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Ein fremder Mensch lebt in deinem Haus ... Es ist deine Tochter.
Jenny Malcom ist sich sicher, alles im Griff zu haben. Ihren Job als Ärztin, ihre Rolle als Mutter von drei Teenagern und ihre Ehe. Alles läuft perfekt. Bis zu dem Abend, an dem ihre fünfzehnjährige Tochter nicht nach Hause kommt. Bange Stunden des Hoffens folgen, bis klar wird: Naomi ist spurlos verschwunden. Und plötzlich bricht Jennys perfekt organisierte Welt zusammen. Während die Ermittlungen der Polizei auf Hochtouren laufen, steht die Familie Malcom vor den Trümmern ihres Lebens. Und Jenny beginnt zu ahnen, dass sie ihre Tochter doch nicht so gut kannte, wie sie immer gedacht hat …
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Seitenzahl: 555
JANE SHEMILT
AM ANFANG
WAR DIE SCHULD
Roman
Aus dem Englischen
von Anja Schäfer
Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »Daughter« bei Penguin Books, London.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Jane Shemilt
Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-13685-7
www.blanvalet.de
TEIL EINS
1
DORSET 2010
EIN JAHR DANACH
Die Tage werden kürzer. Äpfel liegen im Gras, ihr Fleisch ist von Krähen zerpickt. Als ich heute Brennholz von dem Stapel unter dem Dachüberstand hole, trete ich auf eine weiche Kugel; sie zerbirst unter meinem Fuß zu Matsch.
November.
Ich friere ständig, aber sie vielleicht noch mehr. Warum sollte ich es behaglich haben? Wie könnte ich?
Am Abend schlottert auch der Hund. Es wird dunkler im Haus; ich zünde Feuer an und fühle mich von den Flammen angezogen. Die Reue beginnt in mir zu lodern, sie brennt und faucht in meinem Kopf.
Hätte ich bloß. Hätte ich bloß zugehört. Hätte ich bloß hingesehen. Könnte ich doch noch einmal neu anfangen – vor genau einem Jahr.
Das ledergebundene Skizzenbuch, das Michael mir geschenkt hat, liegt auf dem Tisch. In der Tasche des Morgenmantels finde ich einen angekauten roten Bleistiftstummel; er sagte, die Vergangenheit zu zeichnen, werde mir helfen. Die Bilder habe ich schon im Kopf: zitternde Finger, die ein Skalpell balancieren, eine Plastikballerina, die sich immerzu im Kreis dreht, ein Stapel Scheine, der ordentlich auf einem Nachttisch im Dunkeln liegt.
Ich schreibe den Namen meiner Tochter auf die erste leere Seite, und darunter zeichne ich die Umrisse zweier schwarzer Pumps, die auf der Seite liegen. Ihre langen Riemchen sind verheddert.
Naomi.
BRISTOL 2009
EIN TAG VORHER
Sie wiegte sich zur Musik auf ihrem iPod, deshalb bemerkte sie mich zuerst nicht. Sie hatte ihr orangefarbenes Tuch umgebunden, überall lagen Schulbücher herum. Ich schloss leise die Hintertür und stellte vorsichtig meine Tasche ab; mit all den Papieren, dem Stethoskop, den Spritzen, Ampullen und Dosen darin war sie schwer. Es war ein langer Tag gewesen – zwei medizinische Eingriffe, Hausbesuche, Schreibtischkram. An die Küchentür gelehnt, beobachtete ich meine Tochter, aber in Gedanken stand mir ein anderes Mädchen vor Augen. Jade lag mit Blutergüssen an den Armen im Bett.
Das war der Chili in meinen Augen gewesen. Elefanten spritzt man Chilisaft in die Augen, um sie abzulenken, wenn man ihr verletztes Bein verarztet. Theo hatte mir davon erzählt. Damals glaubte ich nicht, dass es wirklich funktioniert, aber ich hätte es als Warnung verstehen sollen. Man vergisst leichter, als man denkt, was wirklich zählt.
Während ich Naomi betrachtete, wie sie vor sich hin lächelte, stellte ich mir vor, den Schwung ihrer Wangen zu zeichnen. Ich würde sie mit einem helleren Schatten umranden, so, wie sich das Licht an ihre Wange schmiegte. Mit jedem kleinen Schritt hüpfte ihr der blonde Pony sanft gegen die Stirn. Wenn er sich hob, sah man Schweißperlen an ihrem Haaransatz glitzern. Sie hatte die Ärmel ihres Schulpullis nach oben geschoben; ihr Armband rutschte an der glatten Haut ihres Armes hinauf und hinunter und wieder hinauf und wäre beinahe heruntergefallen. Es freute mich, dass sie es trug; ich hatte gedacht, sie hätte es schon vor Jahren verloren.
»Mum! Ich habe dich gar nicht gesehen. Was denkst du?« Sie zog ihre Ohrstöpsel heraus und sah mich an.
»Ich wünschte, ich könnte so tanzen …«
Ich trat einen Schritt vor, küsste sie schnell auf den samtigen Flaum ihrer Wange und atmete ihren Duft ein. Zitronenseife und Schweiß.
Sie zog den Kopf weg und bückte sich. Mit einer ausweichenden Bewegung, die ihre schnelle flüchtige Anmut zeigte, hob sie ihre Bücher auf. In ihrer Stimme schwang Ungeduld mit: »Nein, ich meine doch meine Schuhe – sieh sie dir an.«
Sie mussten neu sein. Sie waren schwarz, hatten sehr hohe Absätze, und um ihre Füße und ihre schlanken Beine schlangen sich feste Lederriemchen; sie passten nicht zu ihr. Normalerweise trug sie bunte Ballerinas oder Chucks.
»Die Absätze sind unglaublich hoch.« Ich konnte selbst die Kritik in meiner Stimme hören, deshalb versuchte ich, dabei zu lachen. »Nicht wie deine anderen …«
»Ja, so sind sie nicht, oder?« Ihre Stimme klang triumphierend. »Sie sind total anders.«
»Sie müssen ein Vermögen gekostet haben. Ich dachte, du hättest dein Taschengeld schon ausgegeben?«
»Sie sind so bequem! Und sie passen genau.« Als könne sie ihr Glück kaum fassen.
»Du kannst sie aber nicht anziehen, wenn du ausgehst, Süße. Sie sehen viel zu eng an dir aus.«
»Gib zu, dass du neidisch bist. Du hättest sie gern.« Sie lächelte ein kleines schräges Lächeln, das ich noch nie an ihr gesehen hatte.
»Naomi …«
»Du kriegst sie aber nicht. Ich liebe sie. Ich liebe sie fast so sehr wie Bertie.« Beim Sprechen streckte sie die Hand aus, um den Kopf des Hundes zu streicheln. Dann drehte sie sich um und lief langsam und mit lautem Gähnen die Treppe hinauf. Ihre Schuhe machten bei jedem Schritt ein hartes metallisches Geräusch wie von kleinen Hämmern.
Sie war geflohen. Meine Fragen hingen unbeantwortet in der warmen Küchenluft.
Ich goss mir ein Glas von Teds Wein ein. Normalerweise gab Naomi keine Widerworte oder lief einfach hinaus, wenn ich mit ihr sprach. Ich räumte die Arzttasche und die Papiere in eine Ecke der Garderobe und lief durch die Küche, nahm einen Schluck aus meinem Glas, strich Küchenhandtücher glatt. Früher hatte sie mir alles erzählt. Als ich ihren Mantel aufhängte, wurde mein Kopf durch die Schärfe des Alkohols klarer; es gehörte zur Abmachung, und ich hatte schon vor langer Zeit jedes Für und Wider erwogen. Die Sache war simpel: Ich arbeitete in dem Beruf, den ich liebte, und verdiente gutes Geld. Und das bedeutete andererseits auch, dass ich weniger zu Hause war als andere Mütter. Das Gute war, dass die Kinder dadurch ihren Freiraum hatten und unabhängig wurden, was uns schon immer wichtig war.
Ich nahm die Kartoffeln aus dem Schrank. Sie waren von kleinen Erdklumpen umhüllt, und ich wusch sie schnell unter dem Wasserhahn. Nun, da ich darüber nachdachte, fiel mir allerdings auf, dass sie schon seit Monaten nicht mehr mit mir reden wollte. Ted sagte immer, ich solle mir deshalb keine Sorgen machen. Sie sei eben ein Teenager und werde erwachsen. Unter dem eisigen Wasser wurden meine Hände kalt, und ich stellte es ab. Wurde sie erwachsen, oder wurde sie mir fremd? War sie bloß mit den Gedanken woanders, oder war sie verschlossen? Die Fragen schossen mir durch den Kopf, als ich in der Schublade nach dem Kartoffelschäler suchte. Letzten Sommer war eine verängstigte Jugendliche in meiner Praxis gewesen; in die zarte Haut ihrer Handgelenke hatte sie fein säuberlich rote Linien geritzt. Ich verscheuchte das Bild mit einem Kopfschütteln. Naomi war nicht depressiv. Es gab dieses neue Lächeln, das ihre Ungeduld ersetzte. Und gegen die Stille zu Hause spielte sie Theater. Wenn sie mit den Gedanken woanders war, dann nur, weil sie älter wurde, nachdenklicher. Die Schauspielerei hatte sie reifer gemacht. Im letzten Sommer hatte sie ein Praktikum in Teds Labor gemacht und angefangen, sich für Medizin zu interessieren. Als ich die Kartoffeln schälte, kam mir der Gedanke, dass ihr das neue Selbstbewusstsein bei Vorstellungsgesprächen entscheidend zugutekommen konnte. Vielleicht sollte ich feiern. Die Hauptrolle bei der Schulaufführung erhöhte ihre Chancen auf einen Studienplatz in Medizin. Die Hochschulen mochten Studierende mit vielseitigen Interessen; sie konnten ein Ausgleich sein für den Stress als angehende Ärztin. Für mich war es die Malerei; sie war ein Gegengewicht zum Stress als Allgemeinmedizinerin. Als ich den Wasserhahn wieder öffnete, drehte sich der braune Schlamm im Becken mehrmals im Kreis und verschwand. Ich war fast fertig mit Naomis Porträt und spürte, dass es mich zu sich rief. Wenn ich malte, lebte ich in einer anderen Welt; Sorgen flogen davon. Meine Staffelei stand oben auf dem Dachboden, und ich hätte mir gewünscht, öfter dorthin entfliehen zu können. Ich warf die Kartoffelschalen in den Mülleimer und holte die Würstchen aus dem Kühlschrank. Seit Theo klein war, aß er am liebsten Würstchen mit Kartoffelbrei. Ich konnte auch morgen noch mit Naomi reden.
Später rief Ted an, um mir Bescheid zu sagen, dass er noch in der Klinik zu tun hatte. Die Zwillinge kamen ausgehungert nach Hause. Ed hob zur Begrüßung wortlos die Hand und nahm sich einen Teller mit Toasts mit nach oben. Ich hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, und stellte mir vor, wie er die Musik anstellte und mit einem Toast in der Hand und geschlossenen Augen aufs Bett fiel. Ich dachte daran zurück, wie es für mich mit siebzehn gewesen war – dass man gehofft hatte, niemand würde anklopfen oder, schlimmer noch, hereinkommen und mit einem reden wollen. Theo, in dessen blassem Gesicht Sommersprossen blitzten, posaunte seine Erfolge des Tages heraus und aß dabei einen Keks nach dem anderen, bis die Dose leer war. Naomi kam mit nassen Haaren, die ihr in dicken Strähnen auf die Schultern fielen, durch die Küche zurück. Ich schob ihr eilig Sandwiches in den Rucksack, weil sie losmusste, und stand anschließend ein paar Minuten an der offenen Tür und lauschte ihren langsamen Schritten, die immer schwächer wurden, als sie die Straße hinunterlief. Das Schultheater war nur eine Straße entfernt, aber sie war trotzdem immer spät dran. Sie hatte aufgehört, überall hinzurennen; das Stück raubte ihr alle Energie.
»Mit erst 15 Jahren spielt Naomi Malcolm die Maria mit einer Reife, die ihrem Alter weit voraus ist.« – »In ihrer faszinierenden Darstellung von Maria verbindet Naomi Unschuld mit Sexualität; ein Stern am Theaterhimmel.« Dass sie müde und gereizt war, wurde durch solche Kommentare auf der Schulwebsite wieder aufgewogen. Zwei Vorstellungen noch nach heute Abend: Donnerstag und Freitag. Bald würden wir alle zur Normalität zurückkehren.
DORSET 2010
EIN JAHR DANACH
Ich weiß, dass heute Freitag ist, weil die Fischfrau zum Cottage kommt. Ich ducke mich unter die Stufen, als draußen ihr Lieferwagen vorfährt; sein Weiß schimmert schmutzig durch den alten Glaseinsatz der Haustür. Die Frau mit ihrer untersetzten, erwartungsvollen Haltung klingelt und wartet. Ihr Kopf bewegt sich auf und ab, als sie die Fenster absucht. Wenn sie mich sieht, muss ich die Tür öffnen, Worte formulieren, lächeln. Zu nichts davon fühle ich mich heute in der Lage. Eine kleine Spinne krabbelt über meine Hand. Als ich den Kopf noch weiter einziehe, atme ich Staub vom Teppich ein, und nach einer Weile rumpelt der Lieferwagen wieder davon. Heute ist ein Tag zum Alleinsein. Ich halte mich versteckt und warte, dass die Stunden vorübergehen. Freitage tun immer noch weh.
Nach einer Weile stehe ich auf und finde das Buch, das ich gestern Abend auf dem Kamin liegen gelassen habe. Ich überblättere das Bild von ihren Schuhen und zeichne auf der nächsten Seite die kleinen, sich überschneidenden Kreise eines Silberrings.
BRISTOL 2009
DIE NACHT DES VERSCHWINDENS
Ich kniete auf dem Küchenboden und öffnete meine Arzttasche, um anhand einer Liste zu erkennen, welche Medikamente ich brauchte. Das war einfacher, wenn ich nicht in der Praxis war; wenn ich mir die Zeit dafür nahm, wurde ich nicht so häufig unterbrochen. Ich kramte gerade in den Tiefen der verschiedenen Fächer aus Leder und merkte nicht, dass sie leise in die Küche kam. Sie lief an mir vorbei, und ihre Plastiktüte stieß gegen meine Schulter. Mit dem Finger auf der Liste blickte ich auf; Paracetamol und Pethidin gingen mir aus. Naomi sah zu mir herunter, ihre blauen Augen wirkten nachdenklich. Selbst mit der dicken Schicht Make-up, die sie schon für das Stück aufgelegt hatte, sah man ihre dunklen Augenringe. Sie wirkte erschöpft. Nicht der passende Augenblick für die Frage, die ich ihr stellen wollte.
»Du hast es bald geschafft, Süße. Heute ist die vorletzte Vorstellung«, sagte ich aufmunternd.
Aus ihrer Tüte quoll Kleidung; die Absätze ihrer Schuhe hatten von innen kleine Löcher hineingebohrt.
»Dad und ich kommen morgen.« Ich setzte mich auf die Fersen und sah zu ihr auf, musterte ihr Gesicht. Der schwarze Eyeliner ließ sie viel älter als fünfzehn aussehen. »Ich bin gespannt, ob es anders sein wird als am ersten Abend.«
Sie sah mich mit leerem Blick an und setzte ihr neues Lächeln auf, bei dem sie nur den einen Mundwinkel hob, sodass es wirkte, als lächele sie in sich hinein.
»Wann bist du zurück?« Ich gab auf und erhob mich zögerlich; nie kam ich dazu, etwas fertig zu machen. »Heute ist Donnerstag. Da holt Dad dich ab.«
»Ich hab ihm schon vor Ewigkeiten gesagt, er soll sich keinen Stress machen. Es ist einfacher, wenn ich mit Freunden nach Hause gehe.« Sie klang teilnahmslos. »Wir sind mit dem Essen gegen Mitternacht fertig. Shan bringt mich dann zurück.«
»Gegen Mitternacht?« Sie war ja jetzt schon müde. Unbeabsichtigt wurde meine Stimme lauter. »Morgen hast du wieder eine Vorstellung, danach gleich die Party. Heute geht ihr nur essen. Halb elf.«
»Das ist nicht lang genug! Warum müssen für mich immer andere Regeln gelten als für alle anderen?« Sie begann, mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen; der kleine Ring, den ihr ein Junge aus der Schule geschenkt hatte, schimmerte im Licht.
»Dann elf.«
Sie starrte mich an. »Ich bin kein Baby mehr.« Mich überraschte die Wut in ihrer Stimme.
Wir konnten nicht den ganzen Abend diskutieren. Sie stand bald auf der Bühne und musste sich beruhigen; ich musste vor dem Abendessen noch die Medikamente fertig sortieren.
»Halb zwölf. Keine Sekunde später.«
Schulterzuckend drehte sie sich um und beugte sich über Bertie, der alle viere von sich streckte und sich im Schlaf an den Ofen kuschelte. Sie küsste ihn, zog ihn zärtlich an den Ohren; er bewegte sich kaum, nur sein Schwanz klopfte auf den Boden.
Ich hielt sie am Arm fest. »Er ist alt, Süße. Er braucht seinen Schlaf.«
Mit verärgertem Gesicht wand sie ihren Arm aus meinem Griff.
»Entspann dich, alles ist gut. Du bist der Star dort, denk dran.« Ich umarmte sie kurz, aber sie drehte ihr Gesicht weg. »Nur noch ein Tag.«
Ihr Handy klingelte, und sie trat einen Schritt zurück. Ihre Hand ließ sie auf dem Abtropfbrett liegen, als sie sich meldete. Sie hatte lange Finger. Die winzigen Sommersprossen darauf waren hellgolden und zogen sich wie brauner Zucker bis zum zweiten Fingerknöchel. Die Nägel waren angekaut wie bei einem Kind – ein Kontrast zu dem hübschen Ring. Ich nahm ihre Hand zwischen meine und küsste sie kurz. Sie sprach mit Nikita; ich glaube, sie hat es nicht einmal bemerkt. Sie war immer noch so jung, dass sich ihre Fingerknöchel für meine Lippen wie kleine Knubbel anfühlten. Das Gespräch war vorbei, und sie drehte sich um. An der Tür winkte sie kurz und lief hinaus. Ihre Art der Wiedergutmachung für ihr gereiztes Auftreten. »Tschüs, Mum«, sagte sie.
Später schlief ich versehentlich ein. Gegen elf hatte ich Wasser zum Kochen aufgesetzt für ihre Wärmflasche und mich zum Warten aufs Sofa gelegt; ich musste fast sofort weggedöst sein. Als ich aufwachte, hatte ich einen steifen Nacken und einen schalen Geschmack im Mund. Ich stand auf, strich meinen Pulli glatt und stellte den Wasserkocher wieder an.
Er war kalt, als ich ihn berührte. Ich sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachts. Ich hatte nicht gehört, wie sie gekommen war. Mir wurde übel. So spät war sie noch nie zurück gewesen. Was war passiert? Einen Moment lang rauschte es qualvoll in meinen Ohren, dann schaltete sich der Verstand ein. Natürlich, sie war vorn hereingekommen und sofort nach oben ins Bett gegangen. Ich hatte eine Etage darunter in der Küche geschlafen und nicht gehört, wie sie die Tür geschlossen hatte. Sie musste ihre Schuhe leise auf der vorderen Terrasse ausgezogen haben und lautlos, mit schlechtem Gewissen nach oben geschlichen sein, vorbei an unserem Schlafzimmer und weiter nach oben in ihr Zimmer. Ich streckte mich, während ich auf den Wasserkocher wartete; sie konnte auch jetzt noch ihre Wärmflasche gebrauchen. Ich wollte sie einwickeln und neben sie unter die Decke legen; sie würde die Wärme im Schlaf spüren.
Ich ging langsam nach oben, vorbei an den Zimmern der Jungs. Ed schnarchte plötzlich, als ich vorbeilief, und ich zuckte erschrocken zusammen. Weiter, hoch in Naomis Zimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und ich schlüpfte hinein. Es war stockfinster und stickig und duftete nach Erdbeershampoo und noch etwas anderem, bitterem, mit Zitronennote. Ich tastete mich zu ihrer Kommode vor, holte ein T-Shirt heraus und ließ die Wärmflasche hineingleiten. Vorsichtig schlich ich zu ihrem Bett und trat dabei halb auf ihre verstreuten Kleider. Ich streckte die Hand aus, um ihr die Decke wieder überzulegen, aber sie war flach und glatt.
Das Bett war leer.
Ich schaltete das Licht an. Strumpfhosen quollen aus offenen Schubladen, Handtücher waren auf dem Boden verteilt genauso wie Schuhe. Auf ihrem Nachttisch lag ein Stringtanga auf einem roten Spitzen-BH, ein schwarzer Halbschalen-BH auf ihrem Stuhl. Nichts davon kam mir bekannt vor; hatten sich auch ihre Freundinnen hier umgezogen? Normalerweise war Naomi äußerst ordentlich. Auf dem Schminktisch war eine Flasche Flüssig-Make-up umgekippt; die Spitze des Lippenstifts lag in der kleinen beigefarbenen Pfütze. Ihr grauer Schulpulli war achtlos auf den Boden geworfen worden, die weiße Bluse steckte noch darin.
Die Bettdecke hatte eine leichte Kuhle, da, wo sie gesessen hatte, aber das Kopfkissen war ganz glatt.
In meiner Magengrube breitete sich Panik aus. Ich stützte mich an der Wand ab, und die Kälte schien durch meinen Arm in meine Brust zu kriechen. Dann hörte ich, wie die Haustür zwei Etagen weiter unten ins Schloss fiel.
Gott sei Dank. Danke, Gott.
Ich legte die Wärmflasche unter die Bettdecke und schob sie so weit nach unten, dass sie ihre Füße wärmen würde. In den leichten Schuhen musste sie mittlerweile eiskalte Füße haben. Dann lief ich nach unten, ohne auf meine Geräusche zu achten. Ich würde nicht sauer sein, heute nicht. Ich würde ihr einen Kuss geben, den Mantel nehmen und sie nach oben schicken. Sauer konnte ich morgen sein. Als ich um die Treppenbiegung lief, bremste ich ab und sah Ted. Ted, nicht Naomi. Er blieb stehen und sah zu mir herauf. Er trug seinen Mantel noch, und die Tasche stand neben seinen Füßen.
»Sie ist noch nicht zurück.« Ich sprach atemlos; es fiel mir schwer, die Worte hervorzubringen. »Ich dachte, du wärst sie.«
»Was?« Er sah erschöpft aus. Seine Schultern waren gebeugt, unter seinen Augen lagen tiefe Ringe.
»Naomi ist noch nicht zu Hause.« Ich ging auf ihn zu. Ein leichter Brandgeruch hing an ihm; wahrscheinlich vom Kauter, mit dem blutende Gefäße durch Hitze verödet werden. Er kam direkt aus dem OP-Saal.
Seine Augen waren genauso meerblau wie Naomis und sahen mich überrascht an. »Ihr Stück war um halb zehn zu Ende, oder?« Ein Anflug von Panik streifte sein Gesicht. »Gott, heute ist Donnerstag.«
Er hatte also vergessen, dass sie donnerstags nicht mehr abgeholt werden wollte, aber er wusste ohnehin nie, was bei den Kindern los war. Er fragte nie danach. Ich spürte, wie langsam Wut in mir hochstieg. »Sie läuft inzwischen mit ihren Freunden nach Hause. Das hat sie dir auch erzählt.«
»Natürlich. Das hatte ich vergessen. Na gut.« Er sah erleichtert aus.
»Aber heute Abend war eine Ausnahme.« Wie konnte er so gelassen sein, während mein Herz vor Angst pochte? »Sie ist mit den anderen Schauspielern noch essen gegangen.«
»Da komme ich jetzt nicht mit.« Er hob die Schultern. »Sie ist also mit ihren Freunden weg? Vielleicht haben sie so viel Spaß, dass sie noch geblieben sind.«
»Ted, es ist zwei Uhr durch …« Die Zornesröte stieg mir ins Gesicht. Er musste doch auch sehen, dass da etwas nicht stimmte.
»So spät schon? Puh, das tut mir leid. Die OP dauerte ewig. Ich hatte gehofft, du würdest schon schlafen.« Er breitete entschuldigend seine Hände aus.
»Wo zur Hölle ist sie?« Ich starrte ihn an und wurde laut. »So was macht sie doch sonst nicht. Sie sagt immer Bescheid, auch wenn sie nur fünf Minuten später kommt.« Als ich die Worte aussprach, fiel mir auf, dass es schon lange nicht mehr so war. Aber sie war auch noch nie so spät dran gewesen. »In Bristol läuft einer rum, der Frauen vergewaltigt, hab ich in den Nachrichten gehört …«
»Beruhige dich, Jen. Mit wem war sie denn heute genau unterwegs?« Er sah zu mir hinab, und ich sah seinen Widerwillen. Er hatte keine Lust auf die ganze Sache, er wollte bloß ins Bett.
»Ihre Freunde aus der Theater-AG – Nikita und James und die anderen. Sie waren nur essen, nicht auf einer Party.«
»Vielleicht sind sie danach noch in die Disco gegangen.«
»Da käme sie doch niemals rein.« Sie hatte noch immer runde Wangen; sie hatte das Gesicht einer Fünfzehnjährigen, wirkte manchmal sogar jünger, vor allem wenn sie müde war. »Sie ist noch nicht alt genug.«
»Ach, das machen doch alle.« Ted sprach langsam und müde. Er lehnte mit seinem langen Körper an der Wand im Flur. »Die haben falsche Ausweise. Erinnere dich daran, als Theo …«
»Aber nicht Naomi.« Dann fielen mir die Schuhe ein, dieses Lächeln. War es doch möglich? Disco?
»Lass uns noch ein bisschen warten.« Teds Stimme klang ruhig. »Das ist doch normal und immer noch ziemlich früh, wenn man gerade Spaß hat. Lass uns noch bis halb drei warten.«
»Und was dann?«
»Bis dahin ist sie bestimmt zurück.« Er stieß sich von der Wand ab, fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und lief zur Treppe am Ende des Flures, die hinunter in die Küche führte. »Und wenn nicht, rufen wir Shan an. Naomi hast du sicher schon angerufen?«
Das hatte ich nicht. Gott weiß, warum nicht. Ich hatte nicht einmal nach einer Nachricht von ihr geschaut. Ich tastete nach meinem Handy, aber es steckte nicht in meiner Tasche. »Wo zur Hölle ist mein verdammtes Handy?«
Ich schob Ted zur Seite und rannte nach unten. Es war wohl herausgefallen und lag halb versteckt unter einem zerknautschten Kissen auf dem Sofa. Ich riss es an mich. Keine Nachricht. Ich tippte ihre Nummer.
»Hi, hier Naomi. Sorry, ich mach grad was total Wichtiges und kann nicht rangehen. Aber … äh …, wenn du mir deine Nummer hinterlässt, meld ich mich später zurück. Versprochen. Bye-bye!«
Ich schüttelte den Kopf und brachte nichts heraus.
»Ich brauche einen Drink.« Ted ging langsam zum Getränkeschrank. Er schenkte zwei Gläser Whiskey ein und hielt mir eins hin. Ich spürte den Alkohol in meiner Kehle brennen und die gesamte Speiseröhre hinunterlaufen.
Viertel nach zwei. Noch eine Viertelstunde, bis wir Shan anrufen würden.
Ich wollte nicht warten. Ich wäre am liebsten aus dem Haus gerannt, die Straße runter zum Schultheater gelaufen, hätte die Türen aufgerissen und ihren Namen in die staubige Luft gerufen. Wenn ich sie dort nicht gefunden hätte, wäre ich die Hauptstraße entlanggelaufen, vorbei an der Uni, und wäre an den Türstehern vorbei in alle Diskotheken gestürmt und hätte in die tanzende Menge gebrüllt …
»Gibt es noch irgendwas zu essen?«
»Wie bitte?«
»Jenny, ich habe den ganzen Abend operiert. Ich habe das Abendessen in der Kantine verpasst. Haben wir noch irgendwas zu essen?«
Ich öffnete den Kühlschrank und sah hinein. Ich erkannte nichts. Rechtecke und Quadrate. Meine Hände fanden Käse und Butter. Die kalten Butterklumpen zerrissen das Brot. Schweigend nahm Ted mir alles aus der Hand. Er schmierte sich ein perfektes Sandwich und schnitt die Kruste ab.
Während er aß, fand ich an der Pinnwand am Schrank auf einem pinkfarbenen Post-it Nikitas Nummer. Auch sie meldete sich nicht. Das Handy lag bestimmt in ihrer Tasche. Sie hatte sie unter den Tisch geschoben, damit sie tanzen konnten – in der Disco, in die sie irgendwie reingekommen waren. Alle anderen wollten nach Hause, alle lehnten an der Wand und gähnten, aber Naomi und Nikita tanzten zusammen und hatten ihren Spaß. Keiner hörte Nikitas Handy in der Tasche unter dem Tisch. Shan würde genauso wach liegen und warten. Ihre Scheidung von Neil war erst ein Jahr her; für sie war das hier sicher noch schlimmer.
Halb drei.
Ich wählte Shans Nummer, und während ich wartete, musste ich daran denken, dass sie mir erst vor einer Woche erzählt hatte, Nikita vertraue ihr immer noch alles an. Ich hatte ein stechendes Gefühl der Eifersucht verspürt. Heute war ich froh, dass Nikita ihrer Mutter immer noch alles erzählte. Shan würde genau wissen, wo wir sie abholen konnten.
Eine schläfrige Stimme meldete sich. Sie musste eingeschlafen sein, genau wie ich.
»Hallo Shan.« Ich versuchte, so normal wie möglich zu klingen. »Es tut mir leid, dass ich dich wecke. Hast du eine Ahnung, wo sie sind? Wir holen sie gerne ab, blöderweise …«, ich machte eine Pause und versuchte zu lachen, »… hat Naomi vergessen, mir zu sagen, wohin sie gegangen sind.«
»Einen Moment.« Ich sah sie vor mir, wie sie sich aufsetzte, sich durchs Haar fuhr und dabei auf den Wecker auf ihrem Nachttisch sah. »Noch mal, bitte.«
Ich holte Luft und bemühte mich, langsam zu sprechen. »Naomi ist noch nicht zurück. Sie müssen nach dem Essen noch irgendwo hingegangen sein. Hat Nikita gesagt, wohin?«
»Das Essen ist morgen, Jen.«
»Nein, morgen ist die Party.«
»Es ist beides morgen. Nikita ist hier. Sie ist müde; sie schläft schon, ich habe sie schon vor Stunden abgeholt.«
Ich wiederholte blödsinnig: »Vor Stunden?«
»Direkt nach dem Stück. James und Kate habe ich unterwegs zu Hause abgesetzt.« Es entstand eine kleine Pause, dann sagte sie leise: »Es gab kein Essen.«
»Aber das hat Naomi mir erzählt.« Mein Mund war trocken. »Sie hat ihre neuen Schuhe angezogen. Sie sagte …«
Ich klang wie ein Kind, das unbedingt etwas haben will, obwohl die Eltern Nein gesagt haben. Sie hatte die Schuhe und eine Tasche mit Kleidung mitgenommen. Wie war es möglich, dass sie nicht essen gegangen waren? Shan musste sich irren; vielleicht war Nikita nur nicht eingeladen gewesen – genau wie James und Kate. Es entstand eine längere Pause.
»Ich frage mal Nikita«, sagte sie. »Ich ruf dich gleich zurück.«
Ich stand vor einem Tor, das gerade mit leisem Klicken ins Schloss gefallen war. Dahinter lag der Ort, an dem Kinder in Sicherheit schlafen und ihre Arme und Beine arglos auf dem Laken ausbreiten; der Ort, an dem man nicht um halb drei nachts eine Freundin anruft.
Die Küchenstühle waren kalt und hart. Ted war weiß im Gesicht. Er dehnte seine Fingerknöchel, bis sie knackten. Ich hätte ihn gern gebeten, damit aufzuhören, aber ich konnte den Mund nicht öffnen, weil ich sonst hätte schreien müssen. Ich ging eilig ans Telefon, als es klingelte, und sagte erst einmal gar nichts.
»Es gab kein Essen, Jenny.« Shan klang leicht außer Atem. »Alle sind nach der Aufführung nach Hause gegangen. Tut mir leid.«
In meinem Kopf setzte ein schwacher Summton ein und überspielte die Stille, die sich nach ihren Worten ausbreitete. Alles drehte sich, es war, als ob ich nach vorn kippte oder die Erde zurück. Ich klammerte mich an die Tischkante.
»Kann ich mit Nikita sprechen?«
An der winzigen Pause nach meiner Frage konnte ich erkennen, wie weit ich mich schon von dem Tor entfernt hatte, das hinter mir ins Schloss gefallen war. Shan klang zögerlich.
»Sie schläft schon wieder.«
Sie schlief? Na und? Nikita war zu Hause, in Sicherheit. Wir hatten keinen Schimmer, wo unsere Tochter sich aufhielt. Eine Welle der Wut durchbrach meine Angst.
»Wenn Nikita etwas weiß, irgendetwas, das wir nicht wissen, und Naomi in Gefahr ist …« Mir schnürte sich die Kehle zu. Ted nahm mir das Telefon aus der Hand.
»Hallo Shania.« Pause. »Ich weiß, wie unangenehm das für Nikita ist …« Er klang ruhig, in seiner Stimme lag eine Spur Autorität. Genauso sprach er mit den Assistenzärzten, wenn sie ihn anriefen und in einem neurochirurgischen Fall um Rat fragten. »Wenn Naomi nicht bald nach Hause kommt, müssen wir die Polizei rufen. Je mehr Informationen wir haben …« Eine erneute Pause. »Danke. Ja. Dann sehen wir uns in ein paar Minuten.«
Die Jungen schliefen in ihren Zimmern. Ich beugte mich in die warme Atemluft um ihre Köpfe. Theo lag vergraben unter seiner Bettdecke; seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und fühlten sich steif an, als ich ihm einen Kuss gab. Eds schwarzer Pony war feucht; selbst im Schlaf wirkten seine Augenbrauen wie die Flügel einer Amsel. Als ich mich aufrichtete, sah ich mich im Spiegel. Das Licht einer Straßenlaterne, das durchs Fenster fiel, erhellte mein Gesicht, das wirkte, als gehöre es einer viel älteren Frau. Meine Haare waren dunkel und ohne Kontur. Ich zerrte mir Eds Bürste durchs Haar.
Als wir zum Schultheater kamen, hielt Ted an, und wir stiegen aus.
Ich weiß nicht warum. Ich weiß noch immer nicht, warum wir dich suchen mussten. Glaubten wir wirklich, wir würden dich dort finden? Du würdest auf der Bühne liegen und schlafen? Glaubten wir, wir könnten dich wecken, und du würdest lächeln und dich steif und schläfrig räkeln und uns erklären, das Umkleiden habe zu lange gedauert? Dachten wir, wir könnten dich in die Arme schließen und nach Hause bringen?
Die Glastüren waren verschlossen. Sie gaben etwas nach, als ich versuchte, sie an den Griffen aufzuziehen. Im Foyer brannte ein Nachtlicht, und in der Bar leuchteten die ordentlich aufgereihten Flaschen. Ein zerrissenes rot-gelbes Programmheft lag auf dem Boden direkt vor der Tür; ich konnte die roten Buchstaben erkennen, die untereinander »West« und »Story« ergaben, und das Bild von einem Mädchen in einem schwingenden Rock.
Ted fuhr vorsichtig, obwohl er müde sein musste. Er hatte meine Sitzheizung angeschaltet. Ich schwitzte und aus den tiefen Ledersitzen stieg Übelkeit empor. Ich sah ihn an. Er war gut darin. Er war gut darin, sicher zu wirken statt verzweifelt. Als es Naomi bei ihrer Geburt nicht gut ging, hatte seine Ruhe meine innere Panik besänftigt. Er hatte die Betäubung für den Kaiserschnitt organisiert und war da, als sie ihren kleinen, blutverschmierten Körper heraushoben. Ich wollte nicht daran denken. Eilig sah ich aus dem Fenster. Die Straßen glänzten und waren leer. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt und benetzte die Fenster. Was hatte sie angehabt? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ihren Regenmantel? Und ihr Tuch? Ich sah hinauf zu den Bäumen am Straßenrand, als ob der orangefarbene Stoff sich womöglich in den nassen schwarzen Zweigen verfangen haben könnte.
Ted klopfte energisch an Shanias Haustür. Die Nacht lag ruhig und still da; wäre jemand vorbeigefahren, hätte er ein ganz normales Ehepaar gesehen. In unseren warmen Mänteln und sauberen Schuhen warteten wir ruhig und mit im Regen gesenkten Köpfen. Vermutlich wirkten wir völlig unauffällig.
Shania wirkte vorbereitet. Sie sah ruhig und ernst aus, als sie uns umarmte. Es war warm im Haus, der Gasofen brannte in ihrem aufgeräumten Wohnzimmer. Nikita kauerte mit einem Kissen vor sich auf dem Sofa, ihre Beine in einer Pyjamahose mit Hasenmuster hatte sie angewinkelt. Ich lächelte sie an, aber meine Lippen fühlten sich verkrampft an und zitterten an den Mundwinkeln. Shan nahm dicht neben ihr auf dem Sofa Platz, wir setzten uns gegenüber, und Ted griff nach meiner Hand.
»Ted und Jenny würden dich jetzt gern nach Naomi fragen, Kleine.« Shania legte ihren Arm um Nikita, die nach unten blickte und eine dicke Locke zwischen den Fingern drehte.
Ich stand auf und setzte mich neben sie auf die andere Seite, aber sie rückte ein wenig von mir weg. Ich versuchte, meiner Stimme einen sanften Klang zu geben.
»Wo ist sie, Nik?«
»Ich weiß es nicht.« Sie beugte sich nach vorn und vergrub ihr Gesicht im Kissen; ihre Stimme war gedämpft. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.«
Shanias und mein Blick trafen sich über ihrem Kopf.
»Dann fange ich an«, sagte Shan. »Ich erzähle Jenny, was du mir erzählt hast.« Nikita nickte. Ihre Mutter fuhr fort: »Naomi hat Nikita erzählt, dass sie sich nach dem Stück mit jemandem treffen wollte, mit einem Mann.«
»Mit einem Mann?« Teds Stimme fuhr durch die Luft, als ich Atem holte. »Mit was für einem Mann?« Aus seinem Mund klang das Wort gefährlich. Kein Junge. Älter. Mein Herz begann so laut zu pochen, dass ich Angst hatte, Nikita könne es hören und sich weigern, uns noch irgendetwas zu erzählen.
»Sie hat gesagt …«, begann Nikita zögerlich, »… sie hat gesagt, dass sie jemanden kennengelernt hat. Jemanden, der sexy ist.«
Ich stellte beide Beine auf und wandte mich ihr zu, um ihr in die Augen sehen können: »Sexy? Das hat Naomi gesagt?«
»Das ist doch okay, oder? Sie haben mich gefragt.« Nikita zog die Augenbrauen zusammen, ihr stiegen Tränen in die Augen.
»Natürlich«, beschwichtigte ich sie.
Aber es war nicht okay. Ich hatte noch nie gehört, dass sie dieses Wort benutzt hatte. Wir hatten über Sex gesprochen, aber obwohl ich mich fieberhaft zu erinnern versuchte, konnte ich nicht mehr sagen, wann das gewesen war. Beziehungen, Sex, Verhütung – all das schien Naomi nie sonderlich interessiert zu haben. Oder etwa doch? Hatte ich da etwas nicht mitbekommen?
»War er … hat sie …« Ich tastete mich durch einen Wald aus Möglichkeiten. »War es jemand aus eurer Schule?«
Nikita schüttelte den Kopf. Ted übernahm die Regie. Er blieb ungezwungen, gelassen, als sei das alles gar nicht von Belang.
»Dieser Mann. Sie hat sich doch bestimmt vorher schon mal mit ihm getroffen, oder?«
Nikita ließ ihre Schultern ein wenig sinken und hörte auf, mit ihren Haaren zu spielen. Teds Gelassenheit übertrug sich auf sie, aber es versetzte mir einen wütenden Stich, dass ihm die ganze Sache so leichtfiel. Ich konnte kaum das Zittern in der Stimme unterdrücken.
»Ja. Ich glaub, er war manchmal im Theater.« Sie blickte nach unten. »Also hinten.«
»Hinten?« Wieder klang er nicht drängend.
»Ja, da, wo Leute gewartet haben. Vielleicht.« Sie sah auf, und in ihren dunklen Augen lag ein Zögern. »Ich hab’s nicht genau gesehen.«
»Wie sah er aus?«, fragte ich schnell.
»Weiß ich nicht.« Nikita sah mich nicht an. Es entstand eine Pause. »Dunkle Haare vielleicht?«
Sie rückte auf dem Sofa näher an Shan heran und schloss die Augen. Ich glaubte nicht, dass sie uns noch etwas erzählen würde, aber Ted stellte eine weitere Frage.
»Und heute Abend? Was hat sie dir zu heute Abend erzählt?«
Es herrschte Stille. Nikita saß völlig reglos da. Dann stand Shan auf. »Sie ist müde.« Ihre Stimme klang entschieden. »Sie muss jetzt wieder ins Bett.«
»Sag es uns, Nikita, bitte.« Ich berührte sie leicht am Arm, vorsichtig. »Bitte. Bitte sag uns, was sie gesagt hat.«
Nun sah sie mich an. In ihren braunen Augen lag Überraschung. Die Mutter ihrer besten Freundin war sonst nur jemand in der Ferne, jemand, der viel um die Ohren hatte, fröhlich war und herumwuselte. Sie hatte ihr Leben und ihre Familie im Griff. Sie bettelte nicht.
»Sie hat gesagt …«, Nikita zögerte einen Sekundenbruchteil, »sie hat gesagt: ›Wünsch mir Glück.‹«
2
DORSET 2010
EIN JAHR DANACH
Aus Herbst wird Winter. Morgens stemmt sich die Stille kalt gegen mein Gesicht.
Ich lausche, obwohl ich nicht weiß, worauf. Ich sollte inzwischen wissen, dass die Geräusche ausbleiben, die ich so lange für selbstverständlich hielt: die gedämpften Schritte nackter Füße, der Wasserkocher in der Ferne, das Gemurmel von Radiostimmen und das Klirren von Kaffeetassen auf dem Badewannenrand. Die Geräusche einer einzelnen Person sind leise, verhalten, vereinzelt. Sie klingen aus in die Stille. Ich öffne das Fenster, und der sanft wogende Atem des Meeres strömt ins Zimmer wie etwas, das lebt.
Als ich ins Bad gehe, berühre ich ihre Zimmertür. Sie hat sich dieses Zimmer ausgesucht, als sie klein war. Natürlich gehörte es ihr nie wirklich, denn bis vor ein paar Monaten haben wir hier nur Ferien gemacht, aber für uns alle war dies ihr Zimmer. Als Kind tat sie so, als wäre das kleine runde Fenster unter dem Strohdach ein Bullauge und ihr Bett ein Schiff. Die Polizei hat die Matratze mitgenommen und das ganze Bettzeug. Das Holz der Tür fühlt sich kalt und feucht an. Ted hat das Blut vom Boden geschrubbt; seit meiner Ankunft war ich noch nicht hier drin.
Die Spiegelungen vom Fenster umspielen meine Hände, als ich im Badewasser liege. Als es an der Tür klingelt, steige ich eilig heraus, schlinge mir ein Handtuch um, werfe mir den Bademantel über. Wie versteinert bleibe ich oben an der Treppe stehen. Durch die Glasfenster der Haustür erkenne ich einen Mann in Uniform. Mein Herz pocht so schnell, dass mir schwindlig wird, und ich klammere mich ans Geländer. Dies könnte der Augenblick sein, in dem ich erfahre, dass man im Schlamm eines Ackers etwas gefunden hat: einen weichen, vermoderten Schuhabsatz vielleicht, das Schimmern eines silbernen Armbands, das Weiß eines Zahns. Er könnte mir nichts erzählen, an das ich nicht schon selbst gedacht hätte, aber ich bleibe reglos stehen, als hätte mich eine Kugel getroffen. Dann sehe ich über seiner Jacke etwas Rotes, eine sperrige Tasche. Eine Lieferung. Als ich die Tür öffne, reicht der Mann mir die Sendung: die kleinen Pinsel aus dem Kreativladen in Bristol, die ich bestellt habe. Auf der Fußmatte liegt schon eine Postkarte mit einem Berg in Wales aus Teds großer Sammlung. Seine Art, Kontakt zu halten. Er hat wie immer nichts darauf geschrieben. Ich setze mich an den Küchentisch, und mein Herzschlag wird langsamer. Vor mir liegt das Skizzenbuch. Ich ziehe es zu mir heran und schlage die nächste Seite auf. Als die Polizei damals vor der Haustür stand, in Schwarz und Weiß, mit gefütterten Jacken und Dienstmarken, war ihr Verschwinden offiziell. Es war noch dunkel, aber es musste schon fast Morgen gewesen sein, vielleicht vier oder fünf Uhr in der Frühe.
Der Bleistift fühlt sich rau an; wo er angekaut ist, kann ich die Späne fühlen. Ich zeichne ein kleines Oberteil mit Kapuze und schraffiere die Falten mit kurzen grauen Strichen.
BRISTOL 2009
DIE NACHT DES VERSCHWINDENS
Der Polizist an der Haustür war Mitte fünfzig, seine farblosen Augen versanken in weichen Hautfalten. Welchen Gesichtsausdruck er auch immer normalerweise trug, jetzt lag darüber die Fassade professioneller Besonnenheit. Allerdings musterten seine Augen flink mein Gesicht und verrieten seine Unruhe. Hinter ihm stand eine kleine Frau mit braunem Haar, festem französischem Zopf und tadellosem, rotem Lippenstift. Ich glaubte, unterdrückte Wut zu spüren. Vielleicht hatte sie extra aufstehen, die enge Uniform anziehen und das dicke Make-up auflegen müssen.
»Doktor Malcolm?« Die Stimme des Mannes klang bewusst neutral.
Zu Hause fühlte ich mich nicht als Doktor; ich war die Mutter meiner Kinder, die Frau meines Mannes, aber wenn dieser Polizist in mir eine ebenbürtige Berufstätige sah, gab er sich vielleicht mehr Mühe.
»Ja.« Ich trat zurück, um ihn hereinzulassen.
»Ich bin Constable Steve Wareham, und das ist Constable Sue Dunning.«
Er nahm seinen Hut ab; auf seinem schütteren grauen Haar zeichnete sich ein dünner, runder Abdruck ab. Er gab mir die Hand und sprach leise. Er drückte sein Bedauern aus, aber nicht die Art von Bedauern, die ich befürchtet hatte. Ich hatte Angst gehabt, er würde sagen, der Verlust tue ihm leid. Die Frau war barscher. Sie nickte mir zu, verschränkte aber die Hände hinter ihrem Rücken, als wolle sie mich nicht berühren; ich war die Sorte Frau, deren Kind nicht nach Hause kommt.
Ich führte sie in die Küche. Wir waren gerade von Shan zurückgekommen, und ich musste die Uhr im Auge behalten. Es war jetzt mehr als vier Stunden her, seit Naomi hätte nach Hause kommen sollen, und ich wollte ihnen sofort von dem Mann erzählen, dessen Schatten sich an der hellen Küchenwand abzuzeichnen schien. Innerlich schrie ich sie an, sie sollten sich beeilen. Fahrt los. Vielleicht kriegt ihr ihn noch. Er fährt mit ihr im Regen durch eine endlose Straße, er geht in ein Haus, er verschließt die Tür, er dreht sich um und sieht sie an, sie weint. Nein, natürlich nicht, sie weint nie. Beeilt euch!
Ted übernahm das Reden; er erzählte von Anfang an, wie sie es verlangt hatten. Sie wollten alles erfahren, und das Gespräch dauerte eine Stunde. Sie fragten erst nach ihrem Laptop, dann nach ihrer Geburtsurkunde und ihrem Pass. Sie probierten es erneut auf ihrem Handy, aber diesmal war nicht die Mailbox zu hören, nicht einmal ein Freizeichen. Der Akku war leer. Naomis Handy war häufig aus, das hatte nichts zu bedeuten. Als Steve Wareham sagte, sie hätten ihr Handy verfolgen können, wenn es aufgeladen gewesen wäre, rang ich mit einer Woge hilfloser Angst und Wut.
Ich gab ihnen das Schulfoto vom letzten Halbjahr. Ich starrte ein paar Sekunden darauf. Es war erst ein paar Monate alt, aber sie sah darauf so viel jünger aus. Ich hatte das Gefühl, eine andere Person mit breitem Lächeln zu sehen. Ihre hellen Haare waren zum Zopf gebunden, ihr Gesicht strahlte. Mir kam die kleine Pfütze flüssiges Make-up in den Sinn. Vor der Aufführung hatte sie nicht wie das Kind auf dem Foto ausgesehen. Ob sie Hobbys hatte? Vielleicht schon. Ich wusste es nicht. Ich arbeitete schließlich den ganzen Tag, ich konnte nicht alles wissen. Der Polizist hob kurz eine Augenbraue. Welche Schule, welcher Hausarzt, welcher Zahnarzt? (Zahnarzt? Wie bitte, Unterlagen vom Zahnarzt? Der kurze Schmerz, der Teds Gesicht durchzuckte, offenbarte, dass er dasselbe dachte wie ich.) Schulfreunde? Namen? Jungs? Kein Freund, nein. Jemand, der hinten im Theater gewartet hatte. Er hatte dunkle Haare, und sie fand ihn sexy. Er hatte sie bei sich. Vielleicht tat er ihr in ebendiesem Moment etwas an, hatte seine Hände um ihren Hals gelegt. Vielleicht zwang er sie zu Boden, riss ihr die Kleider vom Leib, legte ihr die Hand auf den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen, zwang sie unter sich. Ich presste mir selbst die Finger in den Mund und biss darauf, um nicht zu schreien.
Die beiden schrieben sich alles auf.
Constable Sue Dunning reichte mir eine Vermisstenmeldung, die ich ausfüllen sollte. Sie sagte, es sei zu früh, um von einer Entführung zu sprechen, es gebe keinerlei Hinweise darauf. Meine Hand zitterte, daher schrieb ich langsam. Sie redeten weiter mit mir, stellten Fragen. Größe? Etwa 1,68 m. Gewicht? Fünfzig Kilo. Ja, sie war dünn. Nein, nicht magersüchtig, nur hibbelig; sie aß viel.
Hast du jetzt Hunger? Du hattest kein Abendbrot, oder? Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, weil ich dachte, ihr würdet essen gehen. Du hättest Bescheid sagen sollen, ich hätte dir etwas gemacht.
Welche Kleidung sie trug, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte? Sie kam mit ihrer Tasche die Treppe runter, und ich glaube, sie trug ihren Regenmantel – oder ihre Schuljacke? Vielleicht ihren kleinen grauen Kapuzenpulli. Lassen Sie mich überlegen. Ich kann in ihrem Kleiderschrank nachsehen und es Ihnen sagen.
Ich hoffe, es war der Regenmantel; es regnet, du wirst nass.
Sie wollte sich ein anderes Kleid anziehen für … für nachher … und andere Schuhe. Schwarze Schuhe mit Riemchen, Pumps. Außergewöhnliche Schuhe. Sie könnten ein Geschenk gewesen sein, oder? Ein Trick, Bestechung. Sie trug ein Bettelarmband. Das könnte vielleicht wichtig sein. In der Tüte, die sie dabeihatte, waren kleine Löcher. Ich weiß nicht, war sie von Tesco? Von Waitrose?
Versuch nicht, in diesen Schuhen zu rennen, du brichst dir die Knöchel. Zieh sie aus und renne dann.
Gab es Schwierigkeiten zu Hause? Ist sie schon einmal vermisst gewesen? Hatte sie schon einmal versucht, sich etwas anzutun? Die Fragen hörten nicht auf. Ich war erschöpft. Sie hatten gar nichts kapiert. Sie spielte in dem Stück mit. Sie war natürlich kaputt, manchmal gereizt, aber insgesamt ging es ihr gut. Und die ganze Zeit lauschte ich auf ihre Schritte; sie konnte jeden Augenblick mit einer passenden Entschuldigung hereinkommen und über den ganzen Wirbel staunen. Alles würde zu einem bloßen Albtraum verblassen.
Steve Wareham redete noch immer. »Bevor wir Weiteres unternehmen, müssen wir das Grundstück absuchen.«
Ich starrte ihn an. Glaubte er uns denn gar nichts von dem, was wir ihm erzählt hatten?
»Wie bitte?« Teds Stimme klang ungläubig. »Jetzt?«
»Sie wären überrascht.« Steve Wareham wollte nicht herablassend klingen. »Sie glauben gar nicht, wie viele vermisste Kinder wir zu Hause finden; Kinder verstecken sich in Kleiderschränken, wollen nur etwas beweisen.«
Sie sahen sich oben um, Ted zeigte ihnen, wo es langging. Sie suchten auf dem Dachboden, in Kammern und Schränken. Sie gingen systematisch und ruhig vor, ließen die Jungs schlafen, störten sie nicht. Sie sahen im Schuppen nach und in den Mülltonnen. Ich wartete in der Küche, die Hand am Telefon. Als sie fertig waren, sahen sie müde aus.
»Jemand von der Polizei wird später noch einmal zu Ihnen kommen.« Es war Sue Dunning ein wenig unangenehm. »Sie müssen als Verdächtige ausgeschlossen werden. Routinemaßnahme.«
Es brauchte ihr nicht unangenehm zu sein. Sie waren gründlich; das hieß, sie würden sie finden.
Ted fragte, was jetzt weiter passierte, und sie ratterte eine lange Liste herunter: Vermisstenmeldung aufgeben, Schule und Theater kontaktieren, Nikita als Zeugin befragen, auf Facebook nachsehen, ihren Laptop und die Handys ihrer Freunde auf Nachrichten hin untersuchen, die Lehrer befragen, Diskotheken, Kneipen, Restaurants, Tankstellen, Bahnhöfe, Seehäfen, Flughäfen abklappern. Interpol. Und sollte sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht auftauchen, die Medien informieren.
Flughäfen? Medien? Ted legte mir den Arm um die Schulter.
»Eine Sache noch. Wir brauchen ihre Zahnbürste«, sagte Steve Wareham ruhig. »Nur für den Fall.«
Die rosa Zahnbürste in dem gelben Plastikbecher in ihrem Bad sah seltsam kindisch aus. Sue Dunning schob sie in einen kleinen Plastikbeutel, und sie gehörte ihr nicht mehr. Es war die DNA einer Vermissten. Nur für den Fall.
»Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.« Steve Wareham erhob sich ungelenk mit der Hand im Kreuz. Die Falten in seinem Gesicht wirkten tiefer. Ich fragte mich, wie es wohl war, Eltern wie uns gegenüberzusitzen, und einen winzigen Augenblick lang tat er mir leid.
»Die Frühschicht beginnt um sieben, wir werden sie ausführlich informieren. Es wird eine Besprechung mit dem Kriminalhauptkommissar geben – auch wenn wir bisher keinerlei Anhaltspunkte haben, dass hier eine Straftat vorliegt.« Er holte Luft und fuhr fort: »In der Zwischenzeit würde es uns sehr helfen, wenn Sie hier im Haus nach Hinweisen suchen, für den Fall, dass Sie etwas übersehen haben. Gehen Sie in Gedanken alles durch, was in den letzten Tagen und Wochen passiert ist. Alles, was im Hinblick auf Ihre Tochter anders war als sonst. Schreiben Sie es auf, und berichten Sie uns davon. Wir kommen am späten Vormittag noch einmal vorbei. Ich nehme jetzt erst einmal den Laptop mit.« Er lächelte uns an, als er ihn an sich nahm, und sein Gesichtsausdruck wurde milder. »Michael Kopje wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Er ist der Kontaktbeamte in dieser Region. Er wird in ein paar Stunden bei Ihnen sein.«
In ein paar Stunden. Was war mit den nächsten fünf Minuten und den fünf Minuten danach?
Sie hatten ein Foto. Das würde helfen.
Aber man sah darauf nicht, dass ihre Haare so hell leuchten, dass sie aussehen wie Strähnen aus Gold.
Sie hat ein kleines Muttermal direkt unter ihrer linken Augenbraue.
Sie duftet ganz leicht nach Zitrone.
Sie kaut an ihren Fingernägeln.
Sie weint nie.
Finden Sie sie.
TEIL ZWEI
3
DORSET 2010
EIN JAHR DANACH
Der entfernte Verkehrslärm, der morgens aus dem Dorf durch die Straße fließt, ist abgeebbt. Der Vormittag gleitet hinüber in einen tristen Nachmittag, und ohne Vorwarnung lässt sich um mich herum die Trauer nieder. Sie geht vorüber, wenn ich mich ruhig verhalte. Bei meinen Hausbesuchen konnte ich früher schon an der Tür erkennen, ob Patienten krank waren, je nachdem, wie still sie dalagen. Blinddarmentzündung, eine geplatzte Bauchschlagader, Hirnhautentzündung – die Muskeln versteifen sich, um vor dem sich anbahnenden Unheil zu schützen. Im Sommer lag ich reglos da, während die Stunden vorüberzogen, beobachtete, wie der Staub in den Strahlen tanzte, wenn das Sonnenlicht nacheinander durch alle Fenster glitt. Ich wollte sterben, aber so wie heute war mir auch damals klar, dass ich eines Tages vielleicht den Blick heben würde und sie im Türrahmen stünde. Und natürlich würde ich die Jungs nie allein zurücklassen; außerdem schläft ihr Hund in meiner Küche.
Als hätte er es gehört, gähnt Bertie, steigt aus seinem Korb und wedelt mit dem Schwanz. Seine trüben Augen verfolgen mich, als ich durch die Küche gehe. Sein Hals fühlt sich warm an, als ich ihm die Leine anlege; das dichte Fell ist mit dem Alter strohiger geworden. Ich schiebe das Notizbuch und den Stift in eine Tasche. Die Hintertür in der Küche führt in den Garten, und von da aus gelangt man auf Wiesen. Mutter hat mir das Cottage geschenkt, bevor sie starb. Glücklicherweise. So konnte ich mich irgendwo verstecken.
Glücklicherweise. Zum Glück, das ist mein Glückstag, wünsch mir Glück. Ein triviales Wort für die Wucht der Schicksalsschläge, die uns positiv wie negativ treffen, fast wie große Tore, die im Wind hin und her schwingen. Naomi glaubte nie, dass sie Glück brauchte. Sie dachte, sie sei als Glückskind geboren worden. Ich dachte es auch; ich dachte, wir alle wären es. Vor einem Jahr noch hatte ich geglaubt, wir hätten alles nur Erdenkliche gehabt.
Es ist schwer nachzuvollziehen, ab welchem Punkt sich alles verändert hatte. Ich denke immer und immer wieder zurück, reise innerlich an verschiedene Orte der Vergangenheit, um zu erkennen, wo ich das Schicksal hätte wenden können. Ich könnte mir fast jeden Augenblick meines Lebens vornehmen und ihm eine andere Richtung geben. Wäre ich nicht Ärztin geworden, hätte Ted mir nicht vor Jahren in der Bibliothek die Bücher abgenommen; wäre ich an jenem Nachmittag nicht in die Praxis gefahren, hätte ich mehr Zeit gehabt. Die Zeit hatte sich dem Ende genähert, aber das konnte ich damals noch nicht wissen.
Ich steige den Pfad zu den Klippen hinauf, warte, bis Bertie schwerfällig die grauen Felsvorsprünge hinaufgesprungen ist. Oben weht der Wind mir Gischt wie Regen gegen die Lippen. Ich kann sie schmecken, sie ist salzig, mehr wie Tränen als Regen.
Meine Gedanken wandern zu einem besonderen Nachmittag in meiner medizinischen Laufbahn, einem Nachmittag, der Naomis letzte Tage bei uns einläutete. Zu dem Nachmittag, an dem ich Jade kennenlernte, den Chili in meinen Augen.
ENDE DER LESEPROBE