Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jahrelang passierte nichts im Internat der Kleinstadt Alley Marbel. Bis sich an Dahlias 16. Geburtstag durch einen mysteriösen Brief an ihrem Spint alles ändern sollte. Plötzlich befindet sie sich zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und dennoch ist sie die einzige, die sie vereinen kann. Es beginnt eine gefährliche Reise voller Magie auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 324
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Dahlia saß unruhig auf der Fensterbank ihres Zimmers und schaute auf den Innenhof des Internats.
Sie freute sich riesig auf den Schulstart. Vor Aufregung hatte sie kaum geschlafen in dieser Nacht. Heute würde sie endlich ihre Freundinnen wiedersehen, die den Sommer bei ihren Familien verbracht hatten.
Dahlia musste schmunzeln, als sie an die lustigen Geschichten dachte, die Kira und Selina von zu Hause erzählen konnten. Selina erhielt von ihrer Großmutter an Weihnachten immer selbst gestrickte Socken, die zwar nicht besonders schick aussahen, aber dafür die Füße schön warmhielten. Und in Kiras Familie brach regelmäßig das Chaos aus, wenn die Verwandtschaft plötzlich unangekündigt vor der Türe stand.
Dahlia hatte leider keine Familie mehr. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie gerade mal zwei Jahre alt gewesen war. Da sie keine weiteren Verwandten hatte, wuchs sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr im Waisenhaus auf. Ab der ersten Klasse kam sie im Internat der Kleinstadt Alley Marbel unter, wo sie nun seit fast zehn Jahren wohnte.
Es war kein schlechtes Leben hier, nein. Sie mochte die weitläufigen Gärten auf dem Internatsgelände und den nahegelegenen Wald. Bei ihren Spaziergängen durch die Natur konnte sie sich entspannen und dem Trubel des Schulalltags entkommen. Trotzdem wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zu erfahren, wie sich die Geborgenheit in einer richtigen Familie anfühlte.
Dahlia konnte nie verstehen, warum ihre Freundin Selina in den Ferien oft die Tage zählte, bis sie wieder ins Internat durfte. Sie selbst würde alles dafür geben, wenigstens noch einen Tag mit ihren Eltern zu verbringen.
Selinas Eltern waren Rechtsanwälte und ständig unterwegs, weshalb sie beschlossen hatten, ihre einzige Tochter aufs Internat zu schicken. Selina hatte seither verständlicherweise nicht das beste Verhältnis zu ihnen.
Bei Kira sah es zu Hause ganz anders aus, denn sie hatte wunderbare Eltern und zwei kleinere Zwillingsbrüder. Ihre liebevolle Mutter brachte immer selbstgebackene Brownies, sobald sie merkte, dass Kira Besuch hatte. Und ihr Vater schaute mit seinen Söhnen an den Wochenenden Fußball oder nahm sie sogar mit ins Stadion.
Kiras Brüder hießen Kevin und Kilian, ihre Eltern Keith und Kathrin. Sie hatten offensichtlich ein Faible für Vornamen mit dem Buchstaben K. Dahlia und Selina zogen Kira gerne damit auf, wann ihre Eltern sich wohl entschließen würden, ihren Nachnamen zu ändern, damit auch der mit K anfing.
Obwohl Kira ein tolles Zuhause hatte, musste sie aufs Internat, weil ihre komplette Familie mütterlicherseits bereits seit Generationen hier zur Schule gegangen war und es somit gewissermaßen Tradition hatte.
Nun dürfte es nicht mehr lange dauern, bis Kira und Selina vor ihrer Türe standen und sie lachend in die Arme schlossen. Die ganzen Ferien über hatte Dahlia diesem Moment entgegengefiebert.
Und es gab noch einen Grund, weshalb Dahlia den Beginn des neuen Schuljahres kaum erwarten konnte: Jonas.
Er war bereits 17, ging in die Oberstufe und konnte vor allem mit seinen Erfolgen in der Basketballmannschaft glänzen. Jonas hatte dunkelblondes, mittellanges Haar und tiefblaue Augen, in denen sich Dahlia regelmäßig verlor. Vor den Ferien hatte sie sich ein paarmal mit ihm getroffen, bevor er zu seinen Eltern nach Hause gefahren war.
Dahlia fühlte sich leicht und unbeschwert, wenn sie in seiner Nähe war. Mit ihm konnte sie über alles reden und sie hatte das Gefühl, dass er sie verstand. Bei ihren Treffen hatten sie sich sogar schon ein paarmal geküsst, aber Jonas hatte sie noch nicht gefragt, ob sie fest zusammen sein wollten. Vielleicht würde das bald geschehen?
Plötzlich klopfte es an der Tür. In Gedanken versunken, erhob sich Dahlia von der Fensterbank. Sie konnte schon an dem aufgeregten Gackern hören, dass es ihre beiden Freundinnen waren. Normalerweise klopften sie nie an, sondern stürmten einfach ins Zimmer. Dahlia hatte keine Zeit, um lange darüber nachzudenken, denn einen Moment später schlug bereits die Türe auf.
»Na, waren deine Ferien schön? Ist etwas Besonderes passiert? Ach ja, hallo übrigens!«, begrüßte sie Selina ausgelassen und umarmte ihre Freundin herzlich. Diese hatte ihre kurzen, schwarzen Haare mit einem roten Haarband zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, welches perfekt mit ihrem knielangen, bunt geblümten Trägerkleid harmonierte. Ihre dunklen Augen blitzten vor Freude, als sie Dahlia wieder los lies.
»Von mir natürlich auch ein Hallo!«, sagte Kira lachend und stürmte auf Dahlia zu, um sie ebenfalls zu umarmen. Kira hatte sich wie immer nach den Ferien für bequeme Kleidung entschieden: Sie trug eine rote Jogginghose mit einem dazu passenden weißen Sportshirt. Ihre rötlichen, glatten Haare fielen ihr locker auf die Schulter. Auch sie strahlte Dahlia mit ihren braunen Augen an. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, wie sehr sie die beiden doch tatsächlich vermisst hatte.
»Naja, eigentlich war es hier wie immer«, sagte Dahlia nach der Begrüßung. »Nichts Aufregendes. Wie denn auch – wenn ihr nicht da seid!« Sie grinste ihre Freundinnen an. »Und gibt’s bei euch etwas Neues?«
Beide schüttelten einstimmig den Kopf, wie jedes Jahr nach den Sommerferien.
»Ich bin jedenfalls froh, wieder hier zu sein«, sagte Selina trocken.
Kira nickte zustimmend und wandte sich mit einem breiten Grinsen an Dahlia: »Und deinen 16. Geburtstag möchten wir natürlich um keinen Preis verpassen!«
Die schrille Schulglocke ertönte und ließ die Freundinnen kurz zusammenzucken.
»Jetzt aber los! Wir wollen doch nicht schon am ersten Schultag zu spät kommen, oder?«, meinte Dahlia und schob die beiden sachte aus ihrem Zimmer.
Die Mädchen mussten täglich viele Treppen hinter sich lassen, um vom dritten Stock ins Erdgeschoss zu gelangen, wo sich die Schulräume, die Aula und die Sporthalle befanden. Schon als sie an der Cafeteria im ersten Stock vorbeiliefen, waren sie außer Puste.
Vor allem im Sommer war das Treppensteigen eine Qual. Die Schülerinnen hatten bereits etliche Unterschriftenaktionen gestartet, mit denen sie für einen Aufzug plädierten. Der Direktor stellte sich jedoch dagegen, da im Moment leider das Geld dafür fehlte.
Die Jungs störte das wenig, denn ihre Schlafsäle lagen im zweiten Stock. Sie machten gerne Scherze darüber und meinten, dass es den Mädchen nicht schaden würde, ein paar zusätzliche Pfunde abzutrainieren.
Dahlia, Selina und Kira mussten somit jeden Morgen frühzeitig ihre Zimmer verlassen, um pünktlich zur Schule zu kommen. Heute begann der Unterricht zum Glück eine Viertelstunde später, sodass sie es gerade noch rechtzeitig schafften.
Dieses Jahr hatten sie eine neue Klassenlehrerin: Frau Krauss. Sie hatte eine schlanke Figur, die man aber unter ihrem sehr weiten, roten Pullover und ihrem knielangen, blau-grau karierten Rock nur erahnen konnte. Um ihren Hals hing eine lange Perlenkette, die ihr fast bis zur Hüfte reichte. Bei ihren hohen Schuhen war es ein kleines Wunder, dass sie überhaupt gerade gehen konnte. Ihr Gesicht sah schon sehr faltig und abgenutzt aus, was das übertrieben aufgetragene Make-up nicht gerade besser machte. Die linke Backe war mit einer großen Warze bestückt und auf ihrer Nase trug sie eine rote Halbmondbrille, die an einer Kette befestigt war. Ihr Blick wirkte wenig freundlich, eher streng und angespannt, als könnte sie jeden Moment aus ihrer Haut fahren.
Sie könnte gut als böse Hexe in einem Horrorstreifen durchgehen, da war sich Dahlia sicher.
Kaum hatte Dahlia diesen Gedanken zu Ende gedacht, war es plötzlich still im Klassenzimmer. Frau Krauss hatte gerade die Herausforderungen erläutert, die in diesem Jahr auf die Schüler warteten, doch nun war ihre Stimme abrupt verstummt. Mit rotem Gesicht blickte sie Dahlia wütend an.
Oh, nein! Nicht schon wieder, bitte nicht!
Dahlia hatte die peinliche Angewohnheit, Gedanken laut auszusprechen, ohne es zu bemerken. Sie ahnte, dass das der Grund für die plötzliche Stille in der Klasse war.
»Deinen Namen bitte!«, donnerte Frau Krauss los.
»Behrensen … Dahlia …«, stotterte sie ängstlich. Den boshaften Tonfall der Lehrerin würde sie in ihrem Leben niemals vergessen.
»Na schön, Dahlia Behrensen! Melden Sie sich augenblicklich beim Direktor und richten Sie ihm aus, dass ich Sie geschickt habe!«, befahl Frau Krauss mit scharfer Stimme. Ihr wutverzerrtes Gesicht zeigte, dass sie sich enorm zurückhalten musste, um nicht laut loszubrüllen.
Dahlia hatte den drohenden Unterton genau gehört und machte sich schleunigst aus dem Staub. Auf dem Weg zur Tür erntete sie von einigen Mitschülern aufmunternde Gesten, was ihr jetzt aber auch nicht weiterhalf.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen machte sie sich auf den Weg zum Direktor.
Als Dahlia am Sekretariat vorbeiging, sah alles noch friedlich aus. Die Sekretärin tippte etwas in ihren PC ein und durch die geschlossene Tür des Rektoratszimmers drang ein leichtes Hüsteln. Der Direktor war eben nicht mehr der Jüngste, Dahlia schätzte ihn so um die 60.
Hoffentlich würde er nicht allzu streng reagieren. Es war natürlich nicht nett, was sie über Frau Krauss gesagt hatte, aber es lag auch nicht in ihrer Absicht, ihre Gedanken laut auszusprechen. Herr Smaragd würde sie bestimmt zum Nachsitzen verdonnern, wenn nicht noch Schlimmeres. Er war zwar für sein freundliches und gutmütiges Wesen bekannt, doch in diesem Fall würde er bestimmt wenig Verständnis für sie aufbringen können.
Dahlia klopfte leicht an die Tür und Herr Smaragd öffnete ihr mit einem Schmunzeln im Gesicht.
»Na, Dahlia, was ist denn passiert?«, fragte er freundlich und bat sie herein.
In seinem Zimmer stand ein Sofa, das manchmal auch als Krankenbett diente. Dahlia setzte sich und schilderte ihm mit rotem Gesicht, was soeben geschehen war.
Nach einem kurzen Moment der Stille runzelte Herr Smaragd die Stirn und fing dann schallend zu lachen an.
Dahlia wunderte sich sehr, denn so gut gelaunt hatte sie ihren Direktor noch nie erlebt.
Als er sich endlich beruhigt hatte, erklärte er es ihr.
»Genau solche Situationen sind mir früher auch immerzu passiert. Meine Gedanken waren nie ganz allein meine, ein paar haben sich tatsächlich über meinen Mund nach außen gewagt. Natürlich führte das ebenfalls zu manch unangenehmem Moment, wie du dir sicher denken kannst.«
Dahlia nickte zustimmend. Sie staunte über die Worte des Direktors, aber ihr fiel ein schwerer Stein vom Herzen. Sie war froh darüber, endlich jemanden zu treffen, der offensichtlich das gleiche Problem hatte wie sie.
»Was war ihr schlimmstes Erlebnis dabei, Herr Smaragd?«, fragte sie neugierig.
»Oh, das war ganz eindeutig bei der Hochzeit meiner Mutter. Sie heiratete meinen Stiefvater, den ich nicht ausstehen konnte. Als der Pfarrer dann den berühmten Satz ›Wer etwas gegen dieses Bündnis zu sagen hat, möge dies nun tun oder für immer schweigen‹ sagte, haben sich auch meine Gedanken leider nicht zurückhalten können.
Anscheinend habe ich daraufhin sehr laut ›Wenn du mit so einem Ekelpaket glücklich werden willst, viel Erfolg, aber meine Zustimmung bekommt ihr nicht!‹ gerufen. Es folgte eine Totenstille und danach ein richtiger Aufruhr. Ich glaube, meine Mutter hat mir dies bis zuletzt nicht gänzlich verziehen.«
»Oh mein Gott. Und was haben Sie dagegen unternommen?«, fragte sie ihn, immer noch etwas geschockt von der Offenheit ihres Direktors.
Er entgegnete ihr mit einem Lächeln, das seine Gesichtsfalten enorm zur Geltung brachte: »Ich habe Fechten gelernt. Diese Sportart ist nicht einfach, aber sie wirkte entspannend auf mich, und es fing an, mir richtig zu gefallen. Leider kann ich es heute nicht mehr ausüben, bin doch schon ziemlich in die Jahre gekommen.«
Er schaute sie forschend an und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ich werde dich nicht mit Nachsitzen bestrafen.«
Dahlia atmete erleichtert auf.
»Aber ich werde dich in einem Fechtkurs anmelden, damit du deine Gedanken ordnen kannst, zuerst nachdenkst, bevor du redest, und lernst, dich selber zu kontrollieren. Und nenn mich bitte Justus, ja? Wir sitzen schließlich im selben Boot mit unserer speziellen Angewohnheit.«
Überrascht von seiner Idee sagte Dahlia: »Okay, ich werde es versuchen, kann aber nichts versprechen, Herr Direk… äh, Justus.«
Zufrieden mit ihrer Antwort sagte er: »Dein Lehrer heißt Luca. Er ist zwei Jahre älter als du, aber dennoch sehr erfahren im Fechten. Der Unterricht wird einmal die Woche nach Schulschluss in der kleinen Gymnastikhalle der Schule stattfinden. Nun wünsche ich dir viel Spaß, Dahlia. Ach, und noch etwas: Ich muss dir sagen, dass du deiner Mutter Yolanda mehr als ähnlich siehst, fast wie ihr Abbild, es sei dir ein Kompliment.«
Dahlia war tief betroffen über das, was er sagte, denn an ihre Eltern konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie war noch viel zu klein, als sie starben. Ihre Eltern hatten es so bestimmt, dass Dahlia ab der ersten Klasse das Internat in Alley Marbel besuchen sollte. Sie hatten bereits vor ihrem Tod die Kosten für die jahrelange Ausbildung im Voraus bezahlt.
»Woher kanntest du meine Mutter?«, fragte Dahlia etwas misstrauisch, bevor sie ihr Direktor aus dem Zimmer schickte.
»Wir hatten leider nur kurz das Vergnügen. Ich lernte sie während eines Besuchs in unserer Bibliothek kennen. Sie war damals ungefähr so in deinem Alter und ich arbeitete aushilfsweise an der Empfangstheke. Wir unterhielten uns kurz über ein Buch, das sie sich ausgeliehen hatte. So, nun aber genug mit dem Geplänkel. Zurück mit dir in den Unterricht!« Mit diesen Worten schob er sie langsam zur Tür hinaus.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, dieser Gedanke kam Dahlia schon oft. Es umgab sie immer eine spezielle Aura – das Mädchen, das keine Eltern mehr hatte, aber es schein auch keiner etwas Genaueres über die Umstände des Unfalls oder ihre Eltern allgemein zu wissen. Aber genau das war es, was ihre Freundinnen an ihr so schätzten, das Mysteriöse an ihr, an ihrer Vergangenheit. Dahlia hingegen fühlte sich trotz ihrer tollen Freunde manchmal, als gehöre sie einfach nicht hierher.
In der Mittagspause erzählte sie ihren Freundinnen von dem Gespräch mit dem Direktor. Kira und Selina sahen mindestens genauso überrascht aus wie Dahlia, wenn nicht noch überraschter.
»Wieso ausgerechnet Fechten, wie soll dir das denn helfen?«, fragte Kira verblüfft. »Glaubt Herr Smaragd etwa, dass du dann nur noch ans Fechten denkst und keine anderen Gedanken mehr äußerst? Oder wie meint er das?«
»Er sagt, es würde mir helfen, meine Gedanken besser zu kontrollieren«, antwortete Dahlia.
»Aha«, entgegnete Kira skeptisch. »Was meinst du dazu, Selina?« Sie stupste ihre Freundin an. »Hallo, jemand zu Hause?«
»Was?«, murmelte Selina abwesend und wirkte plötzlich ziemlich nervös.
Als Dahlia und Kira sie darauf ansprachen, sagte sie nur, sie wäre wegen eines Aufnahmetests in den Debattierclub aufgeregt. Da dies bei Selina öfters vorkam, dachten sich die beiden nichts weiter dabei. Sie bewarb sich Anfang des Jahres immer in allen möglichen Clubs, um dann aber doch schlussendlich wieder einen Rückzieher zu machen.
Am nächsten Tag staunte Dahlia nicht schlecht, als sie mit Kira zu den Schließfächern ging. Ein lila schimmernder Briefumschlag hing an ihrem Spind.
»Oh, ist das romantisch!«, trällerte Kira aufgeregt. »Ist der von Jonas?«
Dahlia starrte perplex auf den Briefumschlag. Sie hatte Jonas noch nicht gesehen, seit die Schule wieder begonnen hatte.
»Na los, mach ihn doch auf!«, drängelte Kira.
Sie gingen zusammen auf die Toilette und Dahlia öffnete mit nervösen Fingern den lilafarbenen Umschlag.
Darin steckten ein kleines violettes Kuvert und ein handgeschriebener Brief. Dahlia begann zu lesen.
Ich weiß, dass du ziemlich überrascht sein wirst, wenn du diese Nachricht liest. In dem Kuvert befindet sich etwas von deiner Mutter Yolanda, das ihr sehr am Herzen lag, und sie bat mich, dir dies an deinem 16. Geburtstag zu geben. Da dieser morgen ist, fand ich es angebracht, dir bereits heute dein Geschenk zu überbringen. Öffne es aber erst an deinem Geburtstag und nur alleine. Nun verbleibe ich mit dem Wunsch, dass morgen ein ganz besonderer Tag für dich sein wird.
Meinen Namen erfährst du nicht, aus Gründen, die du später herausfinden wirst.
»Also, etwas ganz Merkwürdiges geht hier vor«, flüsterte Dahlia und faltete den Brief wieder zusammen. War es wirklich ein Geschenk ihrer Mutter? Oder spielte ihr hier jemand auf eine sehr perfide Weise einen Streich, spielte mit ihren Gefühlen?
»Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir Angst. Was denkst du, Kira?«
»Ich denke genauso wie du. Wieso bekommst du kurz vor deinem 16. Geburtstag eine solche Nachricht? Hat die Zahl 16 eine besondere Bedeutung?« Kiras Augen begannen zu leuchten. »Wir müssen sofort recherchieren! Mist, gerade heute funktionieren die Internetanschlüsse im Internat nicht. Aber wir können in der Mittagspause in die Bibliothek gehen, was hältst du davon?«
»Eine wirklich gute Idee, Frau Braun«, antwortete Dahlia mit einem verschmitzten Lächeln. »Ich glaube, wenn du so weitermachst, bekommst du bald einen wichtigen Journalistenpreis!«
Kira arbeitete für die Schülerzeitung des Internats und ihr größter Traum war es, später Journalistin zu werden. Daher nahm sie ihre Kamera auch immer überall mit hin. Schließlich könnte sie jeden Moment das Bild fotografieren, was sie in ihrer Karriere weiterbringen wird.
»Meinst du echt?«, fragte sie mit großen Augen. »Du scherzt doch bloß wieder! Mach dich nicht lustig über mich, okay?«, fügte sie gespielt beleidigt hinzu.
»Das würde ich nie wagen!«, scherzte Dahlia und hakte sich bei ihrer Freundin ein.
Lachend schlenderten die beiden den Flur ins Klassenzimmer entlang, zum nächsten Unterricht.
In der Mittagspause machten sie sich auf den Weg zur Bibliothek, die nicht nur von den Schülern des Internats, sondern auch von den Bewohnern Alley Marbels rege genutzt wurde. Die Freundinnen mussten mehreren hupenden Autos ausweichen, bis sie endlich die riesige, mit hölzernen Schnitzereien verzierte Eingangstür erreichten.
Auf dem Parkettboden im Eingangsbereich befand sich ein heller Stern, in dem sich zwei Schwerter kreuzten. Ein Sechseck umrahmte das Symbol.
Staunend liefen die Freundinnen durch die Flure der Bibliothek. Die hohen Regale waren bis zur Decke mit Büchern vollgestellt, sodass die Angestellten nur mit großen Holzleitern an die obersten Reihen kamen.
So viele Bücher auf einem Haufen hatten die beiden noch nie in ihrem Leben gesehen, und es interessierte sie brennend, in der Vergangenheit der Menschheit nach verborgenem Wissen zu suchen. Sie steuerten die historische Abteilung an und hatten bald einen Berg voller Bücher auf ihrem Tisch liegen.
Die Mittagspause floss nur so dahin, während Dahlia und Kira lasen, lasen und lasen. Aber in den riesigen historischen Wälzern schien es keine brauchbare Erklärung für die Bedeutung der Zahl 16 zu geben.
Plötzlich schrie Kira überrascht auf, sodass sich alle Besucher der Bibliothek erschrocken umdrehten.
Dahlia flüsterte ihrer Freundin zu: »Was ist denn?«, und rückte mit ihrem Stuhl näher an sie heran.
»Ich habe hier etwas Interessantes gefunden«, sagte Kira aufgeregt. »Das kann aber bestimmt niemals wahr sein! Hör dir das mal an: Vor tausenden von Jahren …« Sie hob den Kopf und grinste Dahlia an. »Das fängt schon mal gut an, nicht wahr?«
Dahlia schmunzelte und Kira las leise vor:
»Vor tausenden von Jahren ereignete sich ein Schreckenstag in Anila. Danach schworen sich die Elfen, Feen und magischen Wesen, es niemals wieder zuzulassen, dass ein Mensch ihre Welt betritt. Denn überall, wo Menschen auftauchten, gab es nur Unglück und Leid.
Bis zu diesem schicksalhaften Tag hatten die Völker Anilas friedlich mit den Menschen zusammengelebt. Es gab nur einen in Anila, der schon zuvor davon überzeugt war, dass die Verbindung zur Menschenwelt unglückbringend sei – wohlwissend, dass er selbst aus einer solchen Verbindung hervorgegangen war. Sein Name war Gideon, damals erst zarte 16 Jahre jung.
Er war der erste Halbelf und verfügte über enorme Kräfte, mit denen er allen anderen Bewohnern Anilas überlegen war.
Sein treuster Diener war der Elf Mike, der, ohne groß zu fragen, alles tat, was man ihm auftrug. Um dessen Grausamkeiten wissend, hielten die Völker Anilas ihn in einem Verließ unter der Erde gefangen.
Das schreckliche Ereignis, das alles verändern sollte, geschah an keinem geringeren Tag als dem alljährlichen Sommernachtsfest der Völker von Anila.
Alle tanzten fröhlich und ausgelassen miteinander, Menschen, Feen und Elfen. Kinder, Frauen und Männer.
Doch plötzlich zog ein heftiges Gewitter auf. Eine riesige Wolke bildete sich am Himmel, in der grelle Blitze zuckten. Inmitten dieser Wolke, umhüllt von grauen Rauchschwaden, die einem gewaltigen Sandsturm glichen, stand Mike.
Er trug große, braune Lederstiefel mit vielen kleinen Verschlüssen, die aussahen wie rote Stiere. Seine Kleidung bestand aus zerfetzten und bunten Lumpen. Außer dem Stab, den er bei sich trug – den ›Goldenen Amethyst‹ –, besaß er nichts Wertvolles. Obwohl sein Gesicht mit vielen Narben übersät war, stach eine von ihnen deutlich hervor. Es war eine kreisrunde Narbe mit einem Punkt in der Mitte, die auf seiner Stirn prangte.
Hocherhobenen Kopfes sagte Mike mit ungewöhnlich leiser, aber nicht minder furchterregender Stimme:
›Gideon hat mich befreit! Ihr alle sollt verdammt sein für das, was ihr Anila und ihm angetan habt – mein Herrscher und Meister duldet keine Öffnung hin zu den Menschen. Und nun lebt wohl, ihr nutzloses Gesindel!‹
Er lachte so laut und grausam, dass die Erde ohrenbetäubend bebte und der Donner grollte.
Mike erhob den Stab in seiner Hand und man hörte Gideons unverständliche Worte daraus sprechen. Mit höhnischem Gelächter verschwand Mike hinter den Rauchschwaden der Wolke.
Allen stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, sie waren kreidebleich. Doch kaum hatten sie sich von Mikes Auftritt erholt, erklangen jämmerlich klagende Schreie. Feen, Elfen und Menschen sackten in sich zusammen und blieben leblos liegen. Das Geschrei wurde immer lauter und unerträglicher. Eltern weinten um ihre Kinder, Kinder um ihre Eltern. Doch kaum einer von ihnen blieb verschont. Nur einige Alte und Schwache überlebten diesen Tag.
Es war ein einziges Massaker. Aus Tausenden von Völkern blieben nur 60 Überlebende übrig. Die Mehrzahl von ihnen Menschen.
Seit diesem Tag war der Keim der Zwietracht gesät. In kleinen Grüppchen diskutierten die Elfen, Feen und magischen Wesen, wer denn die Schuld an dieser Katastrophe trage. Bald kamen sie zu dem Schluss, dass die Menschen dafür verantwortlich seien. Sie hätten alles hinter dem Rücken der Ältesten (Rat aus allen Völkern) geplant.
Daraus erwuchs ein Schreckenskrieg, der als ›Agil Wig‹ in die Geschichtsbücher einging und seither das Leben der Bevölkerung von Anila prägte.
Die Menschen wurden auf die Erde verbannt. Die Völker Anilas verschlossen alle Wege, die zu ihrem Reich führten und die einst zum Pendeln zwischen den Welten gedacht waren.
Seither weigern sich die Elfen und Feen, den Menschen zu helfen. Sie erhoben die Zahl 16 zu einer magischen Zahl, die sie ›Beraht‹ nannten, was so viel bedeutet wie ›hell‹ oder ›glänzend‹. Jeder, der das 16. Lebensjahr erreichte, konnte sich glücklich schätzen, in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden.
»Das ist der größte Blödsinn, den ich jemals gelesen habe«, kommentierte Kira schmunzelnd. »Dieses Buch hätten sie eher in die Abteilung für Märchen statt in die historische stellen sollen, oder?« Sie sah ihre Freundin fragend an. »Dahlia? Hallo?«
Doch Dahlia war so in Gedanken versunken, dass sie Kiras Stimme nicht mehr hörte. Auf seltsame Weise berührte sie diese Geschichte und wirkte noch lange in ihr nach.
Die letzte Schulstunde neigte sich dem Ende zu. Dahlia hatte während des Nachmittagsunterrichts und auch in den Pausen kaum etwas gesagt. Als es läutete, wagte Selina den wiederholten Versuch, etwas aus Dahlia herauszubekommen, das ihr Verhalten erklärte.
»Dahlia, Kira und ich machen uns wirklich Sorgen um dich!«
Kira nickte zustimmend.
»Du verhältst dich so rätselhaft seit dem Besuch in der Bibliothek«, fuhr Selina fort. »Uns kannst du doch sagen, was mit dir los ist. Wir sind deine besten Freundinnen! Oder ist dir nur schlecht? Nun sag doch mal was! BITTE!«
Dahlia konnte sich selbst nicht erklären, was mit ihr los war. Aber sie kannte ihre Freundinnen gut genug, um zu wissen, was sie ihnen sagen musste, damit sie sich keine Sorgen machten.
»Mir ist nicht so gut und ich würde gern für ein paar Minuten in mein Zimmer gehen und mich hinlegen, okay?«
Ihre Freundinnen ließen sie ungern in diesem Zustand allein, aber da Dahlia es so wünschte, widersprachen sie nicht.
Etwas verwirrt und durch den Wind machte sich Dahlia auf den Weg in ihr Zimmer im dritten Stock. Gerade als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, rief jemand ihren Namen. Sie kannte diese Stimme gut und drehte ihren Kopf.
Jonas stand hinter ihr und sagte verlegen: »Hallo, Dahlia, ich habe dich schon die ganze Zeit über gesucht. Aber als ich deine Freundinnen nach dir fragte, sagten sie, du wirst vielleicht krank, da du so bleich bist und … ähm …« Er räusperte sich. »Wieso ich überhaupt gekommen bin … ähm … nun ja … Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht demnächst mal Zeit hast, mit mir ein Eis essen zu gehen?«
Dahlia sah ihn überrascht an.
Als sie nicht sofort antwortete, stammelte er etwas von, er würde es verstehen, wenn sie gerade keine Lust dazu hätte.
»Lust?« Sie riss die Augen auf und sagte schnell: »Natürlich habe ich dazu Lust! Wie wäre es mit übermorgen? Um 17 Uhr ungefähr, vor der Eisdiele?«
Er nickte, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand in Richtung Treppe.
Dahlia errötete leicht und biss sich verlegen auf die Lippen. Sie war sich nicht sicher, doch sie meinte, gesehen zu haben, wie er pfeifend die Stufen hinunterhüpfte.
Nun hatten sie also ein weiteres Date!
Mit einem kribbelnden Gefühl im Bauch legte sie sich auf ihr Bett und vergaß für einen Moment die merkwürdige Geschichte, die ihr Kira vorgelesen hatte.
In dieser Nacht träumte sie zuerst von Jonas und ihrem Treffen am übernächsten Tag. Doch dann, ganz plötzlich, schob sich ein anderer Traum wie eine dunkle Wolke vor ihr Glück.
Sie sah eine Frau, die ihr fast ein wenig ähnelte, jedoch deutlich hübscher und graziler aussah als sie. Ihre schulterlangen braunen Locken passten perfekt zu ihrer schlanken Figur. Die vollen Lippen, ihre ovalen blauen Augen, ihre kleine Stupsnase, alles an ihr ließ sie unglaublich schön aussehen. Um ihren Hals trug sie eine Kette, an der ein rundes Medaillon hing, in dessen Mitte ein merkwürdiges Zeichen eingraviert war. Es sah fast so aus wie ein auf den Kopf gestelltes Ypsilon mit zwei parallelen, wellenförmigen Strichen.
Plötzlich legte sich eine lange, abgemagerte Hand um den Hals der schönen Unbekannten. Sie schien sich dagegen zu wehren und schrie unverständliche Worte, die ein kurzes Zucken bei ihrem Angreifer auslösten. Ihre schöne Kette löste sich bei dem Kampf und fiel hinab in eine dunkle Schlucht.
Da stieß die Frau einen schmerzerfüllten Schrei aus: »DAHLIA, NEIN!«
Dann wurde es totenstill und die Schöne lag leblos am Boden.
Dahlia wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf und schaute in die erschrockenen und besorgten Mienen ihrer beiden Freundinnen.
Kira beugte sich über sie und tupfte ihr mit einem nassen Tuch über die Stirn.
»Ganz ruhig, du hast nur schlecht geträumt«, sagte Selina leise. »Aber warum musstest du denn so schreien? Wir dachten schon, du wirst … du wirst …« Sie zögerte.
»Na ja, … umgebracht«, ergänzte Kira und schluckte.
»Ich hatte einen Albtraum … mit einer Frau, die ein merkwürdiges Medaillon um den Hals trug und … ermordet wurde«, stammelte Dahlia. »Am Ende rief sie meinen Namen.«
Kira und Selina tauschten fragende Blicke aus.
Dann fesselte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Durch das Fenster, welches zum Garten hin geöffnet war, hörten sie ein lautes Knacken von Ästen.
Neugierig blickten die drei nach draußen. Der Mond schien durch die Bäume auf dem Schulhof und warf sein trübes Licht auf einen Mann, der durch den Garten im Internatspark schlich. Es schien fast so, als ob er etwas suchen würde und Angst hätte, erwischt zu werden.
Die drei Freundinnen starrten sich einen kurzen Moment lang an. Dann griff Dahlia nach ihrem Morgenmantel und ging zur Zimmertür.
Kira und Selina folgten ihr wortlos. Manche Dinge mussten einfach nicht ausgesprochen werden. Die drei verstanden sich in diesem Moment blind.
Vorsichtig tapsten sie auf den quietschenden Holzstufen nach unten und schlichen möglichst leise durch die gigantische Eingangshalle. Selina öffnete die schwere Schultüre und alle drei huschten hindurch.
Auf dem Weg zum Garten ließ ein kurzes Klicken Dahlia zusammenzucken.
»Was …«, begann sie erschrocken, hielt aber inne, als sie sah, dass Kira ihre Kamera einstellte.
Selina verdrehte die Augen und Dahlia zischte: »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Was, wenn er uns gehört hat?«
»Journalismus bedeutet immer, Risiken einzugehen«, entgegnete Kira nüchtern. »Überlegt mal, wenn ich das in der Schülerzeitung schreibe: ›Unbekannter irrt auf Schulgelände umher’ … Oh Mann, das wird bestimmt ein Hammer, nein, eine Sensation!«, flüsterte sie begeistert und hielt ihre Kamera nun noch fester an sich gedrückt.
Dahlia hatte ein ziemlich ungutes Gefühl. Sie sollten lieber nicht hier sein, das spürte sie. Doch sie war zu neugierig und wollte herausfinden, wer sich um diese Zeit hier herumtrieb.
Sie näherten sich der niedrigen Steinmauer, hinter der sie die Gestalt von ihrem Fenster aus gesehen hatten. Die Mauer war etwa einen halben Meter hoch und mindestens genauso dick. Dahinter versteckten sich die Freundinnen und spähten hinüber in den Garten.
Tatsächlich. Der Fremde irrte immer noch suchend umher und blickte hinter jeden Busch. Er trug einen schwarzen, schmutzigen Kapuzenmantel. Kira wollte gerade ein Bild machen, als Selina schnell die Kamera nach unten drückte.
»Kira! Es ist jetzt nicht der passende Augenblick dafür!«, zischte sie.
Es war ziemlich kalt und Dahlia fing leicht zu zittern an. Sie überlegte, ob sie wieder hineingehen sollte. Doch plötzlich sprang Kira auf und der Unbekannte drehte sich ruckartig zu ihr um. Er wollte sein Gesicht verbergen, doch Kira war schneller und hatte schon mehrmals den Auslöser gedrückt.
Nun ging alles so blitzartig, dass weder Dahlia noch Selina mitbekamen, was genau passierte. Sie hörten den Fremden fluchend davonrennen und sahen erst jetzt, dass Kira rückwärts nach hinten kippte und zu Boden fiel. Die Kamera landete direkt neben ihr.
»Kira, sag doch was!«, schrie Dahlia verzweifelt und schüttelte ihre Freundin, doch diese atmete nur flach und ziemlich angestrengt.
Dahlia schaute zu Selina hoch, die einen Ausdruck von Schock und Angst in ihren Augen trug.
»Selina, lauf schnell zum Hausmeister und ruf mit ihm zusammen einen Krankenwagen, ich bleibe solange bei Kira und passe auf sie auf, ja?«, rief Dahlia.
Selina zögerte zuerst, sagte dann aber, sie beeile sich, und rannte mit Tränen in den Augen zurück zum Eingang der Schule.
Dahlia kniete sich hinter ihre Freundin und hob vorsichtig Kiras Kopf auf ihre Beine. Kira zuckte ruckartig zusammen, es sah fast so aus, als kämpfe sie im Schlaf verzweifelt mit jemandem.
»Kira, Kira, bitte verlass mich nicht, wir brauchen dich doch! Bitte wach wieder auf, bitte!«, flüsterte Dahlia schluchzend.
Kira war noch immer bewusstlos und fing nun zu schwitzen an. Das Zucken ihres Körpers verstärkte sich.
In ihrer Verzweiflung rannte Dahlia zu dem nahe gelegenen Brunnen, der als Wahrzeichen des Internats galt. In der Mitte des Bauwerks stand die steinerne Skulptur einer schönen Fee mit langen Haaren, aus deren Blumenstrauß klares, kaltes Wasser floss.
Dahlia hatte dieses Kunstwerk immer bewundert, doch jetzt erschien es ihr beinahe unheimlich. Fast glaubte sie, ein triumphierendes Gelächter zu hören, und sie spürte die Kälte des steinernen Brunnens in ihrem Rücken.
Dahlia nahm den Eimer neben der Statue, füllte ihn mit Wasser und lief damit zurück zu ihrer Freundin.
Kira war inzwischen kreidebleich, doch sie hörte auf zu zittern. Dahlia riss ein Stück von ihrem Lieblings-T-Shirt ab, tränkte es mit Wasser und legte es mit fröstelnden Händen auf Kiras heißen Kopf.
Sie fragte sich, wo Selina bliebe. Vielleicht wurde sie von dem Unbekannten angegriffen und lag nun, wie Kira, halb tot vor der Schule? Dahlia wollte gar nicht daran denken.
Kaum hatte sie diesen Gedanken beiseitegeschoben, sah sie eine verschwommene Gestalt auf sie zulaufen. Aus Angst, der Unbekannte würde nun sein Opfer erneut heimsuchen, legte sie ihre Hände schützend um die schwer atmende Kira.
Nun erkannte sie das vertraute Gesicht des Hausmeisters und hörte schon die Sirene des Krankenwagens. Sie war so erleichtert, dass eine Träne über ihr Gesicht floss.
Dann war auch Selina bei ihr. Sie zerrte Dahlia von Kira weg und der Notarzt gab ihr eine Decke, in die sie sich einwickelte.
In den nächsten Minuten konnte Dahlia keinen klaren Gedanken fassen. Ihr wurde plötzlich ganz warm und alles verschwamm vor ihren Augen. Sie sah gerade noch, wie Selina und einer der Sanitäter auf sie zuliefen, bevor alles um sie herum schwarz wurde.
Die Sanitäter haben dich mit einer Trage auf dein Zimmer gebracht«, erzählte ihr Selina am nächsten Morgen. Sie saß direkt neben Dahlias Bett auf einem Stuhl.
Dahlia fühlte sich immer noch benebelt und rieb sich die Stirn.
»Wie geht es Kira?«, war das Erste, was ihr einfiel.
»Sie ist noch im Krankenhaus und wird voraussichtlich in einer Woche entlassen, sagte der Direktor. Mehr weiß ich leider nicht«, antwortete Selina. »Herr Smaragd hat uns heute vom Unterricht befreit, damit wir das Erlebte verarbeiten können. Ach ja, er hat mir etwas für dich mitgegeben.« Sie zog einen Briefumschlag aus ihrer Tasche und legte ihn auf Dahlias Bett.
»Wir könnten Kira am Nachmittag besuchen, falls es dir wieder besser geht. Und ehe ich es vergesse: Alles Gute zu deinem Geburtstag!« Selina holte hinter ihrem Rücken ein in Silberpapier verpacktes Päckchen hervor und umarmte Dahlia herzlich.
Fast hätte Dahlia ihren eigenen Geburtstag vergessen, kein Wunder nach der Aufregung von gestern Nacht.
Plötzlich musste sie an den ominösen Brief denken, der an ihrem Spind befestigt war. Sie sollte das violette Kuvert an ihrem 16. Geburtstag öffnen. Aber ihre Sorge um Kira war momentan stärker als ihre Neugierde und sie beschloss, es erst am Ende des Tages aufzumachen.
Dahlia packte Selinas Geschenk aus und bedankte sich bei ihr mit einer Umarmung für die schönen silbernen Ohrringe.
»Kommst du mit nach unten in den Frühstücksraum?«, fragte Selina.
»Gib mir ein paar Minuten, du kannst ruhig schon vorgehen, ja?«
»Alles klar, ich halte dir einen Platz frei«, antwortete Selina und verließ das Zimmer.
Dahlia hatte das Geschehene noch nicht verarbeitet. Sie konnte nicht begreifen, was letzte Nacht passiert war. Es ging alles viel zu schnell. Selina meinte, der Unbekannte hatte Kira vermutlich angegriffen und niedergeschlagen, aber Genaueres hatte sie auch nicht gesehen. Vielleicht würde ihnen Kira heute Nachmittag mehr erzählen können.
Sie zog sich um und machte sich dann auf den Weg zum Frühstücksraum. In Gedanken versunken ging sie mit gesenktem Kopf durch die Flure des Internats und schaute erst auf, als sie gegen einen muskulösen Körper stieß.
Verlegen murmelte sie ein »Entschuldigung«, bevor sie realisierte, wer vor ihr stand.
»Hi, Dahlia, geht es dir gut? Du siehst nicht gerade gesund aus«, sagte Jonas mit fragendem Blick. »Verständlich, nach all dem, was sich gestern Nacht zugetragen hat. Ähm … falls du jemanden zum Reden brauchst, dann sag es einfach, ja?«
»Danke für das Angebot, Jonas. Ich werde sicher darauf zurückkommen. Schön, dass du an mich gedacht hast.«
Dahlia wollte gerade weitergehen, als er sie sanft an der Schulter packte und schmunzelnd sagte: »Alles Gute zum Geburtstag! Und vergiss unser Eisessen morgen nicht, ja? Ähm … falls du es dir nicht anders überlegt hast. Also dann, hab einen schönen Tag und bis morgen, freue mich darauf!«
Er gab ihr einen schnellen, schüchternen Kuss auf die Stirn und lief zu den Jungs aus seiner Basketballmannschaft zurück, die auf dem Flur standen und sich unterhielten.
Dahlia befand sich für einen Augenblick nicht mehr in der Schule, nein, sie war im Himmel, dessen war sie sich sicher. Nur Jonas konnte sie auf Wolke sieben schweben lassen.
In diesem Moment vergaß sie das gestern Vorgefallene und lief mit einem breiten Grinsen und roten Wangen zum Speisesaal.
Selina bemerkte sofort, dass etwas passiert sein musste. Was hatte ihrer Freundin das Lächeln wieder ins Gesicht gezaubert?
Natürlich konnte Dahlia die guten Neuigkeiten kaum für sich behalten. Es war nie ihre Stärke, etwas lange zu verschweigen.
Solche Momente sollte jeder mit seinen Freunden teilen, dachte sie.
»Das freut mich sehr für dich, Dahlia. Ich bin gespannt, was morgen bei eurem Treffen passiert!«, sagte Selina grinsend und ergänzte: »Wollen wir nachher um 13 Uhr zu Kira ins Krankenhaus gehen? Ich muss vorher noch etwas Wichtiges … ähm erledigen … die Matheaufgaben! Du kannst so lange deine Geschenke auspacken, die sich übrigens auf deinem Bett stapeln, und dich noch ein wenig ausruhen. Was sagst du dazu?«
»Geht klar! Also treffen wir uns unten am Eingang der Schule um eins. Und bitte, Selina, versuch wenigstens dieses Mal pünktlich zu sein«, neckte Dahlia ihre Freundin.
»Versprochen. Ich komme bestimmt rechtzeitig! Egal, was ich gerade mache, ich lasse alles stehen und liegen. Selbst wenn ich auf dem Klo sitze.« Selina grinste.
Dahlia musste lachen und gab ihr einen sanften Schlag auf die rechte Schulter.
Kaum hatte Dahlia die Tür hinter sich geschlossen, stieg ein drängendes Gefühl in ihr hoch. Sollte sie das mysteriöse Kuvert doch schon öffnen? Es schien zwar absurd, aber aus irgendeinem Grund glaubte sie, dass der Brief etwas mit dem vermummten Unbekannten im Park zu tun haben könnte.
Sie schob diesen unsinnigen Gedanken schnell beiseite und widmete sich den Geschenken auf ihrem Bett, welche ihr, während sie weg gewesen war, gebracht worden waren. Jonas hatte ihr ein Lebkuchenherz und eine mit Kätzchen bedruckte Karte geschenkt. Darin stand: »Für das süßeste Kätzchen der Welt, Jonas.«
So etwas Schönes hatte sie schon lange nicht mehr bekommen. Nun freute sie sich noch mehr auf morgen.
Ein paar Mädchen aus Dahlias Volleyball-Club hatten ihr Geburtstagskärtchen geschrieben sowie auch einige ihrer Klassenkameraden.
Im Brief des Rektors stand, als hätte sie es schon geahnt, das Übliche: »Alles Gute zum Geburtstag!« Und darunter hatte er in seiner krakeligen, altmodischen Schrift geschrieben:
Die erste Trainingsstunde beim Fechten findet schon heute um 15 Uhr in unserer kleinen Gymnastikhalle statt, da dein Lehrer morgen etwas Dringendes zu erledigen hat, das sich leider nicht verschieben lässt. Einen schönen Geburtstag wünsche ich noch!
Nun hatte sie alle Geschenke ausgepackt – bis auf eines. Dahlias Neugierde war einfach zu groß. Mit zitternden Händen nahm sie das inzwischen etwas zerknitterte Kuvert von ihrem Schreibtisch. Eine unbekannte Empfindung stieg in ihr auf, die sich auf seltsame Weise gut anfühlte.
Sie öffnete das Kuvert und sofort fiel ihr ein silbernes, leicht violett funkelndes Etwas entgegen. Es war ein silbernes Amulett mit einem lilafarbenen Stein in der Mitte. Auf beiden Seiten war ein verschnörkeltes, auf dem Kopf stehendes Ypsilon mit zwei wellenförmigen Parallelen eingraviert. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen …
Plötzlich fiel es ihr wieder ein! Die hübsche Frau hatte es in ihrem Traum bei sich getragen, bevor es in einem großen schwarzen Loch versunken war.
Dahlia war verwirrt und ängstlich zugleich. Was hatte das zu bedeuten? Trotzdem spürte sie das Bedürfnis, die Kette anzuprobieren. Sie übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Beinahe kam es ihr so vor, als ob das Amulett förmlich nach ihrem Hals schrie.
Mit zitternden, kalten Händen legte sie sich die Kette um und musste enttäuscht feststellen, dass nichts passierte.
Das hatte sie sich anders vorgestellt.
Doch plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz auf ihrer rechten Schulter, so als hätte jemand heißes Wachs über ihre Haut geschüttet und zusätzlich auf die Wunde gedrückt.