Amalthea - Neal Stephenson - E-Book
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Amalthea E-Book

Neal Stephenson

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Beschreibung

Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund. Die Uhrzeit würde man später als A+0.0.0 oder schlicht Null bezeichnen …

05:03:12 Weltzeit. Die Stunde Null. Nach der Explosion des Mondes wütet über Jahrtausende ein Meteoritensturm, der die Erdoberfläche in eine unbewohnbare Wüstenei verwandelt. Um die Menschheit vor der Auslöschung zu bewahren, schicken die Nationen der Erde eine Flotte von Archen ins All. Der Asteroid Amalthea – ursprünglich zu Forschungszwecken an eine internationale Raumstation angedockt –, soll der Kolonie als Schutzschild dienen. Doch das Leben im Weltraum fordert einen hohen Tribut, und der Fortbestand der menschlichen Zivilisation steht auf Messers Schneide …

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Buch

Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund. Die Uhrzeit würde man später als A+0.0.0 oder schlicht Null bezeichnen …

05:03:12 Weltzeit. Die Stunde Null. Nach der Explosion des Mondes wütet über Jahrtausende ein Meteoritensturm, der die Erdoberfläche in eine unbewohnbare Wüstenei verwandelt. Um die Menschheit vor der Auslöschung zu bewahren, schicken die Nationen der Erde eine Flotte von Archen ins All. Der Asteroid Amalthea – ursprünglich zu Forschungszwecken an eine internationale Raumstation angedockt –, soll der Kolonie als Schutzschild dienen. Doch das Leben im Weltraum fordert einen hohen Tribut, und der Fortbestand der menschlichen Zivilisation steht auf Messers Schneide …

»Die extreme Bandbreite und enorme Tiefe von ›Amalthea‹ ist beeindruckend. Ein herausragendes Buch!« Library Journal

Autor

Neal Stephenson wurde 1959 in Fort Meade, Maryland, geboren. Seit seinem frühen Roman »Snow Crash« gilt der mehrfach ausgezeichnete Autor als eines der größten Genies der amerikanischen Gegenwartsliteratur. »Cryptonomicon«, seine Barock-Trilogie mit den Bänden »Quicksilver«, »Confusion« und »Principia«, sowie »Anathem«, der Thriller »Error« und sein jüngstes Werk »Amalthea« wurden weltweit begeistert aufgenommen und stürmten die Bestsellerlisten.

Mehr zum Autor und seinen Büchern finden Sie unter www.neal-stephenson.de.

Mehr von Neal Stephenson:

Snow Crash. Roman ( nur als E-Book erhältlich)

Diamond Age. Die Grenzwelt. Roman ( nur als E-Book erhältlich)

Anathem. Roman ( als E-Book und Taschenbuch erhältlich)

Cryptonomicon. Roman ( nur als E-Book erhältlich)

Die Barock-Trilogie:

Quicksilver. Roman ( als E-Book und Taschenbuch erhältlich)

Confusion. Roman ( als E-Book und Taschenbuch erhältlich)

Principia. Roman ( nur als E-Book erhältlich)

Neal Stephenson

AMALTHEA

Roman

Deusch vonJuliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Seveneves« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Neal Stephenson All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Redaktion: Jochen Stremmel Illustrationen: Weta Workshop; Copyright © by Neal Stephenson Lead Illustrator: Christian Pearce Creative Research: Ben Hawker und Paul Tobin Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign, München Umschlagmotiv: shutterstock/Sdecoret Autorenfoto: © Peter von Felbert Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-16875-9V007
www.manhattan-verlag.de

Für Jaime, Maria, Marco und Jeff

TEIL 1

Das Zeitalter des einen Mondes

Der Mond explodierte ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund. Er war im Zunehmen, zum Vollmond fehlte nur ein Tag. Die Zeit war 05:03:12 UTC. Später würde man sie als A+0.0.0 oder schlicht Null bezeichnen.

Ein Amateurastronom in Utah war der erste Mensch auf der Erde, dem klar wurde, dass etwas Ungewöhnliches geschah. Augenblicke zuvor hatte er in der Umgebung der Reiner-Gamma-Formation, in der Nähe des Mondäquators, eine Trübung entstehen sehen. Er nahm an, dass es sich um eine Staubwolke handelte, die von einem Meteoriteneinschlag herrührte. Er zückte sein Handy und bloggte das Ereignis, wobei er seine steifen Daumen (denn er befand sich hoch auf einem Berg, und die Luft war ebenso kalt wie klar) so rasch wie möglich bewegte, um sich den Entdeckeranspruch zu sichern. Bald würden andere Astronomen ihre Fernrohre auf dieselbe Staubwolke richten – taten es vielleicht bereits! Aber – vorausgesetzt er konnte die Daumen rasch genug bewegen – er wäre der Erste, der darauf hinwies. Der Ruhm fiele ihm zu; falls der Meteorit einen sichtbaren Krater zurückließ, würde dieser vielleicht sogar seinen Namen tragen.

Sein Name fiel dem Vergessen anheim. Bis er sein Handy aus der Tasche gezogen hatte, gab es seinen Krater nicht mehr. Sowenig wie den Mond.

Als er das Handy einsteckte und das Auge wieder an das Okular seines Fernrohrs hielt, stieß er einen Fluch aus, weil er nichts als eine gelbbraune Trübung sah. Er musste das Fernrohr versehentlich unscharf gestellt haben. Er begann an der Scharfeinstellung zu drehen. Das half nicht.

Schließlich zog er den Kopf vom Okular zurück und blickte mit unbewaffnetem Auge auf die Stelle, wo der Mond sein müsste. In diesem Augenblick hörte er auf, Wissenschaftler zu sein, und unterschied sich in nichts mehr von Millionen anderer Menschen in Nord- und Südamerika, die voller Ehrfurcht und Verblüffung das Außergewöhnlichste anstarrten, was Menschen je am Himmel gesehen hatten.

Wenn im Film ein Planet explodiert, verwandelt er sich in einen Feuerball und hört zu bestehen auf. Mit dem Mond verhielt es sich anders. Zwar setzte das Agens (wie man die geheimnisvolle Kraft, die es bewirkte, schließlich nannte) eine sehr große Menge von Energie frei, aber nicht annähernd genug, um die gesamte Substanz des Mondes in Feuer zu verwandeln.

Die weithin akzeptierte Theorie besagte, dass die Staubwolke, die der Astronom in Utah beobachtet hatte, von einem Einschlag herrührte. Dass, mit anderen Worten, das Agens von außerhalb des Mondes gekommen war, dessen Oberfläche durchdrungen, sich tief in sein Zentrum gebohrt und dann seine Energie freigesetzt hatte. Oder dass es einfach auf der anderen Seite wieder ausgetreten war und unterwegs genügend Energie abgegeben hatte, um den Mond auseinanderbrechen zu lassen. Einer anderen Hypothese zufolge handelte es sich bei dem Agens um einen in Urzeiten von Außerirdischen im Mond vergrabenen Sprengsatz, der so eingestellt war, dass er detonierte, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren.

Die Folge jedenfalls war erstens, dass der Mond in sieben große und unzählige kleinere Stücke zerlegt wurde. Und zweitens, dass diese Stücke so weit auseinanderstrebten, dass sie als getrennte Objekte – riesige, unebene Brocken – zu beobachten waren, nicht aber weiter voneinander wegflogen. Die Stücke des Mondes blieben von der Schwerkraft gefesselt, eine Ansammlung riesiger Felsstücke, die chaotisch um ihr gemeinsames Gravitationszentrum kreisten.

Dieser Punkt – ehedem der Mittelpunkt des Mondes, nun aber eine Abstraktion im Raum – drehte sich weiterhin wie schon seit Milliarden von Jahren um die Erde. Sodass die Menschen auf der Erde nun, wenn sie zu der Stelle am Nachthimmel aufblickten, wo der Mond hätte sein müssen, stattdessen diese langsam taumelnde Konstellation weißer Brocken sahen.

Zumindest sahen sie das, als der Staub sich verzog. In den ersten Stunden zeigte sich das, was der Mond gewesen war, bloß als eine etwas mehr als mondgroße Wolke, die sich vor dem Morgengrauen rötete und im Westen unterging, während der Astronom in Utah vollkommen perplex zusah. Asien blickte die ganze Nacht zu einer mondfarbenen Trübung auf. Innerhalb dieser begannen sich helle Flecken abzuzeichnen, während Staubteilchen sich auf den nächstgelegenen schweren Stücken absetzten. Europa und dann Amerika wurde ein klarer Blick auf den neuen Stand der Dinge beschert: sieben riesige Felsbrocken, wo der Mond hätte sein sollen.

Ehe die Führer der wissenschaftlichen, militärischen und politischen Welt das Wort »Agens« zur Bezeichnung dessen zu verwenden begannen, was auch immer den Mond gesprengt hatte, wurde der Begriff, jedenfalls in den Augen der Allgemeinheit, am häufigsten mit dem aus Groschenheften oder zweitklassigen Filmen bekannten Geheim- oder FBI-Agenten assoziiert. Menschen von eher technischer Denkweise hätten ihn vielleicht zur Bezeichnung irgendeines Wirkstoffs, zum Beispiel eines Reinigungsmittels, verwendet. Die genaueste Entsprechung dafür, wie der Begriff künftig stets verwendet werden würde, fand sich in der Linguistik: Darin bezeichnet der Begriff Agens die semantische Rolle, die ein Ereignis verursacht, eine Situation kontrolliert. Als Patiens hingegen wird bezeichnet, wer oder was durch die Situation oder das Ereignis affiziert wird, ohne sie zu kontrollieren. Das Agens agiert. Das Patiens ist passiv. In diesem Falle hatte ein unbekanntes Agens auf den Mond eingewirkt. Passiver Rezipient dieser Aktion war der Mond zusammen mit sämtlichen, im sublunaren Reich wohnenden Menschen. Viel später würden sich die Menschen vielleicht aufraffen, aktiv zu werden, wieder die Rolle des Agens zu übernehmen. Vorderhand aber und bis weit in die Zukunft würden sie sich mit der Rolle des Patiens bescheiden müssen.

Die sieben Schwestern

Rufus MacQuarie sah das Ganze über der schwarzen Kammlinie der Brooks Range in Nordalaska passieren. Er betrieb dort eine Mine. In klaren Nächten pflegte er mit seinem Pickup auf einen Berg zu fahren, mit dessen Aushöhlung er und seine Männer den Tag verbracht hatten. Dann nahm er sein Fernrohr, ein 30-cm-Cassegrain-Teleskop, hinten aus dem Wagen, baute es auf dem Gipfel auf und betrachtete die Sterne. Wenn ihm so richtig kalt wurde, zog er sich in die Fahrerkabine seines Wagens zurück (er ließ den Motor laufen) und hielt die Hände vor die Luftdüsen, bis er wieder Gefühl in den Fingern hatte. Dann, während auch der Rest warm wurde, setzte er seine Finger dafür ein, mit Freunden, Familienmitgliedern und Fremden überall auf der Welt zu kommunizieren.

Und außerhalb davon.

Nachdem der Mond explodiert war und Rufus sich überzeugt hatte, dass das, was er sah, echt war, öffnete er eine App, die die Position diverser natürlicher und künstlicher Himmelskörper anzeigte. Er sah die Position der Internationalen Raumstation ISS nach. Zufällig zog sie gerade vierhundert Kilometer über und dreitausendzweihundert Kilometer südlich von ihm vorbei.

Er zog eine Vorrichtung auf sein Knie. Er hatte sie in seiner kleinen Werkstatt hergestellt. Sie bestand aus einer Morsetaste, die aussah, als wäre sie ungefähr hundertfünfzig Jahre alt, und die auf einem passgenauen Plastikblock befestigt war, der sich mit Klettverschlüssen auf seinem Oberschenkel fixieren ließ. Er begann, Punkte und Striche herunterzuklopfen. An der Stoßstange seines Pickups war eine nach den Sternen greifende Peitschenantenne befestigt.

Vierhundert Kilometer über und dreitausendzweihundert Kilometer südlich von ihm kamen die Punkte und Striche aus zwei billigen Lautsprechern, die mit Kabelbindern an einer Leitung in einem vollgestopften, dosenförmigen Modul befestigt waren, das einen Teil der Internationalen Raumstation bildete.

Am einen Ende der ISS war der yamswurzelförmige Asteroid namens Amalthea festgeschraubt. Falls man ihn, was unwahrscheinlich war, sanft zur Erde befördern und auf einem Fußballfeld ablegen könnte, würde er vom einen bis zum anderen Strafraum reichen und den Mittelkreis komplett abdecken. Er war viereinhalb Milliarden Jahre lang um die Sonne geschwebt, für das bloße Auge und die Teleskope der Astronomen unsichtbar, obwohl er sich auf einem erdähnlichen Orbit bewegt hatte. Nach dem von Astronomen verwendeten Klassifizierungssystem hieß das, dass es sich um einen sogenannten Arjuna-Asteroiden handelte. Wegen ihrer erdnahen Umlaufbahn bestand bei Arjunas eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Erdatmosphäre eintraten und auf bewohnte Orte knallten. Doch ebendeshalb konnte man sie auch leicht erreichen und an ihnen festmachen. Aus beiden Gründen, dem schlechten wie dem guten, zogen sie die Aufmerksamkeit von Astronomen auf sich.

Amalthea war fünf Jahre zuvor von einem Schwarm teleskopbewehrter Satelliten entdeckt worden, die von Arjuna Expeditions losgeschickt worden waren, einer Firma mit Sitz in Seattle, die von Milliardären aus der Technologiebranche zu dem ausdrücklichen Zweck des Asteroidenbergbaus finanziert worden war. Amalthea war als gefährlich eingestuft worden, mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,01 %, innerhalb der nächsten hundert Jahre die Erde zu treffen, deshalb hatte man einen zweiten Schwarm von Satelliten hochgeschickt, um den Asteroiden einzufangen und in eine geozentrische Umlaufbahn (mit der Erde und nicht der Sonne als Mittelpunkt) zu ziehen, die dann nach und nach an die der ISS angepasst wurde.

In der Zwischenzeit war die geplante Erweiterung der ISS in gleichmäßigem Trott vorangeschritten. Man hatte an beiden Enden der Raumstation neue Module – mit Trägerraketen hinaufgeschickte, luftgefüllte Blechdosen und Tragluftkonstruktionen – angefügt. Am vorderen Ende – dem Bug der Raumstation, wenn man sie sich als ungefähr vogelförmiges Objekt vorstellte, das um die Welt flog – schuf man ein Zuhause für Amalthea und für das Asteroidenbergbau-Forschungsprojekt, das sich darum herum entwickeln sollte. Unterdessen konstruierte man am hinteren Ende einen Torus – ein donutförmiges Habitat von etwa vierzig Metern Durchmesser – und versetzte ihn wie ein Karussell in Drehung, wodurch ein geringes Maß an simulierter Schwerkraft geschaffen wurde.

Irgendwann im Zuge dieser Anbauten hatten die Leute aufgehört, von der Internationalen Raumstation oder ISS zu sprechen, und begonnen, das alte Mädchen Izzy zu nennen. Zufälligerweise oder nicht war dieser Spitzname ungefähr zu der Zeit populär geworden, als jedes der beiden Enden der Station unter die Leitung einer Frau gefallen war. Dinah MacQuarie, fünftes Kind und einzige Tochter von Rufus, war für vieles zuständig, was in Izzys vorderem Ende vonstattenging. Ivy Xiao hatte das Gesamtkommando über die ISS und wirkte in aller Regel in dem Torus an deren »Heck«.

Wenn Dinah nicht schlief, hielt sie sich meistens im vorderen Ende von Izzy auf, in einem kleinen Arbeitsraum (»meine Werkstatt«), wo sie durch ein kleines Quarzfenster zu Amalthea (»meine Freundin«) hinausschauen konnte. Amalthea bestand aus Nickel und Eisen: schwere Elemente, die wahrscheinlich ins heiße Zentrum eines alten, schon vor langer Zeit von irgendeiner primordialen Katastrophe auseinandergerissenen Planeten abgesunken waren. Andere Asteroiden bestanden aus leichteren Materialien. So wie Amaltheas erdähnliche Umlaufbahn den Asteroiden sowohl zu einer fatalen Bedrohung wie zu einem vielversprechenden Kandidaten für Rohstoffabbau gemacht hatte, war er dank seines dichten metallischen Aufbaus wahnsinnig schwer durchs Sonnensystem zu bewegen, gab jedoch ein lohnendes Studienobjekt ab. Manche Asteroiden bestanden hauptsächlich aus Wasser, das sich für den menschlichen Verbrauch speichern oder in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten und als Treibstoff für Raketen verwenden ließ. Andere waren reich an kostbaren Metallen, die man zur Erde befördern und verkaufen konnte.

Ein Brocken aus Nickel und Eisen wie Amalthea ließ sich zu Werkstoffen für den Bau bemannter Raumstationen umschmelzen. Alles, was in dieser Hinsicht über ein kleines Pilotprojekt hinausging, würde die Entwicklung neuer Technologie erfordern. Menschen als Bergleute einzusetzen kam nicht in Betracht, da es teuer war, sie in den Weltraum zu befördern und am Leben zu halten. Die naheliegende Lösung waren Roboter. Man hatte Dinah zu Izzy hinaufgeschickt, damit sie die Basis für ein Roboterlabor schuf, das irgendwann sechs Mitarbeiter beherbergen würde. Budgetauseinandersetzungen in Washington hatten diese Zahl auf eins reduziert.

Was ihr eigentlich sehr recht war. Sie war an entlegenen Orten aufgewachsen, denn sie war ihrem Vater Rufus, ihrer Mutter Catherine und ihren vier Brüdern zu einer Reihe von Hartgestein-Bergwerken in Gegenden wie der Brooks Range in Alaska, der Karoo-Halbwüste in Südafrika und der Pilbara in Westaustralien gefolgt. Ihr Akzent verriet Spuren all dieser Gegenden. Sie hatte Hausunterricht von ihren Eltern und von einer ganzen Reihe von Privatlehrern bekommen, die sie eingeflogen hatten und von denen keiner länger als ein Jahr durchgehalten hatte. Catherine hatte ihr die Feinheiten des Klavierspiels und des Serviettenfaltens beigebracht, und von Rufus hatte sie Mathematik, Militärgeschichte, das Morsealphabet, die Buschfliegerei und wie man Dinge in die Luft jagt, gelernt, dies alles bis zu ihrem zwölften Lebensjahr, als man per Familienvotum beim Essen befand, sie sei für das Leben im Bergbau zu gescheit und eine zu große Nervensäge. Man hatte sie in ein Internat an der Ostküste der Vereinigten Staaten geschickt. Denn ihre Familie war – obwohl Dinah das bis dahin nicht im Entferntesten geahnt hatte – wohlhabend.

Auf der Schule hatte sie sich zu einer begabten Fußballspielerin entwickelt und diese Fähigkeit in ein Sportstipendium an der Penn umgemünzt. Im zweiten Studienjahr hatte sie sich das vordere Kreuzband am rechten Knie gerissen, womit ihre Karriere als ernsthafte Sportlerin zu Ende war, und ihre Aufmerksamkeit auf ernsthaftere Weise dem Studium der Geologie gewidmet. Dies plus eine dreijährige Beziehung mit einem Jungen, der gern Roboter baute, hatte sie in Verbindung mit ihrer Vergangenheit in der Bergbauindustrie zur perfekten Kandidatin für den Job gemacht, den sie jetzt hatte. In enger Zusammenarbeit mit Roboterfreaks auf festem Boden – einer Mischung aus Universitätsforschern, freiberuflichen Mitgliedern der Hacker-/Macher-Community und bezahlten Mitarbeitern von Arjuna Expeditions – programmierte, testete und evaluierte sie eine Menagerie von Robotern, die größenmäßig von Kakerlake bis Cockerspaniel rangierten und alle auf die Aufgabe zugeschnitten waren, auf der Oberfläche von Amalthea herumzukrabbeln, deren mineralische Zusammensetzung zu analysieren, Stücke davon abzuschneiden und sie zu einem speziellen Schmelzofen zu bringen, der wie alles hier oben speziell auf die Arbeit im Weltraum zugeschnitten war. Die Stahlbarren, die aus diesem Gerät hervorgingen, waren kaum groß genug, um als Briefbeschwerer dienen zu können, aber sie waren die ersten derartigen Produkte, die jenseits der Erde hergestellt worden waren, und beschwerten im Augenblick überall im Silicon Valley wichtige Papiere auf Milliardärsschreibtischen, wo sie als Gesprächsthemen und Statussymbole viel mehr wert waren denn als Handelswaren.

Rufus, ein eingefleischter Amateurfunkenthusiast, der mit einem schwindenden Kreis alter Freunde überall auf der Welt noch immer per Morsealphabet kommunizierte, hatte darauf hingewiesen, dass eine Funkübertragung zwischen Boden und Izzy eigentlich ziemlich einfach sei, da eine Sichtverbindung bestand (zumindest wenn Izzy zufällig gerade über ihm vorbeizog) und die Entfernung nach Amateurfunkmaßstäben nichts war. Weil Dinah in einer Roboterwerkstatt, umgeben von Lötvorrichtungen und Werkbänken für Elektronik, lebte und arbeitete, war es ihr ein Leichtes gewesen, nach den von ihrem Vater gelieferten Vorgaben einen kleinen Sendeempfänger zu bauen. Mit Kabelbindern an einem Schott befestigt baumelte er über ihrem Arbeitsplatz und gab ein schwaches statisches Knistern von sich, das vom normalen Hintergrundrauschen der Belüftungssysteme der Raumstation ohne weiteres übertönt wurde. Manchmal piepte er.

Hätte ein Weltraumspaziergänger, ein paar Minuten nachdem das Agens den Mond in Stücke zerbrochen hatte, auf Dinahs Ende von Izzy geschaut, hätte er zuallererst Amalthea gesehen: ein riesiges, knorrig verdrehtes Stück Metall, an manchen Stellen immer noch staubig von Weltraumschutt, der im Laufe von Äonen in sein flüchtiges Schwerefeld geraten war, an anderen schimmernd, wo es ihn blank gerieben hatte. Über seine Oberfläche wuselten zwanzig verschiedene Roboter, die zu vier eigenständigen »Arten« gehörten: Eine sah aus wie eine Schlange, eine suchte sich ihren Weg wie ein Krebs, eine sah aus wie eine Art rollende geodätische Kuppel und eine wie ein Schwarm Insekten. Die blauen und weißen LEDs, anhand deren Dinah ihnen auf der Spur blieb, die Laser, mit denen sie Amaltheas Oberfläche abtasteten, und die blendend hellen, purpurnen Lichtbögen, mit denen sie manchmal in den Asteroiden hineinschnitten, sorgten sporadisch für Beleuchtung. Izzy befand sich zu diesem Zeitpunkt im Erdschatten, auf der Nachtseite des Planeten, deshalb war sonst alles dunkel bis auf das weiße Licht, das aus dem kleinen Quarzfenster neben Dinahs Arbeitsplatz nach außen drang. Es war kaum groß genug, um ihren Kopf einzurahmen. Sie hatte kurzgeschnittene strohblonde Haare. Sie war nie sonderlich auf ihr Aussehen bedacht gewesen. Ihre Brüder hatten sie jedes Mal gnadenlos verspottet, wenn sie bei der Mine mit Kleidern oder Kosmetika experimentiert hatte. Als sie in einem Schuljahrbuch als Wildfang bezeichnet worden war, hatte sie das als eine Art Warnschuss aufgefasst und war in eine einigermaßen mädchenhafte Phase eingetreten, die während ihrer späten Teenager- und frühen Zwanzigerjahre ihren Lauf genommen hatte und zu Ende gegangen war, als sie begonnen hatte, sich darüber Gedanken zu machen, ob man sie in ingenieurwissenschaftlichen Besprechungen ernst nahm. Der Aufenthalt auf Izzy bedeutete, dass man im Internet war und von penibel vorbereiteten NASA-PR-Interviews bis zu ungestellten, von Astronautenkollegen geposteten Facebook-Fotos alles machen musste. Sie hatte die bauschigen, schwebenden Haare der Schwerelosigkeit sattbekommen und war, nachdem sie sie einige Wochen lang mit Baseballmützen gebändigt hatte, darauf gekommen, mit welcher Art von Kurzhaarschnitt sie annehmbar aussehen würde. Der Haarschnitt hatte terabyteweise Internetkommentare von Männern und von ein paar Frauen hervorgerufen, die offenbar nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen wussten.

Wie üblich war sie auf den Bildschirm ihres Computers konzentriert, der mit Codezeilen bedeckt war, die das Verhalten ihrer Roboter steuerten. Die meisten Softwareentwickler mussten Code schreiben, diesen zu einem Programm kompilieren und das Programm dann laufen lassen, um festzustellen, ob es wie beabsichtigt funktionierte. Dinah schrieb Code, beamte ihn in die Roboter, die ein paar Meter entfernt auf Amaltheas Oberfläche herumschwirrten, und starrte zum Fenster hinaus, um festzustellen, ob es funktionierte. Diejenigen, die dem Fenster am nächsten waren, fanden in aller Regel ihre größte Aufmerksamkeit, weshalb so etwas wie eine natürliche Selektion wirksam war, insofern die Roboter, die am eifrigsten den kühlen, blauäugigen Blick ihrer Mutter suchten, am meisten Intelligenz erwarben, während diejenigen, die ungebunden auf der dunklen Seite herumwanderten, niemals schlauer wurden.

Jedenfalls war Dinahs Konzentration entweder auf den Bildschirm oder auf die Roboter gerichtet, und das schon seit vielen Stunden. Bis eine Reihe von Pieptönen aus dem mit Kabelbindern am Schott befestigten, knisternden Lautsprecher kam und ihr Blick vorübergehend seine Konzentration verlor, während ihr Verstand die Punkte und Striche zu einer Reihe von Buchstaben und Zahlen decodierte: das Rufzeichen ihres Vaters. »Jetzt nicht, Pa«, murmelte sie mit schuldbewusstem Tochterblick auf die aus Messing und Eichenholz bestehende Morsetaste, die er ihr geschenkt hatte – ein Überbleibsel aus dem neunzehnten Jahrhundert, nach einem Bieterwettstreit, bei dem Rufus in offener Feldschlacht gegen ein Heer von Technikmuseen und Inneneinrichtern angetreten war, für viel Geld bei eBay erstanden.

SIEH DIR DEN MOND AN

»Nicht jetzt, Pa, ich weiß, dass der Mond schön ist, ich bin gerade dabei, dieses Verfahren zu debuggen …«

ODER WAS ER MAL WAR

»Häh?«

Und dann hielt sie das Gesicht dicht ans Fenster und verdrehte den Hals, um den Mond zu finden. Sie sah, was er mal gewesen war. Und das Universum veränderte sich.

Er hieß Dr. Dubois Jerome Xavier Harris. Der französische Vorname kam von seinen Vorfahren mütterlicherseits, die aus Louisiana stammten. Die Harris waren kanadische Schwarze, deren Vorfahren zur Zeit der Sklaverei nach Toronto gekommen waren. Jerome und Xavier waren die Namen von Heiligen – zur Sicherheit zwei davon. Die Familie lebte in der Gegend von Detroit/Windsor beidseits der Grenze. Seine Schulkameraden hatten ihn zwangsläufig Doob getauft, als sie noch zu jung gewesen waren, um zu verstehen, dass »doobie« ein Slangwort für eine Marihuanazigarette war. Inzwischen nannte ihn die überwältigende Mehrheit der Leute Doc Dubois, weil er viel im Fernsehen war, und so stellten ihn auch die Talkshowgastgeber und Moderatoren der Nachrichtensendungen vor. Seine Aufgabe im Fernsehen bestand darin, dem breiten Publikum wissenschaftliche Zusammenhänge zu erklären und in dieser Eigenschaft als Blitzableiter für Leute zu fungieren, die nicht alles akzeptieren konnten, was die Wissenschaft für ihre Weltsicht implizierte, und eine Art verrückte Geschicklichkeit darin zeigten, Möglichkeiten zu ihrer Widerlegung zu finden.

In akademischen Zusammenhängen, zum Beispiel als Hauptreferent bei astronomischen Tagungen und Verfasser von Papieren, war er natürlich Dr. Harris.

Der Mond explodierte, während Dr. Harris an einem Empfang zur Beschaffung von Geldmitteln im Hof des Caltech Athenaeum teilnahm. Zu Beginn des Abends war das Gestirn eine glühend kalte, bläulich weiße Scheibe, die über den Chino Hills aufging. Amateurbeobachter würden sich einbilden, es wäre zumindest nach südkalifornischen Maßstäben eine für die Mondbeobachtung geeignete Nacht, aber Dr. Harris’ geschultes Auge sah eine dünne, unscharfe Borte um den Rand des Trabanten und wusste, dass es sinnlos wäre, ein Fernrohr darauf zu richten. Zumindest wenn das Ziel darin bestand, wissenschaftlich zu arbeiten. Public Relations war eine andere Geschichte; gelegentlich organisierte er, eher in seiner Rolle als Doc Dubois, Sternenpartys, bei denen Amateurastronomen ihre Teleskope im Eaton Canyon Park aufbauten und sie auf publikumswirksame Ziele wie den Mond, die Ringe des Saturn oder die Jupitermonde richteten. Dafür wäre es eine ausgezeichnete Nacht.

Aber das tat er jetzt nicht. Er trank guten Rotwein mit reichen Leuten, die meisten davon aus der Technikbranche, und gab Doc Dubois, den umgänglichen Populärwissenschaftler aus dem Fernsehen mit über vier Millionen Twitter-Followern. Doc Dubois verstand sein Publikum einzuschätzen. Er wusste, dass Selfmade-Technikmilliardäre gern diskutierten, der Geldadel aus Pasadena nicht und dass Ehefrauen aus der feinen Gesellschaft sich gern Vorträge halten ließen, sofern die Vorträge kurz und lustig waren. Und er wusste, dass seine Aufgabe darin bestand, diese Leute zu bezaubern, nichts weiter, damit man sie später professionellen Spendenwerbern übergeben konnte.

Er ging gerade ganz und gar in der Doc-Dubois-Rolle – schulterklopfend, gegen Fäuste stoßend, da und dort ein Grinsen erwidernd – zur Bar zurück, um sich noch ein Glas Pinot noir zu holen, als ein Mann nach Luft schnappte. Alle sahen ihn an. Doc befürchtete, der arme Kerl wäre von einer verirrten Kugel getroffen worden oder so etwas. Er war erstarrt, stand auf einem Bein, schaute nach oben. Eine Frau folgte seinem Blick und kreischte.

Und Doob wurde einer von vielleicht einigen Millionen Menschen auf der dunklen Hälfte des Planeten, die alle in einem so tiefen Schockzustand zum Himmel aufblickten, dass die Teile des Gehirns, die für höhere Funktionen wie etwa das Reden zuständig sind, abschalteten. Angesichts dessen, dass man sich im Großraum Los Angeles befand, war sein erster Gedanke, dass sie auf eine schwarze Kinoleinwand schauten, die über dem Nachbargrundstück heimlich in die Luft gehievt worden war, und einen Hollywood-Spezialeffekt sahen, der von einem versteckten Projektor daraufgeworfen wurde. Niemand hatte ihm Bescheid gesagt, dass eine solche Einlage geplant war, aber vielleicht handelte es sich ja um einen unglaublich bizarren Schachzug zur Geldbeschaffung oder um einen Teil einer Filmproduktion.

Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, dass eine große Zahl von Handys ihre kleinen elektronischen Melodien sangen. Darunter auch seins. Der Geburtsschrei eines neuen Zeitalters.

Ivy Xiao hatte den Oberbefehl über Izzy und verbrachte ihre Zeit fast ausschließlich im Torus, teils weil sich dort ihr Arbeitsraum befand, teils weil sie für die Raumkrankheit anfälliger war, als sie zugeben mochte. Diese räumliche Trennung – Ivy hinten im Torus, Dinah im vorderen Ende, dicht bei Amalthea – war in den Augen vieler symbolisch für eine Differenz zwischen ihnen, die es in Wirklichkeit nicht gab. Andere Gegensätze waren deutlich genug, angefangen beim Körperlichen: Ivy war zehn Zentimeter größer, mit langen schwarzen Haaren, die sie normalerweise dadurch unter Kontrolle hielt, dass sie einen Zopf daraus flocht und diesen unter den Kragen ihres Overalls steckte. Sie hatte den Körperbau einer Volleyballspielerin, während Dinah, wäre sie größer gewesen, für Rugby perfekt gewesen wäre. In Los Angeles als einziges Kind neurotischer Eltern großgeworden, hatte es Ivy über schulische Wettbewerbe, Studierfähigkeitstests und Schmetterbälle bis nach Annapolis geschafft und dann in Princeton einen Doktor in angewandter Physik folgen lassen. Erst danach hatte die Navy die Dienstjahre gefordert, die Ivy ihr im Gegenzug für die Ausbildung schuldete. Nachdem sie gelernt hatte, wie man Hubschrauber flog, hatte sie den größten Teil ihrer Dienstzeit im Astronautenprogramm verbracht, in dessen Reihen sie rasch aufgestiegen war. Im Gegensatz zu den meisten Astronauten, die Missionsspezialisten waren – Wissenschaftler oder Ingenieure, die spezielle Aufgaben ausführten, nachdem die Trägerrakete ihre Umlaufbahn erreicht hatte –, war Ivy mit ihrer Pilotenausbildung außerdem noch Flugspezialistin, d. h. sie konnte Raketen fliegen. Die Zeit des Spaceshuttles war längst vorbei, und deshalb war es nicht mehr nötig, ein mit Flügeln versehenes Raumfahrzeug mithilfe eines Joysticks zu einer Landebahn zurückzusteuern. Aber im Orbit mit einem Raumfahrzeug anzudocken und zu manövrieren war durchaus eine Aufgabe für jemanden mit den motorischen Fähigkeiten eines Hubschrauberpiloten und dem mathematischen Denken eines Physikers.

Der Stammbaum wirkte einschüchternd, ja abschreckend auf Leute, die von derlei beeindruckt waren. Dinah, die es nicht war, scherte sich sowieso wenig darum. Ihr zwangloses Verhalten gegenüber Ivy wurde von manchen Beobachtern als respektlos interpretiert. Zwei sehr unterschiedliche Frauen, die miteinander in Konflikt standen, gaben eine sehr viel dramatischere Geschichte ab als die tatsächlichen Gegebenheiten. Die beiden waren fortwährend irritiert von den Versuchen der Besatzung von Izzy und deren Betreuern auf dem Boden, das nicht vorhandene Zerwürfnis zwischen ihnen zu schlichten. Oder, was viel weniger lustig war, es in Verfolgung komplizierter politischer Intrigen auszunützen.

Vier Stunden nachdem der Mond explodiert war, hatten Dinah, Ivy und die anderen zehn Besatzungsmitglieder der Internationalen Raumstation eine Besprechung in der Banane, was ihre Bezeichnung für das längste ununterbrochene Teilstück im sich drehenden Torus war. Der größte Teil des Torus war in Segmente unterteilt, die so kurz waren, dass der Verstand dem Auge einreden konnte, der Boden wäre eben und die Schwerkraft wirkte immer in dieselbe Richtung. Die Banane jedoch war lang genug, um deutlich zu machen, dass der Boden in Wirklichkeit auf fünfzig Bogengrad gekrümmt war. Die »Schwerkraft« am einen Ende wirkte in eine andere Richtung als die am anderen Ende. Dementsprechend war auch der lange Konferenztisch gekrümmt, der der Länge nach darin stand. Leute, die an einem Ende eintraten, schauten »aufwärts« zum gegenüberliegenden Ende, hatten aber nicht den Eindruck des Kletterns, wenn sie sich darauf zubewegten. Neuankömmlinge rechneten in aller Regel damit, dass alles, was woanders auf den Tisch gelegt wurde, in ihre Richtung herunterkullern und -gleiten würde.

Die Wände waren blassgelb. Die übliche Ansammlung schlecht funktionierender audiovisueller Geräte erweckte den Anschein, als zeige sie Live-Videostreams von Leuten auf dem Boden, was es der Besatzung theoretisch ermöglichte, sich per Telekonferenz mit Kollegen in Houston, Baikonur oder Washington zu unterhalten.

Als die Besprechung um A+0.0.4 (null Jahre, null Tage und vier Stunden, seit das Agens auf den Mond eingewirkt hatte) begann, funktionierte nichts, weshalb die Besatzungsmitglieder von Izzy ein paar Minuten Zeit hatten, sich miteinander zu unterhalten, während Frank Casper und Jibran Haroun an Steckern wackelten, Befehle in Computer tippten und alles rebooteten. Sie waren relativ neu auf Izzy, hatten den Fehler gemacht, durchblicken zu lassen, dass sie in so etwas gut waren, und bekamen es daher jedes Mal aufgedrückt. Beiden war damit ohnehin wohler als mit Geplauder.

»Urzeitliche Singularität« waren die ersten Worte, die Dinah beim Hineingleiten in den Raum hörte. Die Schwerkraft war hier nur ein Zehntel so stark wie auf der Erde, deshalb war »gehen« nicht das richtige Wort dafür, wie sich die Leute hier bewegten – es war ein Mittelding zwischen gehen und fliegen, eine Art weit ausgreifendes Schreiten.

Die Worte waren von Konrad Barth, einem deutschen Astronomen, gekommen. Daran, wie die anderen reagierten, wurde deutlich, dass Ivy, die ihm am Tisch direkt gegenübersaß, der einzige andere Mensch in der Banane war, der die blasseste Ahnung hatte, wovon er redete.

»Und was ist das?«, fragte Dinah, da so etwas ihre Rolle geworden war. Andere neigten dazu, so voller Verehrung zu Ivy aufzublicken oder so ungern Unwissenheit zu offenbaren, dass sie nicht fragten.

»Ein kleines schwarzes Loch.«

»Wieso ›urzeitlich‹?«

»Die meisten schwarzen Löcher bilden sich, wenn Sterne kollabieren«, sagte Ivy. »Aber es gibt eine Theorie, nach der einige sich kurz nach dem Urknall gebildet haben. Das Universum war klumpig. Einige der Klumpen könnten so dicht gewesen sein, dass sie einen Gravitationskollaps erfahren haben. Sie könnten schwarze Löcher bilden, die, anstatt so viel zu wiegen wie ein Stern, sehr viel kleiner sein könnten.«

»Wie klein?«

»Ich glaube nicht, dass es nach unten eine Grenze gibt. Aber das Entscheidende ist, dass eines davon unsichtbar durch den Raum sausen, einen Planeten komplett durchschlagen und auf der anderen Seite wieder herauskommen könnte. Es gab mal eine Theorie, dass das Tunguska-Ereignis von einem hervorgerufen wurde, aber die ist widerlegt worden.«

Darüber wusste Dinah Bescheid, weil ihr Dad gern davon redete: eine gewaltige Explosion in Sibirien, die vor hundert Jahren mitten im Nirgendwo Millionen von Bäumen niedergemäht hatte.

»Das war ein großes Ding«, sagte Dinah, »aber nicht genug, um den Mond zu sprengen.«

»Um den Mond zu sprengen, bräuchte es ein größeres, das schneller fliegt«, sagte Ivy. »Schau, es ist bloß eine Hypothese.«

»Aber jetzt ist es weg?«

»Inzwischen wäre es längst weg. Wie eine Kugel, die einen Apfel durchschlagen hat.«

Dinah kam es merkwürdig vor, dass sie so nüchtern über ein solches Ereignis sprachen. Aber es gab keine andere Möglichkeit, damit umzugehen. Emotionen waren nicht groß genug, um so etwas zu erfassen. Außerdem war es bislang nur ein visueller Effekt, wie etwas, was man bei ausgeschaltetem Ton in einem Film sieht.

»Wird es sich auf die Gezeiten auswirken?«, fragte Lina Ferreira. Für sie als Meeresbiologin lag es nahe, sich einige Gedanken um die Gezeiten zu machen. »Die werden ja durch die Schwerkraft des Mondes hervorgerufen.«

»Und durch die der Sonne«, fügte Ivy mit einem Nicken und einem leichten Lächeln hinzu. Ebendas war der Grund, warum sie und nicht Dinah das Kommando über Izzy hatte. Sie war bereit, eine promovierte Meeresbiologin vor versammelter Mannschaft zu korrigieren, kriegte das aber auf eine Weise hin, die nicht wehtat. »Aber die Antwort lautet, wahrscheinlich überraschend wenig. Die Masse des Mondes ist ja noch vollständig da, und zwar ungefähr dort, wo sie vorher gewesen ist. Sie hat sich nur ein bisschen ausgebreitet. Aber die Bruchstücke haben immer noch dasselbe gemeinsame Gravitationszentrum, das sich immer noch in derselben Umlaufbahn befindet wie zuvor der Mond. Deine Gezeitentafeln werden immer noch ganz gut funktionieren.«

Dinahs Gesicht war ausdruckslos, aber sie freute sich an Ivys Fähigkeit, trotz des verstörenden Themas mit so etwas wie dem Staunen eines kleinen Nerd-Mädchens über Wissenschaft zu reden. Deshalb bekam Ivy immer die Medieninterviews, während man Dinah aus ihrer Roboterhöhle zerren und ihr immer wieder sagen musste, sie solle lächeln. Der Tonfall war der Fingerzeig; wenn Ivy Befehle gab oder Powerpoint-Folien las, wurde sie knapp und militärisch, doch wenn sie über Wissenschaft sprach, begann ihr Gesicht zu leuchten, und ihre Stimme verfiel in einen an Mandarin erinnernden, beschwingten Singsang.

»Wo hast du das alles her?«, fragte Dinah, was verblüffte oder missbilligende Blicke bei einigen hervorrief, die sich Sorgen machten, dass sie zu brüsk mit der Chefin umging. »Es sind doch erst, wie viel, vier Stunden vergangen?«

»Wie nicht anders zu erwarten, gibt es eine Menge geräuschvoller Kommentar-Threads, und es haben sich ein paar spontane E-Mail-Listen aus der Sache ergeben«, erklärte Ivy.

Auf dem leichten Monitor, der sich über einem Ende des langen Tisches befand, erschien ein blauer Bildschirm, der von einem NASA-Logo abgelöst wurde. »Okay, ich hab’s«, murmelte Jibran und machte einen Seitwärtsschritt in Richtung eines Stuhls.

Dann sahen sie das vertraute Ambiente des ISS Flight Control Room, der sich im Johnson Space Center in Houston befand. Der Director of Mission Operations saß vor der Kamera und strich über seinen iPad. Er schien sich nicht bewusst zu sein, dass er auf Sendung war. Ein paar Augenblicke später hörten sie im Off eine Tür aufgehen. Der DMO, ein ehemaliger Militär, stand aus Gewohnheit auf. Er streckte die Hand aus und gab sie einer Frau, die von der rechten Bühnenseite aus auftrat: die Deputy Administrator der NASA, die Nummer zwei im Gesamtorganigramm und ein seltener Anblick bei solchen Besprechungen. Sie war eine pensionierte Astronautin namens Aurelia Mackey, passend gekleidet für geschäftliche Besprechungen in der Umgebung von Washington, D. C., wo sie den größten Teil ihrer Zeit verbrachte.

»Sind wir auf Sendung?«, fragte sie jemanden im Off.

»Ja«, sagten mehrere Leute in der Banane.

Aurelia wirkte darob leicht verdutzt. Natürlich sahen sowohl sie als auch der DMO von vornherein leicht benommen aus.

»Wie geht es Ihnen allen heute«, sagte Aurelia mit absolut routinierter, geschäftsmäßiger Stimme, als wäre nichts geschehen. Sie lief auf Autopilot, während ihr Verstand mit den Ereignissen Schritt zu halten versuchte.

»Prima«, sagten einige Leute in der Banane, untermischt mit etwas nervösem Gekicher.

»Sie sind sich bestimmt alle bewusst, was passiert ist.«

»Wir haben einen guten Blick darauf«, sagte Dinah. Ivy bedachte sie mit einem warnenden Blick.

»Ja, natürlich«, räumte Aurelia ein. »Ich täte nichts lieber, als mich mit Ihnen allen ausführlich darüber zu unterhalten, was Sie gesehen haben und was Sie gerade erleben. Aber wir müssen uns kurz fassen. Robert?«

Der DMO wandte den Blick vom iPad und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Wir rechnen damit, dass die Anzahl der Steine, die da oben herumschweben, zunimmt.« Er meinte lose Brocken des Mondes. »Keine riesigen, weil die meisten wohl von der Schwerkraft festgehalten werden. Aber einige sind vielleicht entwischt. Deshalb werden andere Missionen bis auf weiteres verschoben, während ihr die Luken dichtmacht. Trefft Vorkehrungen für Einschläge.«

Alle in der Banane hörten schweigend zu und dachten daran, was das für sie bedeuten würde. Sie würden die Vorsichtsmaßnahmen verschärfen und Izzy in getrennte Bereiche aufteilen, damit ein Schaden in einem Bereich nicht auch aus allen anderen Luft entweichen ließ. Sie würden die Arbeitsabläufe überprüfen. Linas Biologieexperimente würden vielleicht zu leiden haben. Dinahs Roboter würden Urlaub bekommen.

Aurelia sprach in die Kamera. »Sämtliche Raumflugoperationen werden bis auf weiteres eingestellt. Niemand kommt rauf, und niemand kommt runter.«

Alle in der Banane sahen Ivy an.

Sobald sie in Ivys winziges Arbeitszimmer kamen, wo sie es okay fand, Tränen in ihre Augen treten zu lassen, verfielen sie in ihren Q-Code.

Q-Codes waren Amateurfunkerslang. Dinah hatte sie von Rufus gelernt. Es waren Kombinationen aus drei Buchstaben, beginnend mit Q. Um bei Morsefunksprüchen Zeit zu sparen, setzte man sie an die Stelle häufig benutzter Sätze wie etwa »Möchtest du, dass ich auf eine andere Frequenz wechsle?«.

Dinahs und Ivys Q-Codes begannen in Wirklichkeit nicht mit Q. Aber einige davon waren Kombinationen aus drei Buchstaben.

Hochnäsiger Kleiner Bauerntrampel war ein Name, den man Dinah angehängt hatte, als sie auf der Privatschule eingetroffen war und in einem Trainingsspiel einen Pass abgefangen hatte, der für ein Mädchen aus New York bestimmt war.

Spießiger Tugendbolzen war Ivy in Annapolis verliehen worden, als sie es abgelehnt hatte, sich auf einer Parkplatzparty an einem Saufspiel zu beteiligen.

Die HKB/STB-Dynamik war etwas, was Dinah und Ivy bei Besprechungen ausnützten, und sie hielten vor Besprechungen sogar Vorbesprechungen ab, um das Wie zu planen.

Gutes Aussehen Verschwendet hatte im Gefolge ihrer neuen Frisur zu Dinah gefunden, als Ergebnis einer unwahrscheinlichen Kette von »Antwort an alle«-Missgeschicken. Atemlos vor Aufregung hatte sie es Ivy mitgeteilt, und sie hatten »GAV« in ihr privates Codebuch aufgenommen.

»Ich hab’s vergessen«, gesprochen mit gehauchter Kleinmädchenstimme, war eine Abkürzung für »Ich habe vergessen, mich zu schminken«, wörtliches Zitat einer NASA-Pressesprecherin.

SUS entstammte einem bissigen Wortwechsel zwischen Ivy und einem NASA-Bürokraten, der sie nach Lektüre eines ihrer Berichte dafür kritisiert hatte, dass sie eine »fast pathologische Vorliebe für unnötige Abkürzungen« habe. Angesichts dessen, dass jedes zweite Wort der NASA-Prosa ein Akronym war, fand Ivy das ein bisschen seltsam. Als sie um Verdeutlichung gebeten hatte, hatte sie zu hören bekommen, ihre Abkürzungen seien »schülerhaft und schwer verständlich«.

Space Camp (woran sowohl Ivy als auch Dinah als Teenager teilgenommen hatten, wenn auch zu verschiedenen Zeiten) war ihre Bezeichnung nicht nur für Izzy, sondern für die gesamte Subkultur der bemannten Raumfahrt der NASA.

»Was wirst du der mütterlichen Organstruktur sagen?«, fragte Dinah, während Ivy hinten in einem Aufbewahrungsbehälter nach ihrer Tequilaflasche kramte.

Ivy erstarrte ganz kurz, dann zog sie die Flasche hervor und schwang sie wie eine Keule in Richtung von Dinahs Kopf. Dinah zuckte nicht, sondern sah bloß zu, wie sie knapp über ihrem Kopf sanft zum Stehen kam. »Was?«

»Ich kann nicht glauben, dass die Morg meine Hochzeit so sehr an sich gerissen hat, dass dir als Erstes einfällt, wie sie wohl reagieren wird.«

Dinah sah aus, als wäre ihr leicht übel.

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Ivy, »du hast’s vergessen.« Dich zu schminken.

»Tut mir leid, Baby. Ich hab gerade gedacht … Du und Cal, ihr werdet trotzdem heiraten und es schön miteinander haben, komme, was da wolle.«

»Aber die Morg wird darunter zu leiden haben«, sagte Ivy nickend, während sie Tequila in zwei kleine Plastikbecher eingoss. »Weil sie jetzt alles umplanen muss.«

»Hört sich allerdings so an, als wäre sie damit irgendwie in ihrem Element«, sagte Dinah. »Nicht dass ich das kleinreden will oder so.«

»Aber woher denn.«

»Auf die Morg.«

»Die Morg.« Dinah und Ivy stießen mit ihren Plastikbechern an und nippten an dem Tequila. Einer der Vorteile des Aufenthalts im Torus war, dass man normal trinken konnte, anstatt alles durch ein Röhrchen saugen zu müssen. Die schwächere Schwerkraft erforderte zwar eine gewisse Gewöhnung, doch inzwischen waren sie darin alte Hasen.

»Wie sieht’s mit deiner Familie aus? Hast du von Rufus gehört?«, fragte Ivy.

»Mein Vater möchte Rohdaten-Dateien von Konrads Weitfeld-Infrarot-Beobachtungsplattform, von der er im Internet gelesen hat, damit er seine persönliche Neugier auf das Ding, das gestern den Mond getroffen hat, befriedigen kann.«

»Willst du ihm die runtermorsen?«

»Sein Internet funktioniert. Er hat bereits einen leeren Dropbox-Ordner erstellt. Sobald ich ihm die Dateien besorge, wird er wieder wie üblich darüber meckern, dass er zu viele Steuern bezahlt und die Bundesregierung so weit zurückgestutzt werden muss, dass er sie persönlich mit Stahlkappenschuhen tottrampeln kann.«

Was die Astronomen nicht wussten, überwog in fast unendlichem Verhältnis das, was sie wussten. Bei Menschen, die ein eher geordnetes System von Wissen gewöhnt waren, bei dem sich alles auf Wikipedia fand, führte das dazu, dass sie den Berufsstand der Astronomen in gewisser Weise jedes Mal als inkompetent oder zumindest leistungsunfähig wahrnahmen, wenn am Himmel unheimliche Dinge passierten.

Und das war im Grunde jeden Tag der Fall. Doch die meisten waren ohnehin nur für Astronomen zu sehen, die sie deshalb als eine Art Berufsgeheimnis wahren konnten. Überdeutlich wahrnehmbare Ereignisse wie etwa Meteoriteneinschläge sorgten dafür, dass Doc Dubois’ Handy sang. Das Singen zog normalerweise eine Reihe von Talkshowauftritten nach sich, bei denen er unter anderem aufgefordert wurde zu erklären, warum die Astronomie das nicht vorausgesagt habe. Warum hatten sie den Meteor nicht kommen sehen? War es nicht einfach so, dass sie eine Bande von nichtsnutzigen Wirrköpfen waren?

Mit ein wenig Demut schien man weit zu kommen, und wenn man ihm nicht zu früh das Wort abschnitt, war er häufig imstande, ein Plädoyer für mehr staatliche Unterstützung der Wissenschaften einzuschieben. Denn Wolf-Rayet-Sterne im Quintuplet-Sternhaufen mochten der Allgemeinheit egal sein, aber sie sah durchaus ein, warum man es tunlichst vermeiden sollte, sich heiße Steine auf den Kopf fallen zu lassen.

Er sprach stets vom Zerbrechen des Mondes. Nicht von der Explosion. Auf Twitter begann der Begriff unter dem Hashtag #BUM Fuß zu fassen. Wie auch immer man es nannte, es war eine unendlich viel größere Sache als ein einzelner Meteoreinschlag. Es schien also mehr Erklärungen zu erfordern. Es gab aber noch keine Möglichkeit, es zu erklären. Meteore waren einfach: Der Weltraum war voller Felsbrocken, die zu klein und dunkel waren, als dass man sie durch Teleskope sehen konnte, und manche von ihnen blieben an der Atmosphäre hängen und fielen auf die Erde. Aber das Zerbrechen des Mondes konnte von keinem normalen astronomischen Phänomen verursacht worden sein. Also sprach Doc Dubois – der die nächste Woche größtenteils vor laufender Kamera verbrachte – dieses Problem bei jeder sich bietenden Gelegenheit an und machte stets mit dem freimütigen Eingeständnis auf, dass weder er noch sonst ein Astronom die Ursache kannte. Das war die Eröffnung, genau auf den Punkt. Dann gab er der Sache den besonderen Dreh: Das Ganze sei absolut faszinierend. Tatsächlich sei es das faszinierendste wissenschaftliche Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Es wirke beängstigend und beunruhigend, aber Fakt sei, dass es niemanden das Leben gekostet habe, abgesehen von ein paar Autofahrern, die beim Gaffen von der Straße abgekommen oder auf stehenden Verkehr aufgefahren seien.

Um A+0.4.16 (vier Tage und sechzehn Stunden nach dem Zerbrechen des Mondes) musste er »Es hat niemanden das Leben gekostet« berichtigen, als ein Meteorit, fast mit Sicherheit ein Brocken Mondgestein, über Peru in die Atmosphäre eintrat, auf einer Strecke von über dreißig Kilometern Fenster zerspringen ließ, auf einem Gehöft einschlug und eine kleine Familie auslöschte.

Doch die Botschaft blieb die gleiche: Lassen Sie uns das Ganze als wissenschaftliches Phänomen betrachten und von dem ausgehen, was wir wissen. Seine Verbündete war eine Videostreaming-Webseite namens astronomicalbodiesformerlycalledthemoon.com, die rund um die Uhr einen hochauflösenden Feed von der Trümmerwolke zeigte. Diese ließ Doc Dubois einblenden, sobald es in dem Interview möglich war, und begann dann Beobachtungen über die Wolke anzustellen. Denn Beobachtungen anzustellen beruhigte die Leute. Der Mond war in sieben große Stücke, die zwangsläufig als die Sieben Schwestern bekannt wurden, und unzählbar viele kleinere Stücke zerbrochen. Die großen erwarben nach und nach Namen. Für viele davon war Doc Dubois verantwortlich. Er verlieh ihnen anschauliche Namen, die niemandem Angst machten. Sie Nemesis, Thor oder Grond zu nennen ging nicht. Also wurden sie stattdessen zu Potatohead, Mr Spinny, Eichel, Pfirsichkern, Schöpfkelle, Big Boy und Kidneybohne. Doc Dubois pflegte auf sie zu zeigen und dann auf die Art, wie sie sich bewegten, aufmerksam zu machen. Diese wurde ganz und gar von der Newton’schen Mechanik bestimmt. Je nach seiner Masse und Entfernung zog jedes Stück des Mondes jedes andere mehr oder weniger stark an. Auf einem Computer ließ sich der Vorgang ganz einfach simulieren. Die ganze Trümmerwolke war von der Schwerkraft gefesselt. Sofern ein Splitter schnell genug war, ihr zu entkommen, war das bereits geschehen. Der Rest schwebte als lockerer Haufen von Felsbrocken herum. Manchmal stießen sie gegeneinander. Irgendwann würden sie aneinanderhaften, und der Mond würde sich neu bilden.

So zumindest lautete die Theorie bis zu der Sternenparty, die man um A+0.7.0, genau eine Woche nach dem Ereignis, mitten auf dem Campus der Caltech schmiss.

Normalerweise veranstaltete man die Sternenpartys oben in den Bergen, wo die Sicht besser war, aber riesige, erdnahe Felsbrocken zu sehen war so einfach, dass man sich nicht die Mühe machen musste, in die Berge hinaufzufahren. Es wäre dem Zweck des Ereignisses zuwidergelaufen, der darin bestand, so viele Angehörige der Allgemeinheit wie möglich in einer parkähnlichen Atmosphäre zu versammeln, damit sie durch Fernrohre schauen und Beobachtungen anstellen konnten. Die Beckman Mall war von gelben Schulbussen gesäumt, zwischen die sich da und dort Fahrzeuge lokaler und überregionaler Fernsehsender gemischt hatten, deren Masten so ausgerichtet waren, dass sie live in die Stadt übertragen konnten. Ihre Reporter standen in hellen Lichtkreisen und benutzten als Hintergrund ein offenes, mit Teleskopen unterschiedlicher Typen und Größen übersätes Grün. Man verteilte kleine Spiele mit sieben Karten, die jeweils ein Bruchstück des Mondes aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten und mit Namen bezeichneten. Kinder bekamen die Aufgabe, jeden der Brocken durch das Okular eines Teleskops zu identifizieren, auf einem Arbeitsblatt anzukreuzen und eine Beobachtung darüber aufzuschreiben. Die meisten Teleskope waren natürlich auf die Sieben Schwestern gerichtet, einige Leute jedoch betrachteten mit Ferngläsern oder bloßem Auge einen dunkleren Teil des Himmels, weil sie damit rechneten, Meteoriten zu sehen. Bis zum Tag 7 waren mehrere Hundert davon in die Atmosphäre eingetreten. Oder jedenfalls mehrere Hundert, die groß genug waren, um bemerkt zu werden. Die meisten waren verglüht, bevor sie auf dem Boden aufgeschlagen waren. Es hatte etwa zwanzig Vorfälle gegeben, bei denen sie Bogenlichtspuren über den Himmel gezogen, die Erde unter sich mit irrer bläulicher Strahlung beleuchtet und gewaltige Überschallknalle hervorgerufen hatten. Ein halbes Dutzend war auf dem Boden aufgetroffen und hatte mehr oder minder große Schäden angerichtet. Die Zahl der Todesopfer lag jedoch immer noch weit unter dem statistischen Niederschlag von Haiangriffen und Blitzschlägen.

Der Abend verlief gut. Doob, der drei Kinder großgezogen hatte, war schon lange dahintergekommen, dass jede Veranstaltung, die hauptsächlich von Grundschullehrern organisiert wurde, unter dem Gesichtspunkt der Logistik und der Kontrolle und Lenkung von Menschenmassen wahrscheinlich wie am Schnürchen klappte. Also konnte er sich entspannen und Doc sein, Kindern Sieben-Schwestern-Karten signieren und ab und zu, für eine Diskussion mit einem Kollegen, in den Dr.-Harris-Modus umschalten.

Beim Herumspazieren auf dem Gelände hatte er drei verschiedene Zufallsbegegnungen mit derselben Grundschullehrerin, einer gewissen Ms Hinojosa, und verliebte sich in sie. Das war ungewöhnlich. Er war seit zwölf Jahren nicht verliebt gewesen. Er war seit neun Jahren geschieden. Er fand das auf seine Weise ebenso schockierend wie das Auseinanderbrechen des Mondes. Er versuchte, genauso damit umzugehen: indem er wissenschaftliche Beobachtungen über das Phänomen anstellte. Seine Arbeitshypothese war, dass das Auseinanderbrechen des Mondes Doob wieder jung gemacht, emotionale Hornhautschichten von seiner Seele abgeschält und ein rosig schimmerndes, leicht zu beeindruckendes Herz zurückgelassen hatte, das nur darauf wartete, von der ersten reizvollen Frau, die des Weges kam, kolonisiert zu werden.

Er unterhielt sich gerade mit Amelia – denn so hieß sie mit Vornamen, wie sich herausstellte –, als ein Schwirren langsam über das Geviert zog und alle veranlasste, nach oben zu schauen.

Zwei der größeren Stücke – Schöpfkelle und Kidneybohne – hielten direkt aufeinander zu. Es wäre nicht der erste derartige Zusammenstoß. Es kam ständig dazu. Aber zwei große Brocken mit hoher Annäherungsgeschwindigkeit genau aufeinander zuhalten zu sehen war ungewöhnlich und verhieß eine gute Show. Doob versuchte, ein Gefühl des Unbehagens in seiner Brust zu beschwichtigen, das davon, was mit Amelia passierte, oder von der natürlichen Beklommenheit herrühren mochte, die jeder vernünftige Mensch empfinden würde, wenn er mit ansähe, wie sich direkt über ihm zwei riesige Steinbrocken anschickten aufeinanderzuprallen. Die gute Nachricht war, dass die Leute die Entwicklung des Schwarms allmählich als so etwas wie einen Zuschauersport auffassten, ihn als faszinierend und unterhaltsam, aber nicht als erschreckend betrachteten.

Der schärfere Rand des Schöpflöffels knallte in die Kuhle, der die Kidneybohne ihren Namen verdankte, und spaltete diese in zwei Hälften. Das alles passierte natürlich in stummer Superzeitlupe.

»Und dann waren es plötzlich acht!«, sagte Amelia. Sie hatte sich instinktiv von Doob ab- und ihrer Schar von zweiundzwanzig Schülern zugewandt. »Was ist gerade mit Kidneybohne passiert?«, fragte sie in typischer Lehrermanier, hielt nach erhobenen Händen Ausschau, suchte nach einem Kind, das sie aufrufen konnte. »Kann mir das jemand sagen?«

Die Kinder blieben stumm und schauten drein, als wäre ihnen leicht übel.

Amelia hielt ihre Kidneybohnen-Karte hoch und riss sie mittendurch.

Dr. Harris ging auf seinen Wagen zu. Sein Handy klingelte, was ihn so erschreckte, dass er beinahe gegen einen Schulbus gelaufen wäre. Was war los mit ihm? Seine Kopfhaut prickelte, und ihm wurde klar, dass das daher rührte, dass die Haare auf seinem Kopf sich aufrichten wollten. Er schaute auf das Display des Handys und sah, dass der Anruf von einem Kollegen aus Manchester kam. Er klickte ihn weg und sah sich auf einen neuen Kontakt schauen, den er gerade für Amelia eingerichtet hatte: ein Schnappschuss ihres Gesichts, bloß eine Silhouette im Profil vor einem Hintergrund von Fernsehscheinwerfern, und ihre Telefonnummer. Er tippte auf den Button »Schließen«.

Er hatte dieses Prickeln der Kopfhaut schon einmal gespürt, nämlich auf einer Safari in Tansania, und er hatte, als er sich umdrehte, festgestellt, dass ihn eine Gruppe Hyänen interessiert beobachtete. Angst gemacht hatten ihm nicht die Hyänen selbst. Die, und noch gefährlichere Tiere, gab es dort überall. Es war vielmehr die plötzliche Erkenntnis, dass er unachtsam geworden war, dass er seine Aufmerksamkeit auf die falsche Sache konzentriert hatte, während die eigentliche Gefahr hinter ihm kreiste.

Er hatte eine Woche mit dem faszinierenden wissenschaftlichen Rätsel »Was hat den Mond gesprengt?« vergeudet.

Das war ein Fehler gewesen.

Kundschafter

»Wir müssen aufhören, uns zu fragen, was passiert ist, und stattdessen darüber reden, was passieren wird«, sagte Dr. Harris zur Präsidentin der Vereinigten Staaten, ihrem wissenschaftlichen Berater, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs und ungefähr der Hälfte des Kabinetts.

Er konnte sehen, dass das der Präsidentin nicht gefiel. Julia Bliss Flaherty, derzeit mitten im ersten Jahr ihrer Amtszeit.

Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs nickte, doch die Präsidentin bedachte ihn mit einem grimmigen Blick aus zusammengekniffenen Augen, und das nicht nur wegen des Lichts, das von dem Himmel über Camp David zum Fenster hereinschien. Sie dachte, dass er etwas im Schilde führte. Die Schuld anderen zuschieben wollte. Irgendeine neue Tagesordnung durchzusetzen versuchte. »Fahren Sie fort«, sagte sie. Dann, als sie sich ihrer Umgangsformen erinnerte: »Dr. Harris.«

»Vor vier Tagen habe ich zugesehen, wie Kidneybohne auseinandergebrochen ist«, sagte Doob. »Aus den Sieben Schwestern sind acht geworden. Seither haben wir einen Beinahezusammenstoß erlebt, der Mr Spinny hätte zerlegen können.«

»Ich würde es fast begrüßen«, sagte die Präsidentin, »wenn wir diese albernen Namen loswerden könnten.«

»Dazu wird es kommen«, sagte Doob. »Die Frage ist, wie lange hat Mr Spinny noch zu leben? Und was sagt uns das?« Er drückte auf eine kleine Fernbedienung in seiner Hand und projizierte eine Folie auf den großen Bildschirm. Köpfe drehten sich darauf zu, und er verspürte einen Anflug von Erleichterung darüber, dass er nicht mehr von der Präsidentin angestarrt wurde. Die Projektion war eine Montage aus einem Schneeball, der einen Hügel hinunterrollte, einer pelzigen Bakterienkultur, die in einer Petrischale wuchs, einem Wolkenpilz und anderen, scheinbar nicht miteinander zusammenhängenden Phänomenen. »Was haben alle diese Phänomene gemeinsam? Sie verlaufen exponentiell. Viele Leute werfen mit dem Wort um sich und meinen damit alles, was schnell groß wird. Aber es hat eine spezielle mathematische Bedeutung. Es bezeichnet jeden Prozess, bei dem sich umso mehr tut, je mehr sich tut. Die Bevölkerungsexplosion. Eine nukleare Kettenreaktion. Ein Schneeball, dessen Wachstumsgeschwindigkeit daran gekoppelt ist, wie sehr er gewachsen ist.« Er klickte sich durch eine andere Projektion, die Verläufe von Exponentialkurven in einem Graphen zeigte, dann auf ein Bild der acht Stücke des Mondes. »Als der Mond nur aus einem Stück bestand, lag die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes bei null«, sagte er.

»Weil es nichts gab, womit er hätte zusammenstoßen können«, erklärte Pete Starling, der wissenschaftliche Berater der Präsidentin. Die Präsidentin nickte.

»Danke, Dr. Starling. Wenn man zwei Stücke hat, dann können diese sehr wohl zusammenstoßen. Je mehr Stücke man bekommt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass zwei beliebige Stücke zusammenprallen. Aber was passiert, wenn sie zusammenprallen?« Wieder drückte er auf die Fernbedienung und zeigte einen kleinen Film vom Zerbrechen der Kidneybohne. »Tja, manchmal, aber nicht immer, brechen sie entzwei. Das heißt, man bekommt mehr Stücke. Acht statt sieben. Neun statt acht. Und diese zahlenmäßige Zunahme bedeutet eine Zunahme der Wahrscheinlichkeit weiterer Kollisionen.«

»Der Prozess verläuft exponentiell«, sagte der Vorsitzende.

»Vor vier Tagen kam mir der Gedanke, dass er in der Tat alle Merkmale eines exponentiellen Prozesses aufweist«, räumte Doob ein. »Und was damit passiert, wissen wir.«

Präsidentin Flaherty hatte ihn aufmerksam beobachtet, doch nun huschte ihr Blick zu Pete Starling hinüber, der mit einer Hand eine dramatisch nach oben schießende Bewegung vollführte, die die Form eines Hockeyschlägers nachzeichnete.

»Wenn ein exponentieller Prozess die Krümmung in der Hockeyschlägerkurve erreicht«, sagte Doob, »kann es sein, dass das Ergebnis nicht von einer Detonation zu unterscheiden ist. Es kann aber auch wie eine langsame, stetige Zunahme aussehen. Das hängt alles von der Zeitkonstante ab, der dem exponentiellen Prozess innewohnenden Geschwindigkeit. Und davon, wie wir als Menschen ihn wahrnehmen.«

»Es könnte also gar nichts sein«, sagte der Vorsitzende.

»Es könnte sein, dass hundert Jahre vergehen, ehe wir von acht Brocken auf neun Brocken kommen«, sagte Doob und nickte ihm zu, »aber vor vier Tagen habe ich mir Sorgen gemacht, dass es vielleicht eine dieser Geschichten ist, die eher wie eine Explosion aussehen. Also haben meine Doktoranden und ich ein bisschen gerechnet. Ein mathematisches Modell des Prozesses erstellt, das wir benutzen können, um den zeitlichen Rahmen in den Griff zu bekommen.«

»Und zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen, Dr. Harris? Ich nehme an, Sie haben welche, sonst wären Sie nicht hier.«

»Die gute Nachricht ist, dass die Erde eines Tages ein wunderschönes System von Ringen haben wird, genau wie der Saturn. Die schlechte Nachricht ist, dass es unordentlich zugehen wird.«

»Mit anderen Worten«, sagte Pete Starling, »die Brocken des Mondes werden zeitlich unbegrenzt immer wieder gegeneinanderstoßen und dabei in immer kleinere Stücke zerbrechen, die sich zu einem System von Ringen ausbreiten werden. Aber einige Steine werden auch auf die Erde fallen und Sachen kaputtmachen.«

»Und können Sie mir sagen, Dr. Harris, wann das passieren wird? Über welchen Zeitraum?«, fragte die Präsidentin.

»Wir sind immer noch dabei, Daten zu sammeln und die Parameter des Modells zu verfeinern«, sagte Doob. »Meine Schätzungen könnten also alle um den Faktor zwei, vielleicht sogar drei danebenliegen. Exponentielle Prozesse sind in dieser Hinsicht knifflig. Aber für mich sieht es folgendermaßen aus.«

Er klickte sich zu einem neuen Graphen durch: einer blauen Kurve, die einen langsamen, stetigen Anstieg im Zeitablauf zeigte. »Die Zeitkoordinate unten umfasst eine Spanne zwischen einem und drei Jahren. Während dieser Zeit wird die Anzahl von Kollisionen und von neuen Bruchstücken stetig zunehmen.«

»Was heißt BFR?«, fragte Pete Starling. Denn so war die vertikale Koordinate beschriftet.

»Bolidenfragmentierungsrate«, sagte Doob. »Die Rate, mit der neue Brocken entstehen.«

»Ist das ein gängiger Begriff?«, wollte Pete wissen. Sein Ton war nicht so sehr feindselig als vielmehr entnervt.

»Nein«, sagte Doob, »ich habe ihn erfunden. Gestern. Im Flugzeug.« Er war versucht, so etwas wie Ich darf Begriffe prägen hinzuzufügen, wollte aber nicht, dass es schon so früh in der Besprechung bissig zuging.

Nachdem Pete zumindest vorläufig zum Schweigen gebracht war, versuchte Doob, seinen Rhythmus wiederzufinden. »Wir werden es mit einer zunehmenden Anzahl von Meteoriteneinschlägen zu tun bekommen. Einige werden große Schäden verursachen. Aber insgesamt wird sich das Leben nicht groß ändern. Dann aber« – er klickte erneut, und die Kurve bog sich scharf nach oben und wurde weiß – »werden wir ein Ereignis erleben, das ich den Weißen Himmel nenne. Es wird im Verlauf von Stunden oder Tagen eintreten. Das System der eigenständigen Planetoiden, das wir jetzt dort oben sehen können, wird sich selbst zu einer riesigen Anzahl viel kleinerer Bruchstücke zermahlen. Sie werden sich in eine weiße Wolke am Himmel verwandeln, und diese Wolke wird sich ausbreiten.«

Klick. Die Kurve schoss weiter nach oben, gelangte in einen neuen Bereich und wurde rot.

»Ein, zwei Tage nach Eintritt des Weißen Himmels wird etwas beginnen, was ich den Harten Regen nenne. Weil nicht alle diese Steine dort oben bleiben werden. Einige werden in die Erdatmosphäre stürzen.«

Er schaltete den Projektor aus. Das war ein ungewöhnliches Vorgehen, aber es riss sie alle aus der Powerpoint-Hypnose und zwang sie, ihn anzusehen. Die Referenten hinten im Raum tippten immer noch auf ihren Handys, aber das spielte keine Rolle.

»Mit ›einige‹«, sagte Doob, »meine ich Billionen.«

Im Raum blieb es still.

»Es wird zu einem Meteoriten-Bombardement kommen, wie es die Erde seit Urzeiten, als das Sonnensystem entstand, nicht mehr gesehen hat«, sagte Doob. »Diese Feuerspuren, die wir in letzter Zeit am Himmel sehen, wenn die Meteoriten herunterkommen und verglühen? Davon wird es so viele geben, dass sie zu einer einzigen Feuerkuppel verschmelzen, die alles unter sich in Brand setzen wird. Auf der gesamten Erdoberfläche wird es keinerlei Leben mehr geben. Gletscher werden kochen. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, von der Atmosphäre wegzukommen. Unter die Erde oder ins All zu gehen.«

»Tja, wenn das stimmt, sind das natürlich sehr schlimme Nachrichten«, sagte die Präsidentin.

Sie saßen alle da und dachten eine Weile, die eine oder fünf Minuten dauern mochte, stumm darüber nach.

»Wir werden beides tun müssen«, sagte die Präsidentin. »Ins All und unter die Erde gehen. Letzteres ist natürlich einfacher.«

»Ja.«

»Wir können darangehen, unterirdische Bunker für …«, und sie fing sich gerade noch, ehe sie etwas politisch Unkluges sagte. »Für Menschen zu bauen, in denen sie Zuflucht finden können.«

Doob blieb stumm.

Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sagte: »Dr. Harris, ich bin ein alter Logistiker. Ich beschäftige mich mit Material. Wie viel Material brauchen wir, um unter die Erde zu gehen? Wie viele Säcke Kartoffeln und wie viele Toilettenpapierrollen pro Nase? Was ich wohl eigentlich wissen will, ist, wie lange wird der Harte Regen denn dauern?«

Doob sagte: »Meine genaueste Schätzung besagt, dass er zwischen fünf- und zehntausend Jahre dauern wird.«

»Keiner von Ihnen wird je wieder auf festem Boden stehen, die ihm nahestehenden Menschen berühren oder die Atmosphäre seines Heimatplaneten atmen«, sagte die Präsidentin. »Das ist ein schreckliches Schicksal. Aber es ist immer noch ein besseres Schicksal, als es sieben Milliarden Menschen erhoffen können, die auf der Erdoberfläche gefangen sind. Das letzte Schiff nach Hause hat abgelegt. Von nun an werden Raumfahrzeuge in die Umlaufbahn aufsteigen, aber sie werden zehntausend Jahre lang nicht zurückkehren.«

Die zwölf Männer und Frauen in der Banane saßen stumm da. Wie die Zerstörung des Mondes selbst, so war auch das zu groß, um es erfassen, zu weitreichend, um ihm mit menschlichen Emotionen beikommen zu können. Dinah konzentrierte sich auf Banales. Zum Beispiel: Wie verdammt gut J. B. F. – die Präsidentin – darin war, solche Sachen zu sagen.

»Dr. Harris«, sagte Konrad Barth, der Astronom. »Entschuldigen Sie bitte, Madam President, aber ist es möglich, Dr. Harris wieder ins Bild zu holen?«

»Natürlich«, sagte Julia Bliss Flaherty, trat ziemlich widerstrebend zur Seite und machte der größeren Gestalt von Dr. Harris Platz. Dinah fand, dass er im Vergleich zu dem berühmten Fernsehwissenschaftler geschrumpft und verkleinert wirkte. Dann fiel ihr ein, was er ihnen vor ein paar Minuten erklärt hatte, und es kam ihr ungerecht vor, diesen Vergleich gezogen zu haben. Wie musste es gewesen sein, als einziger Mensch auf der Erde gewusst zu haben, dass sie zum Untergang verurteilt war?

»Ja, Konrad«, sagte er.

»Doob, ich zweifle deine Berechnungen nicht an. Aber ist das Ganze durch Kollegen beurteilt worden? Besteht die Möglichkeit, dass irgendein grundsätzlicher Fehler vorliegt, ein falsch gesetztes Dezimalkomma, irgendetwas?«

Harris hatte schon während Konrads Frage mit dem Kopf zu nicken begonnen. Es war kein zufriedenes Nicken. »Konrad«, sagte er, »ich bin nicht der Einzige.«

»Erkenntnisse unserer Signalaufklärung deuten darauf hin, dass die Chinesen schon einen Tag vor uns dahintergekommen sind«, sagte die Präsidentin, »und die Briten, die Inder, die Franzosen, Deutschen, Russen, Japaner – alle ihre Wissenschaftler kommen mehr oder weniger zu den gleichen Schlüssen.«

»Zwei Jahre?«, meldete Dinah sich zu Wort. Ihre Stimme war heiser, gebrochen. Alle sahen sie an. »Bis zum Weißen Himmel?«

»Auf diese Zahl scheint man sich gerade zu einigen, ja«, sagte Dr. Harris. »Fünfundzwanzig Monate, plus oder minus zwei.«