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Die schmutzigen Geschäfte der Massentierhaltungskonzerne Georg Denglers Sohn Jakob ist verschwunden. Bereits seit drei Tagen! Denglers geschiedene Frau macht ihm die Hölle heiß: Finde unseren Sohn! Aber nicht nur Jakob ist unauffindbar. Auch Laura Trapp, die in Jakobs Parallelklasse geht, ist verschwunden. Ebenso Cem und Simon, zwei seiner Freunde. Georg Dengler, der Stuttgarter Privatermittler, macht sich auf die Suche nach seinem Sohn und dessen Freunden. Er findet bei Jakob zu Hause Aufkleber, wie sie Unbekannte in den letzten Wochen auch in den Tiefkühltruhen von Supermärkten angebracht haben. »Dieses Fleisch stammt aus Massentierhaltung. Sie vergiften damit sich und ihre Familie«, steht darauf. Auf Jakobs Computer findet er Fotos und Filme aus Hühner- und Putenmastanlagen. Widerliche Fotos, eklige Filme, die das Elend der Tiere dokumentieren. Ist sein Sohn ein radikaler Tierschützer geworden? Bereitet er mit seinen Mitstreitern eine große Aktion vor? Oder sind sie den Betreibern der Tierfarmen in die Quere gekommen und jetzt in Gefahr? Wieso weiß er nichts darüber? Wieso kennt er seinen Sohn so wenig? So lernt Georg Dengler auf der Suche nach Jakob seinen Sohn erst wirklich kennen – und kommt den mörderischen Methoden von Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie auf die Spur. Alle Fälle von Georg Dengler: - Die blaue Liste - Das dunkle Schweigen - Fremde Wasser - Brennende Kälte - Das München-Komplott - Die letzte Flucht - Am zwölften Tag - Die schützende Hand - Der große Plan - Kreuzberg Blues - Black ForestDie Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 419
Wolfgang Schorlau
Denglers siebter Fall
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Über Wolfgang Schorlau
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den acht »Dengler«-Krimis »Die blaue Liste« (KiWi 870), »Das dunkle Schweigen« (KiWi 918), »Fremde Wasser« (KiWi 964), »Brennende Kälte« (KiWi 1026), »Das München-Komplott« (KiWi 1114), »Die letzte Flucht« (KiWi 1239), »Am zwölften Tag« (KiWi 1337) und »Die schützende Hand« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« (KiWi 844) und »Rebellen« (KiWi 1399) veröffentlicht und den Band »Stuttgart 21. Die Argumente« (KiWi 1212) herausgegeben. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis und 2012 mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet.
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Ein neuer Fall für Dengler: die schmutzigen Geschäfte der Massentierhaltungskonzerne
Georg Denglers Sohn Jakob ist verschwunden. Bereits seit drei Tagen! Denglers geschiedene Frau macht ihm die Hölle heiß: Finde unseren Sohn! Aber nicht nur Jakob ist unauffindbar. Auch Laura Trapp, die in Jakobs Parallelklasse geht, ist verschwunden. Ebenso Cem und Simon, zwei seiner Freunde.
Georg Dengler, der Stuttgarter Privatermittler, macht sich auf die Suche nach seinem Sohn und dessen Freunden. Er findet bei Jakob zu Hause Aufkleber, wie sie Unbekannte in den letzten Wochen auch in den Tiefkühltruhen von Supermärkten angebracht haben. »Dieses Fleisch stammt aus Massentierhaltung. Sie vergiften damit sich und ihre Familie«, steht darauf. Auf Jakobs Computer findet er Fotos und Filme aus Hühner- und Putenmastanlagen. Widerliche Fotos, eklige Filme, die das Elend der Tiere dokumentieren. Ist sein Sohn ein radikaler Tierschützer geworden? Bereitet er mit seinen Mitstreitern eine große Aktion vor? Oder sind sie den Betreibern der Tierfarmen in die Quere gekommen und jetzt in Gefahr? Wieso weiß er nichts darüber? Wieso kennt er seinen Sohn so wenig? So lernt Georg Dengler auf der Suche nach Jakob seinen Sohn erst wirklich kennen – und kommt den mörderischen Methoden von Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie auf die Spur.
Widmung
Motto
Monolog Carsten Osterhannes
Erster Tag
1. Stuttgart, nachts
2. Stuttgart, nachts
3. Stuttgart, nachts
4. Landstraße, Nähe Oldenburg, nachts
5. Rückblende: Kimi in der Schlachterei
6. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
7. Bad Teinach, Hotel Schröder, nachts
8. Wohnzimmer, Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
9. Stuttgart, Denglers Schlafzimmer, nachts
10. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
11. Bad Teinach, Hotel Schröder, nachts
12. Stuttgart, Denglers Schlafzimmer, nachts
13. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
14. Rückblende: Kimi im Lager
15. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, frühmorgens
Monolog Carsten Osterhannes
16. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, frühmorgens
17. Stuttgart, Denglers Schlafzimmer, frühmorgens
18. Rückblende: Kimi im Bus
19. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, frühmorgens
20. Stuttgart, Denglers Schlafzimmer, frühmorgens
21. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, morgens
22. Stuttgart, Café Stella, morgens
23. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
24. Stuttgart, Polizeipräsidium, vormittags
Zweiter Tag
Monolog Carsten Osterhannes
25. Stuttgart, Denglers Büro, vormittags
26. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
27. Stuttgart, Denglers Büro, vormittags
28. Stuttgart, Hildegards Wohnung, vormittags
Monolog Carsten Osterhannes
29. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, früher Abend
30. Stuttgart, Jakobs Zimmer, abends
Dritter Tag
31. Stuttgart, Denglers Büro, nachts
32. Bad Teinach, Hotel Schröder, nachts
33. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
34. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
Monolog Carsten Osterhannes
35. Stuttgart, Olgas Schlafzimmer, frühmorgens
Monolog Carsten Osterhannes
36. Stuttgart, Verein Menschen für Tiere, morgens
37. Rückblende: Kimi im Wald
38. Stuttgart, Hildegards Wohnung, vormittags
39. Bad Teinach, Hotel Schröder, vormittags
40. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
41. Stuttgart, Denglers Büro, vormittags
42. Stuttgart, Wohnzimmer Familie Trapp, vormittags
43. Stuttgart, Praxis von Simons Vater, vormittags
44. Stuttgart, Königstraße, mittags
45. Rückblende: Kimi bei den Landsleuten
46. Mastanlage, Nähe Oldenburg, abends
47. Mastanlage, Nähe Oldenburg, abends
48. Bad Teinach, Hotel Schröder, abends
49. Stuttgart, Wohnung der Familie Caimoglu, abends
50. Olgas Computerzimmer, abends
Vierter Tag
51. Stuttgart, Olgas Schlafzimmer, nachts
52. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
53. Denglers Küche, morgens
Monolog Carsten Osterhannes
54. Stuttgart, C&A, Damenabteilung, vormittags
55. Stuttgart, Berliner Platz, vormittags
56. Stuttgart, Jakobs Schule, mittags
57. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, mittags
58. Stuttgart, Café Königx, mittags
59. Kimi im Oldenburger Klinikum
Monolog Carsten Osterhannes
60. Hohenheim, Wohnung von Carsten Zemke, nachmittags
61. Stuttgart, Denglers Büro, nachmittags
62. Stuttgart, Hildegards Wohnung, abends
Fünfter Tag
63. Hohenheim, Wohnung von Carsten Zemke, nachts
64. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
65. Deutsche Botschaft, Madrid, vormittags
66. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
67. Kimi im Klinkerbau
Monolog Osterhannes
68. Café an der Puerta del Sol, Madrid, mittags
69. Hohenheim, mittags
70. Straße vor dem Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, mittags
71. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, mittags
72. Madrid, nachmittags
Sechster Tag
73. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
74. Auf der A 29 vor Oldenburg, nachts
75. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
76. Barcelona, mittags
77. Bar del Pi, Barcelona, abends
78. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
79. Auf der Landstraße, Nähe Oldenburg, nachts
80. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
81. Landstraße, vor dem Hof des Bauern Zemke, nachts
82. Gefängnis der Kids, nachts
83. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
Monolog Carsten Osterhannes
84. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
85. Wohnzimmer der Zemkes, nachts
86. Gefängnis der Kids, nachts
87. Hotel Colón, Frühstückszimmer, Barcelona, morgens
88. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, morgens
89. Hotel Colón, Frühstückszimmer, Barcelona, morgens
Siebter Tag
90. Schuhgeschäft, Barcelona, vormittags
91. Hotel Colón, Barcelona, nachmittags
92. La Barceloneta, Strand, nachmittags
Achter Tag
Monolog Carsten Osterhannes
93. Café am Platz vor der Kathedrale, Barcelona, vormittags
94. Büro Dr. Richard Müller, BKA Wiesbaden, vormittags
Monolog Carsten Osterhannes
95. Hotelzimmer, Barcelona, mittags
Monolog Carsten Osterhannes
Neunter Tag
96. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
97. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, vormittags
98. Gefängnis der Kids, vormittags
99. Barcelona, mittags
100. Flughafen Barcelona, mittags
101. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, abends
102. Gefängnis der Kids, abends
103. Hamburg Flughafen, abends
104. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
Zehnter Tag
105. Autobahn vor Oldenburg, nachts
106. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
107. Gefängnis der Kids, nachts
108. Hof des Bauern Zemke, Nähe Oldenburg, nachts
109. Landstraße in der Nähe von Oldenburg, nachts
110. Schlafzimmer im Bauernhof Zemke, nachts
111. Landstraße in der Nähe von Oldenburg, nachts
112. Gefängnis der Kids, nachts
113. Schlafzimmer im Bauernhof Zemke, nachts
Monolog Carsten Osterhannes
114. Hof des Bauern Zemke, nachts
115. Gefängnis der Kids, nachts
116. Straße in der Nähe von Oldenburg
Elfter Tag
117. Klinikum Oldenburg, morgens
118. Flur im Klinikum Oldenburg, vormittags
119. Klinikum Oldenburg, vormittags
120. Quartier der Landsleute
Monolog Carsten Osterhannes
121. Automaten-Spielkasino, Berlin-Wedding, vormittags
122. Klinikum Oldenburg, Besprechungsraum, mittags
123. Klinikum Oldenburg, nachmittags
124. Vernehmungsraum 1, Polizeipräsidium Berlin, nachmittags
125. Vernehmungsraum 2, Polizeipräsidium Berlin, nachmittags
126. Klinikum Oldenburg, nachmittags
127. Am Zaun vor Carsten Osterhannes’ Anwesen, nachts
Zwölfter Tag
128. Küche, Villa Osterhannes, morgens
129. Krankenzimmer von Jakob und Cem, morgens
130. Privatschlachthaus Osterhannes, morgens
131. Krankenzimmer von Jakob und Cem, morgens
132. Privatschlachthaus Osterhannes, morgens
133. Auffahrt des Klinikums Oldenburg, morgens
134. Anwesen Carsten Osterhannes, vormittags
Finden und erfinden: ein Nachwort
Anhang
Der Missbrauch der Werkverträge als moderne Sklaverei
Erschreckende Menschenverachtung und mafiöse Strukturen
Figurenverzeichnis
Leseprobe »Black Forest«
Dem großen Don Rinaldo gewidmet
Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka.
Isaac B. Singer
Niemand sagt es mir direkt oder gar offen ins Gesicht, aber ich weiß, dass ich Hühnerbaron genannt werde. Das ist natürlich grober Unsinn. Ich bin kein Baron. Ich bin auch kein König.
Ich bin der Kaiser.
Sonntag, 19. Mai 2013
»Sie haben heute noch nicht gelogen!«
»Du hast heute noch nicht gelogen, Arschloch!«
1000 Watt starkes, gleißendes Licht schneidet durch seine Augenlider.
Gleichzeitig pendelt die Zellentüre mit kreischenden Scharnieren hin und her, schlägt krachend ins Schloss, schwingt mit einem Höllenlärm wieder auf und donnert zurück. Über der Tür hängt eine Fledermaus und schaut ihn an. Er liegt auf der Pritsche und kann sich nicht bewegen. Ist er gefesselt? Er weiß es nicht. Sie beugen sich über ihn. Alle sind sie da. Der Präsident, Dr. Scheuerle und die anderen Abteilungsleiter. Die gesamte Führungsriege des Bundeskriminalamtes beugt sich über ihn, die Gesichter verzerrt. Warum schreien sie so laut? Dengler versucht sich aufzurichten und kann es nicht. Kein Muskel gehorcht seinem Kommando. Er verdoppelt seine Anstrengung – vergeblich. Alle brüllen auf ihn ein. Das Geschrei und das Getöse sind unerträglich.
»Hast du heute schon gelogen?«
Er versucht einen Arm zu heben.
»Hast du heute schon gelogen?«
Er kann sich nicht rühren.
»Hast du heute schon gelogen?«
Er will sich aufrichten.
Er will fliehen.
Keine Chance.
Sie brüllen.
Die Scharniere quietschen.
Er hat Angst.
Er bekommt keine Luft.
Er erstickt.
Er bekommt keine Luft mehr.
Er stirbt.
Mit aller Gewalt reißt er den Oberkörper nach vorn, und endlich: Die Fesseln reißen, und er richtet sich auf der Pritsche auf.
Erwacht.
Das Hirn ist leer. Er weiß nicht, wo er ist. Er weiß nicht, wer er ist. Er hört jemanden laut keuchen. Es dauert eine Ewigkeit, bis er begreift, dass er es selbst ist. Georg Dengler sieht sich um. Ein beißender Geruch liegt im Raum – sein eigener, stinkender Angstschweiß. Langsam setzt er sich aus einzelnen Puzzleteilchen wieder zusammen.
Ich bin kein Polizist mehr.
Ich arbeite nicht mehr beim BKA.
Es ist vorbei.
Ich muss nicht mehr lügen.
Die Scharniere quietschen weiter.
Er liegt nicht in einer Zelle. Er ist in seiner Wohnung. Es ist keine Pritsche. Es ist sein Bett. Er atmet ruhiger. Aber noch immer schmerzt seine Brust wie nach einem langen Lauf in klirrender Kälte.
Regentropfen trommeln gegen das Fenster.
Die quietschenden Scharniere lärmen weiter. Ihr schriller Ton verwandelt sich jetzt in das aufdringliche Klingeln des Telefons. Er stützt den Kopf in beide Hände und sieht das Telefon auf dem Tisch blinken und läuten, er reißt die Bettdecke zur Seite und torkelt hinüber zum Tisch, nimmt den Hörer ab.
»Dengler.«
»Georgjetztmusstdudichmalkümmern.«
Er legt den Hörer auf.
Doch sofort klingelt es erneut. Er schließt die Augen und nimmt den Hörer ein zweites Mal ab.
»JakobistschonseitdreiTagenwegunderhatsicherstzweimalbeimirgemeldet. Dastimmtdochwasnicht.«
Tief Luft holen. Zwerchfellatmung. Sich beruhigen. Das immerhin hat er bei der Polizei gelernt.
Er schmeckt die Schweißtropfen in seinen Mundwinkeln, spuckt sie aus.
»Hildegard! Bist du wahnsinnig? Es ist drei Uhr. Mitten in der Nacht! Hast du getrunken?«
»Ich bin so nüchtern wie du. Aber ich bin verrückt vor Sorge. EslässtmireinfachkeineRuhe. Jakobmeldetsichnicht. UndseinHandyhaterabgestellt. DasisteinfachnichtseineArt.«
»Er macht Urlaub. Mein Gott, Jakob ist achtzehn. Hast du dich mit achtzehn jeden Tag bei deiner Mama gemeldet? Er ist mit seinen Kumpels verreist.«
Dengler setzt sich auf den alten Holzstuhl, auf dem seine Kleider liegen. Er spürt, wie ihm der Schweiß über den Rücken läuft.
»Aber trotzdem, ich meine, dasistdochnichtnormal. SoistderJakobdochnichtdassersichüberhauptnichtmeldet.«
»Hildegard, ruf mich nie wieder um diese Uhrzeit an. Nie wieder! Unser Sohn ist erwachsen. Er ist in Barcelona. Interrail. Ruf mich nie wieder um diese Zeit an.«
»Du musst dich kümmern. Versprichmir, dassdudichjetztauchmalkümmerst. DuhastdichnochnieumunserKindgekümmert. Immermussteichallesganzallein …«
Wütend drückt er die rote Taste, legt den Hörer zur Seite und wankt ins Bett zurück.
Es klingelt noch zweimal.
Er liegt mit offenen Augen auf seinem Bett und starrt in das Dunkel. Was ist das für ein Leben, in dem ein Albtraum den anderen jagt.
Typisch Hildegard. Sie kann ihren Sohn nicht loslassen. Sie denkt, Jakob mit achtzehn Jahren sei immer noch der liebe kleine Bub. Abhängig von ihr. Aber Jakob wird erwachsen. Damit kommt meine großartige Exfrau nicht zurecht. Aber ich bin hier der falsche Ansprechpartner. Du hast mich verlassen, meine Teure. Gott sei Dank – bin darüber hinweg. Und jetzt, nach all den Jahren, habe ich absolut keine Lust mehr auf diese hysterischen Anfälle.
Dengler richtet sich auf und fixiert die Marienstatue an der Wand.
Um mich hat sie sich nie Sorgen gemacht, als ich noch beim BKA war. Sie hatte keinerlei Vorstellung davon, was ich tat. Keine Ahnung von den zermürbenden Ermittlungen und der nervtötenden Kleinstarbeit, aus denen die Polizeiarbeit nun mal besteht, von den endlosen durchwachten Nächten, von den Großeinsätzen bei den Fahndungen nach Terroristen oder Leuten aus deren Umfeld oder von den zusätzlichen Diensten im Personenschutz im Schichtdienst oder rund um die Uhr.
Personenschutz. Damals, als ich noch gar nicht so lange dabei war: die Bombe am Straßenrand. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe.
Er versteht es bis heute nicht. Er saß in dem ersten Fahrzeug der Kolonne. Sein Wagen raste als Erster durch die Lichtschranke. Doch die Bombe explodierte erst bei dem zweiten Wagen. Dem Mercedes mit dem Banker. Dem Mann, den er schützen sollte. Wie kann das sein?
Er stellte Fragen.
Und niemand gab ihm Antworten.
Dann sagten sie, er solle aufhören, Fragen zu stellen. Es sei gefährlich, solche Fragen zu stellen.
Dengler lässt sich zurückfallen und starrt an die Decke.
»Du bleibst hier in der Hecke an der Kreuzung«, sagt Simon zu Cem.
Immer muss er kommandieren, denkt Jakob. Das ist vollkommen überflüssig: Sie haben alles tausendmal besprochen. Tausendmal geübt. Aber Simon kann nicht anders als kommandieren. Cem nickt und geht mit steifen Schritten auf das Gebüsch neben der Straße zu. Cem, der Held. Er ist der Stärkste von ihnen. Doch trotz der nächtlichen Schwärze kommt es Jakob so vor, als wäre er blass. Sofern ein türkischer Junge, der von Natur aus olivfarbene Haut hat, überhaupt blass werden kann. Cem, der sonnige Typ. Cem, der mutige Typ, der sich noch vor keinem Einsatz gefürchtet hat. Sie alle wissen, dass er zuverlässig Wache stehen wird.
Mit drei Schritten ist Cem im Gebüsch und drückt sich ins Unterholz. Von hier aus kann er die Straße in beide Richtungen überblicken. Er hebt das Walkie-Talkie vor den Mund und grinst. Jakob winkt Laura zu, und die sieht sich sofort nach Simon um.
Es ist nur ein kleiner Stich, aber Jakob kennt diesen speziellen Schmerz: Jedes Mal sticht es, wenn er sieht, wie sie Simon anschaut. Ihr erster Blick geht immer zu Simon. Ich bin nicht verliebt in sie, sagt Jakob lautlos zu sich selbst. Da der Schmerz noch nachklingt, wiederholt er den Satz wie ein Mantra. Ein oft benutztes Mantra. Ziemlich ausgefranst, dieses Mantra. Bis jetzt hat es ihm noch nicht geholfen. Und es währt nun schon ziemlich lange, dass Laura ihm diese Herzschmerzen verpasst.
Bauchschmerzen auch.
Die ersten Tropfen fallen. Es ist Mai. Dauerregen im Mai! Und das schon seit Tagen. Jakob zieht den Reißverschluss an seinem schwarzen Anorak hoch, sieht zu Laura hinüber und gibt ihr ein Zeichen. Er will nicht, dass sie sich erkältet. Sie lächelt und zieht sich die Kapuze über den Kopf. Nur noch ein paar blonde Locken schauen an der Seite hervor. Wunderschön sieht sie aus.
Zu dritt gehen sie in schnellen Schritten die Straße hinauf. Erst Jakob, dann Laura, hinter ihr Simon. Es ist dunkel. Neumond. Laura trägt das Walkie-Talkie.
»Test, Test …«, sagt sie. »Cem? Alles okay?«
»Klar, keine Panik«, tönt es blechern zurück. »Ich seh’ euch ja noch.«
Hundert Meter vor sich erahnen sie ihr Ziel. Es ist dunkler als die Dunkelheit, die es umgibt. Wie eine Festung, denkt Jakob. Sie beschleunigen die Schritte.
Jetzt schüttet es vom Himmel.
»Auto von hinten«, meldet Cem durch das Walkie-Talkie.
»Verstanden«, sagt Laura.
Jakob dreht sich um. Die Scheinwerfer sind erst schwach zu erkennen. Der Wagen ist noch weit weg.
»Wir könnten losrennen«, sagt Simon. »Das könnten wir schaffen.«
Laura schüttelt den Kopf. »Kein Risiko«, entscheidet sie.
Sie wissen, was zu tun ist. Mit zwei Schritten sind sie im Straßengraben und liegen flach auf dem Boden. Jakob, der die beiden Kameras trägt, schützt sie mit der freien Hand und den Ärmeln der Regenjacke vor dem nassen Boden. Die Geräte sind teuer. Laura und Simon haben die Taschen unter sich verborgen. Nach einer Weile hören sie das immer lauter werdende Geräusch eines Motors, dann streicht der Lichtkegel der Scheinwerfer über sie hinweg, das Geräusch wird schwächer und verstummt. Nur der Regen trommelt gleichmäßig aufs nasse Gras. Schließlich hören sie Cems Stimme aus dem Walkie-Talkie: »Leute, alles klar: Gefahr vorüber.«
Sie stehen auf. Jakob klopft sich die Nässe von der Hose.
Weiter. Drei Schatten in einer dunklen Nacht. Sie biegen von der Landstraße in die Zufahrt zu dem Gehöft ein.
Jetzt riechen sie die Anlage. Der stechende Ammoniakgeruch liegt wie eine unsichtbare Mauer vor den Gebäuden. Bestialischer Gestank. Im Gehen binden sie sich die Schutzmasken vor den Mund. Jakob atmet durch den Mund ein.
Das Widerlichste, was ich je gerochen habe.
Er sieht sich nach Laura um. Sie steht aufrecht hinter ihm und verknotet mit beiden Händen die Atemmaske hinter ihrem Kopf.
Sie blinzelt ihm zu. Wie schön sie ist.
Er hört, wie Laura leise in das Walkie-Talkie spricht: »Wir betreten jetzt die Anlage.«
»Verstanden«, tönt Cems Stimme blechern aus dem Lautsprecher.
Als Adrian das Messer aus der Hand legt, weiß Kimi genau, was sein Freund denkt. Er sieht es an der Sorgfalt, mit der er die Klinge an dem Tuch abwischt, an der Behutsamkeit, mit der er es in den Messerkorb zurückschiebt, und vor allem an dem langen, fast geistesabwesenden, verhangenen Blick hinter seinen langen, schönen Wimpern. Ja, er sieht an diesem Blick, mit dem Adrian zu Kimi und Vasile hinüberschaut, dass es jetzt genug ist. Adrian ist sein Freund, mehr noch, er ist für ihn wie ein Bruder, wie der ältere Bruder, den er sich immer gewünscht hat. Ohne Adrian hätte Kimi sich in Deutschland nie zurechtgefunden. Adrian hat ihm gezeigt, wie die Dinge hier laufen. Er brachte ihm Deutsch bei. Ohne ihn hätte er schon längst aufgegeben.
Gestern Nacht saßen sie alle um Kimis Bett: Adrian natürlich, aber auch Viktor, Dane, Livin und Vasile, die im gleichen Raum wie Kimi schlafen. Sie haben seit zwei Monaten kein Geld bekommen. Sie wissen nicht, ob sie im Mai bezahlt werden. Sie wissen überhaupt nicht, wie es weitergeht.
Sie haben Toma gefragt, den Vorarbeiter: Warum bekommen wir kein Geld? Toma, den Adrian nur den Capo nennt: den Aufpasser. Toma ist Rumäne wie sie. Aber er hilft ihnen nicht. Er hat nur mit den Schultern gezuckt. Face muncg, hat er gesagt, macht eure Arbeit. Das haben sie getan. Sie haben ihre Arbeit gemacht. Harte Arbeit. Sie haben sich nie beschwert. Toma hat ihre Pässe eingesammelt. Auch darüber haben sie sich nicht beschwert. Sie haben sich nicht beschwert, wenn sie nachts aus den Betten geholt wurden. Nachts um zwei, manchmal um drei, manchmal um vier. Dann sind sie, schlaftrunken, hinüber in die Fabrik gewankt. Es sind ja nur fünfzig Meter. Dann haben sie gearbeitet, manchmal nur zwei Stunden, manchmal nur drei Stunden. Am Morgen oder am Mittag begann eine neue Schicht.
Sie haben die Schweine in den Paternoster getrieben, der sie zehn Meter tief in den Keller und ins Gas brachte, sie haben die betäubten Tiere an den Hinterläufen aufgehängt, nachdem sie aus dem Auszug gefallen waren, ihnen die Kehle aufgeschnitten, sie haben die Kadaver an den Hinterläufen aufgehängt, die Häute gebürstet, sie haben die Gedärme aus den aufgeschlitzten Bäuchen geholt, sie haben die Köpfe abgetrennt, die Füße abgekniffen, die Hinterläufe abgeschnitten, sie haben die Augen ausgestochen, sie haben hart gearbeitet.
Sie brauchen das Geld. Kimi muss sein Haus abbezahlen. Adrians Mutter ist krank. Sie braucht Medikamente, die er ohne diesen Job nicht bezahlen kann. Vasiles Kind wartet auf eine Operation. Alle, die in der Schlachterei schuften, brauchen das Geld. Jeder hat seine Geschichte. Jeder hat seine eigenen Sorgen. Und nun wurden sie seit zwei Monaten nicht bezahlt. Und niemand weiß, ob sie im Mai ihren Lohn bekommen.
Sie haben Kimi 1200 Euro im Monat versprochen. Auf die Hand. Ein Essen am Tag umsonst. Freie Unterkunft. Nun ziehen sie jedem von ihnen sieben Euro Miete für die Betten ab, in denen sie schlafen. Pro Tag. Zwölf Männer in einem Raum.
Ihr Raum ist einer von vielen Räumen in den zweigeschossigen Gebäudereihen auf diesem großen Areal, das Adrian auf Deutsch das Lager nennt. Sie haben nicht einmal einen Schrank, die Habseligkeiten hat jeder unter sein Bett gestopft. Es ist eine alte Kaserne, mit Zaun und Stacheldraht, mit einem Wachhäuschen und einem Wachmann, der aufpasst und notiert, wann sie kommen und gehen.
Die Deutschen, sagte Adrian, stecken andere gern in ein Lager. Das ist so in ihnen drin. Kimi ist das egal. Er will hier arbeiten, hart arbeiten. Er braucht das Geld. Aber sie haben seit zwei Monaten keines bekommen.
Aus diesem Grund weiß Kimi, was in Adrian vorgeht, als er sein Messer auf den Block zurücklegt. Adrians Augen sagen: Es ist genug. Die nächsten beiden Kadaver ziehen vorbei, ohne dass Adrian ihnen den rechten Vorderlauf abtrennt. Da legt auch Kimi sein Messer zur Seite. Livin sieht es und hört auf zu arbeiten, Viktor ebenso, dann alle außer Nelu und Petre. Die verstümmelten Schweine ziehen unzerlegt weiter.
Ein Deutscher schreit sie an, Kimi versteht ihn nicht. Ein Vorarbeiter taucht auf und schreit. Adrian redet mit ihm, aber es ist zwecklos. Der Mann brüllt mit hochrotem Kopf und zeigt auf die unbearbeiteten Kadaver. Sie ziehen weiter und weiter. Dann steht das Band. Ein Deutscher im weißen Kittel kommt. Auch er schreit Adrian an, aber niemand hört ihm zu. Adrian, der Deutsch spricht, erklärt ihm, dass sie keinen Lohn bekommen haben. Der Mann schreit weiter, das Gesicht ganz rot, und er hat große Ähnlichkeit mit den Tieren, die vor ihnen an den Haken hängen. Aber er hört nicht zu.
Da gibt Adrian ihnen ein Zeichen, und sie marschieren alle zusammen aus der Fabrik hinüber ins Lager.
Unter einem Vordach ziehen sie sich schweigend die Schutzanzüge an, dunkelblaue Overalls, die sie immer für diese Zwecke verwenden, Gummihandschuhe und die Überschuhe aus Plastik, in denen sie eher watscheln als gehen. Simon geht als Erster hinüber zur Tür. Er legt die Hand auf die Türklinke zum Vorraum. Wie sie es zuvor ausgekundschaftet haben, ist die Tür nicht abgeschlossen. Das ist eine ihrer eisernen Regeln: Sie gehen nur in offene Ställe. Er dreht sich kurz um. Hinter ihm stehen Laura und Jakob. Er nickt ihnen zu.
Laura hebt das Walkie-Talkie an den Mund und flüstert: »Cem, hörst du mich? Wir gehen jetzt rein.«
»Viel Glück. Hier ist alles ruhig.«
Laura steckt das Walkie-Talkie an den Gürtel zurück und nimmt den Scheinwerfer aus der schwarzen Plastiktasche. Jakob sieht, wie sie sich eng an die Wand drückt, damit das teure Gerät nicht nass wird. Er stellt sich neben sie und zieht die Infrarotkamera aus der Vordertasche seines Overalls. Wie immer, wenn er nahe bei ihr steht, fühlt er sich hilflos und ausgeliefert. Und doch sieht er trotz Regen und Dunkelheit ihren Blick und das Lächeln, das sie Simon schenkt. Jakob fühlt den Stich unvermittelt in Bauch und Brust. Er presst die Lippen aufeinander und schaltet die Kamera ein.
»Fertig«, sagt er.
Sie sind bereit.
Simon drückt die Klinke und öffnet die Tür.
Zur gleichen Zeit sieht Christian Zemke zu seiner Frau hinüber und denkt: »So möchte ich auch schlafen können.«
Sie hat die Decke fest um die Schultern geschlungen und liegt mit der rechten Wange auf ihren beiden Händen, deren Finger sie wie zum Gebet ineinander verschränkt hat. Ihr Mund steht ein wenig offen. Er sieht ihre beiden oberen Schneidezähne.
Sie hat sich auf diesen Urlaub gefreut wie ein Kind. Ihr erster gemeinsamer Urlaub, mit Ausnahme der Flitterwochen damals in Venedig. Lange her. Jetzt sind sie im Schwarzwald. Bad Teinach. Wie ein junges Mädchen hat Julia im Pool geplanscht. Dann in der Sauna geschwitzt, hinterher noch die Aromadusche genossen oder wie immer das Ding hieß.
»… dass wir uns so was leisten können!«
Können sie natürlich nicht. Vom wirklichen Preis hat Julia keine Ahnung.
Den zahlt er allein.
»Eine Molle wär’ jetzt nicht schlecht!«
Kevin sagt es zu Ronnie, ohne hochzusehen. Er beugt den Kopf nach unten und lässt einen Faden Spucke fallen. Der Faden zieht sich, dehnt sich, wird lang und dünn, doch kurz bevor er reißt, zieht Kevin ihn mit einem schlürfenden Geräusch wieder zurück in den Mund.
Ronnie sieht, wie Gisela die Augen verdreht. Sie mag Kevin nicht. Alles an ihm widert sie an. Kein vernünftiges Wort kommt von ihm. Ein blödes Arschgesicht. Nun gut, sie muss den Typen auch nicht lange ertragen.
»Oder zwei«, sagt Kevin, der sich der Abneigung Giselas vollkommen bewusst ist.
Marcus lässt sich nicht provozieren. Er ist der Chef. Er sitzt vor dem Laptop und schaut auf den Bildschirm.
»Es geht los. Jeder auf seinen Platz«, sagt er.
»Oder drei«, sagt Kevin.
Ronnie denkt, dass Kevin eine Arschgeige ist. Immer muss er provozieren. Das hier ist ein Job. Mehr nicht. Sie machen ihn, nehmen das Geld und verschwinden. Da muss er sich nicht aufspielen. Aber so ist Kevin. So war er schon immer. So lange ihn Ronnie kennt jedenfalls. Und das sind schon ein paar Jährchen.
Er kennt drei aus der Mannschaft: Kevin, Emil und Bruno – sie sind seine Kumpel. Eigentlich ganz okay. Auch Kevin, wenn er sich bei solchen Jobs nicht so blöd aufspielen würde.
Die anderen Männer kennt Ronnie nicht.
»Jeder auf seinen Platz«, sagt Marcus, steht auf und sieht jeden von der Truppe an.
Jetzt hält auch Kevin endlich die Schnauze.
Ronnie würde gern wissen, worum es hier wirklich geht. Aber das weiß keiner von ihnen. Außer Marcus natürlich.
Aber es ist ein leichter Job – und gut bezahlt.
Ich bin nicht mehr jung und brauche das Geld, denkt Ronnie.
Kein guter Witz.
Ach, scheiß drauf.
Er steht auf, streckt sich und zieht die schwarzen Handschuhe an. Sorgfältig zieht er den Stoff an den Fingern gerade.
Dengler hat diese Bilder schon tausendmal in seinem Kopf abgespult, er hat den Ablauf damals tausendmal wiederholt, und er wiederholt ihn heute. Und jetzt, nach diesem Albtraum und Hildegards Anruf, ist alles wieder frisch da: Am Nachmittag dieses denkwürdigen Tages erhält er den Befehl, sich am nächsten Morgen bei dem Personenschutz des Bankers zu melden. Er soll wieder mal aushelfen. Ein Wachmann liegt mit Fieber im Bett. Dengler muss einspringen.
Er ist neu beim BKA. Ein Jungspund.
Sie werden den berühmten Bankier am Morgen sicher in seinen Glaspalast nach Frankfurt bringen. Reine Routine.
Er hat schon zweimal ausgeholfen. Eine Limousine vorne. Der gepanzerte Mercedes mit dem Big Boss in der Mitte. Der grüne Mercedes mit dem Wachdienst dahinter. Er wird in dem vorderen Wagen sitzen. Auf der Rückbank.
Kein Problem.
Routine.
Wird ein langweiliger Tag werden.
Das dachte er.
Das dachte er tatsächlich.
Dann die Sprengfalle.
Der Wagen mit Dengler fährt zuerst durch die tödliche Lichtschranke. Nichts geschieht. Dann die Detonation hinter ihm. Das rauchende Wrack des gepanzerten Mercedes.
Mit drei Wagen waren sie an diesem Tag losgefahren.
Direkt in die Sprengfalle.
Wieso ist Denglers Wagen nicht in die Luft geflogen?
Dann würde ich jetzt nicht mehr leben.
Damit begannen all die Fragen, die ihn immer noch quälen.
Dengler schließt die Augen. Er kann nicht mehr einschlafen.
Nacheinander huschen sie durch die Tür in den stockdusteren Vorraum.
»Noch kein Licht anmachen«, kommandiert Simon.
»Okay«, sagt Laura.
Jakob mag die Art nicht, wie sie »Okay« sagt. In seinen Ohren klingt es viel zu eifrig, viel zu beflissen. Sie hat das doch gar nicht nötig.
Leise schließt er die Tür hinter ihnen.
Sie verharren ohne jede Bewegung in der Dunkelheit. Dann flüstert Laura ins Walkie-Talkie: »Wir sind jetzt im Vorraum. Wir warten hier noch einen Moment, bis unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.«
»Verstanden«, hören sie Cem. »Hier ist alles ruhig.«
Sie stehen still und lauschen. Die Schwärze in dem Raum ist undurchdringlich, und Jakob kommt es so vor, als könnte man mit einem Messer Stücke aus dem Dunkel schneiden.
Dann – ein Geräusch: wie ein Kratzen, ein Schaben. Es kommt von der Tür. Von außen? Wie kann das sein? Jakob dreht sich um. Da ändert sich das Geräusch. Der Schlüssel wird zweimal im Schloss gedreht. Es dauert nur eine Hundertstelsekunde, bis er begreift, und dann schreit er laut: »Alarm!«, wie sie es ausgemacht hatten, wenn etwas schiefgehen sollte. Mit zwei Sätzen ist er an der Tür, reißt die Klinke herunter, rüttelt daran, vergebens.
Abgeschlossen!
»Licht!«, brüllt er. »Schnell, Licht an!«
Er hört Lauras überraschten Schrei und fährt herum. Er spürt den schwarzen Schatten mehr, als dass er ihn sieht. Instinktiv reißt er die Hände nach oben, doch ein Schlag trifft ihn an der Schläfe. Er taumelt zurück.
Neben ihm schreit Laura: »Scheiße, lass mich los!« Und: »Lass das Walkie-Talkie los!«
Instinktiv wirft er sich in ihre Richtung. Er hört ein schlagendes, dann ein fallendes Geräusch. Dann packen ihn Arme; er weiß nicht wie viele. Jemand tritt ihm die Füße weg. Jakob fällt auf den Boden. Sein Kopf knallt auf den Beton. Instinktiv tritt er nach dem Schatten. Der Schatten flucht, und ein Fußtritt trifft Jakobs Rippen. Er krümmt sich vor Schmerz zur Seite. Zwei Hände greifen seine Arme und biegen sie nach hinten. Zwei weitere Hände durchsuchen ihn, klopfen auf seine Hosentaschen, reißen die Haut des Schutzoveralls auf, greifen in die Tasche des Anoraks, ziehen heraus, was drin ist: das Taschentuch, das Handy, die Ersatzbatterien für die Kamera. Jemand zieht ihn am Oberkörper hoch und schleift ihn zwei Meter weit. Dort knallt er gegen die Wand.
Im Dunkeln sieht er, dass auch Laura am Boden liegt. »Lass mich los«, ruft sie.
Er hört einen unterdrückten Schmerzensschrei von Simon.
Jakob will Laura zu Hilfe kommen, doch vier Hände drücken ihn auf den Boden. Er hört Stimmen, Gemurmel, das er nicht verstehen kann, leise Kommandos, dann knallt eine Tür. Die einsetzende Stille schmerzt genauso wie seine geprellten Rippen.
Dann sind die Gestalten weg. Jakob hört, wie der Schlüssel in der Tür zum Medikamentenraum gedreht wird.
Sie sind eingeschlossen.
Alles ging absurd schnell.
Jakob und Laura springen als Erste auf. Simon reibt sich stöhnend den Hals. Jakob rennt zur zweiten Tür, die Tür, die in den Lagerraum führt, und rüttelt daran. Laura untersucht das verrammelte Fenster, irgendjemand hat jetzt draußen eine Lampe eingeschaltet, ein schmaler Lichtstreif dringt aus dem Hof durch eine der Fensterritzen.
»Gitter«, hört er sie sagen.
Simon versucht aufzustehen.
»Haben sie dir wehgetan?«, fragt sie mit weicher Stimme.
»Sie haben mein Handy«, sagt Simon.
»Meins auch«, sagt Jakob.
»Meins auch«, sagt Laura. »Und das Walkie-Talkie.«
»Und die Kamera.«
»Diese Aktion ging voll daneben«, sagt Simon.
»Cem wird die Polizei rufen, wenn wir keinen Funkkontakt mehr haben. Wir müssen abwarten. Blöd, dass wir die Aufnahmen nicht machen können.«
Sie setzen sich auf den Boden.
Laura schmiegt sich an Simon. Jakob versucht, zur anderen Seite zu sehen.
Draußen prasselt der Regen.
Du hast deinen Hof im Stich gelassen, flüstert die Stimme in seinem Kopf. Du weißt nicht, was dort jetzt geschieht. Er schüttelt die Schultern, um die Stimme zum Schweigen zu bringen.
Zu den vielen Sorgen, die ihn ohnehin schon quälen, ist eine neue dazugekommen. Er weiß nicht, was auf seinem Hof passiert, in den Tagen, an denen er nicht zu Hause ist.
Seine Frau schläft. Sie ist glücklich. Sie weiß von nichts.
Er legt sich auf den Rücken und starrt die Decke an, den Kronleuchter, in dessen Glassternen sich das Licht der Laterne auf dem Hotelhof bricht.
Dengler steht am Fenster und schaut müde auf die Wagnerstraße. Seine Glieder sind schwer und schmerzen wie nach einem endlosen Marsch, er fühlt sich erschlagen von dem nächtlichen Albtraum und dem Anruf seiner Exfrau.
Sie hat sich von ihm getrennt. Damals. Sie warf ihn einfach auf den Müll. Unvermutet. Plötzlich. Ein kurzes Gespräch in der Küche: »Setz dich bitte einen Augenblick. Ich habe dir was zu sagen.«
Und eine klare, nüchterne Mitteilung: »Ich habe jemanden kennengelernt.«
Das war’s.
Aus heiterem Himmel.
Nun ja, ganz heiter war der Himmel nicht gewesen. Eher verhangen wegen einer wochenlangen Fahndung nach einem kriminellen Baulöwen. Nächtelang hatte er im Auto gesessen und auf Hoteleingänge gestarrt. Sein Rücken schmerzte. Er war völlig am Ende. Seine Laune, seine ganze Verfassung, die Psyche sowieso.
Hast du’s mit ihm getrieben, hatte er auf dem Küchenstuhl sitzend gefragt, als der erste Schock vorüber war. Das war doch eine natürliche Frage in so einer Situation. Ihm erschien sie jedenfalls natürlich. Damals und auch jetzt; wenn sich die ganze Szene ins Gedächtnis drängt, findet er an dieser Frage nichts auszusetzen. Er musste doch den Ernst der Lage einschätzen. Von der Antwort hing alles ab. Wenn sie mit ihm gevögelt hatte, war die Lage ernst. Aber wenn sie sagte, ja, ich hab’s mit ihm gemacht, aber darum geht’s nicht – dann gab es noch Hoffnung. Dann hatte der Sex sie nicht blind gemacht, man konnte reden, es gab noch etwas, wo er ansetzen konnte.
Doch sie sagte nichts. Sie stand im Türrahmen der Küche, die Arme vor der Brust verschränkt, schaute zu ihm hinunter, dem armen Hanswurst auf dem Ikea-Küchenstuhl, und verdrehte die Augen. Sie fand die Frage blöd. Unangemessen. Als ginge ihn das nichts an. Oder als sei das nicht wichtig.
Aber es war wichtig. Deshalb wiederholte er die Frage: »Hast du’s mit ihm getrieben? Sag’s mir.«
»Mir ist es ernst«, antwortete sie, immer noch im Türrahmen stehend. Sie nahm sich noch nicht einmal die Zeit, sich zu ihm zu setzen. Nicht einmal mehr diese kleine Geste. Keine Gemeinsamkeit mehr. Sie war entschlossen.
Dann also noch einmal durchladen. Schwereres Kaliber.
»Wir haben ein Kind. Hast du das vergessen?«
Sie lachte bitter und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Gut, dass du dich an Jakob erinnerst. In den letzten Jahren hast du das nicht so oft getan.«
»Ich hab gearbeitet. Ich bin Polizist. Ich hab das Geld verdient, das …«
Er schwieg und starrte sie an.
Ihr Blick war müde und kalt.
Sie erledigte jetzt nur, was sie schon lange vorbereitet hatte. Sie sah aus, als hätte sie dieses Gespräch in Gedanken schon hundertmal durchgespielt und geprobt. Er dagegen war völlig überrascht. Es war nicht fair.
Sie zog es einfach durch.
»Vielleicht kümmerst du dich mehr um deinen Sohn, wenn er nicht mehr mit dir zusammenwohnt. Ich ziehe aus. Das heißt: Jakob und ich ziehen aus. In zwei Wochen.«
»In zwei Wochen? Wie willst du so schnell eine Wohnung finden?«
»Ich habe bereits eine.«
Sie zog es tatsächlich einfach durch.
»Jakob und ich ziehen weg. In eine andere Stadt.«
»In eine andere Stadt?«
»Nach Stuttgart.«
»Stuttgart?«, fragte er fassungslos, als höre er diesen Namen zum ersten Mal.
»Ja, Stuttgart. Dort wohnt Hans.«
Aha. Hans heißt er also, der Neue.
Sie wandte sich ab.
»Ach ja«, sagte sie, »mir wäre es lieb, wenn du ab heute im Wohnzimmer schläfst.«
Er kannte ihren Dickkopf. Er saß auf dem verdammten Küchenstuhl und wusste, dass sie in den vergangenen Wochen ihr neues Leben genau geplant hatte. Wenn Hildegard sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, brachte sie nichts davon ab.
So war sie.
Er hörte, wie sie die Tür zum Schlafzimmer hinter sich schloss und den Schlüssel umdrehte. Er wusste genau, was sie in diesem Augenblick dachte: Puh, das wäre erledigt. Und er wusste in eben diesem Augenblick, dass es vorbei war.
Gegen Hildegards Dickkopf kam niemand an.
Er schon gar nicht.
Dengler holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Leintuch, Decke und Kopfkissen lagen ordentlich gefaltet auf der Couch.
Simon sitzt in der Hocke und hält den Kopf in beiden Händen. Hin und wieder schüttelt er ihn, als würde er etwas nicht verstehen. Laura tastet sich durch den halbdunklen Raum. Ihre Augen haben sich besser an das Dunkel gewöhnt, und sie erkennt die Umrisse der Gegenstände. Sie untersucht das zweite Fenster, die beiden Türen, den Tisch, der an der Wand steht und dessen Schubladen leer sind, sie öffnet einen Besenschrank, der sich neben der Tür befindet, knurrt ein »Hier ist auch nichts« und schließt ihn wieder.
Im Dunkeln sieht Jakob, wie sie zu Simon hinübergeht, sich neben ihn setzt, einen Arm um ihn legt, und er hört, wie sie sagt: »Haben sie dir wehgetan?«
»Ich bin mit dem Kopf voll auf den Boden geknallt.«
»Diese verdammten Scheißkerle.«
»Seid still.« Jakob hört Schritte. Mit lautem Knall wird die Außentür aufgerissen.
Cem.
Die Tür knallt zu. Der Schlüssel dreht sich zweimal im Schloss.
»Hi, jetzt sind wir alle wieder vereint«, sagt Cem betont locker.
Laura steht auf und umarmt ihn.
»Wie haben sie dich geschnappt?«
»Ich weiß nicht. Das war vollkommen irre: Ein Auto kam und hielt direkt vor dem Gebüsch, ich mein: genau vor dem Gebüsch, in dem ich mich versteckt habe. Zwei Typen sprangen raus und liefen direkt auf mich zu. Sie packten mich und warfen mich auf den Boden. Und sie haben mir mein Handy geklaut! Woher wussten die …«
Jakob hört, wie Cems Stimme bricht und er zweimal tief durchatmet.
»Ihr habt ihnen verraten, wo ich bin, oder? Warum habt ihr das gemacht?«
Jakob legt ihm einen Arm auf die Schulter. »Wir haben dich nicht verraten, Cem. Im Gegenteil, du warst unsere Hoffnung. Wir dachten, du alarmierst die Polizei, wenn das Walkie-Talkie schweigt.«
»Aber woher wussten die denn, wo ich mich versteckt hatte?«
»Keine Ahnung«, sagt Jakob.
»Sie haben uns bestimmt beobachtet«, sagt Laura.
»In ein paar Stunden müssen sie uns freilassen«, sagt Simon.
»Müssen sie? Warum?« Jakob spürt, wie sein Magen rebelliert.
»Ja, müssen sie!« Lauras Stimme klingt betont sicher. »Aber unseren Film werden wir wohl nicht drehen.«
»Wir brauchen unbedingt die Ausrüstung zurück«, sagt Jakob. »Das ist eine Katastrophe, wenn wir ohne die Kameras und die Nachtsichtgeräte zurückkommen.«
Laura setzt sich wieder neben Simon und kuschelt sich an ihn.
»Ihr habt mich also nicht verpfiffen?«, fragt Cem leise.
»Quatsch. Natürlich nicht«, sagt Jakob und kauert sich auf den Boden neben Laura. »Das wäre doch verrückt gewesen.«
»In ein paar Stunden lassen sie uns frei«, wiederholt Simon.
»Also machen wir es uns gemütlich.« Auch Cem setzt sich.
Sie warten.
Bald wird es hell werden.
Kimi liegt auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die anderen stehen vor der Tür und rauchen. Kimi denkt nach: Im Februar hat er 835 Euro verdient, im Januar 789 Euro. Im März nichts und im April nichts. Für fünfzehn Stunden Arbeit am Tag. Ihr müsst noch warten, macht euch keine Sorgen, euer Geld fliegt nicht weg, hat Toma zu ihnen gesagt.
Normalerweise bekamen sie das Geld in bar. Eine schwarze Mercedes-Limousine rollte dann auf den Hof, und Toma wurde nervös. Er trommelte sie alle zusammen, und dann standen sie nebeneinander. Drei Männer stiegen aus dem Mercedes. Rumänen. Landsleute. Geschäftsmänner. Alle mit Sonnenbrillen, sogar im Januar. Die beiden Männer waren gefährlich, groß und gefährlich. Ein kleiner dicker Mann, offensichtlich der Chef, gab jedem sein Geld. Bar. Sie mussten nichts unterschreiben. Er hatte eine Aktentasche dabei, und in der Aktentasche lagen gerollte Geldscheine. Man wusste nie genau, wie viel man bekam. Eine Rolle. Mal mehr, mal weniger dick.
Jetzt war der kleine dicke Mann mit dem schwarzen Wagen seit zwei Monaten nicht mehr vorgefahren.
Kimi hört laute Stimmen, draußen vor der Eingangstür. Dann das Schreien von Toma. Er gibt sich einen Ruck, federt aus dem Bett und rennt nach draußen. Toma steht mit hochrotem Kopf vor ihnen und flucht. Geht zur Arbeit, ruft er, verdammtes Pack. Das hier ist kein Spaß. Ihr seid zum Arbeiten hier.
Erst wollen wir unser Geld, sagt Adrian. Kimi bewundert seinen Freund, weil er immer noch so ruhig bleibt. Er hat die Arme vor der Brust gekreuzt. Wir wollen arbeiten, Toma, aber wir machen es gegen Geld. Wir wollen einfach nur das, was uns zusteht.
Ihr bekommt euer Geld. Es dauert einfach ein bisschen. Ihr bekommt euer Geld. Und jetzt geht rüber in die Fabrik, sonst schicken sie euch nach Hause.
Erst unser Geld. Es sind zwei Monate, Toma. Wir haben seit zwei Monaten kein Geld bekommen. Warum?
Weil ihr jetzt andere Chefs habt. Euer Geld schulden euch die alten Chefs. Ihr habt jetzt neue Chefs. Und die zahlen. Am Ende des Monats, glaubt mir.
Viktor drängt sich vor: Was heißt: neue Chefs? Was ist mit dem Geld für März und April?
Toma flucht und zieht ein Telefon aus der Tasche. Er drückt eine Taste und läuft den Weg zum Wachhaus hoch. Er schreit etwas auf Deutsch in das Telefon, das niemand versteht, nicht einmal Adrian.
Der Capo schiebt das Handy wieder in die Hosentasche. Geht arbeiten, schreit er. Die neuen Chefs sind Deutsche. Sie zahlen ordentlich. Und pünktlich, es sind Deutsche. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Geht in die Fabrik. Ihr habt Ärger genug verursacht.
Viktor setzt sich auf die Treppe vor ihrem Haus und schüttelt den Kopf: Ohne Geld keine Arbeit. Kimi nickt, wie die anderen auch. Adrian gibt ihm eine Zigarette.
Eine Stunde später kommen die Deutschen. Es sind zehn, zwölf, vielleicht fünfzehn Motorräder. Auf einigen sitzen zwei Männer. Merkwürdige Männer. Sie haben lange Bärte und tragen seltsame Lederkleidung. Sie sind groß. Hinter ihnen fährt der Werksbus.
Die Wikinger kommen, sagt Adrian, und Kimi versucht zu lachen. Er hat Angst. Die Deutschen gruppieren ihre Motorräder in einem Halbkreis um ihre Unterkunft, die Motoren gurgeln tieffrequent. Im Bus öffnen sich zischend Vorder- und Hintertür. Toma, der Schleimer, rennt auf den Wikinger auf dem vordersten Motorrad zu und redet auf ihn ein. Der Mann lässt mit einem Dreh am Gasgriff seine Maschine aufbrüllen und schreit ihm etwas ins Ohr. Toma nickt und sprintet zu den rumänischen Arbeitern zurück.
»Ihr sollt sofort zur Arbeit gehen. Ihr habt einen Vertrag unterschrieben.«
»Nicht mit den Wikingern«, sagt Vasile.
»Erst unser Geld.«
»Erst unser Geld.«
»Erst unser Geld.«
Kimis Puls rast. Gleichzeitig scheint es so, als würde sich alles im Zeitlupentempo ereignen. Er sieht, wie Toma auf den Mann im Motorrad zurennt, schneller und dienstfertiger als sonst. Der Anführer auf dem Motorrad fragt den Capo etwas, der dreht sich um und deutet auf Adrian. Der Bärtige nickt und gibt den anderen kurze Befehle. Gleichzeitig stellen sie ihre Motorräder ab. Plötzlich liegt eine unheilvolle Stille über allem.
Sie stehen im Halbkreis vor ihnen.
Plötzlich schwingt einer eine Fahrradkette, der Anführer zieht einen Baseballschläger hervor.
Auf einmal geht alles sehr schnell.
Kimi spürt, wie sich Schweißperlen an seiner Stirn bilden.
Seine Hände verkrampfen sich zu Fäusten.
Vasile begreift als Erster.
»He, he, he«, ruft er und hebt die Hände.
Er geht mit erhobenen Händen auf die Männer zu. Der Anführer schlägt so schnell zu, dass Kimi es kaum sieht. Der Schlag trifft Vasile seitlich an der Schläfe, und sein Kopf kippt zur Seite, als wolle er abfallen. Dann bricht Vasile zusammen und bleibt liegen. Einer der Wikinger holt aus, und die Fahrradkette trifft ihn in die Seite. Ein schnauzbärtiger Rocker tritt ihm auf den Kopf. Vasile krümmt sich im Staub.
Jetzt rennen die Wikinger los, und brüllen etwas, was Kimi nicht versteht. Sie schwingen die Fahrradketten und Knüppel. Er dreht sich um, sucht die Eingangstür zum Wohnblock. Sie sind zu viele. Sie passen nicht alle zugleich rein. Adrian ruft ihm etwas zu, aber Kimi versteht ihn nicht. Er will nur weg. Endlich ist er durch die Tür. Er rennt mit den anderen den Flur entlang, in ihr Zimmer. Adrian schafft es als Letzter. Er dreht den Schlüssel um und ruft Kimi und Viktor zu: »Das Bett, schnell das Bett.« Zu dritt wuchten sie eines der Betten hochkant und drücken es gegen die Tür. Sie pressen sich mit ihren Körpern dagegen.
Durch die Tür hören sie die Wikinger schreien. Und sie hören Kollegen schreien. Dumpfe, klatschende Geräusche, schreckliche Geräusche. Laute Schreie. Ein gellender Schrei. Plötzlich Stille. Dann ein Stoß gegen die Tür, der das Bett davor erschüttert. Sie werfen sich gegen die Matratze und pressen sie mit aller Kraft gegen die Tür. Ein zweiter Schlag lässt den Türrahmen splittern. Kimi sieht, wie sich ein schwarzer Stiefel aus den Holzresten zieht und erneut zutritt. Noch einmal splittert das Holz. Der nächste Tritt reißt das Schloss aus der Fassung. Sie haben keine Chance. Kimi weiß es, trotzdem drückt er, so fest er kann. Dann hängt die Tür schräg im Rahmen. Drei Wikinger werfen sich gegen das Bett.
Sie sind stärker.
Die Matratze rutscht nach unten und drückt gegen ihre Füße. Dann kippt das Metallgestell über ihnen weg. Kimi springt zur Seite.
Der Anführer und ein weiterer Wikinger betreten den Raum. Der Zweite schwingt die Fahrradkette, schlägt und triff Kimi am Arm. Erst spürt er nichts, sieht nur das zerrissene Hemd und das blutende Fleisch darunter. Und dann spürt er den sengenden Schmerz. Eine blutige Spur zieht sich vom Oberarm bis zum Ellbogen. Der Schläger holt erneut aus, zielt diesmal auf seinen Kopf. Kimi lässt sich fallen, die Kette trifft seinen Rücken. Er spürt, wie seine Haut aufplatzt und das Blut sein Hemd durchnässt. Atmen. Er denkt nur noch ans Atmen und wie er unters Bett kommt. Weg hier. Die Ader an der Stirn pocht. Wo ist Adrian? Wo sind die anderen? Seine Schulter, sein Rücken, die Wunden brennen, es riecht nach Staub und Milben, er hört die Schreie und Schläge, das Klatschen und Prügeln. Das Bett. Er schiebt sich unter die Matratze. In die Stille, ins Dunkel.
Er sieht, dass der Chef der Bande und ein weiterer Rocker Adrian direkt vor dem Waschbecken festhalten. Der Rocker reißt Adrian an den Haaren zurück, knallt seinen Kopf auf den Rand des Waschbeckens, reißt ihn an den Haaren zurück, stößt seinen Kopf erneut mit voller Wucht gegen das Becken. Wieder und wieder. Kimi fühlt sich wie betäubt. Adrian. Er will schreien, sich rühren, aber kein Muskel bewegt sich. Wieder klatscht Adrians Kopf aufs Waschbecken. Sie bringen ihn um. Ich muss etwas tun. Sein Freund. Noch einmal stößt der Kopf gegen das Becken, da gibt es nach, zerbricht in zwei Teile. Sie lassen Adrian los. Bewusstlos fällt er vornüber, bleibt liegen.
Von irgendwo hört Kimi einen Befehl. Plötzlich erstirbt das Klatschen und Schreien. Viktor stöhnt, Vasile wimmert. Toma schreit: Raus. Alle raus. Schnell. Alle zur Arbeit. Alle in den Bus. Sofort. Neue Arbeitsstelle. Sonst machen die Deutschen weiter.
Kimi kriecht unter dem Bett hervor. Sein Arm brennt wie Höllenfeuer. Er geht zu Adrian. Der Kopf seines Freundes besteht nur noch aus Blut und Fleisch. Lebt er noch? Er braucht einen Arzt. Ein Rocker reißt ihn am Arm hoch und stößt ihn zur Tür. Der Schmerz explodiert in seinem Arm. Er taumelt auf den Flur. Draußen steht der Werksbus. Wie zwei hungrige Mäuler stehen seine beiden Türen offen. Geschlagen klettern die Männer hinein.
Sie sitzen mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, Cem an der Außentür, dann Jakob, Laura, Simon.
An Schlaf denkt keiner. Regen prasselt auf das Dach. Draußen wird es langsam hell.
Als die Tür aufgerissen wird, schrecken sie auf. Jakob wirft einen schnellen Blick auf Laura, sieht, wie sie ihre Lippen zusammenpresst, und sieht dann erst die drei Männer: Motorradstiefel und schwarze enge Lederhosen, schwarze Hemden, darüber eine schwarze Lederkutte.
Der Erste ist kahl geschoren und trägt einen schwarzen Dschingis-Khan-Bart, der, sorgfältig und dünn geschnitten, von der Oberlippe bis zum Kinn seinen schmallippigen Mund umwächst. Seine Augen blicken sie kalt und geschäftsmäßig an. Er ist groß, wohl 1,90 Meter, und ebenso groß ist der Mann neben ihm. Diesem zweiten Mann wuchert der Bart wild im Gesicht, zwei Bartenden hängen rechts und links der Mundwinkel herab und verleihen ihm Ähnlichkeit mit einem Walross. Der Mann ist fett. Seine Wampe hängt über den Gürtel. Das ungepflegte Walross hat ein Halstuch über den Kopf gebunden, darunter ist strähniges graues Haar zu sehen, das er im Nacken zu einem dünnen Zopf zusammengebunden hat.
Hinter ihnen steht ein kleiner Typ mit Sonnenbrille, schwarze Ray-Ban. Er deutet mit dem Zeigefinger auf Cem und sagt gefährlich leise zu den beiden anderen: »Den Türken zuerst.« Jakob spürt mehr als er wahrnimmt, wie Cem sich gegen die Wand drückt, doch der Kahlköpfige ist mit drei Schritten bei ihm, greift ihm ins Haar und zieht ihn hoch. Cem schreit. Jakob, Laura und Simon springen auf, aber der Fette stößt sie zurück. Der Kahlköpfige zerrt Cem an den Haaren aus dem Raum. Cem schreit. Einer versetzt Jakob einen Schlag auf die Brust, er fällt gegen die Wand und hört, wie die Tür ins Schloss fällt.
Laura rennt zur Tür, schlägt dagegen. »Ihr verdammten Arschlöcher, macht die Tür auf!« Sie schreit und weint zugleich.
Jakob robbt zur Tür, versetzt ihr einen Tritt. Er zuckt zusammen. Seine Brust schmerzt dort, wo ihn der Faustschlag getroffen hat.
Simon sitzt immer noch auf dem Boden, den Kopf in die Hände gestützt. »So eine Scheiße«, stöhnt er. »So eine Riesenscheiße.«
»Das waren Rocker«, schreit Laura. »Habt ihr das gesehen? Das waren Rocker! Kann mir das mal einer erklären: Was haben Rocker hier zu suchen?«
»Keine Ahnung«, sagt Jakob. »Vielleicht sind wir irgendwie auf deren Territorium geraten.«
»In einer Mastanlage für Puten? Wie passt das zusammen?«
Sie dreht sich wieder zur Tür und hämmert mit beiden Fäusten dagegen: »Aufmachen, ihr Schweine, macht die Tür auf!«
Sie läuft auf und ab. Jakob beginnt parallel dazu den Raum auszumessen. Sechs Schritte, also sechs Meter, misst ihr Gefängnis in der Länge und vier Meter in der Breite.