platz. Miss Stanislaski, das Gericht schließt die Möglichkeit einer Haftstrafe nicht grundsätzlich aus …“

„Euer Ehren …“

Beckett unterbrach Rachel mit einer Handbewegung. „Ich bin noch nicht fertig. Das Gericht setzt eine Kaution in Höhe von fünftausend Dollar fest. Außerdem wird dem Angeklagten eine vorläufige Bewährungsfrist von zwei Monaten gewährt. Sollte er in diesem Zeitraum jeglichen Kontakt mit Mitgliedern der Cobras meiden und sich keine Straftat zuschulden kommen lassen, ist das Gericht bereit, die Bewährungsstrafe zu verlängern.“

„Euer Ehren“, platzte Haridan heraus, „auf welche Weise können wir sichergehen, dass der Angeklagte in diesen zwei Monaten die Auflagen erfüllt?“

„Indem wir Mr Muldoon eine Person zur Seite stellen, die ihn bei seiner Aufgabe unterstützt und dem Gericht laufend einen Bericht über Mr LeBeck zukommen lässt. Maßnahmen zur Resozialisierung, Mr Haridan, müssen nicht unbedingt auf Strafanstalten beschränkt bleiben.“

Rachel lächelte Haridan siegessicher zu. „Danke, Euer Ehren.“

„An die Adresse der Verteidigung gerichtet – es wird mir ein Vergnügen sein, jeden Freitagnachmittag gegen drei Uhr Ihren Bericht in Empfang zu nehmen.“

Rachel wurde kreidebleich und rang nach Luft. „Meinen Bericht? Euer Ehren, soll das etwa heißen, dass ich diese Aufsichtsperson sein soll?“

„Exakt das meine ich, Miss Stanislaski. Ich glaube, ein Mann und eine Frau als Autoritätspersonen werden auf Mr LeBeck einen positiven Einfluss haben.“

„Ich stimme Ihnen zu, Euer Ehren. Aber ich bin keine Sozialarbeiterin. Diese Aufgabe …“

„Sie dienen der Rechtspflege, Miss Stanislaski, also erfüllen Sie Ihre Aufgabe.“ Sie klopfte mit dem Hammer auf den Tisch. „Der nächste Fall.“

Rachel verließ sprachlos den Gerichtssaal.

„Da hast du den Salat“, murrte ihr Bruder, als sie einen der Nebenräume betraten. „Ich werde nicht zulassen, dass du für diesen Burschen den Babysitter spielst. Beckett kann dich nicht zwingen.“ Wütend packte er sie am Ellbogen.

„Hör auf, an mir herumzuzerren, Alex. Ich muss nachdenken.“

„Was gibt es da nachzudenken? Es ist schlimm genug für mich, mit ansehen zu müssen, wie du diese Kerle verteidigst. Jetzt spielst du auch noch die große Schwester für sie. Lass die Finger davon.“

„Ich entscheide selbst, was ich tun werde. Und jetzt raus hier.“

„Rachel, ich hätte gute Lust …“

„Sie sollen verschwinden, haben Sie nicht verstanden?“ Zackarys Stimme klang bedrohlich.

Alex drehte sich abrupt um. Er hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. „Die Sache geht Sie nichts an.“

„Das sehe ich anders.“

Rachel stellte sich zwischen die beiden Streithähne. „Hört sofort auf damit. Muldoon, ist das Ihre Art, Verantwortung zu übernehmen, indem Sie Schlägereien provozieren?“

Zackary behielt Alex im Auge. „Ich sehe es eben nicht gern, wenn Frauen so grob behandelt werden.“

„Ich kann auf mich selbst achtgeben.“ Sie wandte sich ihrem Bruder zu. „Und du willst Polizist sein? Du führst dich auf wie ein Raufbold. Ich werde versuchen, den Vorschlag des Gerichts erfolgreich umzusetzen.“

„Verdammt, Rachel …“ Alex wandte sich Zackary zu. „Wenn Sie mir oder meiner Schwester Schwierigkeiten machen sollten, werden Sie in Zukunft Ihre Zähne in einem Glas auf dem Nachttisch aufbewahren.“

„Schwester?“ Zackary wechselte den Blick von Alex zu Rachel. Ja, die Familienähnlichkeit war eigentlich nicht zu übersehen. Beide sahen sehr gut und irgendwie auch verwegen aus.

Das änderte natürlich eine ganze Menge. Seine Wut verrauchte. „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es um einen Familienstreit ging.“

Rachel seufzte und küsste ihren Bruder auf die Wange. „Geh jetzt, Alexej, und mach Jagd auf die wirklich schweren Jungs.“

Alex gab auf. Es war unmöglich, mit seiner Schwester zu diskutieren. Er änderte die Taktik und fixierte Zackary. „Seien Sie auf der Hut, Muldoon, denn ich werde Sie während der ganzen Zeit nicht aus den Augen lassen.“

„Sie sind jederzeit in meiner Bar willkommen, Officer. Der erste Drink geht auf Kosten des Hauses.“

Alex brummte etwas Unverständliches und ging zur Tür. Er drehte sich noch einmal um und rief Rachel auf Ukrainisch etwas zu. Er lächelte, schüttelte den Kopf und verließ schließlich den Raum.

„Übersetzung?“, fragte Zackary.

„Er sagte nur, dass wir uns am Sonntag sehen. Haben Sie die Kaution bezahlt?“

„Ja, sie werden ihn gleich freilassen. Es sieht so aus, als sei es Ihrem Bruder nicht ganz geheuer, dass Sie mit mir und Nick zu tun haben.“

„Es ist der Wille des Gerichts. Fangen wir also an.“

„Womit?“

„Wir holen jetzt unser Mündel hier raus, und Sie bringen ihn in Ihrem Apartment unter.“

Nick war alles andere als begeistert von seiner Situation. „Wenn Sie kein besseres Urteil herausschinden konnten, dann sollten Sie wieder auf die Universität gehen. Ich habe Rechte, und das erste ist, dass ich Sie feuern kann“, ließ er seine schlechte Laune an Rachel aus.

„Das steht Ihnen frei, LeBeck.“ Rachel warf einen Blick auf die Uhr. „Sie können jederzeit einen anderen Anwalt nehmen. Aber in meiner Funktion als gerichtlich bestellte Aufpasserin können Sie mich nicht feuern. In den nächsten beiden Monaten sind wir aneinander gebunden.“

„Quatsch, wenn Sie und diese blöde Richterin glauben, ihr könntet mir in die Suppe spucken …“

Zackary hob drohend den Arm, aber Rachel hielt ihn zurück. „Jetzt hör mir mal zu, du bemitleidenswerter, launischer kleiner Idiot! Du hast die Wahl: Du kannst in den nächsten acht Wochen wie jeder andere Mensch leben oder für drei Jahre in den Knast gehen. Mir ist es herzlich egal, für welchen Weg du dich entscheidest. Du bildest dir also ein, ein ganz harter Kerl zu sein, ja? Und natürlich weißt du genau, was abgeht, ja? Dann lass dir eines von mir gesagt sein: Du sitzt noch nicht eine Woche ein, und die Kunde von deinem hübschen Gesicht wird im ganzen Bau die Runde gemacht haben. Deine Mithäftlinge werden sich auf dich stürzen wie der Hund auf den Knochen. Und dann wirst du ganz schnell bereit sein, mit uns zu kooperieren.“

Rachel stellte zufrieden fest, dass ihre Worte genau ins Schwarze getroffen hatten. Der wütende Blick aus Nicks Augen wich – genauso wie alle Farbe aus seinem Gesicht. Er schwieg verbissen.

„So, und jetzt muss ich mich noch um andere Dinge kümmern.“ Sie wandte sich an Zackary. „Gegen sieben werde ich vorbeikommen.“

„Ich halte das Essen warm.“ Er lächelte und hielt Rachels Hand fest, bevor sie gehen konnte. „Danke. Und das meine ich ernst.“

Sie hätte es mit einem Schulterzucken abgetan. Aber sein Händedruck war fest wie eine Eisenklammer, und sie konnte die Schwielen an seiner Hand spüren.

„Sie sind schwer in Ordnung, Frau Anwältin.“ Er grinste. „Für eine Tussi.“ Damit schob er Nick in das Taxi, kletterte hinter ihm hinein und winkte Rachel noch einmal zu, bevor der Wagen anfuhr.

„Mit dem Idioten hat sie recht, Nick“, sagte er zu seinem Bruder. „Aber auf jeden Fall hast du dir eine Anwältin mit umwerfenden Beinen ausgesucht.“

Als sie zehn Minuten später bei Nicks Bude ankamen, fragte sich Zack, warum Nick sich ausgerechnet ein Zimmer in dieser Gegend genommen hatte. An jeder Straßenecke lungerten zwielichtige Gestalten herum, Drogendeals gingen ganz offen am helllichten Tag über die Bühne, Prostituierte posierten provozierend, um den nächsten Kunden anzulocken. Der Gestank von Müll, gemischt mit menschlichen Ausdünstungen, stieg Zack beißend in die Nase. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen, als sie zusammen über den aufgerissenen Bürgersteig gingen und das alte, heruntergekommene Backsteingebäude, über und über beschmiert mit Graffiti, betraten.

Zack schwieg beharrlich, während sie die knarrenden Treppen in die dritte Etage hochstiegen. Er ignorierte die Geräusche, die durch die geschlossenen Türen drangen – Geschrei, Weinen, lautes Scheppern – und den Gestank im Treppenhaus.

Nicks Mobiliar bestand aus einem Bett, dessen Matratze in dem verrosteten Eisenrahmen durchhing, einer zerkratzten Kommode und einem einzelnen wackeligen Stuhl. Poster von Heavy-Metal-Bands waren an die schmutzigen Wände gepinnt – ein mitleiderregender Versuch, dem schäbigen Raum eine persönlichere Note zu verleihen.

Zacks Wut entlud sich in einer Reihe saftiger Flüche, bevor er Nick mit Vorwürfen überschüttete. „Was, zum Teufel, hast du mit dem Geld gemacht, das ich dir jeden Monat geschickt habe, solange ich auf See war? Mit dem Gehalt, das du angeblich als Stadtkurier verdient hast? Du lebst mitten auf einer Müllhalde, und was noch schlimmer ist – du selbst hast es dir ausgesucht, hier zu leben!“

Niemals hätte Nick zugegeben, dass sein ganzes Geld in die Kasse der Cobras gewandert war. Genauso wenig, wie er zugegeben hätte, wie beschämt er war, dass Zack sah, wie und wo er lebte. „Das geht dich einen Dreck an“, knurrte er. „Das ist mein Zimmer, genauso wie das mein Leben ist. Du hast dich doch die ganze Zeit woanders rumgetrieben, oder? Nur weil du keine Lust mehr hast, auf irgendeinem Zerstörer durch die Weltgeschichte zu gondeln, brauchst du dir nicht einzubilden, dass du einfach zurückkommen und hier den Ton angeben kannst.“

„Ich bin seit zwei Jahren wieder zurück. Ein Jahr davon habe ich damit zugebracht, mich um unseren alten Herrn zu kümmern, bis er gestorben ist. Du hast dir nicht mal die Mühe gemacht vorbeizukommen.“

Eine neuerliche Welle der Scham überkam Nick. Und die enttäuschende Gewissheit, dass Zack nicht verstehen würde. „Er war nicht mein alter Herr.“

Nur mit äußerster Anstrengung zwang Zack sich, nicht auszurasten. „Ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, dir klarzumachen, dass er getan hat, was er konnte.“

„Woher willst ausgerechnet du das wissen können?“, fragte Nick voller Verachtung. „Du warst doch nicht hier. Du hast deinen Weg gewählt, Bruder“, sagte er sarkastisch. „Und ich meinen.“

„Was uns wieder an den Ausgangspunkt bringt. Pack deine Sachen zusammen und lass uns gehen.“

„Ich lebe hier, und das ist …“ Weiter kam er nicht. Er fühlte sich von Zacks großen Händen so fest gegen die Wand gepresst, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Zacks Gesicht war direkt vor seinem, und Nick sah in seine harten, unerbittlichen Augen.

„Für die nächsten zwei Monate lebst du bei mir, ob es dir passt oder nicht. Und jetzt hör mit dem Mist auf und such deine Klamotten zusammen.“ Er gab Nick wieder frei. „Du hast zehn Minuten. Und heute Abend deine erste Schicht.“

Gegen sieben Uhr erging Rachel sich in der Fantasie, wie sie in ein duftendes, warmes Schaumbad stieg, mit einem Glas gekühlten Weißweins und einem guten Buch. Es half ihr dabei, die Unbequemlichkeiten in der überfüllten U-Bahn zu ignorieren.

An der Haltestelle kämpfte sie sich zum Ausgang durch und legte die kurze Strecke bis zu Zackarys Bar durch Regen und Wind zu Fuß zurück.

Sie öffnete die schwere Glastür und betrat den großen, holzgetäfelten Raum. Ihr Blick fiel auf die spiegelblanke Mahagonitheke und die lederbezogenen, burgunderroten Barhocker. Zierliche Tische, die im ganzen Raum verteilt waren, boten zahlreichen Gästen Platz. Es roch nach Whiskey, Bier, Zigaretten und gebratenen Zwiebeln. Aus einer Musikbox ertönte ein Blues, der die Gespräche der Gäste überdeckte.

Zwei Kellnerinnen in weißen Hosen und Matrosenhemden bahnten sich ihren Weg durch die Reihen der Kundschaft. Rachel war einigermaßen beruhigt. Also immerhin keine Netzstrümpfe und großzügigen Dekolletés.

Zackary stand hinter der Theke und zapfte gerade ein Bier. Auch er ähnelte in seinem blauen Rollkragenpulli einem Matrosen. Die Schiffsglocken und Anker, mit denen die Bar dekoriert war, passten sehr gut zu diesem Image.

Zackary in Uniform an Bord eines Schiffes, das Gesicht in den Wind gedreht … Dieses Bild fand sie so faszinierend, dass sie es schnellstens verdrängte.

Schließlich war sie keine Träumerin, und schon gar nicht eine Romantikerin. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die in eine Bar gingen und sich zu irgendeinem an Land gegangenen Seemann mit breiten Schultern und rauen Händen hingezogen fühlten.

Sie war als Vertreterin des Gerichts hier, das war der einzige Grund. Und wie unangenehm es auch sein mochte, sich für die nächsten zwei Monate mit Zackary Muldoon abgeben zu müssen – sie würde ihre Pflicht erfüllen.

Aber wo war Nick?

„Möchten Sie einen Tisch, Miss?“

Rachel betrachtete die Blondine, die ein großes Tablett mit Sandwiches und Bier balancierte. „Nein, danke. Ich gehe an die Bar. Ist es hier immer so voll?“

Die Bedienung sah sich erstaunt im Raum um. „Voll? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Sie lachte auf und ging weiter, während Rachel sich der Bar näherte. Sie stellte sich zwischen zwei besetzte Stühle und wartete darauf, dass Zackary sie bemerkte.

„Na, mein Schatz …“ Der Mann zu ihrer Linken hatte ein molliges, freundliches Gesicht. Er verschob den Hocker, um seine Nachbarin besser sehen zu können. „Kann mich nicht erinnern, Sie hier schon einmal gesehen zu haben.“

„Ganz richtig beobachtet.“ Sie lächelte den Mann, der alt genug war, ihr Vater zu sein, an.

„So hübsche junge Damen wie Sie sollten hier nicht allein herkommen.“ Er klopfte dem Mann, der rechts von Rachel saß, auf die Schulter. „He, Harry, wir sollten der Dame einen Drink spendieren.“

Harry, der an seinem Bier nippte und in ein Kreuzworträtsel vertieft war, nickte kaum merklich. „Klar, Pete. Bestell schon. Ich brauche ein Wort mit sechs Buchstaben für Gefahr oder Wagnis.“

Rachel sah auf. Zackary betrachtete sie regungslos. Sie spürte, wie es ihr eiskalt den Rücken hinunterlief. „Risiko“, flüsterte sie.

„Klar! Besten Dank!“ Harry sah Rachel erfreut an. „Der erste Drink geht auf meine Rechnung. Was möchten Sie haben, Süße?“

„Pouilly-Fumé.“ Zackary stellte ein Glas Weißwein auf die Theke. „Und der erste geht auf Kosten des Hauses.“ Er hob eine Augenbraue. „Ist es Ihnen genehm, Frau Anwältin?“

„Ja, danke.“

„Zackary bekommt immer die hübschesten Frauen ab“, erklärte Pete seufzend. „Gib mir noch einen aus, Junge. Das ist das Mindeste, was du für mich tun kannst, nachdem du mir meine Freundin ausgespannt hast.“ Er blinzelte Rachel zu.

Rachel lächelte ihm zu. „Und wie oft hat er Ihnen Ihre Freundinnen ausgespannt, Pete?“

„Ein- bis zweimal die Woche. Es ist geradezu demütigend. Erinnerst du dich an Rosemary, Zackary? Sie ist jetzt verheiratet und erwartet ihr zweites Kind.“

Zackary wischte mit einem Tuch über die Theke. „Sie hat mir das Herz gebrochen.“

„Ich kenne keine Frau, die dein Herz auch nur angekratzt, geschweige denn gebrochen hätte.“ Die blonde Bedienung kam mit einem leeren Tablett zurück. „Zwei Weißwein, Hausmarke, und einen Scotch.“

„Du hast mir das Herz gebrochen, Lola.“ Zackary stellte Gläser auf das Tablett. „Oder weshalb, glaubst du, bin ich wohl zur Marine gegangen?“

„Weil du genau wusstest, wie gut dir die weiße Uniform steht.“ Sie lachte, nahm das Tablett und sah Rachel an. „Nehmen Sie sich vor diesem Burschen in Acht, er ist gefährlich.“

Rachel nippte an ihrem Weinglas und versuchte, die verführerischen Düfte, die aus der Küche kamen, zu ignorieren. Ihr Magen knurrte erbarmungslos. „Haben Sie eine Minute Zeit?“, fragte sie Zackary. „Ich müsste mir einmal ansehen, wie Sie wohnen.“

Pete verdrehte die Augen. „Wie macht er das bloß?“

„Die Frauen scheinen auf mich zu fliegen. Ich kann mich kaum noch wehren.“ Er gab einem Kellner das Zeichen, ihn zu vertreten.

Rachel trank ihr Glas leer. „Ich bin die Strafverteidigerin seines Bruders“, klärte sie Pete auf.

„Im Ernst?“ Pete schien sehr beeindruckt. „Sie sind es also, die ihm den Knast erspart hat?“

„Vorerst. Muldoon?“

„Bin schon unterwegs.“ Zackary verließ die Bar und führte Rachel durch eine Schwingtür in die Küche.

Ihr Blick fiel sofort auf einen in Weiß gekleideten Zweimetermann, der gerade ein delikates Sandwich zusammenstellte.

„Rio, das ist Rachel Stanislaski, Nicks Anwältin.“

„Freut mich. Der Junge wird es noch zum Weltmeister im Geschirrspülen bringen. Die paar Teile, die er Abend für Abend zerbricht, sind kaum der Rede wert.“

Nick, der vor einer riesigen Spüle stand, die Arme in das Abwaschwasser getaucht, drehte sich um und murrte. „Wenn du meinst, anderer Leute Dreck waschen wäre ein akzeptabler Job, dann kannst du meinetwegen …“

„Keine unflätigen Bemerkungen in Gegenwart einer Dame.“ Rio hob ein großes Messer und teilte das Sandwich in vier Teile. „Meine Mutter sagte immer, nur beim Abwaschen findet der Körper genug Zeit, um die Seele zu entdecken. Also wasch weiter, mein Junge.“

Rio lächelte, als er bemerkte, wie sehnsüchtig Rachel das Sandwich anstarrte. „Vielleicht sollte ich Ihnen ein warmes Essen zubereiten. Wenn Sie das Geschäftliche erledigt haben, könnten Sie es zu sich nehmen.“

„Mach ihr ein Chili con carne, Rio.“ Zackary gab Rachel ein Zeichen, ihm zur Treppe zu folgen. „Das hier wird nicht lange dauern, dann kann sie essen, und danach bringe ich sie nach Hause.“

Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, fand sie sich auf Tuchfühlung mit Zackary in dem engen Treppenhaus. „Das ist wirklich sehr nett, Mr Muldoon, aber ich brauche weder ein Essen noch eine Eskorte.“

„Sie werden beides bekommen, ob Sie es brauchen oder nicht.“ Er drehte sich zur Seite und drängte sie dabei leicht gegen die Wand. Dann nahm er eine Strähne von Rachels Haar zwischen die Finger. „Ihre Haare sind ja ganz feucht.“

Sie wehrte seine Hand ab. „Es regnet.“

„Ja, ich kann den Regen förmlich an Ihnen riechen, Rachel.“

Sie konnte nicht vor und nicht zurück. „Sie stehen mir im Weg, Muldoon. Sparen Sie sich Ihren irischen Charme für jemanden, bei dem er wirkt, und machen Sie endlich Platz“, fauchte sie.

„Nur einen Moment noch. War das Russisch, was Sie heute Ihrem Bruder nachgerufen haben?“

„Ukrainisch“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

„Aha, Ukrainisch also.“ Er schien darüber nachzudenken. „Bis in die Sowjetunion bin ich nie gekommen.“

„Ich auch nicht“, erwiderte sie trocken. „Könnten wir diese Unterhaltung vielleicht verschieben, bis ich mir Ihren Wohnbereich angesehen habe?“

„Ja, natürlich.“ Mit einer Hand an ihrem Rücken führte er sie weiter die Stufen hinauf. „Es ist nichts Besonderes, aber für Nick ist es ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu dem, was er vorher gewöhnt war. Ich weiß wirklich nicht, warum er …“ Zackary brach ab und blieb auf der oberen Stufe stehen. „Nun, das ist jetzt vorbei.“

Rachel allerdings hatte das unbestimmte Gefühl, dass jetzt alles erst richtig losging.

3. KAPITEL

Rachel nahm ihre neue Aufgabe sehr ernst. Obwohl Nick weiterhin ziemlich missmutig reagierte, kam sie mit den Schwierigkeiten gut zurecht. Am meisten aber beschäftigte sie, dass Zackary Muldoon ständig in ihrer Nähe war. Sie konnte ihn nicht fortschicken, aber auch nicht in seiner Gegenwart arbeiten.

Wenn ich ihn nur irgendwie aus meinem Kopf ausblenden könnte, überlegte sie, als sie nach dem sonntäglichen Essen mit ihrer Familie von der U-Bahn-Station zu ihrem Apartment ging. Das hätte vieles erleichtert. Aber selbst nach einer Woche war sie diesem Ziel nicht einen Schritt näher gekommen.

Er war barsch, ungeduldig und – so nahm sie zumindest an – potenziell gewalttätig. Trotzdem war er bereit, sich für seinen Stiefbruder einzusetzen, Geld, Zeit und Energie zu investieren, um den Jungen wieder auf die richtige Bahn zu lenken. In seiner Freizeit kleidete er sich so lässig, dass man es schon fast als schlampig bezeichnen konnte, doch wann immer Rachel in die Wohnung über der Bar kam, war alles blitzblank aufgeräumt und sauber. Oft berührte er sie, legte die Hand auf ihren Arm, ihre Schulter, in die Mulde an ihrem Rücken, doch immer in durchaus akzeptablen Grenzen, sodass sie bisher noch keinen Grund gehabt hatte, ihn zurückzuweisen.

Er flirtete offen mit den weiblichen Barbesuchern, doch dabei blieb es auch. Er war nie verheiratet gewesen, und auch wenn er jahrelang nicht bei seiner Familie gewesen war, so hatte er doch die Seefahrt aufgegeben, um seinen kranken Vater zu pflegen. Er irritierte und verwirrte sie maßlos. Und irgendwo tief in ihrem Innern verwandelte sich diese Irritation in eine seltsame Hitze, die Rachel, wenn sie ehrlich war, nur als pure Lust bezeichnen konnte.

Sie versuchte, diese Hitze zu ersticken, indem sie sich klarmachte, dass sie nicht der Typ war, der auf Lust reagierte. Natürlich war sie leidenschaftlich. Wenn es um ihre Familie und ihren Ehrgeiz ging. Aber Männer, auch wenn sie deren Gesellschaft durchaus genoss, standen ganz sicher nicht oben auf ihrer Prioritätenliste.

Und Sex noch viel weniger. Genau deshalb war es ja so lästig, dass sie dieses seltsame Prickeln verspürte.

Was für ein Mensch war dieser Zackary Muldoon? War es vielleicht besser, die Antwort darauf nie herauszufinden?

„Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen?“ Zackary stand plötzlich vor ihr und versperrte ihr den Weg.

„Ich … Verdammt, Sie haben mich fast zu Tode erschreckt. Müssen Sie unbedingt vor meiner Wohnung herumlungern?“

„Ich habe Sie überall gesucht. Sind Sie denn nie zu Hause?“

„Muldoon, ist es Ihnen noch nicht aufgefallen? Bei mir folgt eine Party auf die andere.“ Sie stieg die Treppen hinauf und öffnete die Haustür. „Was wollen Sie von mir?“

„Nick hat den Abflug gemacht.“

Rachel blieb abrupt stehen. „Was soll das heißen?“

„Er ist heute Nachmittag aus der Küche verschwunden. Ich suche ihn bereits seit fünf Stunden.“

„Nur keine Panik.“ Rachel ging den Flur entlang zum Fahrstuhl. „Es ist doch erst zehn Uhr. Er wird schon wissen, was er tut.“

„Das ist ja das Problem.“ Sie betraten den Fahrstuhl. „Wir hatten vereinbart, dass er mir sagt, was er vorhat. Ich nehme an, dass er sich mit den Cobras trifft.“

„Ich glaube nicht, dass Nick sein Versprechen so schnell bricht.“ Während sie in den vierten Stock fuhren, überlegte Rachel, wie sie weiter vorgehen konnten. „Wir könnten versuchen, ihn selbst zu finden, oder auch schwerere Geschütze auffahren.“

„Schwerere Geschütze?“

„Alex.“

„Keine Polizei.“ Zackary fasste ihren Arm. „Ich werde ihm nicht die Polizei auf den Hals schicken.“

„Alex ist mein Bruder.“ Sie schüttelte seine Hand ab. „Außerdem bin ich dem Gericht verpflichtet, Zackary. Wenn Nick die Auflagen nicht einhält, kann ich das nicht ignorieren.“

„Ich möchte aber nicht, dass er wieder ins Gefängnis muss, nachdem ich ihn vor einer Woche rausgeholt habe.“

„Wir haben ihn herausgeholt“, verbesserte sie ihn und schloss die Wohnungstür auf. „Wenn Sie meinen Rat und meine Hilfe nicht wünschen, so hätten Sie erst gar nicht zu kommen brauchen.“

Zackary zuckte mit den Schultern und trat ein. „Wir sollten ihn gemeinsam suchen.“

Er betrachtete den Raum, der kaum größer war als der, den Nick gemietet hatte. Sein Blick fiel auf das Sofa, das mit bunten Kissen dekoriert war. An einer Wand hing ein riesiger ovaler Spiegel, dessen Glas dringend einer Erneuerung bedurft hätte. Bücherregale und Dutzende von Fotografien und Skulpturen rundeten das Bild ab.

Zackary fühlte sich völlig fehl am Platz. Er steckte die Hände verlegen in die Taschen und betrachtete die zahlreichen Kerzen. Seine Mutter hatte Kerzen geliebt, erinnerte er sich. Kerzen und Blumen und chinesische Vasen.

„Ich mache uns Kaffee.“ Rachel legte die Handtasche ab und ging in die Kochecke.

Zackary besah sich die Familienfotos an der Wand und setzte sich schließlich auf das Sofa. „Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, für Nick den Vater spielen zu wollen? Sein halbes Leben lang hat er mit mir nichts zu tun gehabt. Er hasst mich.“

„Sie haben richtig gehandelt“, entgegnete Rachel und stellte die Tassen auf den Tisch. „Sie spielen nicht den Vater für ihn. Sie sind sein Bruder. Und er hasst Sie nicht, sondern ist zornig und voller Groll. Das hat mit Hass nichts zu tun. Jetzt hören Sie schon auf mit Ihren Selbstvorwürfen!“ Rachel seufzte. „Haben Sie sich mit Nick gestritten?“

„Nein, das heißt nicht mehr als sonst. Er beschimpft mich, ich gebe ihm Kontra. Er flucht, ich fluche noch lauter. Wir haben uns gestern nach Barschluss unterhalten und noch einen alten Film im Fernsehen angesehen.“

„Das ist doch schon mal ein Fortschritt …“

„Mittags war er in der Küche. Sonntags kommen immer viele Familien zum Essen. Ich dachte, er hätte sich etwas früher zurückgezogen, um ein wenig allein zu sein. Als ich gegen vier Uhr nach ihm sah, war er nicht mehr da. Rio wollte ihn nicht bei mir anschwärzen, also hat er gut eine Stunde lang den Mund gehalten. Ich hatte gehofft, Nick würde einfach nur eine kurze Pause brauchen … Dann habe ich ihn gesucht …“ Zackary trank seinen Kaffee aus und füllte seine Tasse selbst nach. „In den vergangenen Tagen war ich wohl etwas zu streng mit ihm.“

„Hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen. Schließlich haben Sie ihn nicht am Hauptmast aufgehängt, oder?“ Sie konnte sich nicht zurückhalten und legte eine Hand auf seinen Arm. „Lassen Sie mich mit Alex reden.“

Zackary setzte sich widerwillig und stellte die Tasse auf den Tisch. Da er keinen Aschenbecher entdeckte, verkniff er es sich, eine Zigarette anzuzünden.

Er hörte nur mit einem Ohr dem Telefongespräch zu, das Rachel mit ihrem Bruder führte. Diese Frau war ein Energiebündel, das sicherlich voller Leidenschaften steckte. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Tagen beherrschen müssen, sie nicht anzurufen?

Irgendetwas an Rachel faszinierte ihn. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und Zack hatte nicht die geringste Ahnung, ob er diesen Drang schnellstens ersticken oder ihm nachgeben sollte. Allerdings war seine Libido jetzt wirklich das Letzte, mit dem er sich beschäftigen sollte. Schließlich ging es hier um Nick.

Offenbar war Rachels Bruder nicht begeistert, sich einzuschalten. Sie redete hitzig auf Ukrainisch auf ihn ein. Zack griff nach einer kleinen Statuette, die auf dem Kaffeetisch stand, und betrachtete sie mit zusammengezogenen Brauen. Es machte ihn wahnsinnig, wenn sie Ukrainisch sprach.

Aber offenbar hatte sie damit mehr Erfolg. „Tak“, erwiderte sie zufrieden. Alex hatte nachgegeben. „Ich schulde dir was, Alexej.“ Sie lachte, ein herzliches, sattes Lachen, ein Klang, der Zack direkt in die Lenden fuhr. „Na schön, ich schulde dir viel.“ Sie legte den Hörer auf. „Alex sieht sich mit seinem Partner ein wenig um. Er benachrichtigt uns, falls er etwas herausfindet.“

„Dann warten wir einfach?“

„Ja.“ Rachel nahm einen Notizblock vom Schreibtisch. „Um uns die Zeit zu vertreiben, sollten Sie mir etwas über Nicks Werdegang erzählen. Sie sagten, seine Mutter starb, als er ungefähr fünfzehn war. Was ist mit seinem Vater? Hat er danach für Nick gesorgt?“

„Seine Mutter war nicht verheiratet.“ Zackary griff automatisch nach einer Zigarette, dann ließ er den Arm wieder sinken. Rachel hatte die Geste bemerkt und holte aus einer Schublade den einzigen Aschenbecher hervor, den sie besaß.

„Danke.“ Erleichtert zündete er sich eine Zigarette an. „Nadine muss ungefähr achtzehn gewesen sein, als sie schwanger wurde. Der Typ wollte von dem Baby nichts wissen und ließ sie sitzen. So bekam sie Nick und tat ihr Bestes. Eines Tages kam sie in unsere Bar, auf der Suche nach einem Job. Dad hat sie eingestellt.“

„Wie alt war Nick damals?“

„Vier, fünf. Manchmal konnte sie niemanden finden, der während ihrer Arbeitszeit auf den Kleinen aufpasste, also schlug Dad ihr vor, ihn mitzubringen. Ich habe mich dann um ihn gekümmert. Er war ganz in Ordnung.“ Zack lächelte schwach. „Er war still, beobachtete aufmerksam und war ziemlich clever. Er konnte schon lesen, bevor er in die Schule kam. Ein paar Monate danach heirateten Nadine und mein Vater. Dad war gute zwanzig Jahre älter als sie, aber ich vermute, sie beide waren einfach einsam. Meine Mutter war damals schon fast zehn Jahre tot. Also zogen Nadine und der Kleine zu uns.“

„Wie war es für Sie? Für Nick?“

„Es schien ganz gut zu gehen. Himmel, ich war doch selbst noch ein halbes Kind.“ Rastlos geworden, stand er auf und begann, im Zimmer