Es geschah in dunkler Nacht - Jane Shemilt - E-Book

Es geschah in dunkler Nacht E-Book

Jane Shemilt

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Beschreibung

Ein Kind verschwindet spurlos, ein nicht enden wollender Albtraum beginnt …

Die Ärztin Emma begleitet ihren Ehemann Adam mit den gemeinsamen Kindern Alice, Zoë und Sam für ein Jahr nach Botswana, wo Adam an einem Forschungsprojekt arbeiten soll. Das vermeintliche Abenteuer ihres Lebens entpuppt sich jedoch als Albtraum, denn eines Abends verschwindet Sam spurlos. Die verzweifelte Suche nach ihm bleibt erfolglos, und die ganze Familie droht daran zu zerbrechen. Schließlich kehren sie zurück nach England. Doch es scheint unmöglich, in ihren Alltag zurückzukehren. Denn auch ein Jahr nach Sams Verschwinden plagt Emma die Ungewissheit. Was geschah damals wirklich in Afrika?

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Buch

Die Ärztin Emma begleitet ihren Ehemann Adam mit den gemeinsamen Kindern Alice, Zoë und Sam für ein Jahr nach Botswana, wo Adam an einem Forschungsprojekt arbeiten soll. Das vermeintliche Abenteuer ihres Lebens entpuppt sich jedoch als Albtraum, denn eines Abends verschwindet Sam spurlos. Die verzweifelte Suche nach ihm bleibt erfolglos, und die ganze Familie droht daran zu zerbrechen. Schließlich kehren sie zurück nach England. Doch es scheint unmöglich, in ihren Alltag zurückzukehren. Denn auch ein Jahr nach Sams Verschwinden plagt Emma die Ungewissheit. Was geschah damals wirklich in Afrika?

Autorin

Jane Shemilt ist praktische Ärztin und hat neben dieser Tätigkeit noch ein Diplom in Creative Writing an der Universität in Bristol erlangt. Daraufhin legte sie nach und machte auch noch ihren Master mit Auszeichnung. Die Autorin lebt mit ihrem Mann, einem Professor für Neurochirurgie, und ihren fünf Kindern in Bristol. Nach Am Anfang war die Schuld erscheint mit Es geschah in dunkler Nacht ihr zweiter Roman bei Blanvalet.

Von Jane Shemilt bereits erschienen

Am Anfang war die Schuld

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JANE SHEMILT

ES GESCHAH IN DUNKLER NACHT

ROMAN

DEUTSCH VON ANJA SCHÄFER

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Drowning Lesson« bei Penguin Random House UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2015 by Jane Shemilt

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © plainpicture/Reilika Landen

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19901-2V002

www.blanvalet.de

Für meine Familie

KAPITEL 1

Botswana, März 2014

Die Hitze des Abends umhüllt den Pfad, überall sirren Zikaden. Meine Schritte knirschen leise auf dem Schotter. Das Gehen fühlt sich so leicht an wie das Atmen. Meine Gedanken lösen sich und treiben durch die warme Luft.

Adam wird jetzt glücklich sein Bier trinken – glücklich, dieses neue Wort … Zoë sitzt vielleicht mit einer Eidechse auf der Hand unter den Bäumen. Alice wird sich in Tekos Nähe aufhalten und lesen, dunkle Haarsträhnen wischen über die Buchseite. Sie wird sich seit heute früh beruhigt haben. Der Duft des Abendessens weht in den Garten. Elisabeth stellt Blumen in ein Glas.

Ein Haubenbülbül flattert vom Weg auf, sein stakkatoartiger Ruf zerreißt die Ruhe: Sei flink, sei flink, Doktor, sei flink. Das goldene Licht wird dunkler zwischen den Bäumen. Inmitten der Schatten leuchtet flammenrot eine Wüstenblume auf, und dann ist es beinahe dunkel.

Essenszeit. Badezeit. Sam könnte gerade weinen. Auf einen ersten Vogel antwortet ein zweiter und dann ein dritter. Schließlich schwirren die Bäume vor ihren unterbrochenen Lauten. Schwer wie Kuchen liegt mir die abendliche Luft im Mund.

Eine dünne Schlange windet sich vor meinen Füßen blitzschnell über den Pfad und verschwindet in einer Rinne. Ich sehne mich nach einem Drink mit Gin. Ich sehne mich danach, dass sich Adam beeindruckt zeigt, wenn ich es zu Fuß nach Hause geschafft habe – voller Bedauern, dass er vergessen hat, das Auto durchzuchecken und sein Handy aufzuladen.

Das Tor liegt in Schatten gehüllt, als ich es erreiche, aber bei meiner Berührung fühlt sich das Holz noch warm an. Mit dem vertrauten zweifachen Quietschen schwingt es auf. Hinter dem Haus haben die Frösche im Teich bereits ihr nächtliches Quaken angestimmt. Ich schleudere die schlammigen Flipflops weg, und der Staub unter meinen Füßen fühlt sich weich an. Die Erleichterung, endlich zu Hause zu sein, schmerzt in der Brust. Ich folge der gebogenen Einfahrt, warte ungeduldig, dass die ersten Lichter über den kargen Rasen dringen.

Innerhalb weniger Sekunden sehe ich, dass alle Lichter im Haus brennen und sich der Schein von Taschenlampen ruckartig über den Rasen bewegt. Adams Rufe sind zu hören, sie klingen wie das tiefe Bellen eines gepeinigten Tiers. Er ist drüben bei den Bäumen. Als ich losstürze, wendet er mir das Gesicht zu. Es schimmert weiß in der Dämmerung. Zoë steht im Haus an der Wand und weint still vor sich hin. Sie ist es also nicht. Alice kauert in der Ecke. Als sie mich sieht, erhebt sie sich mit fließenden Bewegungen. Sie ist es auch nicht.

Dann habe ich begriffen.

Die Schatten in unserem Schlafzimmer flackern anders als sonst. Es dauert einen Augenblick, bis ich erkenne, dass die Vorhänge zerrissen sind und sich im sanften Wind wiegen. Ein glitzernder Scherbenhaufen liegt auf dem Teppich vor dem Fenster, einige spitze Überreste stecken noch im Rahmen.

Das Bettchen ist leer.

KAPITEL 2

London, März 2013

Es war ein schlechter Zeitpunkt, um ein Gespräch zu beginnen. Mitternacht. Regen prasselte an die Scheiben, eine leere Weinflasche stand zwischen uns auf dem Tisch. Adams schmales Gesicht war gerötet. Er war sich so oft durchs dunkle Haar gefahren, dass es zu Berge stand. Ich hätte es am liebsten glatt gestrichen und ihm einen Kuss auf die Falten zwischen den Augenbrauen gegeben, aber über ihm lag ein geheimer Glanz, der mich davon abhielt.

Die Küche sah chaotisch aus. Sofia war mit ihren Freundinnen losgezogen, um einen polnischen Film zu sehen, und überall auf dem Boden lagen die Schuhe und Taschen der Kinder herum. Unsere Gläser und Fast-Food-Packungen warteten darauf, entsorgt zu werden. Ein verrutschter Stapel mit Zoës Zeichnungen lag auf der Anrichte, Alice hatte ihre Matheaufgaben ordentlich aufeinandergelegt. Beides wartete auf meine Begutachtung.

Für den nächsten Tag standen gleich um acht zwei Totaloperationen auf dem Plan. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Adam wirkte in sich gekehrt, als berechne er im Kopf eine schwierige Aufgabe. Ich räumte den Tisch ab, stapelte Schüsseln auf das überfüllte Abtropfbrett.

Mein Vater hatte eine antike Waage gehabt. Sie stand immer auf dem Tisch in seinem Arbeitszimmer, aber nach seinem Tod war sie verschwunden. Sie war aus poliertem Holz und Messing gefertigt, und dazu gehörten Gewichte mit eingravierten Zahlen. Er hatte mir als Kind erlaubt, seine Briefe und Päckchen damit zu wiegen. Schon ein dünnes Blatt Papier bewirkte, dass sie auf die andere Seite kippte. In Adams und meiner Beziehung waren Arbeit und Erfolg fein austariert, aber sie konnten jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten. Ich ließ das Besteck in die Spüle poltern. Ich liebte ihn. Ich liebte fast alles an ihm: sein Lächeln, das seine Augenfältchen vertiefte, die Art, wie er die Kinder abends in die Luft wirbelte, seine Körperwärme, wenn er neben mir im Bett lag. Aber wann immer er gewann, bedeutete es zugleich, dass ich verlor. Ich wünschte ihm, dass alles gut lief, solange es bei ihm nicht besser lief als bei mir.

»Nun erzähl schon!« Ich griff nach seinem Teller. Es musste ja gar nicht lange dauern. Vielleicht war es nur eine fähige Diagnose oder ein Siegtreffer beim Squash in der Mittagspause.

»Eine Forschungsmöglichkeit hat sich ergeben.« Er räusperte sich. Ein unnötiges Geräusch, es krächzte. Seine Stimme klang monoton, aber als er meinen Blick suchte, verrieten ihn seine erweiterten Pupillen: Wir sprachen hier nicht von einem normalen Projekt. Ich ließ den Teller auf die Messer und Gabeln in der Spüle fallen. Ich setzte mich, die Hände auf den Tisch gestützt, um ihm in die Augen blicken zu können.

»Lass mich raten! Der Wellcome Trust hat die Mittel für dein Tumorstammzellenprojekt bewilligt.« Stolz und Eifersucht gerannen in meiner Magengrube.

Er schüttelte den Kopf, und seine Blicke wandten sich zur Seite. »Erinnerst du dich an deine Forschungsstelle in San Francisco vor zwölf Jahren?«

Ich nickte, obwohl es mir so vorkam, als sei es schon länger her. Eine merkwürdige und ferne Zeit voller Heimweh nach Adam, eine Zeit einsamer Spaziergänge über die nebligen Hügel zum Krankenhaus und schwacher Jazzklänge, die durch die offenen Fenster im Labor drangen. Tage- und nächtelang hatte ich Glasträger betupft und untersucht und anschließend die Ergebnisse analysiert, stundenlang meine Befunde notiert.

»… gerade erst geheiratet, aber es war eine große Chance für dich und ich ließ dich ziehen«, fuhr Adam fort.

Die Erinnerung an das glänzende Labor um Mitternacht, an die Ständer mit den Glasträgern und an leere Kaffeebecher verblasste. Adam starrte mich an und tippte mit den Fingern auf den Tisch.

Ich erwiderte seinen Blick. »Worum geht es hier wirklich, Adam?«

Er sah schnell nach unten. »Ich habe ein Angebot für eine einjährige Forschungsstelle in Botswana bekommen.«

In der Stille, die eintrat, klickte die Spülmaschine – der Durchlauf war zu Ende. Häufig übersahen wir, dass sie geleert werden musste, aber dieses Spiel war anders. Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Mehr Kampf als Spiel.

»Ein Angebot? Das heißt, du hast dich vor einer Weile beworben.«

Ringsum klebten die Gemälde der Kinder an den Schränken, und Zoës Tontiere bevölkerten jede Fensterbank. Ein Squashball lag zwischen den Apfelsinen im Obstkorb. Alices Geige stand schon für den nächsten Tag in der Ecke, die Schwimmzeiten waren mit einem herzförmigen Magneten an den Kühlschrank gepinnt. Der Plan für meine Bereitschaftsdienste war mit Tesa an der Wand über dem Telefon befestigt. Adams Neuigkeiten konnten alles verändern, aber bislang hatte er sie uns völlig verschwiegen.

»Das Angebot tauchte völlig aus dem Blauen heraus auf, Em. Ich hätte doch vorher mit dir darüber gesprochen, wenn ich mich beworben hätte – natürlich.«

Ein Muskel in seiner Wange bebte. Das Zucken war winzig – hätte ich ihn nicht so intensiv beobachtet, wäre es mir entgangen.

»Das kann doch nicht alles sein. So etwas erfordert Gespräche und Planungen. Warum hast du mir bisher nichts davon erzählt?«

»Manchmal ist es schwierig, mit dir zu reden … Du hast immer Angst vor meinem Erfolg.«

»Und deshalb hältst du ihn geheim?«

»Ich war mir nicht sicher, wie ich es dir erzählen sollte.«

»Dann erzähl mir jetzt alles!«

»Chris Assazar aus Johannesburg hat mir gemailt.«

Adam beugte sich vor. »Er hat meinen Aufsatz über Serummarker für Lymphome gelesen und er meint, ein Onkologe könnte bei ihnen Gutes bewirken. Er würde Gelder dafür bereitstellen.«

»Gutes bewirken … was genau soll das heißen?«

»Er leitet ein HIV-Forschungszentrum im Süden von Afrika. In Botswana wächst der Anteil der infizierten Bevölkerung von allen Ländern des Kontinents am schnellsten. Man weiß, dass bei Aids-Patienten ein hohes Lymphomrisiko besteht …« Seine Stimme nahm einen unheilvollen Klang an, vermutlich denselben, den er in einer Vorlesung vor seinen Medizinstudenten anschlug. Er bemerkte meinen Blick und sprach schneller. »Wenn wir anhand unserer Serummarker erkennen, bei wem tatsächlich ein Risiko besteht, können wir frühzeitig mit der Behandlung beginnen und das normale Leben um Monate, vielleicht um Jahre verlängern.«

»Und was ist mit unserem normalen Leben?«

Unser Leben war nicht normal, aber einer von uns war immer hier, zumindest zeitweise, und wenn nicht, sprang das Au-pair-Mädchen ein. Wir wechselten uns mit der Rufbereitschaft ab. Am letzten Wochenende hatte ich vier Kaiserschnitte, während Adam zu Hause die Stellung hielt. Ich setzte mich oft abends an meine Forschungsprojekte, während er den Kindern vorlas. Ich brachte sie dafür morgens in die Schule. Wenn Adam in Botswana wäre, bliebe alles an mir hängen. Ich hätte weder Zeit zum Forschen noch für die Arbeit in der Klinik. Er könnte so viel arbeiten, wie es ihm beliebte, und neue Ergebnisse veröffentlichen. Ich dagegen würde gar nichts erreichen.

Er wäre der Sieger. Er bestritt immer, dass es darum ging, aber das nahm ich ihm nicht ab. Meine Augen juckten vor Müdigkeit, und in diesem Moment war ich wieder in der Schule, schwamm meine Bahnen, beobachtete meine Gegner. Das Chlor brannte mir in den Augen, ich wollte unbedingt als Erste anschlagen. Warum sollte man nicht gewinnen wollen?

Adams Stuhlbeine scheuerten über die Schieferfliesen, als er aufstand. Neben ihm auf der Fensterbank stand der Silberrahmen mit dem Foto meines Vaters: weißes Haar, hohe Wangenknochen, tief liegende Augen hinter der Halbbrille. Seine Hände waren auf dem Bild nicht zu sehen, Hände mit ledriger Haut, breit wie Spaten. Warm. Weil er Facharzt für Geburtshilfe war, nannten die Leute sie Chirurgenhände, geschaffen, um Leben zu retten. Im Steinbruch hatte ich diesen Eindruck nicht gehabt. Du kannst untergehen oder du kannst schwimmen, sagte er. Da war ich fünf Jahre alt.

Der Steinbruch ist still. Verborgen.

Der See ist eine tiefe Mulde aus schattigem Grün zwischen Klippen. Wir sitzen gemeinsam in seinem Boot.

Es ist heiß, aber mir ist kalt. Ich trage einen Badeanzug. Ich weiß nicht, warum, denn ich kann nicht schwimmen. Sonst fischen wir hier immer, aber heute hat er die Angeln nicht mitgenommen.

»Du kannst untergehen oder du kannst schwimmen.«

Ich weiß nicht, was er meint, aber ich habe Angst.

»Es liegt an dir«, sagt er. Er beugt sich zu mir herunter; seine Hände können meine Taille ganz umgreifen. Er hebt mich hoch, hält mich über den Bootsrand und lässt mich, sehr vorsichtig, ins Wasser sinken.

Ich spüre Steine am Boden, Schlamm, der so weich ist wie Fleisch, wie Mamas Grab. Ich öffne den Mund zum Schreien und verschlucke mich am Wasser.

Mattes gelbes Licht dringt durch das Grün über mir. Blasen steigen nach oben.

Eine Stimme ruft meinen Namen.

Ich schieße an die Oberfläche. Schilf schrammt mir an den Beinen entlang, als ich auftauche.

Adam lief einige Schritte, wandte sich beim Gestikulieren hin und her. Seine Worte fügten sich nahtlos aneinander, als hätte er sie im Auto auf dem Heimweg schon geprobt. »… für beide gut. Es wäre nicht schlimm, dass Zoë die Einschulung verpasst. In Skandinavien etwa sind Fünfjährige noch gar nicht in der Schule. Und Alice ist so weit im Stoff, dass sie das restliche fünfte Schuljahr problemlos fehlen könnte.« Er setzte sich wieder hin und breitete die Hände aus, als reiche er mir ein Geschenk. »Und du könntest ein Sabbatical nehmen und forschen, so viel du wolltest.«

Wir sollten also mit nach Botswana kommen. Ich starrte über den Tisch hinweg, ohne ihn wahrzunehmen. Ich war zehn Jahre zurückversetzt und saß frühmorgens in der Küche, stürzte meinen Kaffee hinunter und schrieb Aufsätze, während Adam und Alice, das kleine Baby, noch schliefen. Dasselbe nach Zoës Geburt. Seit meiner Ernennung zur Oberärztin war das Leben eine stetige Routine aus Klinik und Forschung. Ich nahm ja kaum je einen Tag frei – wie sollte ich da für ein ganzes Jahr weggehen? Adam hatte schon mehr veröffentlicht als ich, aber ich war auch jünger. Ich würde ihn noch einholen. Einfach war es nie, die Zeit mussten wir uns immer stehlen. Das Familienleben füllte jede freie Lücke aus, gab mir Auftrieb, zog mich hinunter.

»Bitte, Em!«

Adam beugte sich am anderen Tischende nach vorn und wartete auf meine Einwilligung. Vor zwei Jahren hatte er sich ein drittes Kind gewünscht. Er hatte damals darum gebettelt, aber ich war noch neu auf meiner Stelle und hatte Verantwortung für ein Team übernommen. Der Zeitpunkt war ungünstig gewesen. Wir hatten Alice und Zoë, alles war im Lot. Gerade so. Ich hatte abgelehnt. Und ich würde auch diesmal ablehnen. Adams Forschungsarbeiten in Botswana würden länger dauern als eine Schwangerschaft. Da bekäme ich noch lieber ein Baby, als ein Jahr ins Ausland zu gehen. Babys fügten sich mit der Zeit ins Alltagsleben ein. Nun war Adam an der Reihe, etwas aufzugeben.

»Für wann ist die Sache geplant?«, fragte ich.

Ich musste meine Gedanken sortieren, aber ich brauchte Schlaf. An einem ganz gewöhnlichen Abend wäre es in der Küche längst ruhig gewesen. Die Deckenlampe wäre gelöscht und der Raum vom Schein der Wandlampen beleuchtet gewesen. Adam hätte mit hochgelegten Füßen einen Artikel gelesen und Tee getrunken, während ich durch die Arbeiten der Mädchen geblättert hätte. Die einzigen Geräusche wären das Ticken der Uhr und das Papierrascheln gewesen, vielleicht noch leise Mozartmusik von Adams Lieblingsquartett, während der Tag zu seinem Abschluss gekommen wäre.

»Es wird eine Weile dauern, alles zu organisieren, die Finanzen zu klären und das Team zusammenzustellen.«

Er sprach leiser. Er glaubte, gewonnen zu haben.

»Megan will uns helfen. Ihre Eltern haben in Botswana in einer Missionsstation gearbeitet. Sie ist im Land aufgewachsen. Es wird neun Monate dauern, die Forschungsarbeiten zu organisieren, von jetzt an gerechnet. Maximal zehn. Zu Weihnachten können wir dort sein.« Nun lächelte er. »Es wäre unsere Chance, Menschen zu helfen, etwas wirklich Sinnvolles mit unserem Leben anzufangen.«

Aber wir halfen bereits Menschen. Unser Leben war sinnvoll. Ich rappelte mich hoch, nahm die Spülmaschine nicht zur Kenntnis, ließ Wasser über den Stapel Besteck und Teller in der Spüle laufen. Wasser spritzte mir auf die Kleidung. Megan, seine treue Sekretärin. Sie würde alles tun, um ihm beim Erreichen seiner Ziele zu helfen, aber sie hatte keine Kinder. Womöglich ahnte sie gar nicht, welche Auswirkungen Adams Vorhaben auf unsere Kinder hätte. Es ging ihnen gut, aber was würde passieren, wenn wir sie aus ihren gewohnten Abläufen rissen? Sie verdienten dieselben Möglichkeiten, die ich gehabt hatte. Dazu gehörte es, mitzuhalten, hart zu arbeiten.

Von hinten schlang Adam die Arme um mich. »Es wäre ein Abenteuer«, sagte er.

Früher hatte ich dieses Wort geliebt. Es verhieß Fahrradtouren durch Europa und Zelten oder Trampen durch Amerika, mit dem Gepäck auf dem Rücken. Ich kratzte mit einem Messer Pesto von einem Teller. Diese Art von Abenteuer brauchte ich gerade nicht. Alles, was ich mir wünschte – hier in London zu bleiben. Adams Arme drückten mir gegen das Becken. Trotz Müdigkeit spürte ich, wie das Verlangen mein Gesicht erhitzte.

»Was meinst du?« Seine Lippen lagen in meinem Nacken.

Ich drehte mich um, sah ihn an. Sein Mund war ein wenig geöffnet, und ich roch den Wein in seinem Atem. Alkohol flutete mein Hirn. Neun Monate hatte er gesagt, von heute an. Das verschaffte mir Zeit. Mir würde etwas einfallen, denn mit Überleben kannte ich mich aus. Ich würde auch diese Sache durchstehen.

»Lass uns die Entscheidung nicht heute treffen!« Ich küsste ihn. »Wir sind zu müde. Wir haben Zeit, morgen oder am Wochenende weiterzudenken. Komm mit ins Bett!«

Ich griff nach seiner Hand. Die Bilder und Schulaufgaben konnte ich mir am nächsten Tag noch ansehen. Als wir uns umwandten, hörte ich leise Schritte die Treppe hinaufhuschen. Dann wurde sacht eine Tür geschlossen. Sofia musste unbemerkt hereingeschlichen sein. Sie hatte auf der oberen Etage ihr Zimmer neben Alice. Alice war in letzter Zeit immer so müde – ich hoffte, Sofia hatte sie nicht geweckt.

Wir schlossen die Schlafzimmertür und lehnten uns im Dunkeln dagegen, atemlos umschlungen. Wein und Erschöpfung befreiten den Moment. Adam zog mir den Pulli aus. Ich öffnete seinen Gürtel. Wir lachten.

Er drückte mich aufs Bett, schob mir die Hände unter den Rock. Wir mussten aufhören. Ich musste mein Pessar einführen. Er hatte vergessen, dass ich die Pille nicht mehr nahm.

Mit zitternden Fingern knöpfte ich sein Hemd auf. Mein Herz raste, meine Gedanken überschlugen sich. Neun Monate hießen für mich als Gynäkologin Herzbildung, Hirnwachstum, Entstehung der Gesichtszüge, Entwicklung von Knochen und Fingernägeln. Ich lächelte und streckte die Hände nach ihm aus. Er hatte mir bis zu diesem Abend seine Pläne vorenthalten – das gab mir das Recht auf meinen eigenen geheimen Plan, einen Plan, der den seinen ausstechen konnte. Hätte ich nur klarer denken können! Ich hätte nicht so viel Wein trinken sollen.

Er drang in mich ein und bewegte sich vor und zurück. Er presste mir die Lippen auf den Mund. Es war zu spät, ich ließ mich fallen. Es würde schon nichts passieren. Ich war erst nach Monaten mit Alice schwanger geworden und erst nach über einem Jahr mit Zoë. Inzwischen war ich noch älter, noch weniger fruchtbar. Außerdem hatte ich das Pessar schon mehrfach vergessen, und meine Tage hatten immer pünktlich eingesetzt. Wenige Augenblicke später bewegte sich mein Körper im selben Rhythmus, und meine letzten bewussten Gedanken glitten dahin.

KAPITEL 3

London, April 2013

»Warum fährst du so schnell?« Durch ihren schwarzen Pony, der von der Baskenmütze platt gedrückt wurde, wirkte Alices Haut im Rückspiegel sehr blass. Ihr kleines Gesicht sah ängstlich aus.

»Ich muss dich zur Schule bringen, Zoë absetzen, Mrs. Philips sprechen, Visite machen und meine Operationen vorbereiten …« Sie brauchte diese Litanei nicht, aber durch meinen Kopf schwirrte sie schon seit fünf Uhr morgens. Zoë schlief zugedeckt neben ihr. Alices Ellbogen schob ihr Gesicht zur Seite, über ihrem Mund hatte sich ein Schnurrbart aus Milch und Krümeln gebildet. Eine blonde Strähne klebte ihr am Mund.

Im Spiegel fiel mir auf, dass sie nicht angeschnallt war. Ich hatte es vergessen. Die Autos parkten zu beiden Seiten Stoßstange an Stoßstange. Ich musste in einer Einfahrt halten, und das kostete mich noch mehr Zeit.

»Es ist nicht erlaubt, mich so früh hinzubringen.«

»Natürlich ist es erlaubt, Ally.«

»Aber wo soll ich bleiben?«

»Du kannst im Klassenzimmer lesen, dich mit den anderen unterhalten …«

Ich drehte mich lächelnd zu ihr um und sah gerade rechtzeitig wieder nach vorn, um noch die Ampel zu bemerken. Ich trat scharf auf die Bremse und kam schlitternd zum Stehen. Eine junge Frau, deren Haar vom Regen geplättet war, starrte mich wütend an und geleitete ihr dick eingepacktes Kind über die Straße. Hinter mir fing Zoë laut an zu schreien. Sie war nach vorn geschleudert worden und lag zusammengerollt in der Lücke zwischen den Sitzen. Schweißgebadet vor Reue stieg ich aus und riss die Tür auf. Sie war eingequetscht worden, und vor Schreck rannen ihr Tränen über das Gesicht. Ich zog sie heraus und stellte sie auf die Straße. Es war nichts passiert. Ich umarmte sie kurz und heftig und hob sie wieder in ihren Kindersitz. Diesmal schnallte ich sie an. Hinter uns wurde die Schlange immer länger, ich erntete wütende Blicke und wildes Gehupe. Zitternd stieg ich wieder ins Auto. Mir passierten selten dumme Fehler, aber an diesem Morgen war ich in Eile und vor lauter Gedanken über den bevorstehenden Tag hatte ich nicht nachgesehen, ob wir alle angeschnallt waren. Gehörte ich schon bald zu jenen Müttern, die ihre Karriere vor die Sicherheit ihrer Kinder stellten?

»Mir ist schlecht.« Alices Stimme klang zittrig.

Vor der Schule stieg sie aus und ging, ohne sich zu verabschieden, langsam über den leeren Schulhof. Sie wusste, dass es meine Schuld war. Wegen des Nieselregens hatte sie die Schultern hochgezogen und lief die Treppe zu den Toiletten hinunter. Ihr schmaler Rücken beugte sich unter dem Gewicht ihres Rucksacks, während sie aus meinem Blickfeld verschwand.

Trotz des Vorfalls war Zoë wieder eingeschlafen. Ich trug sie zum Eingang und achtete darauf, dass ihr der Daumen nicht aus dem Mund rutschte. Wir wurden von Susi begrüßt, der Assistentin der Erzieherin, die Zoë lächelnd in Empfang nahm. Zu spät sah ich, dass sich Zoës Saum löste, ihr Bündchen mit Filzstift verschmiert war und sie zwei verschiedene Socken trug. Vorsichtig trug Susi sie hinein. Ich malte mir aus, wie behutsam sie Zoë wohl auf die dicken Kissen im Ruheraum legte, die ich bei meiner Besichtigung der Einrichtung gesehen hatte. Dieses Detail hatte den Ausschlag gegeben. Jetzt beschlichen mich Sorgen: Warum hatte Alices Lehrerin mich hergebeten?

Mrs. Philips wartete im leeren Klassenzimmer der Fünftklässler auf mich. Sie musste die Tafel geputzt haben – Kreidestaub hing noch in der Luft. Sie beobachtete mich mit schräg gelegtem Kopf, ein langer orangefarbener Ohrring berührte ihre Schulter. Ihre passend lackierten Fingernägel ruhten auf einem kleinen Bild von Alice, das auf einem eng bedruckten Blatt Papier klebte. Die Nägel waren spitz und glänzten wie die Krallen eines kleinen Greifvogels.

»Ich habe Ihre E-Mail bekommen«, begann ich.

»Danke, dass Sie gekommen sind. Ich habe Alice mit den Internatsschülern zum Frühstück geschickt. Ich wollte Ihnen unter vier Augen meine Sorgen mitteilen, Mrs. Jordan.« Aufrichtigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Sie beugte sich vor. »Ich denke, Sie sollten wissen, dass Alice gestohlen hat – Kleinigkeiten.« Der Ohrring baumelte und bebte.

Vor meinem inneren Auge erschien ein Berg aus Handys, Uhren und Münzen. »Was für Kleinigkeiten?«

»Stifte, Radiergummis, Zopfbänder, ein Paar Socken.«

»Mehr nicht?« Beinahe hätte ich gelacht. »Sie hat sich die Dinge wahrscheinlich ausgeliehen und vergessen zurückzugeben. Zu Hause teilen wir so etwas, deshalb …«

»Die Dinge wurden in ihrem Pult gefunden, in einer kleinen Schachtel, auf der ihr Name stand.« Sie lächelte sanft.

»Weiß sie, dass Sie es wissen?«

»Ich habe sie an mich genommen und Alice erklärt, dass ich mit Ihnen sprechen würde. Niemand sonst weiß darüber Bescheid.«

Ich sah aus dem Fenster. Mir war diese Frau unsympathisch, auch wenn ich den Grund dafür nicht hätte sagen können. Kleine Gruppen in Alices Alter erschienen zu zweit und zu dritt auf dem Schulhof, hielten Händchen, unterhielten sich. Sie wirkten zufrieden, aber vielleicht waren sie insgeheim traurig, dass sie ihre Stifte oder Haargummis verloren hatten. Vielleicht sannen sie auf Rache. Mich befiel ein Anflug von Sorge um Alice.

»Ich rede mit ihr«, sagte ich. Sonst erzählte sie mir immer von der Schule, in letzter Zeit allerdings nicht mehr so viel. Ich sah in meinen Schoß, wo sich meine Hände ineinander verflochten hatten. Chirurgenhände wie seine, hatte Dad gesagt. Kluge Hände, die das Problem sezieren und entfernen konnten. Ich hätte es wissen müssen, falls Alice ein Problem hatte. Sie hätte es mir abends flüsternd anvertrauen sollen, wenn ich sie ins Bett brachte. Aber oft war dann nicht ich da, sondern Adam. Selbst wenn ich sie gefragt hätte, ob etwas nicht in Ordnung war – hätte sie es mir erzählt? Den Anzeichen nach hätte sie vielleicht entscheiden müssen, dass es mir egal war.

»Ich glaube, Alice sucht Selbstbestätigung«, fuhr Mrs. Philips fort. »Stehlende zehnjährige Kinder suchen manchmal nach Wegen, um sich Anerkennung zu verschaffen. Ich habe mich gefragt, ob sie genügend positives Feedback bekommt von … ihren Bezugspersonen.«

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Die Uhr hinter ihrem Kopf zeigte acht Uhr an. Wenn ich weiter mit ihr diskutierte, kam ich zu spät. Ich schickte mich an zu gehen. »Sie bekommt zu Hause jede Menge Anerkennung. Wir loben sie ständig. Vielleicht sollten Sie dafür sorgen, dass das in der Schule auch passiert, statt ihr Diebstahl vorzuwerfen.«

Sie antwortete nicht, aber ich spürte, dass ihr Blick mir folgte, als ich zur Tür ging. Tanzende Linien flimmerten am Rand meines Gesichtsfelds – eine Migräne kündigte sich an. Während ich über den Schulhof schritt, kramte ich in meiner Tasche nach Paracetamol. Sanfter Regen berührte meine erhitzten Wangen. Meine Absätze klapperten über den Asphalt, hämmerten mit jedem Schritt gegen meinen Kopf. Diese verdammte Frau. Ich hätte nicht ausrasten sollen, aber ich machte mir Sorgen um Alice. Als ich die bitteren Tabletten schluckte, fragte ich mich, ob wohl einige der süßen Kinder, die mir entgegenkamen, an Vergeltung dachten.

Der OP-Saal war hell erleuchtet, es war warm und ruhig. Klassische Musik strömte aus den Deckenlautsprechern. Es fiel mir leicht, meine Gedanken von allem zu befreien, außer von der bevorstehenden Aufgabe. Die Patientin lag vor mir, narkotisiert, intubiert, die Augen zugeklebt. Der Krebs hatte aus dem Uterus heraus die Blase befallen. Die Aufgabe war klar: schlichtweg alles sorgfältig herausschneiden und akribisch wiederherstellen. Der Anästhesist nickte. Wir konnten beginnen. Die OP-Schwester reichte mir schweigend das Skalpell, und ich begann zu schneiden. Die Musik und das Gemurmel meines Teams traten während der Arbeit in den Hintergrund. Ich blinzelte die Schweißtropfen weg, wenn sie mir in den Augen brannten.

Zwei Stunden später war die Haut sorgfältig vernäht, die Blasenfunktion erhalten.

In meinem Büro schluckte ich erneut Paracetamol, diesmal mit einer Handvoll metallischem Leitungswasser aus dem Waschbecken. Ich setzte mich an den Schreibtisch und massierte mir die Schläfen. Auf dem Bildschirmschoner vor mir lachten Alice und Zoë an einem sonnigen Strand. Heute früh im Spiegel hatte Alice niedergeschlagen ausgesehen. Vielleicht traf Mrs. Philips’ Andeutung zu. Vielleicht bekam meine Tochter nicht genügend Anerkennung zu Hause – vielleicht bekam sie überhaupt keine Anerkennung. Wir lobten sie nicht ständig, und entgegen meiner Behauptung konnte ich mich nicht erinnern, wann sie überhaupt zum letzten Mal ein Lob bekommen hatte. Es kam einfach nie die passende Gelegenheit, oder vielleicht war auch einfach nie Zeit dafür. Es konnte auch noch schlimmer sein.

Ich erhob mich vom Schreibtisch und blickte aus dem Fenster. Vor mir erstreckte sich das Panorama von Nordlondon: Himmel, Häuser, Straßen, die grünen Hänge von Hampstead Heath. Die hinter Bäumen versteckten Teiche, wo das Wasser grün und tief war. War ich auf eine mir verborgene Art wie mein Vater geworden? Glaubte sie, gewinnen zu müssen, um mich glücklich zu machen?

Wenn ich die Mittagspause durcharbeitete, konnte ich meinen Aufsatz über intrauterine Wachstumshemmung für das Journal of Reproductive Medicine noch fertig schreiben. Dann wäre ich früher zu Hause, könnte Alice erwischen und wir könnten reden.

Während der gynäkologischen Sprechstunde am frühen Nachmittag wurde ich in den OP-Saal gerufen, um bei Geburtskomplikationen zu helfen. Auf dem Monitor sah ich, dass die Herzfrequenz des Kindes zwischen den Wehen abfiel. Als ich an der Geburtszange zog, erschien das blutverschmierte Gesichtchen im gewölbten Scheideneingang, die winzige Nase war platt gedrückt. Ein tiefer Dammschnitt, ein letztes Ziehen, und die Geburt war geschafft. Der winzige Junge wurde sofort von den wartenden Kinderärzten in Empfang genommen. Er wurde untersucht und dann wimmernd der erschöpften Mutter gereicht. Der Vater beugte sich über sie, zu überwältigt, um sprechen zu können. Nickend gab ich meine Glückwünsche weiter, streifte die Handschuhe ab und ging. Die Nachgeburt und das Vernähen überließ ich meiner Assistenzärztin. Ich war erfüllt von Angst um mein eigenes Kind und hatte diesen Eltern nichts zu sagen. Sie würden mir kaum danken, wenn ich ehrlich war und sie warnte, dass die Geburt nichts war im Vergleich zu zukünftigen Sorgen.

Als ich durch den Korridor zur Sprechstunde zurücklief, eilten mehrere Kollegen vorbei, alle gedanklich mit der nächsten Visite oder Untersuchung beschäftigt. Ich tastete im weißen Kittel nach meinem Handy. Ich wollte mit Adam reden. Am Anfang, als wir gerade als Ärzte approbiert und die ganze Nacht in der Notaufnahme waren, trafen wir uns um zwei Uhr nachts in der Kantine. Während wir uns am Resopaltisch müde mit unseren Bechern wässriger heißer Schokolade aneinanderlehnten, versuchten wir, in den Anforderungen und dem Leiden einen Sinn zu finden. Mittlerweile unterhielten wir uns über so etwas nicht mehr. Ich wurde zu Megans Anrufbeantworter durchgestellt und legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Die letzten beiden Patienten für diesen Tag hatten abgesagt, und ich kehrte frühzeitig nach Hause zurück. Alice wäre noch nicht da, und ich hätte Zeit für eine Runde im Schwimmbad. Die Bänke am Beckenrand waren um diese Tageszeit von Eltern belegt, die sich unterhielten, während sich ihre Kinder nach der Schwimmstunde wieder anzogen.

Mein Vater saß bei meinem Schulwettkampf, einem Mittwoch, in der dritten Reihe – ich erinnerte mich noch immer daran. Er kam nie zu Schulfesten, mittwochnachmittags arbeitete er, aber es war mein zehnter Geburtstag und er hatte seinen Dienst getauscht. Seine Schultern waren gebeugt, seine Mundwinkel nach unten gezogen. Er sah unglücklich aus. Er sah seit fünf Jahren unglücklich aus.

Kann man an gebrochenem Herzen sterben? Meine Lehrerin sagt Ja. Meine Zehen krümmen sich um den Beckenrand. Mein Herz klopft so heftig, dass ich nicht denken kann.

Der Pfiff fährt mir wie heißer Strom ins Rückenmark.

Meine Beine schlagen, als ich das Wasser berühre, meine Arme rudern bereits. Bei der ersten Wende bin ich Dritte. Als ich erneut anschlage, liege ich auf dem zweiten Platz. Auf der letzten Bahn drehe ich den Kopf nicht zum Luftholen, nicht ein einziges Mal. Auf der Hälfte der Bahn hole ich auf, dann ziehe ich vorbei. Atemlos schlage ich als Erste an.

Das Tosen meiner Mitschüler schallt um das Becken herum. Ich stemme mich hinaus und drehe mich zu meinem Dad um. Er lächelt. Er lächelt wirklich. Ich habe ihn nicht mehr lächeln gesehen, seit Mum gestorben ist.

Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.

Am Abend wollte Alice nichts essen. Sie war ruhiger als sonst.

»Stimmt etwas nicht, Süße?«

»Keinen Hunger.« Sie zuckte mit den Achseln, schob den Kartoffelbrei auf ihrem Teller hin und her.

»Du weißt ja, dass ich heute mit deiner Lehrerin gesprochen habe …«

Zoë sah neugierig auf.

Alice schob ihren Teller von sich weg. »Ich bin satt, danke«, sagte sie. »Ich muss noch üben.«

Ich folgte ihr nach oben, aber als ich ihr Zimmer betrat, hielt sie schon die Geige in der Hand. Sie blickte auf, in ihrem Gesicht herrschte höflich fragende Leere.

»Ally, du willst doch wahrscheinlich gern wissen, was Mrs. Philips gesagt hat …«

Ihre Finger schlossen sich fester um den Bogen, doch sie schwieg.

»Sie hat erzählt, dass du vielleicht ein paar Dinge hast, die eigentlich anderen gehören. Ich weiß, wenn du sie wirklich weggenommen hättest, gäbe es dafür einen Grund …«

»Sie wollten, dass ich auf ihre Sachen aufpasse.« Sie zog den Bogen über die Saiten und löste einen kleinen falschen Ton aus. »Ich habe ihnen versprochen, dass sie bei mir sicher sind.«

»Aber trotzdem …«

»Ich habe sie heute zurückgegeben. Sie können selbst auf ihre Sachen aufpassen.« Mit düsterem Blick blätterte sie die Noten um. »Ich muss üben, Mum, ja?«

Ich konnte später noch einmal zu ihr kommen, wenn sie fertig war. Vielleicht war sie dann bereit, mit mir zu reden. Aber es ging die Tonleitern auf und ab, eine halbe Stunde lang, dann begann sie mit ihrem Mozartstück. Es klang noch leicht stockend und wurde zweimal lange unterbrochen. Ich wartete, bis sie endgültig fertig war. Aber als ich wieder zu ihr hinaufstieg, war es dunkel im Zimmer und sie lag schon im Bett. Die Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging regelmäßig. Als ich ihr einen Kuss gab, rührte sie sich nicht. Alles wirkte normal: Ihre Schuhe standen ordentlich nebeneinander, ihre Kleidung war sorgfältig gefaltet, nur die Matroschkapuppen aus Porzellan fielen mir ins Auge. Sie lagen ausnahmsweise in einer Reihe und der Größe nach sortiert auf dem Kaminsims. Sonst standen sie dort, ineinandergesteckt. Ich hatte sie vor Jahren nach einem Gynäkologenkongress mitgebracht. Ich nahm ein Püppchen in die Hand. Das Porzellan war scharfkantig – die Puppe war zerbrochen. Ich hob sie nacheinander auf und sah, dass alle zersprungen waren, die kleinste sogar in mehrere Teile. Ihre bunten Einzelteile lagen auf dem Teppich verstreut. Die Vorhänge wehten im Wind – das Fenster stand noch auf. Vielleicht waren die Puppen einfach umgeweht worden. Leise schloss ich das Fenster.

Wir würden uns morgen auf dem Weg zur Schule unterhalten; dann konnte sie mir erzählen, was passiert war. Es war oft die einzige Zeit, die wir ungestört miteinander verbrachten. Ich schloss die Tür und stieg nach unten. Die Migräne vom Morgen hatte wieder begonnen und führte einen schmerzhaften Trommelwirbel auf. Ich brauchte Stille und Dunkelheit.

Sofia wusch in der Küche ab, ihr Pferdeschwanz schwang auf und ab, während sie zu lauter Popmusik im Takt hin und her hüpfte. Sie war für das Staubwischen in den Kinderzimmern zuständig. Ich schaltete das Radio aus, und sie drehte sich um. Überraschung spiegelte sich in ihren dunklen Augen.

»Sofia, weißt du, wie Alices Matroschkapuppen kaputtgegangen sind?«

Sie wurde rot. Es folgte eine Pause. Einen kurzen Moment lang sah sie mich an, dann senkte sie kopfschüttelnd den Blick.

Ihr Erröten und Schweigen sagten alles: Sie mussten ihr zerbrochen sein, aber sie wollte nicht dazu stehen. Die Puppen bedeuteten Alice viel – früher hatte sie häufig mit ihnen gespielt, hatte kleine Familiengruppen zusammengestellt, die größeren Puppen ringförmig um die kleineren herumgruppiert, das Baby in der Mitte.

»Nun gut. Dann bring Zoë jetzt bitte ins Bett! Vielleicht könntest du die Puppen morgen reparieren.« Trotz ihrer Unachtsamkeit brauchte ich Sofia. »Im rechten Schrank in der Waschküche findest du Porzellankleber.«

Sie zuckte mit den Achseln und zog sich die Gummihandschuhe von den Händen. Ihr Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren.

Ich beugte mich hinunter, um Zoë einen Kuss zu geben. »Gute Nacht, Süße. Ich komme später noch hoch.«

Zoë reckte mir ihren Stoffhund entgegen, damit ich ihm einen Kuss gab, und trottete Sofia hinterher.

Adam saß schreibend an seinem großen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Sein Blick wirkte leer. Als ich ihm gesagt hatte, dass wir nicht mit nach Afrika kämen, hatte er erst ungläubig, dann wütend reagiert. Inzwischen, drei Wochen später, war die Botschaft bei ihm angekommen.

»Wie geht’s voran?« Vor ihm lagen laminierte Karten in ordentlichen Stapeln und Rechnungen geordnet nebeneinander. Mein eigener Schreibtisch war mit etlichen Lagen Papier bedeckt. Er stellte gerade in akkuraten roten Großbuchstaben eine Liste auf: Blutkonserven, Spritzen und Zentrifugenset, Moskitonetz, Trekkingstiefel.

»Kann ich dir irgendwie helfen?« Aus der Nähe sah ich an seinem Kragen das Ekzem als rote Linie aufflammen.

»So langsam wird’s.« Er ließ den Stift sinken und sah zu mir auf. »Wobei ich immer noch wünsche, dass ihr mitkommt. Em, bist du dir ganz sicher?«

»Wir haben doch schon hundertmal darüber geredet. Du weißt, dass ich hier nicht wegkann.« Mir wurde schwindelig, und ich ließ mich schnell aufs Sofa sinken. Hätte ich mittags bloß etwas gegessen! »Am besten erzählen wir den Mädchen noch nicht, dass du gehst, erst wenn es so weit ist. Alice könnte sich sonst Sorgen machen. Ich habe heute früh mit ihrer Lehrerin gesprochen.«

Ich erzählte ihm von meinem Treffen mit Mrs. Philips. Während er zuhörte, waren seine Finger unermüdlich in Bewegung, stapelten Papiere Kante auf Kante, legten Stifte parallel nebeneinander.

»Ich glaube nicht, dass sie noch mehr Ansprachen über die Diebstähle braucht«, sagte er, nachdem er die ganze Geschichte gehört hatte. »Wir sollten einfach …«

»… gar nichts tun? Die Sache völlig aus dem Ruder laufen lassen? Sie wird allein dastehen. Kinder mögen es nicht, wenn ihre Sachen geklaut werden, selbst wenn Alice sie zurückgegeben hat.« Ich blickte auf seine Hände, die das Handy und den Taschenrechner so nebeneinander schoben, als wären sie kleine schwarze Soldaten. »Kannst du bitte aufhören, so herumzuhantieren? Das macht mich wahnsinnig. Wir sollten einfach … was?«

»Sie lieb haben vermutlich«, sagte er. Er fuhr mit den Fingern in seinen Ärmel. »Unser Zuhause für sie zu einem Ort der Geborgenheit machen.«

»Um Himmels willen, hör auf, dich zu kratzen!« Ich hatte das Gefühl, der Schmerz raube mir den Atem. »Wie kommst du darauf, dass ich sie nicht lieb habe? Sie weiß, dass sie oberste Priorität für mich hat …«

»Welche deiner obersten Prioritäten genau, Em?« Adam stand auf und klopfte seine Taschen nach Asthmaspray ab. »Du hast so viele verschiedene Prioritäten – OPs, Sprechstunden, Forschung …«

»Das ist doch verdammt verlogen. Bei dir ist es schließlich genauso. Und jetzt steckst du auch noch bis über beide Ohren in diesem Botswana-Projekt.« Meine Wangen brannten vor Wut. »Wann hast du dich zum letzten Mal wirklich mit Alice unterhalten?«

»Heute Abend erst. Ich bin zu ihr hochgegangen, als sie Geige übte.« Er inhalierte einige Stöße Ventolin, dann lehnte er sich mit düsterem Blick gegen den Schreibtisch. »Ich habe gesehen, dass alle ihre Matroschkapuppen kaputt sind. Sie hat sie mit Absicht zerbrochen.«

»Das war nicht sie, Adam, das ist Sofia passiert. Aus Versehen sicherlich, aber Sofia wirkte so schuldbewusst, als ich sie fragte. Sie muss es gewesen sein. Vielleicht nimmt Alice die Schuld auf sich, um sie zu schützen.«

Adam musterte mich zweifelnd. »Ich vermute, es ist weitaus weniger kompliziert. Alice bettelt um Aufmerksamkeit. Negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine. Vielleicht braucht sie mehr Zeit mit uns … Vielleicht weiß sie nicht, wie sehr wir sie lieb haben.« Er hielt inne und kratzte sich am Hals.

»Natürlich weiß sie das.«

»Woher?« Er schien ehrlich neugierig auf die Antwort zu sein.

»Ich sage es ihr dauernd.« Das stimmte allerdings nicht. Ich sagte es ihr nie. Ich ging selbstverständlich davon aus, dass sie es wusste. »Und ich zeige es ihr.«

Tat ich das? Wenn ja, wann? Morgens mitten im Stress, wenn ich sie eilig zur Schule brachte, damit ich pünktlich zur Arbeit kam? Oder abends in der Hektik, wenn ich schnell meinen Papierkram erledigen wollte? Sie konnte keine Gedanken lesen. Vielleicht ahnte sie nicht einmal, dass wir sie lieb hatten. Adam mochte recht haben.

Ich kehrte ihm den Rücken zu und starrte nach draußen auf die Straßenlaternen. Es herrschte Stille. Abermals setzte Regen ein. Es klang, als würde er Hände voll winziger Steine gegen das Fenster des Arbeitszimmers schleudern. Sechstausend Meilen entfernt schien die Sonne jetzt auf eine smaragdgrüne Landschaft. Es war heiß. In dem Versuch, mich umzustimmen, hatte Adam mir kürzlich einige Fotos gemailt. Auf einem der Bilder war ein großer Baum mit flacher Krone an einem See zu sehen. Das Wasser schimmerte in der Sonne, und das Gras unter dem Baum wirkte üppig und weich. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich mit Alice im Schatten saß. Stellte mir den beißenden Duft von jungem Gras und den friedlichen Ruf der Vögel über dem Wasser vor. Alice wäre barfuß, ich auch. Nirgendwo eine Aktentasche.

Adam stellte sich neben mich und blickte auf die Tropfen, die am dunklen Glas hinunterglitten. »Ich habe heute die Provence gebucht. Dieselbe Villa, wieder vierzehn Tage. Aus der Nummer kommst du nicht raus.«

Zwei Wochen lang Sonne und Frieden. Ich nahm seine Hand, hob sie an den Mund und drehte sie, um sein Handgelenk zu küssen. Ich spürte den Ausschlag heiß und runzelig an meinen Lippen.

KAPITEL 4

London, Mai 2013

Ich schob mir die kalte Sonde über das Becken, während ich auf den Monitor neben mir blickte. Die Tür war verschlossen, das Rollo heruntergezogen. Ich lag auf dem Teppichboden in meinem Büro. Nur eine schnelle Kontrolle. Die Periode konnte bei Stress, Erschöpfung oder zu wenig Nahrung ausbleiben. Es war so viel los gewesen in letzter Zeit, dass alles davon zutreffen konnte.

Anfangs glaubte ich noch an einen Irrtum, dachte, die dichte, gebogene Form im Uterus liege an einer unscharfen Darstellung. Ich fuhr mit der Sonde hin und her, drückte jedes Mal fester. Es war kein Irrtum. In der Dunkelheit war ein winziges schlagendes Herz, kleine Bausteine einer Wirbelsäule, die dicke Nabelschnur zu sehen. Kein Wunder, dass mir in letzter Zeit so emotional zumute gewesen war – selbst jetzt liefen mir Tränen über die Wangen. Dies war ein Kind, unser Kind. Wenige Sekunden später drängte sich Sorge in das aufkeimende Glücksgefühl. Ich hatte es zugelassen. Vor sechs Wochen hatte es diesen Augenblick gegeben, in dem ich es hätte verhindern können, aber ich hatte mich dagegen entschieden. Was würde Adam sagen? Ich schloss die Augen. Er würde sich freuen. Natürlich würde er sich freuen. Er hatte sich so sehr ein weiteres Kind gewünscht. Er würde einen Moment lang zweifeln, vielleicht wäre er nicht sicher, ob er mich ernst nehmen konnte, aber dann würde sich sein Gesicht zu einem Lächeln verziehen. Er würde sich daran erinnern, dass er sich genau das gewünscht hatte.

Eine Tür fiel leise ins Schloss. Sarah hatte das Nachbarbüro betreten. Gedämpfte Schritte waren zu hören, gefolgt von einem kurzen Klicken, als sie den Computer anschaltete. Auf dem geriffelten Teppich war es mittlerweile unbequem geworden. Ich musste so bald wie möglich aufstehen und weitermachen, als wäre ich dieselbe wie vorher. Andererseits war ich ja auch dieselbe. Ich wollte immer noch alles so, wie es war. Familie, Arbeit, Erfolg. Ich wischte mir die Tränen ab. Wenn das Kind auf der Welt war, würde ich wieder arbeiten. Ich konnte es mir nicht leisten, emotional zu sein, weder jetzt noch später.

»Emmie?«

Ich stopfe mir den Pulli in den Mund, aber er hört mich trotzdem. Er kommt in mein Zimmer.

»Hör jetzt auf damit!« Er setzt sich aufs Bett. »Sie hätte nicht gewollt, dass du weinst.«

Mum hätte nichts dagegen: Wenn ich weine, nimmt sie mich in die Arme… hat sie mich in die Arme genommen.

»Die Beerdigung ist in zwei Stunden. Ich brauche deine Hilfe. Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«

Sein Gesicht ist geschwollen. Seine Augen sind rot und klein. Mein Brustkorb schmerzt. Er hat also auch geweint.

»Gefühle ziehen dich nur runter. Sei stark!«, sagt er und streicht mir mit seinem rauen Daumen über die Wange. »Das Einzige, was bleibt, bist du selbst. Das nennt man Überleben.«

Eine Woche später nimmt er mich zum ersten Mal mit zum Steinbruch.

Ich musste mich beeilen. Ich errechnete die Maße auf dem Monitor. Scheitel-Steiß-Länge: 1,46 cm. Herzfrequenz: 164. Arm- und Beinknospen: vorhanden. Siebte Woche, alles unauffällig. Ich wischte mir die klebrige Spur des blauen Gels vom Bauch und stand auf. Das ausgedruckte Ultraschallbild schob ich in meine Aktentasche.

Das Zimmer wirkte kleiner als sonst, muffig, als wären die Putzleute diese Woche nicht gekommen. Ich hätte gern das Fenster geöffnet, aber die schweren Glasfronten besaßen keine Scharniere. Licht strömte ins Zimmer, aber keine Luft. Um frische Luft zu tanken, musste ich mit dem Aufzug nach unten fahren, durch die Flure laufen, die Notaufnahme durchqueren, bis ich auf dem überfüllten Parkplatz stand, auf dem Asphalt neben den Mülleimern, wo sich die Raucher versammelten. Irgendwo gab es einen weiten Himmel, eine sonnige Wiese, Bäume mit flacher Krone. Frieden.

Mein Handy klingelte. Adam. Vor sechs Wochen hatte ich das Schicksal entscheiden lassen, in dem Glauben, dass eine mögliche Schwangerschaft irgendwie hilfreich wäre. Wie genau, hatte ich mir damals nicht richtig überlegt, was ungewöhnlich für mich war. Adams Vorhaben hatte mich einfach aus dem Konzept gebracht. Ich war müde gewesen, ein wenig angetrunken. Jetzt musste ich scharf nachdenken. Ohne mich zu melden, legte ich das Handy zur Seite und nach einigen Sekunden hörte das Klingeln auf. Würde ich ihm von der Schwangerschaft erzählen, flöge er früher nach Afrika als geplant, um rechtzeitig zur Geburt wieder hier zu sein. Meine Finger trommelten auf die Fensterbank. Er durfte überhaupt nicht fliegen. Alice brauchte ihn. Ich brauchte ihn. Ich fühlte mich jetzt schon erschöpfter als sonst. In vierzehn Wochen war ich im fünften Monat. Dann würde ich es ihm erzählen. Dann noch zu fliegen würde sich nicht mehr lohnen. Afrika wäre gestrichen. Unser Leben würde ganz normal weitergehen. Er würde sich über das Baby freuen und mir verzeihen. Nach der Geburt würde er sich zwei Wochen freinehmen wie bei den Mädchen. Nach sechs Wochen würde ich wieder arbeiten gehen. Sowohl jetzt als auch nach der Geburt würden wir alles ganz normal machen wie bisher, gemeinsam.

Den ganzen Morgen über trug ich das Geheimnis so eng und schweigend mit mir herum wie das Klümpchen Leben in meinem Körper. Eigentlich arbeitete ich heute nur den halben Tag, aber ich beschloss, zu bleiben und die Forschungsberichte für ein Projekt über Nabelschnurklemmen herauszusuchen, das mich interessierte.

Meine Sekretärin musste zweimal klopfen. »Ihr Mann ist am Telefon.«

»Schatz?«

Sein zögernder Tonfall klang nach: Ich möchte dich um einenGefallen bitten. Er wusste, dass heute mein freier Nachmittag war. Als ich ihm zuhörte, hätte ich am liebsten die Neuigkeiten hinausposaunt, aber ich konnte nicht. Meine Haut prickelte vor schlechtem Gewissen.

»Ich habe ein paar Scans zu Hause vergessen, die ich gleich brauche. Ich bin aber in einer Sitzung und kann nicht raus. Gleich anschließend findet die neuro-onkologische Sprechstunde statt, und ich brauche sie schon für den ersten Patienten.« Ich hörte, wie er sich vom Telefon wegdrehte und nieste. Schon wieder Asthma. Stress.

»Und?«

»Sie liegen auf dem Esszimmertisch, vielleicht aber auch auf dem Boden neben meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Megan will sie holen, wenn jemand sie reinlässt. Sofia hat heute aber frei.«

»Kannst du ihr nicht den Schlüssel geben?«

»Das hätte ich auch beinahe schon getan, aber wenn du da wärst und ihr einen Kaffee anbieten könntest, wäre ihr Gefallen nicht so groß. Hast du Zeit?«

Ich stand auf und räumte die Papiere zusammen. »Also habe ich etwas gut bei dir.«

»Du bist ein Engel. Dafür hole ich die Mädchen heute ab.« Er legte auf.

Ich hatte Megan einmal auf dem Krankenhausparkplatz kennengelernt. Mittleres Alter, strenger Pferdeschwanz, sie hatte müde gewirkt, irgendwie unnahbar. Einladungen zu unserer Weihnachtsfeier lehnte sie immer ab – ich wusste nie, ob ich etwas falsch gemacht hatte.

Von der Frau, die vor unserer Tür wartete, war ich überrascht: Sie war jünger, als ich sie in Erinnerung hatte, ihr kastanienbraunes Haar kringelte sich auf ihren Schultern, ihr ebenmäßiges Gesicht hellte sich auf, als sie mich sah. Sie kam auf mich zu. »Vielen Dank, dass Sie extra gekommen sind!«

»Wie nett, dass Sie helfen, Adam zu retten! Kaffee?«

Sie zögerte und warf einen Blick auf ihre hübsche Armbanduhr.

»Er kann Sie sicher noch zehn Minuten entbehren. Die neuro-onkologische Sprechstunde beginnt doch erst um zwei, oder?«

»Sie haben recht. Ein Tässchen wäre wunderbar.«

Sie folgte mir in die Küche. »Ich hätte ihm gestern Abend noch eine Erinnerung schicken sollen, aber eigentlich ist er immer sehr gewissenhaft.«

»Adam ist mehr als gewissenhaft.« Ich betrachtete sie, während ich den Wasserkocher anschaltete und zwei Becher mit Goldrand herausholte – die letzten unseres Hochzeitsgeschirrs. »Legt er bei der Arbeit seine Stifte auch immer parallel nebeneinander?«

Sie hob den Kopf, während sie den Mantel öffnete. »Ja!« Dann wurde sie rot – und fragte sich wohl, ob sie ihm in den Rücken gefallen war.

»Keine Sorge!« Ich nahm ihr den Mantel ab. »Ich erzähle es nicht weiter.«

Die Farbe ihres dunkelgoldenen Shirts passte perfekt zu ihrem Haar. Als ich den Becher vor ihr abstellte, nahm ich den Hauch eines teuren Dufts wahr. Galt er Adam? Ich fragte mich, ob er es wusste. Ich betrachtete sie erneut: Sie hatte wundervolle Haut, klare braune Augen und ein Muttermal auf der linken Wange. Sie wirkte natürlich und zurückhaltend. Nicht sein Typ, wobei das unfair war – Adam hatte keinen Typ. Soweit ich wusste, hatte er nie einer anderen Frau schöne Augen gemacht. Ich sah, wie Megan den polierten Agaherd musterte, die glänzenden Granitoberflächen, das ordentlich gestapelte Porzellan in der Vitrine. Das Chaos vom Abend zuvor war verschwunden. Der Schieferboden war tadellos sauber. Sofia schaffte es immer, dass ein Zimmer aufgeräumt wirkte.

»Ein wunderschönes Haus.« Megans Stimme klang warm.

Einen Augenblick lang war ich versucht, so zu tun, als sei dies mein Verdienst, aber die Wahrheit zu sagen war einfacher. Megan hatte einen vollen Alltag, mit Prioritäten kannte sie sich aus. »Ich habe eine Hilfe. Die Kinder hinterlassen immer Chaos, aber ich habe nie Zeit, mich morgens darum zu kümmern.«

»Sind das Alice und Zoë?« Sie betrachtete das große Schwarz-Weiß-Foto vor uns an der Wand, das wir vor einigen Jahren hatten machen lassen. Wir wirkten alle ein wenig unnatürlich darauf. Mein Haar war sorgfältig zerzaust – ich hätte Ende zwanzig statt Ende dreißig sein können. Die Kamera hatte Adam in einem lachenden Moment erwischt. Die Kinder standen zwischen uns und strahlten zauberhaft. Megans Blick wanderte eilig zwischen den Bildern hin und her. »Hübsche Kinder.« Sie klang ernst.

»Wir sind morgens schnell aus dem Haus, deshalb … na ja, Sie wissen ja, wie das ist …« Aber Megan hatte keine Kinder. Hatte ihr Mann nicht sogar gesundheitliche Probleme? Adam hatte mir sicher davon erzählt, aber ich konnte mich nicht erinnern.

»Mein Mann ist immer zu Hause«, sagte sie, und ich hörte aus ihrer Stimme einen Hauch vorsichtiger, verlegener Betroffenheit.

»Sie Glückliche! Adam ist nie da, um mir zu helfen. Manchmal denke ich, es wäre einfacher ohne ihn.«

»Einfacher?« Sie nippte an ihrem Kaffee.

»Wenn er sowieso nicht hier ist und mir mit den Kindern hilft, müsste ich ohne ihn immerhin für einen weniger kochen. Das würde sich fast ausgleichen – mit dem Vorteil: kein Sex, wenn man müde ist.« Ich besann mich. Was redete ich da? Ich kannte sie doch kaum. Meine Vorsicht musste einen Aussetzer erlitten haben. Freundschaften mit Frauen waren mir nicht sonderlich vertraut. Ich kannte gar nicht besonders viele.

Sie lehnte sich vor. »In Botswana bekommen Sie Hilfe, da bin ich sicher. Ich bin dort aufgewachsen.«

Adam hatte ihr also verschwiegen, dass ich ihn nicht begleiten würde. Hoffte er noch immer, dass ich meine Meinung änderte?

»Ich kenne nach wie vor verschiedene Leute dort«, sagte sie eifrig. »Adam wäre dankbar, wenn ich jemanden organisieren könnte.«

Meine Gedanken klapperten die entsprechenden Möglichkeiten ab. Machte sie mir einfach ein unschuldiges Angebot? Oder wusste sie, dass ich hierbleiben würde, und wollte mich überreden? Steckte Adam dahinter? War sie deshalb gekommen?

»Um ehrlich zu sein, Megan, ich bleibe hier«, sagte ich schnell. »Adam weiß, dass ich die Kinder nicht entwurzeln will oder mir ein Jahr freinehmen kann.«

»Ah, davon hat er mir gar nichts erzählt. Das tut mir leid.«

Vielleicht lag es an diesen schlichten Worten, an ihrem Lächeln oder an ihrer Hand, die locker auf dem Tisch lag, jedenfalls schien sich in der kurzen Stille, die folgte, etwas in mir zu öffnen. »Ich kann mir nicht einfach eine Auszeit nehmen, nur weil es Adam gerade in den Kram passt. Es war schwer genug, so weit zu kommen. Ich musste schon bei den Kindern meine Zeit opfern …« Gestern Abend allerdings war ich früher nach Hause gegangen, um Alice noch vor dem Schlafengehen zu erwischen. Ich setzte mich auf ihr Bett, während sie las. Sie sah zu mir auf und lächelte. »Ich habe heute an dich gedacht, Ally«, sagte ich. »Ich hatte eine Patientin, die Hilfe brauchte bei der Geburt ihrer kleinen Tochter. Sie hatte schwarzes Haar wie du. Als du kamst, warst du ganz winzig. Dad hat dich mir auf den Bauch gelegt.«

Alice tat so, als müsse sie sich erbrechen. »Bäh, eklig!«

Ich sah, wie sie ihren Blick wieder dem Buch zuwandte. »Liebling, du weißt, wie kostbar du bist …«

Aber sie hielt sich die Ohren zu und vergrub sich im Kissen. Ich streichelte ihr den Rücken. Ein ganz normales Verhalten. Ich spürte, dass wir eigentlich ganze Tage miteinander verbringen sollten, wahrscheinlich Wochen. Zeit, die ich nicht hatte. Ich organisierte in diesem Jahr die Geburtskundekonferenz im Sommer. Ich musste besondere Momente wie diesen finden, wann immer ich es schaffte.

»Ich wurde vor drei Jahren zur Oberärztin ernannt, und es stehen Forschungsprojekte an.« Meine Stimme klang brüchig in der behaglichen Küche. »Ich musste meinem Vater versprechen …« Ich brach ab. Um ein Haar hätte ich ihr von der Schwangerschaft erzählt.

»Sie müssen das Gefühl haben, alles, was Sie erreicht haben, sei bedroht. Ich weiß genau, wie das ist.«