Amethyst - Yve Mary - E-Book

Amethyst E-Book

Yve Mary

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Beschreibung

Was tust du, wenn du dort bist, wo dir am meisten Gefahr droht? Dahlias Entscheidung hat weitreichende Folgen. Jeder Schritt, jeder Atemzug führt sie nun näher zu Gideon. Es gibt kein Entkommen. Ihr Schicksal ist unweigerlich mit seinem verbunden. Und am Ende steht ein magischer Kampf, den es fast unmöglich scheint, zu gewinnen... Seid ihr bereit, Dahlia ins Finale zu begleiten?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

KAPITEL 1

Mit einem Tritt bewegte Mike den zweiten Elgog unsanft dazu, Dahlia festzuhalten.

Sie wehrte sich nicht gegen den kräftigen Griff. Es wäre sinnlos gewesen bei diesen muskelbepackten Armen. Sie rümpfte lediglich die Nase, als ihr der Gestank des Wesens entgegenschlug. Puh, er roch noch schlimmer als ein nasser Hund an einem Regentag!

»Wieso hast du das getan?«, flüsterte ihr Luca zu.

Die beiden Elgogs standen dicht genug nebeneinander, dass sie sich unterhalten konnten. Dahlia war aber gerade nicht nach Reden zumute. Sie drehte sich von Luca weg. Während der vergangenen Stunden war einfach zu viel passiert, es überforderte sie, dieses Gespräch jetzt mit ihm zu führen. Sie fühlte eine unvorstellbare Leere in sich.

Um sich auf etwas anderes zu konzentrieren, beobachtete sie Mike. Er griff gerade nach einem Dolch, der sich an seinem Ledergürtel befand, und schnitt sich damit in die Handinnenfläche. Das Blut schmierte er über die Stirn der beiden Elgogs und sagte: »Auf zu meinem Meister!«

Kurz darauf befanden sie sich alle in einem Strudel aus blutroten Schlieren, die sie umhüllten und festhielten. Dahlia wurde schlecht und sie versuchte den aufkommenden Würgereflex, so gut es ging, zu unterdrücken. Irgendwann ließ die Intensität der Schleier nach und die Umrisse der Umgebung zeichneten sich immer schärfer ab. Doch selbst als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, schien sich immer noch alles zu drehen. Nun konnte sie es nicht länger zurückhalten. Sie musste sich übergeben.

»Urgh. Was ist das denn für ein Benehmen, junge Dame?«, fragte Mike angewidert.

Torkelnd wischte sie sich über ihren Mund. Das flaue Gefühl in ihrem Magen war zwar deutlich besser, aber immer noch nicht verflogen. Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen gegen die grelle Sonne ab und nahm blinzelnd nach und nach ihre Umgebung wahr.

Vor ihnen standen zwei schwarze Pferde, die vor einen Wagen mit einem vergitterten Fenster gespannt waren. Unter ihnen befand sich ein kleiner Eimer voll Wasser, aus dem sie tranken. Das könnte die Chance zu ihrer Flucht sein! Wie töricht von ihnen, es einer Wasserbändigerin so leicht zu machen, dachte sie sich und unterdrückte den Drang, allzu auffällig zum Wasser zu spähen. Nun galt es, den richtigen Moment abzuwarten.

Mike befahl den Elgogs, die beiden Gefangenen in den Wagen zu bringen und fügte hinzu: »Von hier aus müssen wir leider per Kutsche weiterreisen.« Dahlia hörte nur mit einem Ohr zu und konzentrierte sich derweil darauf, eine Verbindung zu dem Wasser herzustellen. Angestrengt ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Doch es half nichts. Weder schwappte das Wasser zu ihr noch konnte sie es spüren. Was stimmte hier nur nicht?

Als Mike ihre Bemühungen bemerkte, lachte er schallend auf und kam auf sie zu. Irritiert sah Dahlia zu ihm hoch. Eine Klinge fuhr über ihre rechte Wange und wanderte bis hin zu ihrem Hals, wo sie bedrohlich innehielt.

»Na, na, na, wer wird denn hier versuchen zu fliehen? Das ist zwecklos, Kleine. Mein Meister hat sämtliche Magie in einem Umkreis von sechzig Meilen um seine Festung gebannt. Alle Fähigkeiten werden somit unterdrückt. Eine Schande, wenn ihr mich fragt!«, erklärte er finster und schnalzte mit seiner Zunge.

»Lass deine dreckigen Finger von ihr!«, schrie Luca und fing sich damit eine Ohrfeige von ihm ein.

Dann wurden sie unsanft in den Wagen geworfen. Die Wände waren seltsamerweise aus Stein und fühlten sich ganz feucht an. Die Luft roch muffig. Das kleine Fenster ließ kaum Licht, geschweige denn Luft, hinein.

Ein einziges Bettgestell stand in der Ecke und daneben ein Eimer aus Metall. Dahlia wollte sich gar nicht ausmalen, wofür dieser wohl diente.

Gedankenverloren glitt sie zu Boden und lehnte sich an die Steinwand. Nur ganz am Rande nahm sie wahr, dass sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung setzte.

War das alles gerade wirklich geschehen? War Selina tot? Allein der Gedanke trieb ihr erneut die Tränen in die Augen. Sie hatte sie nicht beschützen können. Wieso zur Hölle hatte sie gedacht, es allein mit Mike aufnehmen zu müssen? Sie hatte zwar ihre Fähigkeiten, aber damit umzugehen vermochte sie noch nicht. Es war mehr als töricht von ihr gewesen. Ihre Freundin war ihretwegen tot. Was nützten besondere Kräfte, wenn sie ihre Lieben nicht vor dem Tod beschützen konnte?

Die Gefühle übermannten sie und sie begann, verzweifelt zu schluchzen.

Von der Seite her legte sich ein Arm um sie. Erst jetzt nahm sie Luca bewusst wahr; er musste schon die ganze Zeit neben ihr gesessen haben. Dankbar schmiegte Dahlia ihren Kopf an seine Schulter.

»Es tut mir alles so leid, Luca. Ich war so dumm!«, brachte sie unter Tränen hervor.

»Schon gut. Wir machen alle mal Fehler«, versuchte er sie zu beruhigen und drückte sie enger an sich. Eine Weile lagen sie sich schweigend in den Armen, jeder den eigenen Gedanken nachhängend.

Lucas Worte brachen die Stille zwischen ihnen schließlich. »Es wäre jedoch in jedem Fall besser gewesen, wenn du mir einfach gesagt hättest, was du vorhast. Vielleicht wäre es dann anders ausgegangen. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt ist es zu spät und auch nicht mehr wichtig, sich darüber Gedanken zu machen. Aber wieso zur Hölle bist du nicht geflohen?« In seinen letzten Worten schwang Ärger mit, obwohl er bisher versucht hatte, verständnisvoll zu bleiben.

»Ich weiß nicht. Ich wollte einfach niemanden mehr in Gefahr bringen. Weder dich noch meine Freunde. Und trotzdem ist meine beste Freundin jetzt tot. Wegen mir.« Erneut überrollte sie eine Welle des Schmerzes und ihr ganzer Körper wankte unter ihrem Schluchzen.

»Mach dir keine Vorwürfe, es ist nicht deine Schuld. Sondern allein Mikes. Dahlia, es tut mir sehr leid, dass Selina gestorben ist. Das hätte alles nicht passieren dürfen. Ich mache mir auch Vorwürfe deshalb. Wäre ich nicht zu beschäftigt damit gewesen, die Pjoras zu trainieren, hätte ich bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Schon allein die Tatsache, dass Justus nicht gleich vor Ort gewesen ist«, versuchte sich Luca die Situation zu erklären. Er sah ebenfalls sehr mitgenommen aus und grübelte vermutlich über noch viel mehr Dinge, als er zugeben würde.

»Auch du hättest es nicht verhindern können, Luca. Mike hatte das vermutlich mit Gideon von langer Hand geplant.« Damit versuchte sie nicht nur ihm, sondern auch sich selbst gut zuzureden, was ihr jedoch nicht leichtfiel. »Ich weiß weder vor noch zurück. Wie kann ich ohne Selina weiterleben? Ist das überhaupt möglich? Ich fühle mich so leer, so taub. Ich kann es einfach nicht glauben, sie nie wiederzusehen«, schluchzte Dahlia.

»Es wird besser mit der Zeit, aber nie ganz verschwinden. Es werden Tage kommen, an denen es dich alles wieder einholt, auch wenn du Jahre später dachtest, du hättest es überwunden. Aber so ist es nicht. Wir tragen den Schmerz und den Verlust für immer mit uns. Er wird nach einer Weile ein Teil von uns, um uns an die zu erinnern, die wir verloren haben. So tragen wir sie Tag für Tag bei uns. Wir müssen nur lernen, für sie weiterzumachen, für sie weiterzukämpfen. Niemals aufgeben, sonst ist ihr Leben, ihr Wirken umsonst gewesen.

Seit dem Tod meiner Eltern ist dies mein einziger Ansporn, jeden Tag aufs Neue zu beginnen und für sie bei den Pjoras zu kämpfen. Für eine bessere Welt, für ein besseres Morgen«, sagte Luca voller Überzeugung. Ihm war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden. Über seine Wange lief eine einzelne Träne. Er wischte sie schnell ab und schaute zur Seite.

Dahlia schluckte hart. Dass Luca schon viel früher diesem Gefühl der Trauer ausgesetzt gewesen war, hatte sie ganz vergessen.

Sie löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht zu schauen.

»Luca?«, sprach sie ihn an und wartete, bis er sich zu ihr umdrehte. »Ich danke dir für deine Worte und Offenheit, das weiß ich sehr zu schätzen. Und ich bin froh, dass du mir gefolgt bist. Ohne dich wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben.«

Er versuchte zu lächeln.

»Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst«, antwortete er ehrlich.

Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stehen. Dahlia hatte nicht damit gerechnet und fiel beinahe rücklings auf den Steinboden. Luca hatte sie gerade noch rechtzeitig abgefangen und gestützt.

»Alles gut?«, fragte er.

»Ja, denke schon.«

Sie richtete sich auf. Ihr Herz pochte heftig gegen ihre Brust. Sie dachte, sie hätte noch mehr Zeit, bevor sie Gideon begegnen würde. Die Ungewissheit, was dann kommen mochte, fraß sie auf.

Was war los? Waren sie tatsächlich schon da?

»Ich glaube, wir sind an dem Grenzposten vor Ijog. Von hier aus müsste es noch eine halbe Stunde bis zu Gideons Residenz sein«, erklärte Luca mit ernster Miene.

»Habe ich das schon wieder laut gesagt?«, fragte Dahlia peinlich berührt. Sie dachte, diese Angewohnheit bereits überwunden zu haben.

Luca nickte knapp.

»Upps.« Verlegen legte sie ihre Hand auf den Mund. Doch das Gefühl verflog, als sie Lucas veränderte Gesichtszüge sah. Härter und angespannter als sonst. Erst jetzt realisierte sie, was diese Reise in ihm auslösen musste, führte sie ihn doch direkt zu seinem alten Foltermeister. Und an all dem war Dahlia schuld. Wieso zog sie nur alle um sich herum ins Verderben?

»Es tut mir leid, dass du wegen mir wieder zu Gideon musst. Ich wollte das nie, Luca.«

»Ich weiß. Es ist schon in Ordnung. Aber bitte versprich mir eins, und das ist sehr wichtig: Wenn du Gideon siehst und der nach deinen Fähigkeiten fragt, sag ihm auf keinen Fall, dass du fliegen kannst, ja?«

»Wieso das denn?«, hakte Dahlia nach.

»Wenn er das weiß, dann wird er dich nicht nur umbringen wollen, sondern auch Experimente an dir durchführen. Er will seit jeher diese eine Fähigkeit, die ihm bisher verwehrt geblieben ist. Daher bitte ich dich inständig, es ihm nicht zu sagen.«

»Hat er das auch mit dir gemacht?«, fragte sie vorsichtig. Mist, hätte sie doch lieber geschwiegen, denn Luca wandte sich von ihr ab und starrte zu Boden.

»Ja, das hat er«, antwortete er knapp. Damit war das Gespräch für ihn wohl beendet.

»Schon in Ordnung. Wenn du mal darüber reden willst, bin ich da«, meinte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.

Er griff danach und drückte sie kurz.

»Danke.«

Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Luca starrte völlig in Gedanken versunken ins Leere.

Sie wollte ihm Zeit geben und ihn nicht weiter mit Fragen belagern. Daher setzte sie sich auf das Bett. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie müde sie eigentlich war und schlief bald darauf ein. Es waren unruhige und wirre Träume, die sie verfolgten. Immer und immer wieder sah sie, wie Selina in ihren Armen starb und Mike höhnisch lachte.

Eine Zeitschleife, aus der es kein Entrinnen gab. Keine Möglichkeit, dem Schmerz zu entfliehen. Würde dieser Albtraum jemals ein Ende haben?

Ein Rütteln an ihrer Schulter riss sie unsanft aus dem Schlaf. »Dahlia, wir sind angekommen. Du musst jetzt aufwachen!« Sie rieb sich die Augen. Luca hatte sich über sie gebeugt, seine Hand auf ihrer Schulter.

»Ist gut«, meinte sie schlaftrunken. Sie richtete sich auf und sah sich um. Die Türen des Wagens waren noch verschlossen.

»Bist du dir sicher, dass wir da sind?«

»Ja, das bin ich. Ich spüre Gideons Anwesenheit in jeder Faser meines Körpers. Er hat uns damals mit einer Art Fluch belegt, der es ihm möglich gemacht hat, genau zu wissen, wo wir sind. Nach meiner Flucht haben einige Heiler ihn teilweise von mir genommen und die Verbindung zu Gideon geschwächt. Er vermag es nun nicht mehr, mich aufzuspüren. Leider ist das Kribbeln, wenn er meine Gedanken berührt, nie ganz verschwunden und ich spüre es, sobald er in der Nähe ist«, antwortete Luca angewidert.

Auf einmal ging die Tür auf. Die beiden Elgogs kamen auf sie zu, packten sie grob am Arm und zerrten sie aus dem Wagen. Dahlia versuchte sich zwar zu wehren, aber gegen diese riesigen Bären waren ihre Mühen erneut umsonst und so ließ sie sich von ihnen mitziehen.

Es dämmerte zwar schon, aber das große Gebäude, das sich komplett in Stein gemeißelt vor ihr auftürmte, war nicht zu übersehen. Dutzende kleine und dumpf beleuchtete Fenster erstreckten sich über das in den Felsen eingelassene Schloss. Es war vermutlich fünf Mal so groß wie ihr Internat. Ein Schauer lief Dahlia über den Rücken, während die Elgogs sie immer näher an Gideons Residenz brachten.

»Ach, wie schön ist es doch, zurück zu sein!«, meldete sich Mike freudig zu Wort und fuhr, zu den beiden Elgogs gewandt, fort: »Bringt die Gefangenen in das Verlies. Sie sollen es heute Nacht besonders gemütlich haben, damit sie morgen früh in aller Frische auf meinen Meister treffen können.«

»Wie? Gideon ist nicht hier?«, fragte Luca irritiert, als sie durch das große Holztor schritten, das in den Innenhof des Schlosses führte.

»Nicht, dass es dich etwas angeht, aber Master Gideon hat mir gerade gedanklich mitgeteilt, dass er leider sofort aufbrechen muss. Er geht einer wichtigen Spur nach.« Während er das sagte, sah Mike Dahlia an. In seinen Augen funkelte es lüstern. »Und wenn er erfolgreich ist, wird er dich damit töten.« Er machte auf dem Absatz kehrt, bog um die Ecke und verschwand. Seine Worte jedoch blieben. Dahlia schluckte heftig.

Ihre Gedanken rasten, jedoch löschte der plötzliche Schmerz in ihrem Oberarm jegliche anderen Empfindungen aus. Die Pranken der einäugigen Bären bohrten sich hinein und zogen sie und Luca weiter in das Verlies.

Auf dem Weg dorthin liefen sie einen geraden Flur entlang, der mit seiner gewölbten Decke und den goldenen Ornamenten dem Inneren einer Kirche glich. Auch die Bildnisse an den Wänden waren ähnlich verstörend. Einzelne Körperteile, Foltermethoden und auf jedem von ihnen ein großer, komplett in Schwarz gekleideter Mann, der mit regungsloser Miene danebenstand.

Über diese Bilder wären ihr beinahe die ganzen Wachleute entgangen. Erst als es einen weiteren Flur nach rechts ging und vor jeder Tür zwei Wachen standen, fiel es ihr auf. Sie trugen schwarze Kleidung und eine große, rote Flamme auf Brusthöhe. Ihre Gesichter konnte sie nicht erkennen, weil sie durch eine Sturmhaube und einen Helm verdeckt wurden. Jeder war mit einer Lanze und einem Schwert bewaffnet. Die rote Flamme zierte auch deren Griffe. Je tiefer sie in die Burg vordrangen, desto mehr Wächter tauchten auf. Auch die Gänge wurden schmaler und nur noch wenige Fackeln an den Wänden spendeten gerade genügend Licht, um sich zurechtzufinden. Vor einer schwarzen Holztür hielten sie schließlich an.

Schwerfällig wurde sie geöffnet und die Wachen warfen sie so grob in eine der vielen Zellen im Verlies, dass Dahlia stolperte und auf die Knie fiel.

»Alles gut bei dir?«, fragte Luca und half ihr auf.

»Ja, ich denke schon.« Sie klopfte sich den Dreck von ihrer Kleidung und blickte kurz zur Tür. »Meintest du nicht, du spürst Gideon, wenn er in der Nähe ist?«, hakte Dahlia fragend nach, als sie sich sicher war, dass die Elgogs außer Hörweite waren.

»Ich bin mir sicher gewesen, dass er hier sein wird, ich habe ihn deutlich gespürt. Er würde sich auch die Gelegenheit, dich persönlich zu empfangen, nicht entgehen lassen. Welcher Spur er wohl nachgeht?« Nachdenklich ging er im Kreis.

In Lucas Stimme schwang auch Unbehagen mit, was Dahlia verunsicherte. Sie malte sich bereist allerlei Möglichkeiten aus, wie Gideon sie töten würde. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken.

»Er hat eine neue Spur, wo sich der goldene Amethyst befindet, und ist sofort dorthin aufgebrochen«, antwortete eine bekannte, aber ungewohnt schwache Stimme.

Dahlia und Luca drehten sich beinahe zeitgleich zu der Person in der Nachbarzelle um. Hinter den rostigen Gittern kauerte ein unscheinbarer, abgemagerter alter Mann. Frische und getrocknete Blutflecke bedeckten seine zerrissene Kleidung. Die grauen Haare waren zerzaust und wiesen teils kahle, ausgerissene Stellen auf. Obwohl sein Gesicht schmerzverzerrt war, als er sich aufrichtete, strahlten seine grünen Augen.

»Oh mein Gott!« Dahlia fasste sich vor Schreck mit der Hand an den Mund. Das konnte doch nicht …

»Justus? Bist das wirklich du?«, fragte Luca zögerlich. Auch er schien sich nicht sicher zu sein, dass dieses kleine Häufchen Elend sein Mentor war.

»Ja, in der Tat. Und es war sehr unklug von dir, dich gefangen nehmen zu lassen. Ich dachte, ich hätte dich besser ausgebildet.« In seiner Stimme lag jedoch kein Vorwurf, sondern eher Erleichterung.

»Wie konnte das passieren? Seit wann bist du hier? Was haben sie mit dir gemacht?«

»Luca, mein Junge. Das sind ganz schön viele Fragen, wie ich sie eigentlich nur von Dahlia kenne.« Er zwinkerte ihr schmunzelnd zu. Fassungslos starrte sie ihn an. Was hatten sie ihm nur angetan? Wut kroch in ihr hoch und vereinnahmte sie fast gänzlich. Dennoch versuchte sie sich auf seine Worte zu fokussieren.

»Sie haben mich eines Abends in meinem Schulbüro überrascht. Es war Mike, zusammen mit zwei weiteren Anhängern Gideons. Bis jetzt weiß ich nicht, wie sie es geschafft haben, das Tor in die andere Welt zu überqueren.« Sein Blick ging kurz ins Leere.

»Jedenfalls habe ich nicht damit gerechnet und bin regelrecht von ihnen überfallen worden. Sie haben mir Acea eingeflößt, das mich vom Kopf abwärts gelähmt hat, und mich geknebelt. Ich war ihnen schutzlos ausgeliefert. Sie brachten mich hierher und nahmen mir täglich Blut ab, bis ich nur noch ein Schatten meiner selbst war und gerade noch so am Leben.«

Ihr Direktor sah in der Tat nicht mehr wie der starke, selbstbewusste Mann aus, den sie kannte. Er war hager und fahl im Gesicht. Seine Wangenknochen traten deutlich hervor und dunkle Augenringe bildeten sich unter seinem besorgten Blick. Dort, wo die Haut unter der zerschlissenen und schmutzigen Kleidung frei lag, war sie mit blauen Flecken und Schnitten übersät. Mit langsamen Bewegungen kam er zu den Gitterstäben, die die beiden Zellen voneinander trennten.

»Wofür haben sie denn dein Blut gebraucht? Oder war das eine ihrer Foltermethoden?«, wandte sich Dahlia an Justus.

»Beides. Sie benötigen sowohl eine gewisse Menge an Blut für Mike, damit er sich längere Zeit in mich verwandeln kann, als auch um mich zu schwächen. Natürlich haben sie weitaus mehr abgenommen, als nötig gewesen wäre.« Grimmig schaute er zur Seite.

»Das tut mir alles so leid. All das musstest du nur mitmachen, weil sie eigentlich hinter mir her waren. Jeden in meiner Nähe bringe ich in Gefahr«, meinte sie verbittert.

Wieder kamen ihr die Bilder von Selinas Tod in den Kopf und wie Jonas bewusstlos zu Boden gefallen war. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.

»Aber nicht doch. Du trägst am wenigsten Schuld an allem. Dich hat nie jemand gefragt, ob du die Aufgabe, die vor dir liegt, auch annehmen willst – es gab nie eine andere Wahl. Aber ich hatte immer eine. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, ein Wächter der Welten zu sein und somit zu jeder Zeit deine Sicherheit zu gewährleisten. Wenn, dann habe ich in ganzer Linie versagt und muss mich erneut bei dir entschuldigen. Es tut mir aufrichtig leid, Dahlia.«

Der Schmerz in seiner Stimme verursachte ihr eine Gänsehaut. »Muss es nicht, wirklich nicht!«, sagte sie daher bestimmt.

Dahlia ertrug es nicht, ihren Direktor so zu sehen, mit all den Vorwürfen, die er sich ihretwegen machte. Sie musste ihn ablenken und auf andere Gedanken bringen.

»Also, wie kommen wir hier wieder raus? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit? Einen Ausweg?«, wandte sie sich an die beiden und schaute sie fragend an.

»Soweit ich weiß, gibt es den nicht. Das Schloss ist noch viel strenger bewacht als zu der Zeit, in der Shui und ich von hier geflohen sind. Mal davon abgesehen, dass wir in einem ganz anderen Trakt gewesen sind«, meinte Luca nachdenklich.

»Wenn es einen Ausweg geben würde, hätte ich ihn schon längst genommen. Aber auch mir fällt keiner ein. Innerhalb von Gideons Burg ist Magie zwar wieder möglich, allerdings wurden diese Zellen hier speziell so angefertigt, dass sie jegliche Fähigkeiten außer Gideons eigener unterdrücken. Tut mir leid, dich erneut enttäuschen zu müssen«, fügte ihr Direktor hinzu.

»Ist das euer Ernst? Wir sollen einfach warten und nichts tun? Es muss doch etwas geben, das wir tun können!« Dahlia war entrüstet, dass die beiden bereits aufgegeben hatten. Sie konnte sich nicht einfach ihrem Schicksal ergeben und Däumchen drehen. Nein, es musste noch eine andere Lösung geben. Grübelnd lief sie auf und ab. Die Gitterstäbe waren zu massiv und lagen zu eng beieinander, als dass sie hindurch schlüpfen konnten, und die Steinwand konnte man auch nicht bewegen. Sie bröckelte noch nicht mal, als sie dagegen schlug. Na toll! Es gab wohl doch kein Entrinnen von hier. Verzweifelt rüttelte sie an den Gitterstäben, steckte ihre ganze Kraft hinein und sank dann schreiend zu Boden.

Hände umfassten ihre Schultern. Sie schüttelte sie ab und schlug wie wild um sich, als Luca sie in eine Umarmung zwang und sie sich nicht mehr bewegen konnte. »Lass mich verdammt noch mal los!«, schrie sie ihn an.

»Ganz ruhig, Dahlia«, redete er mit besänftigender Stimme auf sie ein. Immer und immer wieder sagte er denselben Satz und ließ sie nicht los. Nach kurzer Zeit spürte sie, wie ihre Verzweiflung langsam nachließ und sich auch ihr Körper wieder entspannte. Auch Lucas Umarmung wurde sanfter und schließlich löste er sich von ihr.

»Wir finden schon einen Ausweg, Dahlia, versprochen.«

Nachdem sie ihre Gedanken wieder sortiert hatte, sah sie ihn an. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet und sein besorgter Blick war kaum zu ertragen.

»Danke, dass du mich wieder runtergebracht hast«, sagte sie mit belegter Stimme. Luca nickte, stand auf und bot ihr seine Hand an. Dankbar griff sie danach und zog sich nach oben. Ein leichtes Kribbeln durchzog ihren Körper. Noch immer brachte sie selbst die kleinste Berührung von ihm aus dem Konzept. Es war total verrückt, wie ihr Körper darauf reagierte. Sie konnte nichts dagegen machen. Aber wollte sie das überhaupt?

»Wir sollten uns eine Weile hinlegen, damit wir ausgeruht und bereit sind, für was auch immer uns erwartet«, schlug Luca vor.

»In Ordnung, dann versuchen wir zu schlafen.«

Das Adrenalin rauschte zwar immer noch durch ihren Körper, aber ihr Kopf brauchte definitiv etwas Ruhe. Besonders nach allem, was in so kurzer Zeit geschehen waren.

Luca bot ihr das Bettgestell an und breitete die Decke davon für sich auf dem Boden aus. Dahlia nahm es dankend an und kringelte sich auf dem unbequemen Bett zusammen. Gedanken wirbelten wie wild durcheinander und hielten sie vom Schlafen ab. Bilder von Selinas Tod tauchten wieder vor ihr auf. Sie würde wohl ihr ganzes Leben damit klarkommen müssen, diese Szene immer und immer wieder zu durchleben.

KAPITEL 2

Ein lauter Plopp ließ sie aufschrecken. Ihr Herz pochte heftig gegen ihre Brust. Sofort war sie hellwach. Woher kam das Geräusch?

In der Nachbarzelle bewegte sich etwas auf ihren Direktor zu. Blitzschnell war Dahlia an den Gitterstäben und schrie: »Lassen Sie ihn in Ruhe! Er kann nichts dafür, ich bin es, die Sie wollen!«

Als die Person das hörte, fuhr sie zu ihr herum. Dahlia wich aus Reflex einen Schritt zurück und prallte dabei gegen Luca. Sie vernahm sein leises Stöhnen und wollte ihn gerade fragen, ob alles in Ordnung war, als ein Wispern aus der Nachbarzelle sie innehalten ließ.

»Leise, mein Kind. Nicht, dass wir unnötig Aufmerksamkeit auf uns ziehen.« Merkwürdigerweise kam ihr die Stimme bekannt vor, dennoch konnte sie sie nicht zuordnen.

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie von Justus?«, wollte Dahlia wissen.

»Erkennst du mich denn nicht, mein Kind?« Die Person, die in viele bunte Tücher gewickelt war, zog ihre Kapuze herunter und Dahlia traute ihren Augen kaum.

»Sie sind die Wahrsagerin! Vom Jahrmarkt!«, schrie sie auf und legte sich sogleich die Hand auf den Mund, als sie merkte, wie laut sie war.

»Ja, richtig. Ich bin hier, um euch und meinen Bruder von hier wegzubringen«, sagte Madame Cimo. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Ihre Augen strahlten immer noch eine Stärke aus, wie Dahlia es bei niemandem zuvor gesehen hatte. Es kam ihr vor, als lägen mehrere Jahrzehnte zwischen ihrer unbeschwerten Zeit mit Jonas auf dem Markt und der Lage, in der sie sich nun befand.

»Bruder?«, fragte Luca überrascht und riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja, mein Junge. Justus ist mein Bruder, nicht wahr?«, sagte sie und fuhr ihm liebevoll über die eingefallene Wange. Justus nickte lächelnd.

»Und für all das, was sie dir angetan haben, werden sie schreckliche Qualen erleiden, das schwöre ich!«, fügte sie grimmig hinzu.

Dahlia versuchte immer noch zu realisieren, dass Madame Cimo plötzlich hier aufgetaucht war. Wie war es ihr nur möglich gewesen, ohne Magie hier reinzukommen?

»Wie haben Sie es geschafft, ins Verlies zu gelangen? Ich dachte, das wäre nicht möglich«, fragte Luca, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Die Möglichkeiten liegen immer im Auge des Betrachters. Wenn man die gleiche Situation aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, gibt es aus einer immer eine Möglichkeit, das scheinbar Unmögliche zu durchbrechen.« Kryptisch und verwirrend, wie immer. Dahlia fühlte sich wieder so durch den Wind wie damals auf dem Jahrmarkt, als nichts von dem, was Madame Cimo gesagt hatte, einen Sinn ergeben hatte.

»Leider gibt es auch hier Grenzen, meine Liebe«, mischte sich nun auch Justus ein und stand, gestützt von seiner Schwester, auf.

»Die Träne der Feen kann maximal drei Personen transportieren, den Träger eingeschlossen. Sie kann auch nur ein einziges Mal verwendet werden und geht dann wieder in den Besitz der Feen über.«

»Ihr habt eine der Tränen der Feen? Wie kann das sein? Wie kamt ihr dazu? Und welchen Preis musstet ihr zahlen?«, fragte Luca die beiden skeptisch. Dahlia sah ihn fragend an. Wovon sprach er nun schon wieder? Diese Welt war für sie trotz all der Zeit, die sie schon hier war, immer noch wie ein Buch mit sieben Siegeln.

»Genau so, wie jeder andere auch an die Perlen kommt, mein Junge«, meinte Justus’ Schwester mit mahnendem Unterton. Daraufhin sah Luca verlegen zu Boden.

»Das wäre also dann auch geklärt«, begann Justus. »Ich werde hierbleiben und ihr beide geht. Ich bin kaum noch ich selbst und momentan keine große Hilfe. Das ist daher die einzig richtige Entscheidung.«

»Nein. Stopp. Ich werde hierbleiben. Ihr beide geht. Justus wird bei den Feen wieder auf die Beine kommen. Er ist euch dann eine größere Hilfe als ich. Und Dahlia, dass du mitmusst, steht außer Frage.«

»Was? Nein, das geht nicht! Ich werde nicht schon wieder jemanden zurücklassen. Es haben sich schon so viele für mich geopfert. Ich werde bleiben, schließlich bin ich diejenige, die sie suchen«, entgegnete Dahlia entschlossen. Das würde sie auf keinen Fall zulassen. Zu viele waren nur deshalb in Gefahr, weil sie sie kannten.

Luca nahm ihre Hände in seine und sah ihr in die Augen, bevor er weitersprach. »Dahlia, du weißt ganz genau, dass es so sein muss. Du bist momentan das Wichtigste in ganz Anila. Nicht ich, nicht Justus. Du allein hast die Fähigkeit, unserer Welt den Frieden zu bringen, den wir so dringend brauchen. Wir können dir nur, so gut es geht, den Rücken freihalten.«

»Nein, ich lass dich hier nicht zurück! Nach allem, was Gideon dir schon angetan hat … Wie könnte ich damit leben, dass du nur wegen mir erneut diese Qualen erleidest?«

»Es wird nicht dazu kommen. Ich bin kein Kind mehr und habe durch die Pjoras viel dazugelernt. Dieses Mal wird es anders, schließlich habe ich noch eine Rechnung mit Gideon zu begleichen. Mir wird nichts geschehen, versprochen.«

»Wie kannst du so etwas versprechen?«, schluchzte Dahlia und Tränen rannen ihr über die Wangen.

Sie wollte sich nicht verabschieden, nicht schon wieder und vor allem nicht von Luca. Es kam ihr so endgültig vor. Dahlia war sich sicher, ihn nie wiederzusehen, wenn sie jetzt ging.

Er wischte ihr sanft eine Träne von der Wange und sie schmiegte ihren Kopf in seine Hand.

»Wir sehen uns wieder. Ich werde alles dafür tun.« Er nahm Dahlia in den Arm und hauchte ihr ins Ohr: »Versprochen.« Sie schloss die Augen und nahm den Moment ganz bewusst in sich auf. Es könnte der letzte mit ihm sein. Auch wenn ihr bei dem Gedanken, ihn hier zu lassen, schlecht wurde, musste sie sich eingestehen, dass es rational gesehen die einzige Lösung war. Und solange ihnen keine andere Wahl blieb, wollte sie sich wenigstens gebührend von ihm verabschieden.

»Ich unterbreche euch ja nur äußerst ungern, aber wir sollten uns beeilen«, unterbrach Madame Cimo sie.

Leicht benommen lösten sich die beiden voneinander und der Blick, den sie sich zuwarfen, sagte alles, was sie in dem Moment füreinander empfanden: bedingungsloses Vertrauen.

»Luca, ich bin dir auf ewig zu Dank verpflichtet für das Opfer, das du für mich und uns alle erbringst. Ich wollte nie, dass es so weit kommt. Allerdings bin ich als Mentor gerade auch sehr stolz auf dich«, wandte sich nun auch Justus mit belegter Stimme an ihn. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Luca erwiderte seinen Blick und streckte seine Hand durch die Gitterstäbe. Schwach ergriff Justus sie.

»Du hast mir damals eine zweite Familie gegeben, als du mich bei den Pjoras aufgenommen hast. Mich aus der Leere herausgeholt, die mich innerlich aufgefressen hat. Und mir gezeigt, dass es sich immer noch lohnt, für die richtige Sache zu kämpfen. Du hast mir das Leben gerettet und ich bin froh, es dir nun gleichtun zu können«, sagte Luca mit zitternder Stimme. Die beiden verband deutlich mehr, als sich Dahlia bisher bewusst gewesen war.

Nach einem eindringlichen Räuspern von Madame Cimo wandten sich die beiden ihr zu. Sie legte sich die Halskette um, an der eine einzige schimmernde Perle hing, und griff mit ihrer freien Hand nach der ihres Bruders.

»Also gut, Dahlia. Ich brauche jetzt deine Hand. Es kann etwas holprig werden, lass aber unter keinen Umständen los, ja?« Dahlia nickte bei ihren Worten nur kurz, gab ihr ihre Hand und ließ dabei Luca nicht aus den Augen. Er hielt ihrem Blick stand.

»begaja est«, flüsterte Madame Cimo und schon verschwamm Luca vor Dahlias Augen, bis er sich in einem bunten Farbenmeer komplett auflöste.

KAPITEL 3

Dahlia fühlte sich, als hätte man ihr in den Magen geboxt. Um sie herum schwankte alles in bunten Farben und sie schwebte zusammen mit Justus und Madame Cimo in diesem schier endlosen Strudel.

Als sie auf der Erde aufschlug, war sie erstaunt, wie weich der Untergrund war. Er fühlte sich leicht feucht und nachgiebig an. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Umgebung und sie sah sich genauer um. Eine Moosfläche erstreckte sich über Kilometer hinweg; wo sie auch hinsah, waren nur saftig grüne Wiesen. Keine Bäume, keine Büsche, nur Moos. Der wolkenverhangene Himmel ließ nur gelegentlich ein paar Sonnenstrahlen hindurch.

Neben ihr stand Madame Cimo bereits wieder und half ihrem Bruder auf die Beine, der sich humpelnd aufrichtete.

»Ach, ist es schön, wieder hier zu sein«, meinte Justus mit glänzenden Augen. Er atmete einmal tief ein und genoss es sichtlich, wie die frische Luft durch seine Lungen strömte. Strahlend sah er zu seiner Schwester.

»Mal sehen, wie lange dein Optimismus anhält. Noch hat uns keiner hereingebeten«, ermahnte sie ihn, wobei sie ihn weiterhin stützte.

»Wo sind wir hier?«, meldete sich nun Dahlia zu Wort. Auch sie hatte sich inzwischen aufgerichtet und wischte ihre feuchten Hände an ihrem Kleid ab.

»Das hier, mein Kind, ist Arimajia, das Land der Feen. Sie sind sehr eigene Geschöpfe, du solltest dich in Acht nehmen. Oft scheinen sie freundlich, aber haben ganz andere, hinterlistige Pläne«, antwortete Madame Cimo.

»Aber ich dachte, du hast diese Perle zum Reisen von ihnen bekommen. Klingt für mich nicht gerade wie das Böse in Person.«

»Richtig, aber ich musste dafür auch einen Preis zahlen. Für alles gibt es einen Preis. Jener der Feen ist einer der hohen, unangenehmen Sorte. Also merke dir meine Worte: Traue ihnen nicht leichtfertig und hinterfrage all ihre Angebote. Aber fürs Erste lassen wir meinen Bruder mit ihnen reden. Seltsamerweise mögen sie ihn.« Sie schnaubte und sah grinsend zu Justus.

»Meinem Charme konnte eben noch niemand widerstehen!«

»Was genau machen wir hier? Wissen die Feen, dass wir hier sind? Und warum gehen wir nicht zu den Pjoras zurück, um mit ihnen Luca zu befreien?« So viele Fragen schwirrten ihr im Kopf umher, dass Dahlia gar nicht wusste, wohin damit. Warum mussten sie jetzt zu den Feen, die keine sonderlich freundlichen Zeitgenossen zu sein schienen? Dahlia hatte ein äußerst ungutes Gefühl bei dieser Angelegenheit.

»Jetzt ist keine Zeit für Fragen. Antworte nur noch, wenn sie dich direkt ansprechen. Sie kommen.«

Madame Cimo wirkte ungewohnt angespannt. Sie zupfte kurz an ihren Haaren und richtete ihre Kleidung. Justus war seltsam ruhig. Beide sahen in den Himmel. Dahlia schirmte die Sonne mit ihrer Hand ab, konnte aber beim besten Willen nichts erkennen. Gerade öffnete sie ihren Mund zur Frage, was sie denn da so anstarrten, als sie es ganz allmählich selbst sah.

Ein zunächst kleiner Schimmer bewegte sich von oben in ihre Richtung. Er entwickelte sich zu einem glitzernden Tornado und kam kurz vor ihnen zum Stehen. Dahlia musste die Hand erneut schützend vor ihre Augen halten, weil das Licht sie so blendete. Durch den kleinen Zwischenraum ihrer Finger versuchte sie blinzelnd wenigstens einen Blick zu erhaschen. Zwei etwa handgroße, in schwirrendes Licht gehüllte Wesen schwebten vor Justus und schienen sich mit ihm zu unterhalten. Sie verstand jedoch kein einziges Wort, denn es klang wie gesungene Verse einer anderen Sprache.

Dahlia konzentrierte sich so sehr darauf, etwas davon zu entziffern, dass sie nicht merkte, wie eines der beiden Wesen plötzlich auf sie zukam. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück und ließ ihre Hand sinken. Auch wenn das gleißende Licht weniger intensiv geworden war, blendete es sie noch so stark, dass sie ihre Augen sofort wieder abschirmen musste.

»Chesela Dahlia?«

»Was?«, fragte Dahlia perplex.

»Ist Ihr Name Dahlia?«, sang das Wesen nun in ihrer Sprache und das Licht wurde noch schwächer.

»Ja«, war alles, was sie rausbrachte. Nun konnte sie auch deutlich kleine, flimmernde Flügel erkennen, die hinter ihrem Rücken flatterten und das grelle Licht hervorbrachten. Der ganze Körper glitzerte und sah beinahe durchsichtig aus. Die Fee vor ihr trug ein grünlich schimmerndes Kleid und die braunen Haare elegant nach oben gesteckt.

»Bist du reinen Herzens?«, fragte sie singend und unterbrach damit Dahlias Gedanken.

»Ja«, sagte sie erneut, ohne nachzudenken.

Die Fee nickte und legte einen ihrer kleinen Finger auf Dahlias Stirn. Eine wohlige Wärme durchströmte sie, wie es nur ein lauer Sommerabend vermochte. Sie umhüllte sie vollständig und trug sie davon.

KAPITEL 4

Plötzlich befand sich Dahlia nicht mehr auf der grünen Mooswiese. Vor ihnen führte eine gepflasterte Straße kilometerweit geradeaus. Rechts und links erhoben sich gigantische Mooshügel, in die viele kleine, beleuchtete Fenster und Baumstümpfe, die zu Behausungen umgewandelt worden waren, eingelassen waren. Dahlia stand mitten in einer Stadt, die von Bäumen umrahmt wurde. Jedoch bildeten diese eine undurchdringliche Mauer aus Geäst und Dickicht.

Es schien, als gäbe es nur diese eine Straße, an deren Anfang sie standen und die sich durch die ganze Stadt zog. Dahlia blickte nach oben, aber statt des Himmels war dort nur Geäst. Wo waren sie nur? Und wie waren sie hierhergekommen?

Justus stützte sich auf Madame Cimo und redete mit einer der beiden Feen. Allerdings waren diese nun genauso groß wie sie selbst. Oder waren sie etwa genauso groß wie die Feen? Dahlia fasste sich reflexartig an ihren Rücken, um zu sehen, ob dort Flügel waren. Erleichtert atmete sie auf. Gott sei Dank! Es war nichts zu spüren!

»Willkommen in Arimajia, Dahlia Behrensen. Mein Name ist Ilara und wir haben schon sehr lange auf Ihren Besuch gewartet«, sang die Fee. Sie hatte langes, weißes Haar und violette Augen.

»Ich wusste bisher nicht, dass ich erwartet werde, aber ich freue mich hier zu sein.«

»Wir werden nun alles vorbereiten und zwei meiner Wächter bringen Sie und Ihre Begleiter in Ihre Gemächer.«

Bevor sie davonflog, schnipste sie mit ihren Fingern und zwei in Gold gekleidete Feenwächter erschienen vor ihnen. Dahlia sah ihr noch eine Weile fasziniert hinterher, als Madame Cimo an ihrem Ärmel zupfte und ihr bedeutete, den Feen zu folgen.

»Was genau bereiten sie denn vor und wieso siezen sie uns? Was wollen wir …«, sprudelte es neugierig aus Dahlia heraus, jedoch wurde sie sofort von ihrem Direktor ermahnt.

»Später«, flüsterte er knapp.

Somit behielt sie ihre Fragen vorerst für sich und folgte den Feen.

Ihr Weg führte sie zu einem der großen Baumstämme auf der rechten Straßenseite, wo sie vor einer runden Tür stehen blieben. Einer der Wächter murmelte etwas in dieser seltsam klingelnden Sprache und sie schwang wie von Zauberhand auf.

Von dort aus führten sehr viele verwinkelte Holztreppen in alle Richtungen. Bisher waren ihnen keine anderen Wesen begegnet. Dadurch wirkte dieser Ort nicht gerade einladend, sondern eher wie eine mystische Geisterstadt. Wo waren bloß die anderen Feen?

Ihre Gruppe nahm die erste Treppe zu ihrer Rechten und bereits in der ersten Etage zeigte einer der Wächter auf eine Tür, hinter der sich ihr Zimmer befand.

Als sich diese hinter ihnen schloss und sie allein waren, atmeten Madame Cimo und Justus fast zeitgleich auf.

»Puh, das war ziemlich anstrengend«, meinte Justus und ließ sich auf ein aus vielen Ahornblättern geformtes Sofa nieder.

»Zum Glück ist dein fatua noch nicht ganz eingerostet«, scherzte Madame Cimo.

»Was zur Hölle ist hier eigentlich los? Erklärt mir endlich mal jemand von euch, was wir hier überhaupt machen?«, wollte Dahlia etwas ungehalten wissen. Jetzt war es an der Zeit, endlich zu erfahren, was Sinn und Zweck der ganzen Reise war. Sie würde momentan nämlich lieber einen Plan schmieden, Luca aus der Gefangenschaft zu befreien, als hier bei den merkwürdig höflichen Feen zu sein!

»Na gut, Liebes. Setz dich doch bitte.« Madame Cimo bot ihr einen Stuhl an, der komplett aus Rinden gefertigt war.

»Erinnerst du dich noch daran, dass deine Freunde Jonas und Selina verschwunden sind, als Luca ihnen diese Kette angelegt hat?« Dahlia nickte. Wie sollte sie je den bisher schlimmsten Moment ihres Lebens vergessen? Die bloße Erwähnung von Selina versetzte ihr einen Stich in die Brust und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber woher wusste Madame Cimo davon?

»Gut. Und bevor du fragst, ich habe euren Kampf im Traum gesehen. Als ich wach geworden bin, habe ich erst einmal die Bruchstücke aus meiner Erinnerung zusammensetzten müssen. Leider bin ich dadurch zu spät zur Eiche gekommen.« Ehrfürchtig sah Dahlia sie an. Madame Cimos Fähigkeiten erstaunten sie immer wieder aufs Neue.

»Also, zurück zu den bernsteinfarbenen Ketten. Dir ist vielleicht aufgefallen, dass sie nur eine einzige Perle tragen. Sie stammen aus der Schmiede der Feen und sind sehr wertvoll, da es in ganz Anila nur zehn Exemplare davon gibt. Es kann allerdings immer nur eine Person damit transportiert werden. Die Träger dieser Ketten werden dann automatisch hierhergebracht und von den Feen versorgt oder versteckt, bis es ihnen wieder besser geht. Auch deine beiden Freunde sind hier gelandet. Wir haben vor, sie morgen wieder in ihre Welt zu bringen. Mit deiner und der Hilfe des Medaillons.« Sie nickte kurz in Dahlias Richtung, die sich automatisch an die Stelle fasste, wo sich der Amethyst unter ihrer Kleidung verbarg.

»Warte. Heißt das etwa, Selina lebt noch? Konnten die Feen sie retten?« Leise Hoffnung kam in ihr auf. Konnte das sein? War ihre Freundin doch noch am Leben? Freudentränen füllten ihre Augen, Erleichterung überkam sie und ein Lächeln umspielte ihren Mund.

»Nein, leider nicht. Es war schon zu spät für deine Freundin, Dahlia«, antwortete nun Justus. »Dein Verlust tut

mir aufrichtig leid. Ich gebe mir selbst die Schuld dafür. Sie stand, wie all meine Schüler, unter meinem Schutz und ich konnte nicht verhindern, dass Mike sie für seine Zwecke missbrauchte.« Er schaute niedergeschlagen zu Boden.

Für Dahlia war es, als wäre ihre Freundin gerade noch einmal gestorben. Sie hatte für einen kurzen Augenblick gedacht, sie gleich wieder in ihre Arme schließen zu können. Heiße Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Verzweiflung, Trauer, Wut – alles prasselte auf sie ein. Das war zu viel. Torkelnd lehnte sie sich an eine Wand und glitt daran hinab. Ihr Blick wurde leer und sie starrte ins Nichts. Selbst ihre Tränen versiegten. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und jemand kniete sich neben sie. Worte wurden gesprochen, kamen aber nicht bei ihr an. Alles fühlte und hörte sich so weit weg an.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Welt um sie herum wieder schärfer und die Worte klarer. Madame Cimo hatte sich wieder aufgerichtet und stand mit sorgenvollem Blick an der Seite ihres Bruders, der ebenfalls sehr geknickt dreinsah.

Als Dahlia das sah, rappelte sie sich wieder auf und lief wie von Geisterhand gesteuert zu ihrem Direktor. Nicht nur sie war in dieser Spirale der Trauer gefangen, auch Justus machte sich schwere Vorwürfe und trauerte. Sie mussten sich gegenseitig Halt geben in dieser schweren Zeit, und genau das hatte sie wieder aufstehen lassen. Verständnisvoll legte sie eine Hand auf seine Schulter.

»Es ist nicht deine Schuld. Ich weiß, wenn es in deiner Macht gestanden hätte, hättest du sie mit allem, was dir zur Verfügung steht, beschützt. Doch niemand konnte das. Auch ich nicht. Mike hat sie kaltblütig ermordet und er allein trägt die Schuld an ihrem Tod.« Bisher waren auch ihre Gedanken ständig darum gekreist, wie sie Selina hätte retten können. Aber durch das Gespräch gerade wurde ihr bewusst, dass es Mike war, auf den sie all ihre Wut richten musste. Niemand sonst war für Selinas Tod verantwortlich. Abgesehen von Gideon, dem Mike hörig war.

»Danke für deine Worte«, sagte Justus. Und seine Schwester fuhr fort: »Auf jeden Fall werden wir morgen Jonas zurück in seine Welt schicken, und auch Selina, um ihrer Familie einen angemessenen Abschied zu gewähren. Auch für dich ist noch genug Zeit, dich von ihr zu verabschieden. Gleichzeitig müssen wir uns darum kümmern, Luca aus dem Verlies zu befreien. Dazu brauchen wir allerdings deine Hilfe.«

»Egal was, ich werde alles tun, um euch dabei zu helfen. Also, was ist der Plan?«, sagte Dahlia entschlossen.

»Du musst das Königspaar der Feen, Ilara und Tamino, davon überzeugen, dir eine Feenträne zu geben. Das ist die kleine Perle, die ich um den Hals hatte, als ich euch von Gideon weggebracht habe.« Dahlia fiel erst jetzt auf, dass die Perle bei Madame Cimo verschwunden war. Sie bemerkte Dahlias fragenden Blick. Und war Ilara nicht die Fee von vorhin?

»Sie kann nur einmal verwendet werden und geht dann wieder in den Besitz der Feen über«, erklärte sie.

»Es ist aber nicht einfach, einer Fee eine Träne zu entlocken. Du musst sehr überzeugend sein und vor allem gutes Benehmen vorweisen. Lass dich nicht täuschen, auch wenn sie immer freundlich und nett wirken. Sie siezen jeden, was sie auch im Gegenzug von dir erwarten werden«, fügte Justus mit einem ernsten Blick hinzu.

»Und was ist mit dem Preis, den man dafür zahlen muss?« Dahlia erinnerte sich an den Austausch zwischen Luca und Madame Cimo, als er gefragt hatte, woher sie die Perle hatte.

Sie zögerte kurz und sah zu ihrem Bruder, der zustimmend nickte.

»Der wird individuell festgelegt. Niemand weiß vorher, was es sein wird. Aber es wird dir einiges abverlangen, zuzustimmen. Sie werden dir etwas, das dir sehr am Herzen liegt, auf die eine oder andere Weise nehmen.«