An der Angst wachsen - Sheryl Paul - E-Book

An der Angst wachsen E-Book

Sheryl Paul

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Beschreibung

- Keine Angst vor der Angst! Ängste gelten als das Leiden unserer Zeit, doch verbergen sich hinter ihnen wichtige Botschaften aus unserem Unterbewusstsein, die uns dabei helfen zu wachsen und uns selbst besser zu verstehen. - Dieser psychologische Ratgeber zeigt mit anschaulichen Erklärungen, zahlreichen Beispielen und gut umsetzbaren praktischen Übungen, wie der Weg aus der Angst gelingt. - An der Angst wachsen ist eine Offenbarung für alle, die unter Ängsten, Zwängen, Schlafstörungen und den somatischen Symptomen der Angst leiden und sich nicht länger davon bremsen lassen möchten. - Sheryl Paul vereint meisterhaft die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung mit modernen Erkenntnissen der Psychologie.

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Sheryl Paul

An der Angst wachsen

Wie Sorgen und Unsicherheiten zu Kraftquellen werden

Impressum

Sheryl Paul

AN DER ANGST WACHSEN

Wie Sorgen und Unsicherheiten zu Kraftquellen werden

1. deutsche Auflage 2024

ISBN: 978-3-96257-327-0

©2024 Narayana Verlag GmbH

Titel der Originalausgabe:

THE WISDOM OF ANXIETY

How Worry & Intrusive Thoughts Are Gifts to Help You Heal

Copyright ©2019 Sheryl Paul. This translation published by arrangement with Sounds True and by the agency of Agence Schweiger.

Übersetzung aus dem Englischen: Bärbel und Velten Arnold

Layout und Satz: BUCHFLINK Rüdiger Wagner

Coverlayout: Lisa Kerans

Cover-Abbildung: Shutterstock 20052706 © Vera Volkova

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH,

Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970-0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

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Erkenntnisse in der Medizin unterliegen einem laufenden Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Autor und Übersetzer dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und unerwünschten Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes jedoch nicht von der Verpflichtung, anhand einschlägiger Fachliteratur und weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.

Für die Vollständigkeit und Auswahl der aufgeführten Medikamente übernimmt der Verlag keine Gewähr. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden in der Regel besonders kenntlich gemacht (*). Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann jedoch nicht automatisch geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Anmerkung des Verlags:

Die Gleichberechtigung aller Geschlechteridentitäten ist in unserem Unternehmen eine Selbstverständlichkeit. Wir sehen daher davon ab, diese Haltung auch in unseren Publikationen zu betonen und verzichten zugunsten des Leseflusses auf Mehrfachnennungen, um einzelne Geschlechter ansprechen. Mit der Verwendung des generischen Maskulinums als neutrale, klassische Schreibweise sind alle Identitäten gemeint.

MEINER FAMILIE

Daev, Everest und Asher: drei wundervolle, sensible Seelen, die mein Leben jeden Tag mit unendlicher Liebe, Zuneigung, Bedeutung und Freude bereichern

Carl Gustav Jung stellte fest, dass ein Großteil der Neurosen, des Gefühls der Fragmentierung und des Bedeutungsvakuums im Leben moderner Menschen eine Folge der Isolierung des Ego-Geists vom Unbewussten ist. (…) Wenn wir versuchen, die innere Welt zu ignorieren, wie es die meisten von uns tun, wird das Unbewusste auf dem Weg pathologischer Störungen einen Weg in unser Leben finden: in Form unserer psychosomatischen Symptome, unserer Zwänge, unserer Depressionen und unserer Neurosen.

ROBERT A. JOHNSON

Inner Work: Using Dreams and Active Imagination for Personal Growth

INHALT

Einleitung: Angst ist ein Tor

Brasilien: Meine Einführung in die Angst

Ein Wegweiser durch Ihre Ängste

Die wichtigsten Schlüsselbegriffe

Die Aufforderung zu reifen

TEIL I: ÄNGSTE UND IHRE BOTSCHAFTEN

1. Definition von Ängsten und die Aufforderung, sich nach innen zu wenden

Symptome von Ängsten

Ursachen von Ängsten

Ängste sind kein Hau-den-Maulwurf-Spiel

Vier Schlüsselfaktoren: Neugier, Mitgefühl, innere Ruhe und Dankbarkeit

2. Kulturell bedingte Erwartungen, die Ängste erzeugen

Der Mythos des Normalen

Die Erwartung von Glück

Es gibt keine Antworten – nur Wegweiser zur Weisheit

Menschlich sein

3. Hindernisse auf dem Weg zur Heilung

Die Eigenschaften des Widerstands

Verantwortung: Der Schlüssel zur Transformation

Einen liebenden inneren Elternteil entwickeln

Der Notausgang Perfektion – eine Methode, sich derVerantwortung zu entziehen

Die Zeitachse der Heilung

4. Transitionen

Die drei Phasen einer Transition

Transitionen, über die man in unserer Kultur nicht redet

5. Monate und Jahreszeiten

Sich an den Rhythmus des Jahres anpassen

Herbst: Die Jahreszeit des Loslassens

Winter: Die Jahreszeit der Stille und der Dankbarkeit

Frühling: Die Jahreszeit der Wiedergeburt

Sommer: Die Jahreszeit des Feierns

6. Die Verletzlichkeit des Seins im gegenwärtigen Moment

Keine Fluchtmöglichkeit vor dem Leben

Die Angst davor, sich zu gut zu fühlen

TEIL II: DIE VIER REICHE DES SELBST

7. Der Platz am Kopfende des Tisches

Die Qualitäten eines liebevollen inneren Elternteils

8. Das Reich des Körpers

Die körperlichen Symptome von Angstzuständen

Niedriger Blutzucker und Angstzustände

Ernährung und Angstzustände

Alkohol und Ängste

Bewegung

Schlaf

Hormone

9. Das Reich der Gedanken

Intrusive Gedanken und die kognitiven Manifestationen von Ängsten

Zugang zum Entscheidungspunkt finden

Die Urteilskraft trainieren: Was auch immer Sie gießen, wird wachsen

Die Metaphern, die sich hinter aufdringlichen Gedanken verbergen

Leben mit Unsicherheit: Der Ruf aufdringlicher Gedanken

10. Das Reich der Gefühle

Ängste sind ein Platzhalter für Gefühle

Die Gewohnheit, Schmerzen ein Leben lang zu vermeiden

Früher und alter Schmerz

Stellen Sie sich Ihren Ängsten

Elementare menschliche Gefühle: Langeweile und Einsamkeit

11. Sehnsucht

Ur-Sehnsucht versus sekundäre Sehnsucht

Die Leben, die wir nie leben werden

Die Weisheit der Sehnsucht

12. Das Reich der Seele

Die Quelle des Seins

Die Bedeutung gesunder Rituale

13. Wenn Ängste heilen

Ängste und Leere

Die Früchte der Arbeit

TEIL III: BEZIEHUNGEN

14. Die Verletzlichkeit von Beziehungen

15. Die romantische Beziehung

Was sind Beziehungsängste?

Was ist gesunde Liebe?

Liebe bedeutet nicht die Abwesenheit von Angst

Schlüsselkonzepte zum Verständnis von Beziehungsängsten: Projektion und der Verfolger-Distanzierer-Konflikt

16. Kinder erziehen im Zeitalter der Ängste

Sorgen sind Bestandteil des Elternseins

Drei Mittel gegen Ängste: Dankbarkeit, Einfühlungsvermögen, langfristiges Denken

Kindern helfen, die unter Ängsten leiden

Voll und ganz geliebt

Epilog

Danksagungen

ANHANG

Anhang A

Warnsignale in Beziehungen

Anhang B

Zwei Möglichkeiten, Tagebuch zu führen

Empfehlungen zum Weiterlesen

Über die Autorin

ÜBUNGEN

Kapitel 1 Machen Sie eine Mediendiät

Wecken Sie Ihre Neugier: Wahrnehmen und Benennen

Tonglen

Fragen zur Entschleunigung

Bauchatmung

Kapitel 2 Wie sich der Mythos des Normalen auf Sie ausgewirkt hat

„Sollte“ durch liebevolles Handeln ersetzen

Werden Sie sich Ihrer positiven Eigenschaften bewusst

Kapitel 3 Arbeiten mit dem Widerstand

Finden Sie Ihren inneren Elternteil / Ihr weises Selbst / Ihren mitfühlenden Freund

Kapitel 4 Begegnen Sie dem, was durch Transitionen aufsteigt

Kapitel 5 Laden Sie den Schmerz an Ihre Festtafel ein

Die Jahreszeiten laden Sie ein

Kapitel 6 Die Angst, sich gut zu fühlen

Kapitel 7 Stärken Sie Ihr weises Selbst / Ihren inneren Elternteil

Kapitel 8 Die 30-Tage-Challenge

Kapitel 9 Erkennen Sie, wie Sie Ihre Gedanken nähren

Metaphern erkennen

Vier Schritte, um aufdringliche Gedanken aufzulösen

Kapitel 10 Erinnerungen und Glaubenssätze im Hinblick auf Schmerzen

Kapitel 11 Neugierig auf die Sehnsucht werden

Kapitel 12 Gesunde Rituale etablieren

Kapitel 15 Mit der Projektion arbeiten

Kapitel 16 Sich selbst mit den Augen der Liebe sehen

Einleitung: Angst ist ein Tor

Carl Gustav Jung sagte: Wenn man die seelische Wunde in einem Menschen oder in einem Volk findet, findet man auch den Weg dieses Menschen oder dieses Volkes zu seinem Bewusstsein. Denn durch die Heilung unserer seelischen Wunden lernen wir uns selbst kennen. (…) Bei der Entwicklung des Bewusstseins ist unser größtes Problem immer auch unsere größte Chance.

ROBERT A. JOHNSON

We: Understanding the Psychology of Romantic Love

Ängste sind das Leiden unserer Zeit. Laut der Weltgesundheitsorganisation wurde weltweit bei 260 Millionen Menschen die Diagnose Angststörung gestellt – und weitere Millionen leiden unter Ängsten, ohne dass eine Störung diagnostiziert wurde. Die Zahlen zeigen eindeutig, dass wir in einem Zeitalter der Angst leben. Diese tiefe seelische Wunde durchdringt alle Kriterien, durch die wir uns normalerweise definieren. Denn Angst ist ebenso wie Verlust einer der großen Gleichmacher: Es spielt keine Rolle, wie alt man ist, wo man lebt, wie man aussieht, wie viel Geld man verdient, was für eine sexuelle Orientierung man hat oder welches Geschlecht man besitzt – irgendwann wird jeder in der Dunkelheit der Nacht seiner Angst begegnen.

Während die Art dieses Leidens klar ist, ist aus Sicht der Mainstream-Perspektive weniger klar, wie man es angehen und behandeln soll. Inspiriert von einer westlichen Denkweise, die danach strebt, alle Arten von Schmerzen (psychische, emotionale, mentale und spirituelle) zu beseitigen, sehen die meisten Menschen Ängste und die vielfältigen mit ihnen einhergehenden Symptome als etwas, das es zu verbergen, zu leugnen, von dem es abzulenken oder das es auszumerzen gilt. Was wir nicht begreifen, ist, dass Ängste, wenn wir sie nur als ein Problem betrachten und bestrebt sind, die mit ihnen einhergehenden Symptome zu beseitigen, unter die Oberfläche gedrückt werden. Von dort tauchen sie gezwungenermaßen mit größerer Intensität wieder auf. Außerdem versäumen wir dadurch die wertvolle Gelegenheit, sowohl individuelles als auch kulturelles Bewusstsein zu entwickeln, das durch Ängste entsteht.

Denn Ängste sind zum einen die Wunde und zum anderen der Bote – der Kern der Botschaft ist die Einladung an uns, aufzuwachen. Um die Einzelheiten der Botschaften zu entschlüsseln, müssen wir uns von einer mit Scham besetzten Denkweise abwenden, die Ängste als Zeichen von Schwäche sieht, und stattdessen mit Neugierde an sie herangehen. Dann begreifen wir Ängste als Ausdruck unserer Empfindsamkeit, unseres fantasievollen Geistes und als ein Zeichen des Strebens nach Ganzheit. Wenn wir mit der Bereitschaft zum Lernen an unsere Ängste herangehen, lenken sie uns zu etwas tief in unserem Inneren, das gesehen werden will: einem Ruf der Seele nach Aufmerksamkeit, einer Einladung der Quellen des Seins, sich nach innen zu wenden und auf der nächsten Entwicklungsebene zu heilen.

Ein Faktor, der die Scham im Hinblick auf Ängste verringert, ist das Wissen, dass man nicht allein ist. Die Tatsache, dass etwas normal ist, verringert die Scham. Egal wo auf der Welt, die Menschen erzählen mir immer wieder von den gleichen Ängsten und Gedanken: „Was, wenn ich den falschen Menschen geheiratet habe?“ „Was, wenn ich eine unheilbare tödliche Krankheit habe?“ „Was, wenn mir das Geld ausgeht?“ „Was, wenn jemandem, der mir am Herzen liegt, etwas Schlimmes zustößt?“ „Was, wenn sich mein Baby verletzt und ich schuld bin?“ Das sind alles Anzeichen dafür, dass Ängste das Leiden unserer Zeit sind und wir uns somit auf dem Gebiet des kollektiven Unbewussten befinden. C. G. Jung hat den Begriff des „kollektiven Unbewussten“ geprägt, um den Teil der psychischen Grundstruktur zu beschreiben, den alle Menschen gemeinsam haben. Diese Gedanken, diese Ängste beziehen sich auf grundlegende Themen wie Beziehungen, Gesundheit und Elternschaft sowie das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Über all die Jahre hinweg haben meine Patienten über solche Gedanken nur sehr zurückhaltend gesprochen, aber weil ich wöchentlich in meinem Blog darüber schreibe, wissen sie, dass sie damit nicht allein sind. Eine der Segnungen des Internets besteht darin, dass die Inhalte des kollektiven Unbewussten, die uns früher nur durch Träume und Mythen offenstanden, heute sehr viel besser zugänglich sind. Sie sind mit Ihren Ängsten alles andere als allein, ganz egal, wie diese Ängste sich manifestieren.

Die Boten der Angst treten in vielerlei Formen auf: als Sorgen, aufdringliche Gedanken, Obsessionen, Zwänge, Schlaflosigkeit und somatische Symptome. Wenn wir diesen Boten der Angst mit Scham begegnen und versuchen, sie in die tief verborgenen Nischen unserer Psyche zu verbannen, rotten sie sich zusammen und werden zahlreicher und stärker, bis wir gezwungen sind, ihnen zuzuhören. Dann übernehmen diese kulturell bedingten, schambesetzten Stimmen das Zepter und sagen: „Du bist ein Wrack. Mit dir stimmt etwas ganz und gar nicht. Diese Gedanken und Symptome sind ein Beweis dafür, dass tief in dir etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Rede nicht darüber. Gib es nicht zu. Versuche, es so schnell und so umfassend wie möglich loszuwerden.“

Ängste und aufdringliche Gedanken als weise Manifestationen des Unbewussten zu betrachten, ist eine vollkommen andere – und viel hoffnungsvollere und lebensbejahendere – Sichtweise auf Ängste als diejenige, die unsere Kultur für uns bereithält. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre habe ich mich intensiv mit der Unterwelt der menschlichen Psyche befasst. Meine Erfahrung zeigt, dass wir, sobald wir uns unseren Symptomen zuwenden, anstatt sie medizinisch zu behandeln und als krankhaft erachten, anfangen, den in uns steckenden Reichtum zu erkennen. Ängste sind ein Tor zu einem Ich, das nach Ganzheit strebt. Wenn wir ihre Symptome würdigen, weisen sie uns den Weg. Sobald Sie den in Ihnen schlummernden dunkelsten, unangenehmsten Orten mit Neugier und Anteilnahme begegnen, verwandeln Sie sich und Ihr Leben entfaltet sich in ungeahnter Weise. Ich habe dies bei meinen Patienten, den Teilnehmern meiner Kurse, meinen Freunden, meinen Kindern und in meinem eigenen Leben unzählige Male erlebt. Sie können es ebenfalls.

Brasilien: Meine Einführung in die Angst

Es gab mehrere Schlüsselerlebnisse in meinem Leben, die mich dazu veranlassten, die Beziehung zu meiner Seele neu auszurichten – Momente, in denen mein inneres Ich mich an den Knöcheln packte und mich in die Unterwelt zerrte. Das erste und intensivste Erlebnis war eine Panikattacke, die mich im Alter von einundzwanzig Jahren einige Monate vor meinem College-Abschluss völlig aus der Bahn warf. Diese Panikattacke und die folgenden Jahre, in denen ich jeden Tag Angstzustände erlebte, machten die Illusion meines „perfekten Lebens“ zunichte. Dieses Erlebnis zerstörte mein Gefühl der Überlegenheit, meinen Glauben, dass Leiden etwas sei, das nichts mit mir zu tun habe. Diese Ansichten hatten sich in mir nicht zuletzt durch ein Bildungssystem gefestigt, das mich dafür belohnte, immer das „Richtige“ zu tun. Es zerstörte meinen Glauben, dass ich die richtigen Antworten oder überhaupt irgendwelche Antworten hatte. Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses Erlebnis setzte mich in jeder Hinsicht außer Gefecht. Meine Symptome reichten von Herzrasen über eine Phobie vorm Autofahren, die mich gleich nach jener ersten Panikattacke ereilte, bis hin zu nächtlichen Angstzuständen und Albträumen, die jahrelang meinen Schlaf beeinträchtigten. Doch aus der Asche, dem Schmerz und der totalen Zerstörung meines Lebens, so wie ich es gekannt hatte, wurde ein neues Leben – und ein ganzes Lebenswerk – geboren. Indem sich unser Unbewusstes unserer Ängste und ihrer Symptome bedient, lädt es uns dazu ein, uns in Richtung Ganzheit zu entwickeln: Wir werden aus der Bahn geworfen, auf die Knie gezwungen und in die Unterwelt gezerrt – aber nicht, um gequält zu werden oder weil etwas mit uns nicht stimmt, sondern weil in uns etwas Richtiges und Schönes ist, das danach drängt, gesehen und erkannt zu werden.

Die Grundlage für meine Panikattacke war bereits ein Jahr zuvor entstanden und hing unmittelbar mit einer Brasilien-Reise in meinem dritten Studienjahr zusammen. Ich hatte nie geplant, nach Brasilien zu fahren. Da ich während meiner gesamten Zeit auf der High School und auch auf dem College Spanisch gelernt hatte, hatte ich vorgehabt, nach Spanien zu reisen. Aber dann packte mich das Brasilien-Fieber. Im Sommer nach meinem ersten Studienjahr machte ich bei einem Kurs für brasilianischen Tanz mit. Die Tänze und die Kultur ließen mich nicht mehr los. Ich tanzte den ganzen Sommer. Dann das gesamte folgende Jahr. Immer tiefer tauchte ich in die brasilianische Musik ein. Ziemlich spontan änderte ich meine Pläne und traf Vorbereitungen für eine Reise, die den Verlauf meines ganzen weiteren Lebens ändern sollte.

So stieg ich im Januar 1990 nicht in ein Flugzeug nach Spanien, sondern flog für vier Monate nach Salvador, Brasilien. Dort kollidierte die nette Vorstellung, die ich mir in meinem Kopf zurechtgelegt hatte, hart mit der Realität. Ich wurde schlagartig aus meinem sicheren, sauberen Obere-Mittelschicht-Leben gerissen und mitten in eine Realität katapultiert, von der ich bis dahin keinerlei Vorstellung hatte. Ich lebte in Favelas, wo sich auf den Böden und an den Decken der Räume so viele riesige Kakerlaken tummelten, dass man ihre eigentliche Farbe nicht mehr erkennen konnte; ich musste mit ansehen, wie an Karneval ein Mann erschossen wurde; ich ging auf den Straßen täglich an frischen Blutlachen vorbei; ich ertrank beinahe, als ich beim Schwimmen vom Sog der Brandung mitgerissen wurde; es fiel mir schwer, etwas Gesünderes zu trinken zu finden als Guaraná (im Wesentlichen Zuckerwasser). Monatelang kaufte ich immer wieder etwas von den Straßenverkäufern, das ich für Küchlein aus gehackten Erdnüssen hielt, um dann am Ende meiner Reise zu erfahren, dass es sich stattdessen um Garnelenküchlein handelte, die bereits den ganzen Tag in der heißen Sonne gelegen hatten. All meine Systeme, von den physischen bis hin zu den seelischen, waren ständig in höchster Alarmbereitschaft und total überlastet.

Diese vier Monate waren für mich der reinste Horror. Aber sie waren auch eine Initiation und der Auslöser für einen wichtigen Absturz, der mich dazu brachte, meiner Panik und meinen Ängsten nach und nach zu meinem wahren Selbst zu folgen. Einige Menschen erhalten ihre Initiation durch uralte Riten mitten in einem Wald. Manche Menschen erleben ihre Initiation durch eine Gesundheits-, Beziehungs- oder Glaubenskrise. Meine Initiation fand in Brasilien statt. Wenn ich heute darauf zurückblicke, kann ich klar und deutlich erkennen, dass ich durch unsichtbare Kräfte von diesem Land angezogen wurde, nicht nur von den Tänzen und der Musik. Es war völlig untypisch für mich, so spontan zu sein, aber nichts konnte mich aufhalten. Ich musste nach Brasilien reisen. Ich musste aus der Bahn geworfen werden. Mein bisheriges Lebenskonzept, dass ich ewig von Leid verschont bleiben würde, musste erschüttert werden. Nur so konnte der in der Tiefe verborgene Schmerz an die ehemals makellos glänzende Oberfläche kommen und geheilt werden.

Wir alle machen Erfahrungen im Leben, die uns komplett aus der Bahn werfen. Einer der fatalen Mängel unserer Kultur besteht darin, dass wir immer alles für bare Münze nehmen. Wir sind nicht in der Lage, das, was wir wahrnehmen, als Metapher zu erkennen, die ihrerseits den Schlüssel zur Heilung bereithält. Wenn mich ein Patient aufsucht, der davon überzeugt ist, unter einer Krebserkrankung zu leiden, obwohl ihm erst eine Woche zuvor bestätigt wurde, dass er komplett gesund ist, dauert es eine Weile, das Ego zum Verstummen zu bringen. Zumindest so weit, dass wir uns den tieferen Ursachen zuwenden können, die dieser Angst zugrunde liegen und um die es eigentlich geht. Wenn wir unsere Ängste hingegen weiterhin nur oberflächlich durch die Brille unserer alten Glaubenssätze betrachten und zudem vor allem nach einer Bestätigung für ihre Richtigkeit suchen, werden wir darin gefangen bleiben. Aber sobald wir es schaffen, die Geschichte dahinter zu entschlüsseln und erkennen, was uns eigentlich beschäftigt, sieht die Sache anders aus. Dann ist eine Veränderung möglich. Am Beispiel des Patienten mit der Angst vor Krebserkrankungen hieß das, dass er lernen musste, allgemein mit der Ungewissheit des Lebens besser umzugehen.

In meiner Geschichte war nicht Brasilien das Problem. Tatsächlich brauchte ich Jahre, um zu verstehen, dass das nur die Leinwand war, auf die ich meine nicht verarbeiteten Probleme projizierte: den Schmerz, das Trauma und die Ängste, die ich während meiner ersten zwanzig Lebensjahre verdrängen musste, um weiter funktionieren zu können. Weil Brasilien meine dunkle Seite verkörperte, war ich blind für seine Schönheit. Ich sah den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, die in mir hausten, nur in dem widergespiegelt, was mich umgab. Und es bedurfte erst einer Panikattacke während einer Fahrt auf der Interstate 405 in Los Angeles, um meine dunkle Seite an die Oberfläche zu bringen, damit ich sie schließlich erkennen, an ihr arbeiten und sie heilen konnte.

Der folgende Lebensabschnitt, also die Zeit zwischen zwanzig und dreißig, war schmerzhaft, aber auch transformativ. Mit Anfang zwanzig belegte ich im Rahmen meines Studiums das Fach Tiefenpsychologie, was mir dabei half, meine Ängste durch die Brille der Jung’schen Theorie allmählich zu verstehen. Demnach sind nämlich die Symptome Boten des Unbewussten, die uns dazu einladen, nach Ganzheit zu streben. Mit Mitte zwanzig landete ich, nachdem ich eine Reihe mittelmäßiger Therapeuten ausprobiert hatte, auf der Couch eines brillanten Mannes, der mit mir an meinen Ängsten arbeitete und mir half, mich durch sie besser zu verstehen. Ich las alles über Transformationen, was ich in die Finger bekam, und schrieb mein erstes Buch, The Conscious Bride, das von den Schattenseiten der Ehe handelt. Ich begann auch, mit Patienten zu arbeiten, die sich durch ihre eigenen Transformationen kämpften, hauptsächlich in Bezug auf Beziehungen. Dabei half ich ihnen zu erkennen, welche Chancen und Metaphern hinter ihren eigentlichen Ängsten und Problemen steckten.

Nichts von alledem wäre passiert, wenn ich nicht in Brasilien gewesen wäre. Jahrelang hatte ich diese Erfahrung bereut, bis ich schließlich erkannte, dass ich durch meine Erlebnisse dort erst gezwungen war, innerlich zu wachsen. Diese Reise war kein Fehler. Und Ihr Leben ist ebenfalls kein Fehler – nicht Ihre Ängste, Ihre Verletzungen, Ihr Scheitern oder Ihre Traumata. Tatsächlich lehren die großen Weisen, dass sich die Wurzel für die Heilung im Zentrum eines jeden Traumas befindet. Das bedeutet, dass die größte Herausforderung, mit der Sie zu kämpfen haben, auch Ihre größte Stärke sein wird. Wenn ich auf Brasilien zurückblicke, weiß ich jetzt, dass erst durch die Bewältigung dieser Herausforderung inneres Wachstum möglich war. Ich musste erst durch das Tor der Ängste und der Panik gehen, um meinen Schmerz und meine über-angepasste Persönlichkeit abzuschütteln. Nur so konnte ich meinem wahren Selbst näherkommen und es leben. Sie können ebenfalls durch dieses Tor gehen.

Ein Wegweiser durch Ihre Ängste

Dieses Buch bringt Ihnen Schritt für Schritt die erforderlichen Denkansätze und Werkzeuge näher, damit Sie eine neue Haltung gegenüber Ihren Ängsten entwickeln. So befreien Sie sich aus ihrem Griff und lernen, ihre Botschaften zu entschlüsseln.

In Teil 1 werde ich Ängste und ihre Symptome genauer definieren und darauf eingehen, welche Ursachen und Auslöser zu ihrer Entstehung führen. Sie lernen auch die drei Grundpfeiler kennen, die es der sensiblen Seele ermöglichen, erfolgreich durchs Leben zu navigieren – bei meiner Arbeit mit Tausenden von Betroffenen habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir alle sensible Seelen sind, wenn auch in einem unterschiedlichen Maß. Die drei Grundpfeiler sind:

– erkennen, wer man ist und wie man funktioniert,

– verstehen, dass Transitionen* entscheidende Umbruchs- und Erneuerungsmomente sind, die dafür sorgen, dass sich Ängste entweder verhärten oder heilen können,

– Umwandlung Ihrer Ängste von einer Last zu einem Geschenk: durch Neugier, Mitgefühl, Gelassenheit und persönliche Verantwortung.

Ich werde auch auf die größte Hürde eingehen, die immer dann auftaucht, wenn wir uns auf den Weg zur Heilung begeben: Widerstand.

In Teil 2 führe ich Sie durch die vier Reiche des Selbst: das Reich des Körpers, das Reich der Gedanken, das Reich der Gefühle und das Reich der Seele. So lernen Sie, die Botschaften, die in jedem dieser Reiche eingebettet sind, zu entschlüsseln. Meine Herangehensweise beruht auf einem ganzheitlichen Ansatz. Das bedeutet: Während die meisten Methoden Ängste mit einem physischen Ansatz (somatische Heilung), einem emotionalen / psychologischen Ansatz (Gesprächstherapie) oder einem kognitiven Ansatz (Verhaltenstherapie und die meisten Gesprächstherapien) behandeln, berücksichtige ich alle diese Bereiche und dazu noch einen vierten: unsere Seele. Da ich Ängste nicht als etwas betrachte, das man loswerden muss, sondern als einen Hilferuf nach Heilung verstehe, wird Teil 2 Ihnen dabei helfen zu begreifen, dass Ängste uns auf unerfüllte Bedürfnisse in den vier genannten „Reichen“ hinweisen.

In Teil 3 gehe ich darauf ein, wie Ängste sich in Ihren Beziehungen zu Freunden, Partnern und Kindern manifestieren. Weil unsere Kultur fälschlicherweise davon ausgeht, dass sich Angst und Liebe gegenseitig ausschließen, kann man leicht glauben, dass etwas falsch läuft, wenn in einer Beziehung Ängste auftreten. In diesem Kapitel wird dieser Glaube widerlegt. Stattdessen lernen Sie ein Modell kennen, das gesunde Liebe und achtsame Elternschaft stärkt. So können Scham und Angst nicht länger an unseren wichtigsten Beziehungen nagen.

In jedem Kapitel berichte ich über Erlebnisse und Erfahrungen meiner Patienten und von mir selbst, die verdeutlichen, wie man unter die Oberfläche der Angst gelangt und so von ihrer Weisheit profitieren kann. Diese Geschichten vermitteln das, was sie lehren sollen, nicht in einer linearen Weise, sondern in Form einer Spirale. Das bedeutet, dass ich zum Beispiel im Kapitel über Transitionen über die Neigung zu Schwermut schreibe und andersherum auch wieder auf Transitionen zurückkomme, wenn es um Schwermut geht. Ungeachtet dessen, was unsere Kultur uns lehrt, ist Lernen kein linearer Prozess, sondern folgt dem spiralförmigen Rhythmus der Seele. Dieses Buch ist zwar in Kapitel unterteilt, richtet sich jedoch ebenfalls nach dem Rhythmus der Seele.

Im Verlauf des gesamten Buches biete ich sowohl Sofort-Übungen an als auch solche, die in die Tiefe gehen und darauf ausgerichtet sind, Ängste zu überwinden. Sofort-Übungen sind Übungen, die Sie an jedem Ort und zu jeder Zeit durchführen können: während eines Meetings, im Fahrstuhl, im Flugzeug, auf einer Party oder nachts im Bett. Diese Sofort-Übungen beseitigen zwar nicht die Ursachen Ihrer Ängste, aber sie helfen Ihnen dabei, angstvolle Momente gut zu überstehen. Ebenso tragen sie dazu bei, Ihre Ängste im Allgemeinen ein wenig zu lindern, sodass Sie sich auch auf die Übungen einlassen können, die mehr in die Tiefe gehen.

Alle Werkzeuge, die ich Ihnen in diesem Buch an die Hand gebe, sind so konzipiert, dass Sie sie allein anwenden können. Innere Arbeit ist jedoch noch viel wirksamer, wenn wir von erfahrenen Spezialisten begleitet und angeleitet werden. Ich empfehle Ihnen daher, falls Sie nicht sowieso schon in Therapie sind, sich jemanden zu suchen, der Sie auf dieser Reise begleiten kann. Im Laufe der Geschichte haben Menschen schon immer bei Mentoren, Schamanen, Priestern, Predigern und religiösen Anführern Rat gesucht, und in der heutigen Zeit nehmen viele die Hilfe von Psychologen in Anspruch. Wir müssen unser Leben nicht alleine meistern. Zögern Sie also nicht, Ihren Psychologen auf dieses Buch hinzuweisen. Jeder Therapeut hat zwar seine eigenen Methoden, aber gute Therapeuten sind immer aufgeschlossen gegenüber neuen Philosophien und neuen Werkzeugen, die ihren Patienten – und möglicherweise sogar ihnen selbst – helfen können, sich weiterzuentwickeln und zu heilen.

Die wichtigsten Schlüsselbegriffe

Um zu begreifen, was uns unsere Ängste mitteilen wollen, sollten wir zuerst einmal lernen, wie sie mit uns kommunizieren. Deshalb definiere ich im Folgenden zunächst einige Begriffe, die Ihnen in diesem Buch immer wieder begegnen werden.

Seele: Unsere Richtschnur. Anhänger der Jung’schen Theorie bezeichnen die Seele als unser Selbst, als unser Unbewusstes. Dieser Teil von uns äußert sich am intensivsten durch unsere Träume und verschiedene Symptome wie Ängste, Grübeln, Sorgen, aufdringliche Gedanken und Schlaflosigkeit. Gleichzeitig versucht er, uns wieder mit dem in Einklang zu bringen, was uns im Kern ausmacht. Die Psyche – ein weiterer Begriff, dem Sie in diesem Buch begegnen werden – ist ein anderes Wort für Seele. Tatsächlich ist Psyche in der griechischen Mythologie die Göttin der Seele.

Geist: Die verbindende Energie oder Quelle, die sowohl in jedem von uns als auch außerhalb von jedem von uns ist. Am häufigsten verbinden wir uns mit unserem Geist durch Kreativität, Fantasie, die Natur, Meditation, Kunst, Tiere oder Gebete. Wir spüren den Geist bei der Geburt eines Kindes, bei Hochzeiten oder wenn wir beispielsweise am Fuß eines riesigen Mammutbaumes oder an einem einsamen Strand stehen. Einige Menschen verbinden sich in einem religiösen Kontext mit ihrem Geist, doch finden viele diese anregende Verbindung auch abseits der Religion. Joseph Campbell beschreibt den Geist als „die schaffende Energie des Lebens, die in dir und in allen Dingen ist“. In der einfachsten Definition ist „Geist“ gleichzusetzen mit „Liebe“.

Ego: Das Ego, was im Lateinischen einfach „ich“ bedeutet, ist jener Teil von uns, dessen wir uns bewusst sind und den wir bewusst wahrnehmen.

Robert A. Johnson schreibt dazu in seinem Buch Inner Work: „Wenn wir ‚Ich‘ sagen, beziehen wir uns nur auf den kleinen Teil von uns, dessen wir uns bewusst sind. Wir nehmen an, dass ‚Ich‘ nur diese Persönlichkeit, diese Charaktereigenschaften, diese Werte und diese Sichtweisen umfasst, die sich an der Oberfläche in Sichtweite des Egos befinden und dem Bewusstsein zugänglich sind. Das ist meine beschränkte, äußerst unpräzise Version davon, wer ‚ich‘ bin.“

Das Ego ist unser bewusstes Selbst und ein notwendiger und gesunder Teil unserer Persönlichkeitsstruktur, aber es beinhaltet auch die angstbasierten Bestandteile unserer Persönlichkeit. Das Ego umfasst die bewussten Aspekte unseres Wesens – sowohl die Fähigkeit zu denken, zu fühlen, zu reflektieren, zu planen und Dinge auszuführen als auch den Teil von uns, der mit dem, was wir wissen, so zufrieden ist, dass er sich dem unbekannten Reich des Unbewussten widersetzt. Wenn wir glauben, dass unser Ich ausschließlich aus unserem bewussten Ego besteht, verlieren wir den Kontakt zum Kompass unseres Lebens, nämlich zu unserer Seele, unserem Unbewussten.

Widerstand: Das Ego umfasst viele Unterkategorien, unter anderem den Widerstand. Dabei handelt es sich um jenen Teil von uns, der davor zurückschreckt zu reifen und zu wachsen, weil er sich vor Veränderungen fürchtet. Der Widerstand klammert sich an den Status quo und manifestiert sich oft in Form von Faulheit, Trägheit, Taubheitsgefühlen und Angst. Um unsere Ängste zu unserem Vorteil zu nutzen und die nächste Bewusstseinsstufe zu erreichen, müssen wir aktiv mit dem Widerstand arbeiten, damit er nicht die Kontrolle übernimmt. Das Paradox des Egos besteht darin, dass es sich zum einen dagegen sträubt zu reifen und sich zum anderen danach sehnt, mit der Seele in Verbindung zu sein. Ein Teil der Spannung, die das Menschsein ausmacht, ist auf dieses Paradox zurückzuführen.

Individuation: In seinem Buch Inner Work erklärt Robert A. Johnson Individuation als „den Begriff, den Jung verwendet, um den lebenslangen Prozess zu beschreiben, in dem wir uns zu den vollständigen menschlichen Wesen entwickeln, die zu werden wir geboren wurden. Individuation ist das Erwachen zu unserem vollkommenen Ich.“ Zum Prozess der Individuation gehört unter anderem, dass wir die Teile unserer anerzogenen Persönlichkeit wieder ablegen, welche wir während des Heranwachsens verinnerlicht haben, die jedoch nicht im Einklang mit unserem wahren Selbst stehen.

Dazu ein Beispiel: Ein Mädchen möchte Ärztin werden, weil seine Eltern sich das wünschen. Tief in seinem Inneren jedoch hat es eine Leidenschaft für die Arbeit mit Tieren. Wenn das Mädchen durch Ängste oder eine große Veränderung im Leben (Transition) wachgerüttelt wird, bekommt es nun die Möglichkeit, seinem wahren Selbst ein Stück näherzukommen, indem es das Bedürfnis, es den Eltern recht zu machen, ablegt. Jedes Mal, wenn wir bewusst eine Transition durchleben, haben wir die Gelegenheit, eine Schicht unserer konditionierten Denkweisen, Gewohnheiten, Überzeugungen und generationenübergreifenden Muster abzulegen, die uns nicht mehr länger von Nutzen ist. Ängste und die mit Ängsten einhergehenden Gefühle, die während einer Transition oder in anderen Momenten des Lebens aufkommen, sind die Pfeile, die uns auf der Reise der Individuation den Weg weisen.

Ängste sind die Brücke, die das Ego mit der Seele verbindet, das Bewusste mit dem Unbewussten. Wenn wir lernen, wie wir uns unsere Ängste zunutze machen können, dann kann der im Unbewussten liegende Reichtum unser bewusstes Leben inspirieren und bereichern.

Die Aufforderung zu reifen

Ängste fordern Sie auf, lieber Leser, das Geschenk, das Sie sind, voll und ganz anzunehmen. Vielleicht hat man Ihnen eingeredet, dass etwas an Ihnen zu ausgeprägt ist – dass Sie zu sensibel, zu dramatisch, zu emotional oder zu analytisch sind. Und diese Botschaft hat Ihr junges Ich so interpretiert, dass mit Ihnen irgendetwas nicht stimmt oder Sie in irgendeiner Hinsicht gestört sind. Aber Sie müssen anfangen, sich darüber klar zu werden – was Sie, wenn Sie dieses Buch lesen, hoffentlich tun –, dass es absolut nichts gibt, was an Ihnen nicht stimmt. Sie sind nicht gestört. An Ihnen ist nichts zu ausgeprägt. An Ihnen ist nichts falsch. Tatsächlich sind es genau die Eigenschaften, für die Sie sich geschämt haben, die Sie jetzt behutsam aufnehmen müssen wie ein verletztes Tier und die Sie eng an Ihr Herz drücken sollten. Denn erst, wenn Sie aufhören, Ihre Sensibilität als eine Last zu sehen, und sie stattdessen als das Geschenk betrachten, das sie ist, werden Sie anfangen, die verletzten Stellen in Ihrem Inneren zu heilen und Ihre volle Persönlichkeit zu entfalten.

Die Ihrem Selbstschutz dienende Gewohnheit, die Sie erlernt haben, läuft darauf hinaus, Ihre Ängste im besten Fall zu ignorieren und im schlimmsten Fall zu verurteilen. So werden Sie der Hilfsmittel beraubt, die Sie dazu anleiten würden, sich Ihrem Unbehagen zu stellen. Zusätzlich werden Sie bestärkt durch eine Kultur, die sich an Äußerlichkeiten orientiert – in der Ihr Selbstwertgefühl durch äußere Faktoren wie Aussehen, beruflicher Status, finanzielle Vermögenswerte und erbrachte Leistungen bestimmt wird. Daher haben Sie eine tief in Ihnen verwurzelte Gewohnheit entwickelt, sich auf alles zu stürzen, was Sie von Ihrem Schmerz ablenkt oder diesen betäubt. Vielleicht geben Sie sich äußeren Ablenkungen hin, zum Beispiel einem digitalen Gerät, einer Shoppingtour oder einer Droge; oder Sie sorgen dafür, beschäftigt zu bleiben, indem Sie googeln, auf Facebook unterwegs sind, arbeiten, vorankommen oder die Karriereleiter erklimmen; oder Sie geben sich inneren Ablenkungen wie Sorgen oder aufdringlichen Gedanken hin. Sie wollen die „fundamentale Grundlosigkeit des Seins“ verzweifelt meiden, wie Pema Chödrön einen wesentlichen Aspekt des Menschseins beschreibt. Dieser fühlt sich so an, als entzöge er sich unserer Kontrolle, weil mit ihm das Wissen einhergeht, dass unser Leben von ständigem Wechsel und Verlust geprägt ist. Die Grundlosigkeit ist die Traurigkeit, die man darüber empfindet, dass die Zeit verrinnt, und das in dem Wissen, dass das Leben immer eine Transition darstellt. Die Grundlosigkeit ist die Angst vor großen Gefühlen, weil einem niemand beigebracht hat, wie man damit wohlwollend und liebevoll umgeht. Die Grundlosigkeit ist die namenlose Furcht, der Kummer und das grauenerregende Unbehagen, das oft mit Ängsten einhergeht. Durch eine Kultur konditioniert, die Ihnen eintrichtert, dass die Antworten und Lösungen „da draußen“ zu finden sind, wenden Sie sich natürlich nach außen, um das Unbehagen, das Sie in Ihrem Inneren verspüren, zu vertreiben.

Aber wenn Sie den Mut aufbringen, sich nach innen zu wenden, und den Labyrinthen und den Höhlen, die Ihre innere Welt ausmachen, mit Neugier begegnen, ändert sich alles. Sie erkennen, dass Ängste Ihr Leben beeinflussen können, es aber nicht bestimmen müssen. Sie sind nicht dazu bestimmt, Ängste zu empfinden; Sie sind dazu bestimmt, Gelassenheit zu empfinden. Sie sind nicht dazu bestimmt, Beschränkungen zu erleben; Sie sind dazu bestimmt, Großes zu erleben. Sie sind nicht dazu bestimmt, Verlust, Leere und Einsamkeit zu empfinden; Sie sind dazu bestimmt, sich nützlich und verbunden zu fühlen. Sie sind nicht dazu bestimmt, sich durch die von Ihnen zu bewältigenden Herausforderungen zu definieren; Sie sind dazu bestimmt, durch die Bewältigung dieser Herausforderungen zu reifen und eine ausgeglichenere Version Ihres Selbst zu werden – eine Version, bei der Ihre Schwächen zu Ihren Stärken werden und die Dinge, mit denen Sie am meisten zu kämpfen hatten, zu Ihren größten Geschenken.

In Ihnen schlummert eine Bibliothek, die so groß ist wie das Universum und die darauf wartet, dass Sie sich in einer schwach beleuchteten, ruhigen Ecke niederlassen, um ihre Schätze zu entdecken. Sind Sie bereit einzutreten und vieles von dem, was Sie verinnerlicht haben, zu verlernen? Sind Sie bereit, einige Grundsätze des Lebens und von Beziehungen zu lernen, die Ihr Verständnis von sich selbst und von der Welt grundlegend verändern werden? Sind Sie bereit, die Pfade der vier Reiche Ihres Selbst – Körper, Geist, Herz und Seele – zu bereisen und zu erkunden sowie die Botschaften, die in jedem dieser Reiche zu finden sind, zu beherzigen? Wenn Sie bereit sind, dann nehmen Sie meine Hand und lassen Sie uns loslegen.

* Anmerkung des Verlags: Die Entwicklungspsychologie bezeichnete wichtige Übergänge und Veränderungen im Leben eines Menschen als Transitionen.

Teil I: Ängste und ihre Botschaften

Der unter Ängsten leidende Mensch wünscht sich vor allem die Wiederherstellung seines Selbstgefühls, das einmal in Ordnung war. Der Therapeut weiß, dass die Symptome hilfreiche Hinweise sind, die darauf hindeuten, in welchem Bereich sich die Verletzung oder die Vernachlässigung befindet, und dass sie den Weg zur bevorstehenden Heilung zeigen. (…) Jung stellte dazu fest, dass der Ausbruch der Neurose nicht nur eine Sache des Zufalls ist, sondern es sich in der Regel um einen sehr kritischen Moment handelt. Jung zufolge ist das normalerweise der Moment, in dem eine neue psychische Anpassung, eine neue Adaption, erforderlich ist. Das bedeutet, dass unsere eigene Psyche diese Krise ausgelöst und das Leiden verursacht hat, und zwar genau aus dem Grund, weil eine Verletzung stattgefunden hat und eine Veränderung eintreten muss.

JAMES HOLLIS

The Middle Passage: From Misery to Meaning in Midlife

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DEFINITION VON ÄNGSTEN UND DIE AUFFORDERUNG, SICH NACH INNEN ZU WENDEN

Jung beobachtete, dass die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, zwei Drittel ihrer Wachzeit damit verbringen, sich in irgendeiner Form innerer Arbeit zu widmen. (…) Wir modernen Menschen schaffen es in einer ganzen Woche kaum, uns ein paar Stunden freizunehmen, um uns mit unserer inneren Welt zu beschäftigen.

ROBERT A. JOHNSON

Inner Work: Using Dreams and Active Imagination for Personal Growth

Ein sechzig Jahre alter Mann schreckt jede Nacht um 3 Uhr aus dem Schlaf und macht sich Sorgen um seine finanzielle Zukunft (obwohl er finanziell abgesichert ist). Ein sieben Jahre altes Mädchen wird von Gedanken geplagt, dass seine Eltern sterben werden. Eine fünfundzwanzig Jahre alte Frau grübelt darüber, dass sie ihren Partner nicht intensiv genug liebt (obwohl er genauso ist, wie sie sich ihren Partner immer gewünscht hat). All diese Menschen leiden unter Ängsten.

Die meisten Menschen wissen zwar, wie sich Angst anfühlt, doch es fällt ihnen oft schwer, Angst zu beschreiben. In der Lage zu sein, Ängste zu definieren, ist eines der Mittel, die dazu beitragen können, sie in den Griff zu bekommen und zu lindern. Denn das, was wir identifizieren können, ist weniger belastend als eine nicht benennbare Erfahrung. Dies ist meine Definition von Ängsten:

Ängste sind ein Gefühl der Furcht, der Unruhe oder einer unguten Vorahnung, wobei das Gefühl mit einer Gefahr assoziiert wird, die im Moment des Auftretens des Gefühls gar nicht existiert. Ängste können auch als ein generelles und durchdringendes Unwohlsein definiert werden, ohne dass diesem eine identifizierbare Ursache zugrunde liegt. Ängste werden zwar oft als ein körperliches Gefühl erlebt, doch in Wahrheit handelt es sich um einen Zustand im Kopf, der uns im Reich des unproduktiven und angstbasierten Denkens gefangen hält. Ängste versetzen einen dauerhaft in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft und sorgen im Kern dafür, dass man glaubt, dass es einem nicht gut geht, dass es einem niemals gut gehen wird und dass man sich körperlich, emotional und spirituell nicht in einem Zustand der Sicherheit befindet. Ängste und Vertrauen schließen sich gegenseitig aus.

Ängste sind heutzutage eine Allerweltsdiagnose. Fast jeder, den ich kenne, der in den gängigen medizinischen und psychologischen Einrichtungen untersucht wurde, hat die Diagnose „generalisierte Angststörung“ erhalten. Und es ist nicht so, dass die Mainstream-Ärzte und -Therapeuten unrecht haben: Die meisten Menschen leiden tatsächlich unter Ängsten, und die offiziellen im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (in Psychologenkreisen unter dem Kürzel DSM bekannt) beschriebenen Kriterien, denen zufolge jemand unter einer Angststörung leidet, ähneln sehr stark meiner soeben beschriebenen Definition. Ich halte die meisten Komponenten der psychologisch anerkannten Definition von Ängsten zwar durchaus für richtig, habe jedoch eine abweichende Meinung im Hinblick darauf, wie ich Ängste verstehe und mit ihnen umgehe. Wie ich bereits dargelegt habe, betrachte ich Ängste überhaupt nicht als „Störung“. Sehen wir nämlich Ängste als eine Störung an, drücken wir uns selbst den Stempel „Problem“ auf und versäumen es, die großartige Chance zum Erwachen zu erkennen, die sich bietet, wenn wir Ängsten mit Respekt begegnen. Sobald wir Ängste als Beweis dafür betrachten, dass etwas mit uns „nicht stimmt“, entgehen uns die Weisheit, die Metaphern und die Chancen zu reifen, die in den Symptomen, durch die sich die Ängste äußern, zu finden sind.

Die positive Funktion zu verstehen, die Angst im Laufe der Menschheitsgeschichte übernommen hat, kann dazu beitragen, den entscheidenden Wandel in unserem Denken zu vollziehen: weg von dem Wunsch, die Angst loszuwerden, und hin zur Bereitschaft, ihr mit Neugier zu begegnen. Angst war schon immer ein Bote, aber die durch sie vermittelten Botschaften haben sich im Laufe der Zeit verändert und sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Zum Beispiel war es früher bei einem Gang durch den Wald, als jederzeit die Möglichkeit bestand, hinter der nächsten Ecke einem Tiger zu begegnen, sehr hilfreich für die Menschen, sich in erhöhter Alarmbereitschaft zu befinden. Es waren die besonders sensiblen Menschen in der Gemeinschaft, die die Feinheiten und Nuancen wahrnahmen, welche auf eine reale, unmittelbare Gefahr hinwiesen: die leichte Bewegung der Grashalme, eine Veränderung der Temperatur oder ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Auf die Botschaften der Angst zu hören und diese ernst zu nehmen, war eine Frage von Leben und Tod.

Das Problem ist nun, dass der moderne Mensch seine Ängste an nahezu jeder Quelle festmacht und sie dann Intuition nennt, obwohl höchstwahrscheinlich kein Tiger hinter der nächsten Ecke lauert. Es ist so, als ob jener Teil der Psyche, der sich im Laufe der Evolution dahin entwickelt hat, mit äußerster Wachsamkeit auf Gefahren zu reagieren – die Kampf-oder-Flucht-Reaktion –, nicht wüsste, was er mit sich anfangen soll. Da ihm seine Hauptaufgabe abhandengekommen ist, sucht er sich nun den Weg des geringsten Widerstands. Das läuft oft darauf hinaus, dass der innere Horizont nach Gefahren abgesucht wird: Bin ich mit dem richtigen Partner zusammen? (Ist die Liebe gesichert?) Werde ich jemanden verletzen? (Bin ich in Sicherheit?) Werde ich genug Geld haben? (Ist mein Dasein gesichert?) Leide ich unter einer unheilbaren Krankheit? (Ist mein Leben gesichert?) Wird es dem Planeten gut gehen? (Sind wir Menschen alle in Sicherheit?) Diesen Fragen begegnen wir mit der gleichen Leben-oder-Tod-Denkweise, die uns im Dschungel oder in der Wildnis am Leben erhalten hat, und das Ganze fühlt sich an wie Alarm und Panik. Aber wir leben in einem neuen Zeitalter und unser Ur-Alarmsystem, das uns einst gute Dienste geleistet hat, muss modernisiert und neu eingestellt werden, damit wir unsere Ängste nicht auf andere Menschen, auf uns selbst und auf die Welt projizieren. Angesichts dessen, dass weltweit Millionen von Menschen unter Ängsten leiden, sind wir im globalen Maßstab aufgerufen zu erkennen, dass in diesen Ängsten eine machtvolle Einladung steckt, sich als Spezies in eine neue Richtung zu entwickeln.

Symptome von Ängsten

Ängste manifestieren sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise, doch zeigen sie sich am häufigsten als aufdringliche / unaufhörliche Gedanken, körperliche Symptome und zwanghafte Verhaltensweisen.

Wenn sich zum Beispiel Patienten mit Beziehungsängsten zum ersten Mal an mich wenden, hat die erste E-Mail fast immer den gleichen Wortlaut: „Ich befinde mich in einer liebevollen, intakten Beziehung, aber eines Nachts bin ich plötzlich mit Herzklopfen aus dem Schlaf hochgeschreckt. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, mein Mund war ausgetrocknet und ich dachte: ‚Ich bin mit dem falschen Partner zusammen.‘ Seitdem werde ich unaufhörlich von Zweifeln geplagt. Und als ich Sätze wie ‚Woher weiß man, ob man jemanden liebt?‘ gegoogelt habe, hat dies meine Ängste nur noch verstärkt. Das muss doch bedeuten, dass an meinen Gedanken etwas dran ist.“ (Mehr über wahre Liebe erfahren Sie in Kapitel 15.)

Meine Patientinnen, die mit Schwangerschaftsängsten zu kämpfen haben, berichten: „Ich wollte um alles in der Welt schwanger werden, aber in dem Moment, in dem ich den positiven Schwangerschaftstest gesehen habe, bin ich in Panik geraten. Jetzt rasen mir Tag und Nacht furchtbare Gedanken durch den Kopf. Gedanken wie: Ich fühle mich, als wäre bei mir eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden. Ich will das nicht. Ich liebe mein Leben. Ich bin nicht bereit, dieses Leben aufzugeben. Ich habe das Gefühl, in mir wächst ein Alien heran. Das muss bedeuten, dass ich dieses Baby in Wahrheit nicht haben möchte.“

In Kapitel 9 („Das Reich der Gedanken“) werden wir uns mit diesen Szenarien noch etwas eingehender befassen. Sie sehen jedoch, dass all dies zum einen die Symptome der Angst sind – die Gedanken, die körperlichen Empfindungen und die Verhaltensweisen (Googeln als Reaktion auf Ängste ist ein zwanghaftes Verhalten). Zum anderen ist da die Interpretation: „Das muss bedeuten, dass ich eigentlich gar nicht in dieser Beziehung sein will.“ Oder: „Das muss bedeuten, dass ich das Baby nicht bekommen möchte.“ Wenn man Ängste behandelt, ist es äußerst wichtig, zwischen den Symptomen und der Bedeutung, die wir diesen Symptomen zuschreiben, zu unterscheiden. Deshalb gilt: Je besser Sie die Symptome von Ängsten verstehen, desto besser sind Sie dazu imstande, sie zu benennen. Dann können Sie mit Neugier und Mitgefühl an sie herangehen, statt sich sofort von der am nächsten liegenden, oberflächlichsten Interpretation leiten zu lassen.

Um es noch einmal zu sagen: Auch wenn das Wort Ängste heute allgegenwärtig ist, wissen viele Menschen nicht, welche Gedanken, Gefühle und Empfindungen uns eigentlich auf unsere Ängste hinweisen. Und was wir nicht verstehen, verschlimmert die Ängste noch. Wenn mir in jener Nacht, in der ich nach meiner ersten Panikattacke in der Notaufnahme gelandet bin, jemand mitgeteilt hätte, dass ich unter Ängsten leide, hätte mir dies Monate an Qualen erspart. Diese kamen nämlich noch zu der anfänglichen Belastung dazu, dass ich versuchte herauszufinden, was mit mir nicht stimmte. Doch natürlich war mit mir alles in Ordnung. Meine Seele hatte mir einfach nur auf eindrucksvolle Weise durch den Boten Panik die Botschaft zukommen lassen, dass es für mich an der Zeit war, mit dem Prozess der Individuation zu beginnen und die Schichten meines konditionierten Selbst abzulegen. Ich hätte nicht erwartet, dass der Arzt in der Notaufnahme zu mir sagt: „Willkommen auf der dunklen Seite Ihrer Seele.“ Aber wenn er mich mit Informationen darüber entlassen hätte, was passiert war, wäre es mir leichter gefallen zu verstehen, warum es passiert war.

Im Folgenden sind die häufigsten mentalen, physischen und verhaltensbezogenen Erscheinungen aufgeführt, in denen sich Ängste manifestieren.

Aufdringliche Gedanken

• Was, wenn ich mit dem falschen Partner zusammen bin?

• Was, wenn ich nicht das mache, wozu ich eigentlich berufen bin?

• Was, wenn ich jemanden verletzt habe?

• Was, wenn sich (m)ein Kind wehtut?

• Was, wenn die Welt untergeht?

• Was, wenn ich unter einer unheilbaren Krankheit leide?

Eine ausführliche Auflistung aufdringlicher Gedanken finden Sie in Kapitel 9.

Somatische Symptome

• Engegefühl in der Brust

• Zugeschnürter Hals

• Flacher Atem

• Kribbeliges Gefühl im Körper – nicht still sitzen können

• Schlaflosigkeit

• Trockener Mund

• Kopfschmerzen – auch Druckgefühl im Kopf

• Muskelschmerzen

• Allgemeines Gefühl des Unwohlseins

• Schneller Herzschlag

• Schwitzen

• Flaues Gefühl im Magen

• Verdauungsprobleme

• Schwindelgefühle

Verhaltensbezogene Symptome

• Wut

• Gereiztheit

• Süchte

• Perfektionismus

• Unaufhörliches Reden

• Zwanghafte Handlungen, unter anderem Online-Aktivitäten, um zu versuchen, Bestätigung zu finden

Diese Liste ist keineswegs vollständig – erstaunlich, bei wie vielen Symptomen es sich um Manifestationen von Ängsten handelt! Die hier aufgeführten Symptome sind jedoch die häufigsten, die ich bei der Arbeit mit meinen Patienten und Kursteilnehmern beobachten konnte.

Ursachen von Ängsten

Die Ursachen, die Ängsten zugrunde liegen, können auf eine Vielzahl von Faktoren zurückgeführt werden, von der persönlichen Familiengeschichte über den Einfluss von Schule und Religion bis hin zu globalen, kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen. Wenn Sie einige dieser Ursachen verstehen, hilft Ihnen das, die Ängste zu normalisieren. Das wiederum schwächt den mit Scham einhergehenden Glauben ab, unter Ängsten zu leiden bedeute, dass irgendetwas mit einem nicht in Ordnung sei.

Wir wissen heute, dass beim Auftreten von Ängsten auch die genetische Komponente eine Rolle spielt. Wenn also ein Elternteil oder sogar beide Eltern mit Ängsten zu kämpfen hatten, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch Sie unter Ängsten leiden. In dem Fall ist die Veranlagung nicht nur in Ihren Genen angelegt. Dazu kommt noch, dass das, was wir in jungen Jahren zu Hause als Vorbild sehen und erleben, einen deutlich größeren Einfluss hat, als wir aufgrund dessen, was man uns beigebracht hat, glauben. Mit anderen Worten: Wenn Sie früher die Ängste oder chronischen Sorgen Ihrer Eltern mitbekommen haben, ohne dass sie etwas taten, um dieses Problem effektiv in den Griff zu bekommen, haben Sie dieses Muster wahrscheinlich übernommen. Frage ich meine Patienten, ob ihre Mutter oder ihr Vater unter Ängsten gelitten hat, lautet die Antwort immer Ja.

Es ist wichtig klarzustellen, dass Sie selbst, wenn sich Ihr ganzer Stammbaum chronisch Sorgen gemacht hat und wenn Ihre Mutter, Ihr Vater oder gar beide mit Ängsten oder Depressionen zu kämpfen hatten oder haben, nicht dazu verdammt sind, den Rest Ihres Lebens mit Ängsten verbringen zu müssen. Ein solches Wissen kann Ihnen zwar helfen zu verstehen, woher Sie kommen, aber es muss nicht zwangsläufig bestimmen, wie es für Sie weitergeht. Einer der Fangarme des von Ängsten geprägten Denkens ist der Glaube, dass man immer mit Ängsten zu kämpfen haben wird, dass man sich nie