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Im größten Uran-Tagebau Afrikas erlebt die Mikrobiologin Britta, wie Kolonialismus im 21. Jahrhundert funktioniert und droht dabei am Darwin'schen Gesetz des ewigen Sieges der Stärkeren über die Schwächeren zu Grunde zu gehen. Britta, die eine Mikrobe beforscht, mit deren Hilfe Uran ohne Zugabe von giftiger Schwefelsäure aus dem Erz gelöst werden kann, erhält vom französischen Nuklearkonzern Areva eine Anstellung in der Uranmine Arlit in Niger. Hier fressen riesige Maschinen ein Loch in die Erdkruste, die gesamte Gegend ist radioaktiv verstrahlt und die Lebensgrundlagen der Einheimischen werden zerstört, um Frankreichs Kernkraftwerke und Atomwaffenarsenal mit Uran zu versorgen. Immer weiter verwickelt sich Britta in einem Netz aus Korruption, Konflikten und himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Als sich auch noch Brittas Geliebter als Rebellensympathisant herausstellt, wird ihre Welt vollkommen aus den Angeln gehoben.
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Seitenzahl: 325
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Fritz Schermer
Am Krater von Arlit
ein Polit- und Wirtschaftsthriller
Cover: Eva Patz 2024
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel: Kimberley, Südafrika 2003
Zweites Kapitel: Bayreuth 2003
Drittes Kapitel: Agadez 2005
Viertes Kapitel: Arlit 2005
Fünftes Kapitel: Tamanrasset 2005-2006
Sechstes Kapitel: Âguelal 2006
Siebtes Kapitel: Tidène
Achtes Kapitel: Arlit 2007
Neuntes Kapitel: Marseille
Sie schaltete das Mikrophon aus, stieg vom Podium und durchquerte mit der Körperhaltung eines Roboters den Kongresssaal. Ohne auf das Publikum zu achten, steuerte sie die automatische Glastür an. Sobald sie vom Bewegungsmelder wahrgenommen wurde, schob sich die Aufschrift zur Seite:
Und schon stand Britta befreit in der Sonne Südafrikas. Sie klatschte in die Hände, jauchzte laut auf und warf sich ins Getümmel des Marktes von Kimberley. Eine Weile ließ sie sich treiben, bis sich ihr Puls normalisierte. Sie lauschte der Musik aus den Kofferradios, roch an den Buden der Hirseköche und genoss es, einfach zu schauen, ohne zu verstehen. Dann plapperte sie mit einem Silberschmied über grünblaue Ohrgehänge, die er als typisch afrikanisch pries. Eine dumme Touristin, zum ersten Mal in der Stadt und somit ohne Ahnung von den ortsüblichen Preisen, kaufte kitschigen Schmuck für ihr Ohr, über das sie vermutlich gerade gehauen wurde, und lachte bei der Vorstellung, der stümperhaft verarbeitete Schmuck aus wertlosen Steinen stamme aus dem Beschäftigungsprogramm eines bayrischen Knastes. Typisch afrikanisch daran war lediglich, dass er das Zerrbild eines ausgelaugten Kontinents verstärkte, dessen Kultur sich in dilettantischen Basteleien verarmter Kleinschmiede erschöpfte.
Drinnen im Konferenzzentrum war sie Expertin für eine neuartige Methode, durch den Einsatz von Bakterien Uran aus dem Erz zu lösen, draußen dumme Touristin. Drinnen verklemmte Fachidiotin, draußen kindisches Mädchen mit Hippie-Allüren. Sie war froh, draußen zu sein.
Gleichzeitig war sie überglücklich, drinnen gewesen zu sein. Drinnen, das war die Gesellschaft der weltweit anerkanntesten Montanwissenschaftler, zu denen sie nun gehörte. Ihre Anstrengungen hatten sich gelohnt: Sie hatte ihr Geologie-Studium in der Absicht begonnen, den leblosen Anteil des Planeten zu erforschen. Bald aber hatte sie festgestellt, dass es auf dem Boden unter ihren Füßen nicht viel zu erforschen gab, das nicht von Lebewesen erschaffen worden wäre. Die Berge bestanden zum Großteil aus fossilen Lebewesen, dreitausend der bekannten viertausendfünfhundert verschiedenen Mineralien waren Produkte von Lebewesen und etwa fünfzig Millionen verschiedene Kohlenwasserstoffverbindungen waren organischen Ursprungs. Die Atmosphäre des blauen Planeten war das Ergebnis von Stoffwechselprozessen der Lebewesen ebenso wie alle Brennstoffe, die man im Boden finden konnte: Holz, Kohle, Erdöl und Gas. Nach dem Diplom war sie mit wehenden Fahnen in das Doktoratsstudium der Mikrobiologie übergewechselt, um die einzelligen Architekten zu erforschen, die den Planeten Erde so einzigartig gestalteten.
Sie hatte als Assistentin des angesehenen Bayreuther Professors Bouceau Mikroben erforscht, die in die Elektronenstruktur von Metallen eingreifen und Stoffe aus ihrer Verbindung mit anderen Stoffen lösen konnten. Soeben hatte sie ihre Forschungsergebnisse einem erlesenen Publikum präsentiert: ‘Bioleaching’ zur Gewinnung von Uran, durch den Einsatz einer Mikrobe namens Geobacter, um die Verwendung giftiger Säuren zu vermeiden. Sie hatte den penibel vorbereiteten Vortrag wie am Schnürchen durchgezogen, ohne Panne, ohne Emotionen zu zeigen. Jetzt wusste die Welt, oder wenigstens die besten ihres Faches, woran Britta in den letzten Jahren geforscht hatte.
Irgendwie spürte sie, dass sie heute in die Welt der Überlegenen aufgenommen worden war. Gleichzeitig wusste sie, dass dies nie die Welt sein würde, in der sie sich wohl fühlen konnte. Das Grinsen eines Silberschmiedes fand sie lustig, der verhaltene Applaus einer Elite geologischer Koryphäen war ihr zum Davonlaufen peinlich.
Noch während sie im Erfolg des Vormittags schwelgte, wuchs ihre Vorfreude auf die zweite Sensation des Tages: Kimberley hat das skurrilste Stadtzentrum des ganzen Kontinents. Es besteht aus einem Loch.
Von klein auf hatte Britta das Bedürfnis, ein Loch in die Erde zu graben, vielleicht entwickelte sich sogar ihr Wunsch, Geologie zu studieren, aus diesem Drang. Der Boden unter ihren Füßen erschien ihr als das Interessanteste und für ihr Schicksal Entscheidendste im ganzen Universum. Mit den Jahren wurde es ihr immer unverständlicher, warum die verträumte Menschheit riesige Teleskope baute, Weltraumraketen und Satelliten ins All schickte, während sie die Ressourcen des Bodens sträflich ignorierte, als befände sich die Hölle unter ihren Füßen. In die Höhe waren die Menschen vorgedrungen, auf den Mond waren sie geflogen. Doch in die Tiefe zu graben erschien ihnen als zu mühsam. Den Tiefenrekord hielten russische Forscher, sie bohrten auf der Halbinsel Kola ein Loch, gaben aber nach gerade einmal 12 Kilometern Tiefe auf.
Von den Weisen aus dem Morgenland bis zur Verfasserin des Horoskops vom Donnerstag in der lokalen Tageszeitung scheute die Menschheit keine Mühe, die Bedeutung der Zeichen am Himmel zu erforschen. Dabei war noch nie etwas Nützliches vom Himmel gefallen, weder ein Meister noch eine Kartoffel. Alles Nützliche kam Brittas Überzeugung nach aus der Erde. All den klugen Religionsgründern hielt sie die unschlagbare Kritik Heinrich Hoffmanns entgegen, der dem Hans Guck-in-die-Luft den Vorwurf machte:
„Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut’ er aufwärts, allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht.“
Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, denn sie war beim Loch von Kimberley angekommen. Die aufgelassene Diamantenmine hat einen Durchmesser von 450 Metern und ist 240 Meter tief. Von einem Stahlgerüst aus schaute Britta in die Tiefe des größten je von Menschenhand – ohne Maschinen – in die Erdkruste gegrabenen Loches. Bis zu 50.000 Arbeiter waren damit beschäftigt, darin nach Diamanten zu suchen. Das Big Hole verschluckte tausende Menschen. Sie starben an Hunger, Gewalt, Unfällen und Krankheiten. Zur Befriedung dieses Heeres schwarzer Arbeiter durch ein Häuflein Weißer wurde in den Kimberley Mines ein Terrorsystem ausgeklügelt, das später als Apartheidregime das ganze Land prägen sollte.
Britta war von dem Loch sonderbar fasziniert. An solchen Löchern in der Erdkruste mussten sich vor Jahrmilliarden aus dem Zusammentreffen von alkalischer Lava und saurem Wasser die Aminosäuren gebildet haben, erste Lebewesen entstanden, wie Geobacter, über den sie am Vormittag ihr Referat gehalten hatte.
„Ihr Vortrag war sensationell“, sagte eine Frau, die neben sie getreten war.
Britta bedankte sich geistesabwesend. Die Frau stellte sich als Marie vor. Eine etwa 45-jährige, zierliche Frau mit wachen, grauen Augen. Sie war seriös geschminkt und sehr korrekt gekleidet, zart bitteres Parfum, unaufdringlich. Alles, bis auf ein paar vereinzelte graue Haare in der aufgesteckten brünetten Frisur wirkte streng.
Ein paar Minuten lang blickten sie schweigend hinunter in Afrikas Hosensack, den die europäischen Kolonialmächte bis auf den letzten Diamanten geplündert und dann trostlos und leer hinterlassen hatten.
Dann sagte Marie: „Ich schlage Ihnen vor, ein Konzept zu erarbeiten, um Ihre Forschungsergebnisse in der Praxis zu erproben. In der Uranmine Arlit.“
Britta horchte auf. „Areva?“ fragte sie erstaunt. Der französische Nuklearkonzern Areva, der in Partnerschaft mit Siemens vor allem Atomkraftwerke errichtete, war einer der größten Uranproduzenten der Welt und versorgte unter anderem Frankreichs nukleare Industrie mit Uran. Eine seiner größten Minen war Arlit im Norden Nigers.
„Areva würde gern Ihr Verfahren in Arlit einsetzen“, konkretisierte Marie trocken.
Britta glotzte in die Grube und plapperte: „Areva würde gern mein Verfahren in Arlit einsetzen“. Sie überlegte, dann wandte sie sich Marie zu, deutete aber mit der Hand auf den Abgrund und sagte bestimmt: „Ist Ihnen das Loch nicht groß genug? Meinen Sie, ich sollte daran weiter graben?“
Marie hob beschwichtigend die Hand. „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Nehmen Sie mein Angebot einfach als Kompliment. Mikrobiologie ist eine Technik mit großer Zukunft. Und Sie sind eine der größten Expertinnen dieses Faches.“
Britta entschuldigte sich und sagte beschwichtigend: „Sie können mich gerne schriftlich kontaktieren.“
Die beiden tauschten die Visitenkarten aus und trennten sich.
* * *
Der verkalkte Duschkopf ihrer Bayreuther Altbauwohnung brachte sie tröpfchenweise wieder zurück nach Europa. In der verspiegelten Schranktür betrachtete sie zum ersten Mal eine nasse, nackte, weltbekannte Wissenschaftlerin, um die Areva ritterte. Ihre Haare waren etwas zu lang, wellten sich und gaben ihr einen etwas zu angepassten Ausdruck. Der Rest des Oberkörpers war durchaus ansehnlich, nur vom Nabel abwärts war sie etwas zu stämmig geraten. „Bodenhaftung“, rechtfertigte sie sich trotzig. „Auf dem Fleischmarkt kann ich mithalten, ich will auch beruflich in den Spiegel schauen können“.
Und das konnte sie jetzt. Kimberley hatte aus ‘Bouceaus Kellerassel’, als die sie sich manchmal bezeichnet hatte, eine begehrte Expertin gemacht.
Sie wollte diesen letzten Tag ihrer Freistellung nutzen, um sich auf ihren Bericht über den Besuch des Internationalen Bergbaukongresses 2003 in Kimberley zu konzentrieren, bei dem sie den Institutsvorstand Professor Bouceau zu vertreten die Ehre gehabt hatte.
Sie frühstückte am Balkon und eilte in die Stadt, um sich in Irenes Haarsalon einen frechen Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Zufrieden mit ihrer Frisur schob sie das Unterkiefer nach vorn, ging in die Wohnung zurück und suchte die langen Ohrgehänge, die sie dem Schmied in Kimberley abgekauft hatte. Noch nie zuvor hatte sie sich derart burschikos präsentiert. Bei näherer Betrachtung gefiel sich die frisch frisierte Britta mit den grünblauen Ohrgehängen. Sie fand ein grünblaues, knielanges Kleid, das ihr eigentlich nicht besonders gefiel, das aber gut zu den Gehängen passte. Sie suchte Stiefeletten und fand auch eine Lederjacke. Sie sah in den Spiegel und sagte laut: „So schaut Britta aus“. Schön schaute sie aus, aber, wie meistens, nicht schön genug: diese Aufmachung passte nicht zu ihr. Etwas entenähnlich stiefelte sie los in Richtung Institut für Afrika-Studien. Sie hatte kurzfristig einen Gesprächstermin mit Deutschlands prominentestem Westafrika-Experten, Professor Spindler, ergattert. Offenbar war es ihr gelungen, ihm die Wichtigkeit ihres Anliegens zu vermitteln.
Professor Spindler hatte viele Reisen in die Sahara und die Sahel-Staaten unternommen. Das von ihm gegründete Institut vermittelte Stipendien bevorzugt an Söhne einflussreicher Tuareg, um den politischen Nachwuchs Westafrikas auszubilden mit dem Ziel, ihn wirtschaftlich von Europa abhängig zu machen und den Einfluss russischer, chinesischer und indischer Investoren zurückzudrängen. Spindler war einer der honorigsten Professoren der Universität Bayreuth, Vielschreiber und bekannter Organisator internationaler Kongresse.
* * *
Es war eine neue Britta, die tags darauf auf das Institut für Mikrobiologie der Universität Bayreuth zuging. Professor Spindler hatte sie in der Ablehnung von Maries Angebot mit unwiderlegbaren Argumenten ausgestattet und ihr sogar geraten, die Forschungsarbeiten an Geobacter abzulehnen. Das lag ganz in ihrem Interesse: Noch heute würde sie die Forderung stellen, wieder ihre seit zwei Jahren liegengebliebene Arbeit mit ihrer Lieblingsbakterie Shewanella Putrefaciens wieder aufnehmen zu dürfen.
Brittas Bericht über ihren Vortrag in Kimberley und das daraus resultierende Angebot des Konzerns Areva hatten bei Professor Spindler die Alarmglocken schrillen lassen. „Hände weg von Areva!“, hatte er eindringlich gemahnt. „Die Mine Arlit ist ein Produkt des Neokolonialismus. Areva beutet das Land wirtschaftlich aus, zerstört die Lebensgrundlagen der Tuareg und hinterlässt ein sogenanntes Opfergebiet: Die Gegend von Arlit wird wegen der radioaktiven Strahlung für Jahrtausende unbewohnbar bleiben, auf ewig der kurzfristigen Gier geopfert. Heute wird Uran fast nur noch in ehemaligen Kolonien abgebaut. Die militärische Kolonialisierung hat die unterworfenen Länder für Jahrzehnte geschädigt, der nukleare Kolonialismus auf Jahrhunderte.“ Dann hatte er erklärt, dass die neue rot-grüne Regierung ein Gesetz zum Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung der Atomkraft erlassen habe. „Daran haben wir uns selbstverständlich zu halten. Die Universität Bayreuth wird niemals zulassen, dass sich eines ihrer Institute am Betrieb einer Uranmine beteiligt.“
Am Eingangstor des Instituts für Mikrobiologie hing ein Plakat: Eine von roten Röntgenstrahlen durchleuchtete Hand mit dem Text „Keep uranium in the ground! Aghirin’man“. „Toll organisiert“, freute sie sich. „Langsam zieht der Zeitgeist in unser Institut ein.“ Aghirin’man war eine nigrische Gruppe von Atomgegnern, die vom Institut für Afrika-Studien unterstützt wurde.
Mit klopfendem Herzen betrat sie ihren Arbeitsplatz. Sie bemühte sich so zu tun, als sei dies ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Sie trug einen gewöhnlichen Arbeitskittel, grüßte ihre Kollegen gewöhnlicher als gewohnt und sah zuallererst nach Geobacter, über den sie in Kimberley ihren Vortrag gehalten hatte.
Um zehn Uhr sollte sie über ihre Erfahrungen in Kimberley referieren. Es war in Bouceaus Institut üblich, neue Erkenntnisse auszutauschen und daraus Konsequenzen für die weitere Forschungsarbeit des gesamten Institutes abzuleiten.
Seit über sieben Jahren arbeitete sie als Assistentin in Bouceaus Forschungsinstitut. Lange hatte sie sich vergeblich bemüht, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, um sich einen Namen zu machen. Sie war bescheiden, etwas schüchtern vielleicht und zudem eine Frau. Stets hatte sich ein geschickterer oder rücksichtsloserer Mann gefunden, der sie auf der Karriereleiter überholte. Sie hatte in ihrem Kellerlabor gesessen, im Verborgenen geforscht, während andere ihre Ergebnisse veröffentlichten und vermarkteten.
Andererseits war Bouceau ein hervorragender Mentor für sie. Der erfahrene und bestens vernetzte Biotechnologe öffnete neue Türen für sie im weitläufigen Schloss der Wissenschaft. Er kannte Gott und die Welt, war wissenschaftlicher Berater in Ost und West, einer der wenigen in dieser konfliktreichen Branche, die sich politisch nicht vereinnahmen ließen. Und er bewegte sich wie ein Fisch im spärlichen Wasser der ehemaligen französischen Kolonie Französisch Westafrika, aus der das gesamte Uran für die französischen Kernkraftwerke stammte. Bouceau hatte ein feines Gespür für Themen, die öffentliche Beachtung fanden, trieb das nötige Geld zur Finanzierung eines Projektes auf und sorgte für prominente Veröffentlichung der Ergebnisse. Und Britta setzte seine Konzepte effizient um. Das war ihre Stärke.
Das Labor, in dem Britta arbeitete, hatte sich auf anaerobe Mikroorganismen spezialisiert. An-aerob bedeutet, sie lebten ohne Luft. Vor 3,5 Milliarden Jahren entstanden diese ersten irdischen Lebewesen, in Zeiten, in denen es noch keine Luft zu atmen und kein organisches Futter zu verdauen gab.
Geobacter metallireducens zum Beispiel ernährte sich, indem er Uran-Atome um ein paar Elektronen reduzierte, wodurch sie sich aus dem Erz als hochwertiges Uran herauslösten. Seit Monaten hatte sich Britta ausschließlich mit Geobacter beschäftigt, und noch nie zuvor hatte Bouceau solches Interesse am Fortschritt ihrer Forschungen gezeigt.
Für Geobacter hatte Britta die Arbeit mit Shewanella zurückstellen müssen, einer viel flexibleren Mikrobe, deren Potenzial nach Brittas Meinung von der Wissenschaft bisher völlig unterschätzt worden war. Vielleicht ergab sich ja, überlegte Britta, durch ihre Ablehnung des Afrika-Projektes die Möglichkeit, sich wieder mehr auf Shewanella zu konzentrieren.
Sie war von der Idee so angetan, dass sie zu den hintersten Becken des hintersten Labors eilte, wo Shewanella in ihrer Nährlösung darauf wartete, dass ihr endlich wieder die ihr gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Beim ersten Blick durch das Mikroskop wurde ihr bewusst, dass Shewanella die hübscheste Mikrobe war, der sie je begegnet war: Brittas Prinzessin.
Šĕva, das Reich der Könige des heutigen Äthiopien, wurde um 1000 vor Christus von Malkat Šĕva regiert. Die reiste zu König Salomon auf Besuch, der sie als die Königin von Saba in üppigen Psalmen besang. Die Königin aus dem Ende der Welt war so begeistert von Salomo, dass sie ihm 120 Talente - das sind mehr als 7 Tonnen - Gold schenkte. Neun Monate nach diesem Besuch wurde Menelik geboren, der Stammvater der Salomoniden, die in der Folge alle äthiopischen Herrscher stellten. Der letzte Kaiser Abessiniens, Haile Selassie, bezeichnete sich als 225. Nachfolger des Sohnes der Königin Šĕva und des Königs Salomon. Der Kaiser dankte 1975 Jahre nach Christus ab. Shewanella aber, die atemberaubende Prinzessin von Šĕva, überlebte – ausgerechnet in Brittas Labor. Zum Aschenbrödel degradiert saß sie am anderen Ende des Käfigfensters namens Mikroskop und blickte hilfesuchend in Brittas winziges, unerreichbar weit entferntes Auge. „Hol mich hier raus“, flehte die Mikrobe.
Bis vor etwa einem Jahr hatte Britta mit Begeisterung Shewanellas Stoffwechsel erforscht. Das große Ziel war, die von Shewanella befreiten Elektronen zur Energiegewinnung zu nutzen. Irgendwann würde man mikrobielle Brennstoffzellen, etwa zur Energieversorgung unbemannter Geräte, züchten können. Shewanella konnte aber auch Wasserstoff aus seinen molekularen Verbindungen lösen. Die konventionelle Herstellung von Wasserstoff durch Elektrolyse verbrauchte laut Brittas Berechnungen 5,8 mal mehr Energie als wenn man Shewanella damit beauftragen würde. Damit würde Wasserstoff als Energieträger zur praktikablen Alternative zu fossilen Brennstoffen.
Britta war in ihrem Innersten überzeugt, den Schlüssel zur Lösung aller von Menschen verursachten Probleme dieses Planeten in der Hand zu haben. Doch für Shewanella gab es kaum Geld, ohne Geld keine Forschungsergebnisse und ohne Forschungsergebnisse keine Karriere. Nur deshalb hatte sie sich so auf Geobacter konzentriert.
Ausgerechnet jetzt, wo die Rechnung zugunsten Geobacters aufgegangen war, beschwerte sich Shewanella: „Hol mich hier raus, ich bin dein Lebensauftrag. Du darfst nicht mit dem gewöhnlichen Geobacter deine Zeit vertrödeln!“ Und im Grunde hatte sie Recht. Warum gab es kein Geld für Shewanella? Weil Bouceau kein zugkräftiges Forschungsdesign für sie hatte. Doch musste das für immer so bleiben? Britta ballte ihre Faust. Sie rollte den Flipchart-Ständer aus dem Besprechungsraum in Shewanellas Labor und fertigte ein Plakat an:
LISTE DER FÄHIGKEITEN VON SHEWANELLA:
• SIE KANN OHNE SAUERSTOFF AUSKOMMEN UND LUFT ERZEUGEN, WENN DIE ATMOSPHÄRE ZUSAMMENBRICHT.
• SIE ERNÄHRT SICH, INDEM SIE METALL-ATOMEN ELEKTRONEN ENTZIEHT, MIT DENEN SIE IHREN AKKU AUFFÜLLT. DIESER AKKU EIGNET SICH AUCH FÜR DIE TECHNISCHE NUTZUNG ALS STROMQUELLE.
• SIE KANN WASSERSTOFF AUS SEINER VERBINDUNG MIT ANDEREN ELEMENTEN LÖSEN UND DAMIT DIE ENERGIEQUELLE DER ZUKUNFT FREIMACHEN.
• SIE KANN IN DIE ELEKTRONENSTRUKTUR VON URAN EINGREIFEN UND DAMIT ZUR DEKONTAMINIERUNG VON ABFÄLLEN DER NUKLEARINDUSTRIE EINGESETZT WERDEN.
Britta trat ein paar Schritte zurück, den Flipchart-Marker wie ein Dirigent zum Orchestereinsatz erhoben, überprüfte den Text mit halb zugekniffenen Augen. Zufrieden signierte sie das Plakat recht unten mit „B.“ und warf den Marker in die Luft. Bei Gelegenheit würde sie dieses Plakat jedem zeigen, der darauf Einfluss nehmen konnte, dass Britta von Geobacter zu Shewanella zurück verlegt würde. Auch wenn es dafür nicht allzu viele Kandidaten gab. Es war ein Plakat, wie es Demonstranten trugen: ein Protest gegen ihre Bevormundung durch Professor Bouceau. Sie wollte nicht mehr die Kellerassel im Labor des alten Herrn sein. Denn in jüngster Zeit hatten ihre Hirngespinste eine neue Dimension bekommen: Britta fuhr in der Weltgeschichte herum, sie war zur Elite der innovativsten Mikrobiologen aufgerückt. Ihre Fähigkeit, fachliche Expertise in glasklaren Forschungsdesigns umzusetzen und diese dann noch praxisnahe in Fachkreisen zu vermitteln, schien jetzt nicht mehr nur bei Wissenschaftlern, sondern auch bei großen profitorientierten Unternehmen begehrt zu sein.
Sie riss das Plakat vom Ständer und klebte es an die Wand. Den Ständer rollte sie zurück in den Besprechungsraum.
Dann widmete sie sich wieder dem Mikroskop.
„Hab Geduld, Shewanella“, murmelte sie an der Reservebank des Institutes und blickte zu ihrer Freundin durchs Käfigfenster. „Wegen Geobacter bin ich von dir weg und in diese missliche Situation gekommen: Der böse Bouceau hat mich mit Geobacter verheiratet. Wir müssen Geobacter denunzieren, und Bouceau von deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten überzeugen. Ich werde wieder mit dir weiter arbeiten und wir retten gemeinsam die Welt.“
Noch nie zuvor hatte sie so selbstsicher eine Institutsversammlung betreten. Der Raum war gerade groß genug, um die zwei Dutzend Mitarbeiter des Institutes aufzunehmen. Alle wirkten nervös. Fragende Blicke trafen Britta.
Punkt zehn Uhr traf der Professor ein. Ohne Umschweife eröffnete er die Besprechung mit einer Frage an Britta. „Wie war’s in Kimberley?“
Dem war offenbar eine Laus über die Leber gelaufen. Indigniert sagte sie: „Schön war’s in Kimberley.“
Bouceau schwieg.
„Ich glaube, unsere Forschungsergebnisse sind auf Interesse gestoßen“, konkretisierte sie.
Er hüstelte. „Der Rektor der Universität Bayreuth wünscht eine Stellungnahme“.
Britta war verblüfft. Sie hatte sich den Empfang durch ihren Mentor nach ihrem brillanten Auftritt in Südafrika anders vorgestellt. „Der Rektor?“
„Vertreter des Instituts für Afrika-Studien proben den Aufstand gegen unsere Forschungen. Angeblich sind sie von Ihnen aufgewiegelt worden.“
Britta zog den Kopf ein. Offenbar hatte Professor Spindler in seiner Entrüstung sofort auf höchster Stelle Alarm geschlagen.
„Ich werd‘ verrückt“, stammelte sie. „Ich habe erzählt, dass es ein Angebot gibt, Geobacter in der Uranmine Arlit einzusetzen. Na und?“
„Sie posaunen herum, unser Institut wolle sich im Uranabbau engagieren!? Das ist illoyal oder wenigstens naiv!“ Noch nie hatte Britta ihren Vorgesetzten so wütend erlebt. Er setzte zu einem Vortrag an über die Verschwiegenheitspflicht aller Bediensteten des Institutes. „Interna sind intern“, betonte er. „Es ist inakzeptabel, dass ich von außen erfahren muss, was Britta in Südafrika ausgehandelt hat. Ist jemand anderer Ansicht?“
Betreten verschwieg die Belegschaft ihre Ansicht. Ganz leicht hob eine junge Mitarbeiterin, die erst seit Kurzem zum Team gehörte, die Hand. Britta kannte ihren Namen gar nicht, weil alle sie nur ‚die Öko‘ nannten.
„Intern gefragt, Herr Professor,“ sagte sie, „werden wir jetzt für SNP arbeiten oder nicht?“
SNP, mit vollem Namen ‘Siemens Nuclear Power’ war noch bis vor Kurzem Teil der deutschen Siemens Kraftwerks-Union gewesen, die eng mit Areva zusammenarbeitete, aber kürzlich aus juristischen Gründen in das Firmengeflecht des Areva-Konzerns eingebunden und somit nach Paris ausgelagert worden war. Die Katze war aus dem Sack: Teile der Belegschaft verdächtigten Bouceau, das neue Gesetz zu Deutschlands Ausstieg aus der Nutzung der Atomkraft zu unterlaufen. Warum sonst steckte er so viel Energie in die Forschung an Geobacter, der in Kanada bereits zur Urangewinnung eingesetzt wurde?
„In aller Deutlichkeit: Es gibt keinerlei konkreten Anlass für solche Verdächtigungen“, begann der Professor streng. „Unsere Forschungstätigkeit ist selbstverständlich in jeder Hinsicht gesetzeskonform. Alles andere wäre unvernünftig.“
Britta witterte die Gelegenheit, sich aus der Affäre zu ziehen: „Ich bin in Kimberley von einer Vertreterin von Areva angesprochen worden, ob wir nicht Geobacter in Arlit einsetzen wollen. Ich habe selbstverständlich abgelehnt.“
Der Professor wurde weiß. „Sie haben – was?“
„Ein richtig konkretes Angebot?“, fragte die Öko naiv.
„Es hat sich wie ein richtig konkretes Angebot angehört, zum Einsatz von Geobacter mitten in der Sahara.“ Britta kapierte noch immer nicht, was den Alten derart an den Rand des Herzinfarktes trieb.
„Sie haben ein Angebot Arevas abgelehnt und damit eine Jahrhundertchance für mein Institut leichtfertig in den Wind geschlagen! Und danach haben Sie in der Öffentlichkeit damit geprotzt, das Angebot angenommen zu haben und damit die Atomkraftgegner gegen mein Institut aufgebracht.“ Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.
„Was ist denn schlimm an den Atomkraftgegnern?“, wandte die Öko ungerührt ein. Sie war die einzige, die in ihrer unschuldigen Art Rückhalt für Britta bot.
„Wissen Sie, wer das Plakat an unsere Tür gehängt hat?“, schnaufte Bouceau: „Aghirin’man. Das ist der informelle Arbeiterverein der Mine in Niger, von der wir hier reden. Das sind tausende unzufriedene Arbeiter, die vor nichts zurückschrecken. Und die stehen in engem Kontakt mit Greenpeace. Und wissen Sie, was Greenpeace von der französischen Nuklearindustrie hält? Nichts, beschönigend gesagt, weil der französische Geheimdienst ihr Flaggschiff, die Rainbow Warrior, samt Besatzung versenkt hat, wegen deren Protest gegen Atombombentests. Hier geht es um Leben oder Tod.“
„O Schreck, ein afrikanischer Arbeiterverein“, kicherte die Öko. „Was machen Menschenfresser in unserer friedlichen Stadt?“ Auch ihr schien völlig unklar zu sein, was Bouceau dermaßen erregte.
Krampfhaft dachte Britta nach, wie sie den wütenden Professor beruhigen konnte. Am ehesten mit sachlichen Argumenten.
„Herr Professor! Ich hatte auf dem Kongress über Geobacter berichtet, der sich in Kanada bewährt. Geobacter braucht Unmengen Wasser und er kann in den Kohlenstoffverbindungen des Tim-Mersoi-Beckens, in dem das nigrische Uran vererzt ist, nicht überleben. Ich musste aus fachlichen Gründen ablehnen.“
Tatsächlich hörte Bouceau einen Moment lang auf zu hyperventilieren. Er kniff die Augen zu und dann verkrampfte er seine Finger zu einer Faust. „Dafür sind Sie am Institut, Sie haben Geobacter für Kanada fit gemacht, Sie sollten jetzt einen Schritt weiter gehen. Jetzt, wo sich Areva um die beste Mikrobiologin Europas bewirbt.“
„Fachlich haben Sie Recht: unsere Forschung ist nicht abgeschlossen, sie steht erst vor einem vielversprechenden Anfang. Doch unsere Forschung in dieser Mine umzusetzen ist ethisch nicht vertretbar. Es gibt namhafte Wissenschaftler, die den nuklearen Kolonialismus hinsichtlich der Schäden für die indigenen Völker als fataler einstufen als den militärischen. Wir sollten unsere Forschungen auch moralisch vertreten können.“
Bouceau konterte: „Frau Britta! Der Spruch ‚Keep uranium in the ground‘ ist moralisch in Ordnung, aber schlicht realitätsfern. Ausgerechnet Sie fordern Moral. Unser Institut hat ethische Richtlinien, an die wir uns immer gehalten haben und halten werden. Zu Ethik und Moral gehören unter anderem Loyalität, sowie Diskretion in betriebsinternen Angelegenheiten. Wenn Sie sich erlauben, unser Institut öffentlich zu verleumden sowie unbefugt einen Millionenauftrag abzulehnen, dann sollten Sie nicht allzu arrogant meine Moral strapazieren. Ich denke, das Maß ist jetzt voll. Ich erwarte mir von Ihnen, dass Sie eigenhändig das Plakat entfernen und dann gegenüber diesem Aghirin’man und der Presse unmissverständlich klarstellen, dass dem Institut für Mikrobiologie kein Angebot vorliegt, sich am Uranabbau in der Sahara zu beteiligen.“
Britta wurde jetzt wütend. Sie atmete durch und sagte, so beherrscht es ihr möglich war: „Ihr Wort wird in Bayreuth gehört. Warum gehen Sie nicht selbst hin und halten ein mächtiges Plädoyer für ein Engagement in Arlit?“
„Oh nein“, wehrte ihr Chef angewidert ab. „Dieses Publikum ist nichts für mich. Ich will mich nicht von einem Haufen aus Linken, Atomgegnern und Menschenrechtlern beschimpfen lassen. Das hatte ich heute schon. Für diese Leute ist ein alter weißer Professor automatisch ein Symbol für Arroganz, Kapitalismus und Kolonialismus. Einer jungen, intelligenten Doktorin werden sie zuhören. Sie werden die Sache bereinigen; unmissverständlich, und noch bevor Sie dieses Institut wieder betreten.“ Professor Bouceau schloss das Treffen ab mit der Bemerkung: „In fünf Minuten ist das Plakat entfernt“, und marschierte steif aus dem Raum. Britta blickte in die Runde. Betretene Gesichter. Nur die Öko grinste.
„Was gibt es da zu grinsen?“ fragte Britta.
„Bin gespannt, was du jetzt machst“, sagte die Öko.
Britta verließ das Institut, das zu betreten ihr versagt war, bis sie sich vor aller Welt entschuldigt hätte. Bouceau hatte ihr tatsächlich die Kündigung angedroht.
Trotz stieg in ihr auf. Keinesfalls würde sie sich instrumentalisieren lassen, um Bouceaus Machenschaften zu verschleiern. Worum ging es überhaupt bei dem Vorhaben Arevas, auf das Bouceau so scharf zu sein schien?
Nichts war jetzt wichtiger als herauszufinden, was die eigentliche Absicht jener Frau war, die Britta das Angebot ihres Lebens gemacht hatte. Das Plakat ließ sie hängen. Sie rannte hinunter zum Roten Main, setzte sich auf eine Bank und drückte Maries Nummer.
„Schön, dass Sie anrufen“, sagte Marie. In ihrer Stimme lag die Kälte von damals in Kimberley. Britta lief ein Schauer über den Rücken. Sie atmete durch, um schnell die entscheidende Frage zu stellen: „Würden Sie Bakterien auch zur Dekontaminierung radioaktiver Abfälle einsetzen wollen?“
„Selbstverständlich“.
Marie konnte keine Ahnung haben, wovon Britta redete, und sagte einfach ‚naturellement‘, was wohl bedeuteten sollte, dass ihr Angebot bedingungslos gelte.
„Das wäre in der Mine Arlit aber mit Geobacter metallireducens nicht durchführbar. Ich möchte es gerne mit Shewanella putrefaciens versuchen.“
„Wie Sie wollen“.
Das ging beängstigend einfach. Britta machte einem Weltkonzern ein Angebot, von dem Marie wahrscheinlich nicht das Geringste verstand, und die antwortete mit ‚s’il vous plaît‘.
Erst gestern hatte sie Professor Spindler erzählt, sie hätte von Areva ein Angebot erhalten, und schon wurde ihr Chef als Atom-Lobbyist an den Pranger gestellt. Soeben war sie dabei, hinter dem Rücken Bouceaus weiter mit Areva zu verhandeln. Zerstörte sie nicht in diesem Moment ihre Karriere?
„Hören Sie, Marie, wenn mein Chef von unserem Gespräch erfährt, bin ich meinem Job los, und von Ihnen habe ich keinerlei Sicherheit“.
„Wenn Sie wollen, rede ich mit Monsieur Bouceau, er wird dem Projekt zustimmen.“
Britta hatte gehofft, dieses Telefonat vor Bouceau verheimlichen zu können. Jetzt war das ausgeschlossen: die beiden kannten sich. Sie fühlte sich kontrolliert. Eine aufsteigende Angst drängte darauf, das Gespräch zu beenden. Die Vernunft hingegen riet ihr davon ab: Was könnte das jetzt noch ändern? Sie musste ein offensives Angebot machen. Die Gedanken drehten sich immer schneller in ihrem Kopf.
Der Grund für Bouceaus Verstimmung fiel ihr ein: Das Plakat. „Aghirin’man hat bereits ein Protestplakat gegen den Uranabbau an die Tür unseres Institutes gehängt. Können Sie die auch beruhigen?“
„Wir sind nicht interessiert, den Uranabbau wegen eines Plakates einzustellen.“
„Geben Sie uns ein kleines Erfolgserlebnis: Erfüllen Sie eine harmlose Forderung der Arbeiter in Arlit.“
Nach einer Pause sagte Marie kalt: „Sagen Sie Ihnen, die Arbeiter bekommen Schutzbekleidung. Und dann konzentrieren Sie sich bitte darauf, Ihren Vorschlag in ein Konzept zu fassen. Wir können dann in Paris darüber entscheiden.“
„Wann kann das sein?“
„Meinerseits in der nächsten Viertelstunde.“
Britta legte auf. „Shewanella, wir fahren“, befahl sie streng.
„Agadez, Agadez!“ Jemand schüttelte an Brittas Schultern. Ihr Kopf brummte, Motoren brummten. Zwei Männer halfen ihr aus dem Sitz und zum Ausgang. Im Aufwachen riss sie sich los und stürzte die Gangway hinunter.
Als sie wieder zur Besinnung kam, schmerzte ihre Schulter und die Wirbelsäule, undefinierbar der ganze Rumpf. Der Kopf brummte immer noch, aber es brummten keine Motoren. Cognac kratzte in ihrem ausgedörrten Hals. Es dauerte ewig, bis sie die Augen öffnen konnte. Sie brauchte dringend etwas zu trinken.
Sie spürte eine dünne Matratze auf einem Eisengestell. Darunter befand sich ein Kontinent, der sich über Brittas Ankunft ungerührt zeigte: Afrika.
Langsam schloss sie die Augen wieder, eine halbe Ewigkeit lag sie still und versuchte sich zu orientieren. Wo genau war sie?
Sie war in Paris in eine kleine Maschine der Fluglinie Point Afrique gestiegen. Point Afrique war die einzige Fluglinie, die Charterflüge von Paris nach Agadez anbot. Marie hatte ihre Reise nach Arlit organisiert.
In der Nacht vor dem Abflug hatte sie mit Freunden Abschied gefeiert und sich bis an den Rand der Bewusstlosigkeit betrunken. Noch vor Sonnenaufgang war sie aufgebrochen. Der Kapitän persönlich hatte sie angesprochen und sie ermahnt, nichts mehr zu trinken – diese Peinlichkeit war ihr noch am unmittelbarsten in Erinnerung von den Ereignissen der letzten Tage. Sie erinnerte sich nicht an irgendwelche Sitznachbarn. Beim Abheben der Maschine hatte sie eine furchtbare Angst befallen, vom Erdboden fortgerissen zu werden, hinauskatapultiert zu werden aus dem Kontinent, für immer den Boden unter den Füßen verloren zu haben.
Point Afrique hatte sie über das Mittelmeer und die gesamte Sahara geflogen. Nur die letzten acht Meter nach Afrika hätte sie selbst gehen müssen. Doch die hatte sie übereilt abgekürzt, sie war geflogen anstatt die Gangway zu benutzen.
Jetzt lag sie irgendwo seit irgendwann mutterseelenallein in einem fensterlosen Raum. Sie drehte sich auf die Bettkante. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf den Boden – der Kontinent zeigte sich noch immer unbeeindruckt. Sie fand ihren Trolley und den Rucksack, aber kein Wasser. Ihr Haar war verklebt vom Blut aus einer Kopfwunde. Sie hatte ihr Haar noch nie gemocht. Sie wechselte die Kleider, warf ihr angepinkeltes und angeblutetes Reisekostüm in eine Ecke und trat ins Freie.
Die Tür führte direkt auf die Landepiste hinaus. Die sengende afrikanische Sonne schlug ihr ins Gesicht. Sie musste die Augen schließen. Um nicht das Bewusstsein zu verlieren, drehte sie sich um. Über der Tür, aus der sie gerade getreten war, stand in stolzen Lettern ‘Aeroport International Mano Dayak’. Das ebenerdige Gebäude des internationalen Flughafens von Agadez bestand aus vier quadratischen Räumen, in einem davon stand das Stahlrohrbett, in das Britta - vermutlich von der Crew der Fluglinie Point Afrique - verfrachtet worden war.
Flughafenpersonal gab es nur Donnerstags. Air Niger war vor Jahren bankrottgegangen. Wenn sich die Leute, die Britta abholen sollten, ein bisschen bemüht hätten, hätten sie sie wohl gefunden. Sie war in Afrika, dem, wie alle Afrika-Erfahrenen immer und immer wieder berichteten, Kontinent der Schlampereien. Idioten. Na ja, in diesem Fall war eindeutig Britta die Idiotin. Afrika hatte es verabsäumt, die berühmte Frau Britta zu begrüßen. Was bildete sie sich ein?
Es war mit Marie vereinbart, dass sie am Flughafen Agadez abgeholt würde. Das war aber offenbar nicht geschehen; sie würde nie erfahren, wer ihr den Samariterdienst erwiesen hatte, ihr Empfangskomitee vor dem Anblick der sturzbetrunkenen Sachwalterin der Prinzessin von Saba zu bewahren. Und sie hoffte, dass auch sonst niemand davon erfahren würde.
Sie konnte und wollte es sich jetzt nicht leisten, sich vor irgendjemandem zu schämen. Es lag jetzt ausschließlich an ihr, ihr Ziel zu erreichen. Demonstrativ spuckte sie in ihre Hände und zog los. Die Landepiste lag unmittelbar am Rand der Stadt. Sie brauchte dringend Wasser und einen Arzt. Sie fand kein Krankenhaus, aber einen Mann, der ihr drei Flaschen Cola verkaufte. Der verzog keine Miene über ihr Aussehen. Sie deutete auf sein Kopftuch und reichte ihm einen Dollar zum Tausch. Er besorgte ihr einen löchrigen Stofffetzen. Sie war im Land der Wilden angekommen. Die blutverschmierte und nach Kot stinkende Britta bestellte drei Flaschen Cola und keiner fragte: ‘Fehlt Ihnen was, Mademoiselle?’ Jede Weiße konnte sich hier aufführen wie sie wollte. Niemand würde sie hier für irgendetwas zur Rechenschaft ziehen.
Der Colaverkäufer brachte sie zu seinem Cousin, der ihr etwas zu Essen kochte und ein einigermaßen sauberes Bett zur Verfügung stellte. Sie tauchte ihren Kopf so lange in einen Wassereimer, bis sich die Blutkrusten zu lösen begannen, wickelte den nassen Schal um ihren Kopf und schlief ein.
Sie erwachte vom Kichern der Kinder. Eine Frau schimpfte, dem Geruch nach köchelte sie an einer Brühe. Es dauerte eine Weile, bis Britta bewusst wurde, dass sie überlebt hatte.
Sie hatte vorhergesehen, dass ihr Entschluss, Shewanella persönlich nach Niger zu übersiedeln, ein Abenteuer werden würde, aber mit so einem Desaster hatte sie nicht gerechnet.
Tags darauf suchte sie die Papiere hervor, in denen Areva ‚jedem, der zuständig ist‘ bestätigte, dass sie als Ingenieurin in Arlit als leitende Ingenieurin beschäftigt sei, und stürzte sich trotzig in die Hitze. Ihr erster Weg führte zum Sultan von Agadez, den ihr der Cousin des Getränkehändlers als Hauptzuständigen genannt hatte. Zu ihrem Erstaunen gab es tatsächlich einen Sultan. Er lebte in einem schönen Palast, einem Lehmbau aus dem 15. Jahrhundert. Doch an der Torwache war kein Vorbeikommen. Auf das Stichwort „Areva“ reagierte sie nur mit energischem Kopfschütteln. Kurz dachte Britta daran, es mit Bargeld zu versuchen, trat dann aber den Rückzug an, die Männer waren ihr unheimlich.
Was nützte ihr jetzt ein Vertrag mit einem Pariser Unternehmen? Was machte sie überhaupt hier? Sie zog sich in die große Moschee zurück, die in unmittelbarer Nähe lag, und dachte nach, wie sie in ihre missliche Situation gekommen war.
Kurz nach ihrem Telefonat mit Marie hatte Bouceau einen Vorvertrag für ein Konzept ‚Bioleaching in Arlit‘ in der Tasche, und damit war Britta schlagartig von der indiskreten Verräterin zum besten Pferd in seinem Stall erkoren worden, ja, es war Bouceau, der Geobacter zur Disposition stellte, und vorschlug, ihn durch die flexiblere Shewanella zu ersetzen.
Brittas Kenntnisse über Shewanellas Bedürfnisse und Fähigkeiten wurden in enger Zusammenarbeit mit den besten Anlagenbauern der nunmehr in Frankreich versteckten Siemens Nuclear Power technisch zu einer Bioleaching-Anlage unter Wüstenbedingungen für Shewanella maßgeschneidert.
Niemand hatte dabei daran gedacht, für Britta eine Beschäftigung unter wüsten Bedingungen maßzuschneidern. Jetzt saß sie orientierungslos in einer Moschee neben einem Lehmbau, der sich stolz ‚Palast‘ nannte. Sie erinnerte sich an den fatalsten Tag ihres bisherigen Lebens, im Areva-Palast in Paris La Défense. Ein riesiger rabenschwarzer Granitblock – durch die getönten Scheiben wirkte er fensterlos -, eine überdimensionale Kaaba, höher als die Cheops-Pyramide, hatte das winzige Brittchen zum Appell beordert.
Vier Stunden später hatte man sich darauf geeinigt, in Âguelal, einer abgelegenen Hügelgegend in der Nähe der Min Arlit, eine Anlage zu errichten, die täglich 100 Tonnen Erz einem etwa vier Monate dauernden Leaching-Vorgang unterziehen konnte. Dazu wurde das Projekt mit Mitteln ausgestattet, von denen sie in ihrem Bayreuther Kellerlabor nicht einmal träumen konnte.
Doch mindestens so groß wie das technische war das personelle Problem: In Europa gab es vielleicht ein Dutzend Mikrobiologen, die Shewanella bändigen konnten, in Afrika keinen einzigen. „Shewanella wird nur auf Sie hören“, sagte Marie ruhig. „Wer, wenn nicht die Erstellerin des Konzeptes, könnte vor Ort das Personal ausbilden?“
„Sie wollen mich erschrecken!“, rief Britta. „Ich hab von Anfang an gesagt, dass ich nicht nach Niger gehe.“
Marie ereiferte sich zu betonen, sie wolle Britta nicht erschrecken, sie rede von einem Angebot, das anzunehmen ganz in Brittas Ermessen liege. Sie kramte einen Stapel Papiere aus ihrer Mappe hervor mit der Überschrift ‘Contrat de chef de projet’ und übergab ihn Britta. Der Entwurf sah vor, dass Britta selbst das Projekt in Niger implementieren sollte.
Britta überflog den Inhalt des Vertrages. Sorgfältig legte sie den Stapel auf Maries Seite und sagte bestimmt: „Es tut mir leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Projekt persönlich zu leiten.“
Das war die Wahrheit. Nervös schüttelte sie den Kopf.
Marie wartete ein paar Atemzüge lang. Dann sagte sie ruhig: „Ich denke, Sie brauchen jetzt eine Pause. Wenn es Ihnen gefällt - s’il vous plaît – kommen Sie um siebzehn Uhr wieder“. Sie stand auf, strich sich das Kleid glatt und ging. Den Vertragsentwurf ließ sie auf dem Tisch liegen.
Britta schnappte sich den Vertrag und zog sich ins Foyer ihres Hotels zurück. Sie vergewisserte sich, ob sie sich beim ersten Hinsehen nicht in den Dezimalstellen des angebotenen Gehaltes geirrt hatte: Wann würde sie wieder so eine Chance bekommen? Wenn sie Arevas Angebot für kurze Zeit annahm, ergaben sich auf Dauer ganz neue Freiräume. Sie stünde in einer völlig neuen Gehaltsklasse und hätte Zutritt zu den zahlungskräftigsten Arbeitgebern des Planeten. Das waren im Augenblick die Atomkonzerne, aber schon morgen konnten das die Klimaschützer sein.
Sie saß im Foyer eines der besten Hotels von Paris und schaute in die digitale Imitation eines Feuers in einem vorgetäuschten Schwedenofen, der die Gäste glauben machen sollte, sie befänden sich in einer gemütlichen Holzfällerhütte. In der Hütte saß ein altes Weiblein mit einer Stricknadel im Haarknoten und kleinen Kindern auf dem Schoß, die bettelten: „Oma, erzähl uns von früher!“ Und Britta begann zu erzählen: „Vor vielen Jahren verhandelte ich mit einer Managerin des reichsten Konzerns von ganz Frankreich darüber, mitten in der Wüste Sahara eine revolutionäre Methode zur Urangewinnung umzusetzen“. Die Kinder strahlten das alte Weiblein mit glühenden Wangen an, bis es sagte: „Aber ich habe gekniffen“.
Britta zog die imaginäre Stricknadel aus ihrem nicht vorhandenen Haarknoten, packte den Vertrag in ihre Tasche und spazierte zur Place de la Coupole gegenüber der Tour Areva.
Gegen 16:30 rief sie Maries Nummer an. Ein „Jacques“ meldete sich. Er holte sie am Haupteingang ab und brachte sie in ein Büro. Er sei für die Formalitäten zuständig, erklärte Jacques und legte ihr ein neues Exemplar des Vertrages vor. Britta sah ein, dass mit Monsieur Jacques Verhandlungen sinnlos wären. Maries Abwesenheit bedeutete unmissverständlich: à prendre ou à laisser – friss, Vogel, oder lass es bleiben. Sie überprüfte lediglich die Seitenzahl und den Firmenstempel, dann unterschrieb sie ohne eine einzige Korrektur. Dann nahm sie ihr Exemplar des Vertrages an sich und verließ stolz den Palast.
So war es gekommen, dass sie in Agadez gelandet war, einen Sultan um Hilfe anflehte, dessen Existenz nicht bewiesen war, und in einer Moschee zur Königin von Saba betete. In der relativen Kühle der Großen Moschee beruhigte sich allmählich Brittas Verzweiflung. Sie versuchte, sich an den Stolz zu erinnern, mit dem sie damals die Tour Areva verlassen hatte, in deren oberstem Stockwerk, 180 Meter über Paris, die Vorstandsvorsitzende Anne Lauvergeon thronte, die weibliche Vorgesetzte mit den meisten Mitarbeitern weltweit. Sie stammte wie Britta aus einem kleinbürgerlichen Haus, doch ihre Eltern hatten es verabsäumt, der Tochter die Tugend der Bescheidenheit zu lehren. Anne ergriff jede Karrieremöglichkeit unmittelbar am Schopf, während Britta brav in einem Kellerlabor saß und sich ärgerte, wie die Gelegenheiten an ihr vorbeizogen. Es wurde Zeit, dass ihr Leben an Fahrt aufnahm. Sie musste jetzt über ihren Schatten springen.
„Halleluja“, murmelte sie. Es wäre doch gelacht, wenn sie Arlit nicht aus eigener Kraft erreichen könnte. Immerhin war sie mit jeder Menge Geld ausgestattet und besaß ein abhörsicheres Satellitentelefon. Sie hätte Marie anrufen können. Doch jetzt wollte sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Sie schlenderte durch die Stadt. Agadez wurde in Touristenführern als Perle der Sahara gepriesen, doch längst waren die Zeiten vorbei, in denen Reisen ins Zentrum der Tuareg-Rebellion organisiert wurden. Die Stadt hatte sich in eine Drehscheibe für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa entwickelt.
Rostrot waren die Straßen, die Gebäude, die Gärten. Ein wenig Grün vermittelten die staubigen Akazien und Tamarisken.