An der Sohle des Stiefels - Rocco Giuliano - E-Book

An der Sohle des Stiefels E-Book

Rocco Giuliano

4,8

Beschreibung

„Eine Landschaft, so unberührt und wunderschön, dass man sich verwundert die Augen reibt, wie sie so in Vergessenheit geraten konnte“ Rocco Giuliano berichtet liebevoll und mit viel Witz vom Leben, den Menschen, aber auch den Problemen im Mezzogiorno. Besonders angetan hat es ihm hierbei natürlich die Heimat seiner Vorfahren – Colobraro, ein kleiner Ort am südlichen Zipfel der Region Basilikata. Und so ist dieses Buch viel mehr als nur ein Reisebericht. Es ist ein Eintauchen in ein Lebensgefühl. Es handelt von vielen engagierten Menschen, unendlicher Kinderfreundlichkeit, manch eigenwilliger Besonderheit und von vielen Aprikosen.

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Für Papa & Matteo

Inhalt

Vorwort

Urlaub auf Balkonien?

Die Türen öffnen sich

Von Märkten und Toastern

Ab in den Süden

Lichterkette in der Nacht

Ungewöhnliche Bekanntschaft

Die lieben Nachbarn

Mezzogiorno, aber richtig

Gumba ja!

Eine Frau aus dem Ausland

Aprikosenzeit

Bürokratie auf Italienisch

King of the road

Kein grüner Punkt

Coffee to go

Greta und die Chips

Arrivederci

Letzte Hürden

Nachbemerkung

Mein herzlicher Dank gilt

Vorwort

Es ist das Jahr 1963.

Europa ist im Aufschwung, allenthalben wird gebaut was die Maschinen hergeben und das Wirtschaftswunder befindet sich bereits in seinem Endstadium.

Doch nicht ganz Europa ist von diesem Boom erfasst worden. Vor allem der Süden ist noch immer agrarisch geprägt und infrastrukturell nicht auf einer Höhe mit dem Norden.

Besonders in Italien ist diese Teilung spürbar, denn hier verläuft die Demarkationslinie zwischen Aufschwung und Rückstand mitten durch das Land. Die reiche Po-Ebene, die Industriezonen um Turin und Mailand und die bereits touristisch geprägte Adria sind längst dem „Mezzogiorno“ im Süden enteilt. Außerordentlich hart hat es hier die Region Basilikata getroffen. Ganz im Süden, zwischen dem Ionischen und Tyrrhenischen Meer gelegen, umrahmt von den, zwar auch armen, aber noch besser situierten Regionen Apulien und Kalabrien, ohne jegliche Industrie und von schwacher Infrastruktur, gilt sie selbst bei Italienern heute noch als die vergessene Region. Viele Landsleute wissen nicht einmal, wo sich diese Region, die in mancher Literatur auch als „Lukanien“ bezeichnet wird, eigentlich befindet. Die Basilikata hat damals, wie auch heute, keine Großstadt, kaum Bahnlinien und erst recht keinen Flughafen. Das Straßennetz ist miserabel und ist es des Öfteren auch geblieben (Erst in den achtziger Jahren erhielt man immerhin ganze vier Autobahnausfahrten an einer einzigen, ganz westlich gelegenen Strecke). Wege werden noch auf dem Esel zurückgelegt und wer z.B. eine Egge hat, die man hinter ein Tier spannen konnte, besaß schon eine „Maschine“.

Hier ist das Leben noch karg und arm. Gelebt wird von dem was das Feld und das Vieh hergeben und das Handwerk hat sicher keinen goldenen Boden. Handwerker werden entweder gar nicht oder manchmal in Naturalien bezahlt. Und, nur vom Parmesan, so gut er auch schmecken mag, oder gar vom ungemahlenen Korn lässt es sich nicht Leben. Es ist daher kaum verwunderlich, dass diese Region zu der damaligen Zeit als Rekrutierungsstätte vieler Gastarbeiter dient. Wer jung, voller Elan, etwas abenteuerlustig und auch auf der Suche nach Geld und Erfolg ist, der verlässt dieser Tage den Mezzogiorno, um sich auf zu machen in ein neues Leben und um vielleicht der Familie zuhause mit dem zurück geschicktem Geld ein wenig das Leben zu erleichtern. So auch mein Vater.

Zusammen mit zwei seiner drei Schwestern, macht er sich mit dem Zug auf den Weg nach Deutschland und kehrt seiner Heimat den Rücken, um dort Arbeit als Handwerker sein Glück, seine Liebe und seine neue Heimat zu finden.

Heute, nach mehr als fünfzig Jahren in Deutschland, ist mein Vater, trotz seines immer noch nicht zu überhörenden Akzents, den man getrost als „italohessisch“ bezeichnen darf, längst mehr Deutscher als Italiener. So verwundert es kaum, dass auch ich mich – nicht nur was meinen Fußballgeschmack angeht – von Italien entfernt habe, sondern auch sonst deutsch denke, rede, handle und fühle. Auch des Italienischen bin ich leider nicht so mächtig wie ich es gern wäre. Ich komme pünktlich zu meinen – meist schon lange vorab per doodle vereinbarten – Terminen, hasse es unnötig aufgehalten zu werden und bin auch ein Freund von pünktlichem, nicht allzu spätem Essen. Außerdem schätze ich es sehr in einem Land zu leben, in dem alles irgendwie geregelt ist. Die nächste Großstadt ist nur wenige Kilometer entfernt und mein Handy bietet mir selbst an den entlegensten Orten Internetzugang. Ich finde das wunderbar.

Oh, wie sehr man sich täuschen kann.

Ein Urlaubsbericht…

Urlaub auf Balkonien?

Heutzutage ist man, besonders in Bezug auf den langersehnten Urlaub, immer auf der Hast nach Neuem, Spannenderem oder Entspannendem. Oder man hat ein kleines Kind von zweieinhalb Jahren. Dann lautet die Anforderung meist nur: Schnell zu erreichen, Platz zum Spielen, kinderfreundlich und möglichst günstig für die Dreiertruppe. Denn was die Preise angeht, ist es aus der Zeit als Paar besonders beim Urlaub noch ein langwieriger Umstellungsprozess zur Familie.

Zu den „Hardfacts“ kommt mancherorts noch der weiche Faktor „Heimatverbundenheit“. Dieser greift von Zeit zu Zeit bei mir und führt mich zurück an die Wurzeln meiner Familie, aber mindestens nach Italien als Ganzes betrachtet.

Mit dieser Faktenlage sitzen nun meine Frau Sabrina und ich an einem verregneten Februarabend zusammen und wälzten Reiseanbieterseiten im Internet, von denen es wohl in keinem anderen Land der Welt mehr gibt als in Deutschland. Mallorca? Zu teuer zu dritt, außer man geht an den Ballermann. Daher disqualifiziert. Eine Fernreise? Erstrecht zu teuer. Campen in Norditalien? Toll, aber wir waren erst im letzten Jahr dort. Und dann diese Schnaken! Gardasee? Zu Deutsch! Das Rippchen bei 25° aus Malcesine lag mir noch lang im Magen. Nordsee? Eines meiner Grundprinzipen beim Sommerurlaub lautet: „Ich möchte schon beim Frühstück schwitzen müssen“. Zum Frieren muss man das Rhein-Main-Gebiet selten verlassen.

Also traue ich mich zu einem ersten Vorstoß: „Du, wir waren doch schon lang nicht mehr…“ Ja, das letzte Mal waren wir dort vor sieben Jahren! Es war schön, aber als Familie? Die Leute sind wunderbar und hilfsbereit, können aber auch sehr vereinnahmend sein. „Bella Figura“ wird immer geboten, aber auch erwartet. So wird etwa unerwähnt vorausgesetzt, dass man möglichst jedem, auch noch so entfernten, Verwandten einen Besuch abstattet. Das kann bisweilen ein urlaubsfüllendes Unterfangen sein. In meiner Kindheit wurden unsere Strandtage durchaus nach anstehenden oder zu absolvierenden Besuchen geplant und fielen daher oft entsprechend kurz aus. Kaum hatte man dann die Runde der Besuche hinter sich, nahte auch schon das Ende eines jeden Urlaubes, und es galt sich nochmal bei allen bereits Besuchten zu verabschieden. Auch hierfür mussten mehrere Tage eingeplant werden. Ebenso reisten wir immer mit bester Abendgarderobe in den Koffern an, falls wir überraschend morgens beim Bäcker spontan auf eine Hochzeit am gleichen Tag eingeladen würden, was nicht selten vorkam und dementsprechend jegliche Tagesplanung verwarf. Manche Cousine von mir weigert sich wegen dieser Verpflichtungen bis heute, teils unter Androhung von Handgreiflichkeiten, das Dorf zu bereisen.

Als Kind musste ich jedes Jahr „nach Hause“, bis ich mich irgendwann in der Pubertät widersetzt hatte. Später, mit meiner jetzigen Frau, sind wir noch zweimal hin gefahren während meine Eltern auch da waren, aber damit hat man dann auch alles gesehen und erlebt (wie wir dachten). Außerdem haben wir nun ein kleines Kind. Wir würden noch mehr in Zwänge geraten, von denen man sich eigentlich im Urlaub erholen möchte. Denn jetzt käme ja auch noch der kleine „Thronfolger“, unser Sohn Matteo, mit.

Das Meer liegt auch nicht gerade um die Ecke, sondern ist erst nach einer gut dreißig minütigen Fahrt zu erreichen. Wenn man es erreicht, angesichts der serpentinenreichen Strecke bis zur Schnellstraße und dem italienischen Fahrstil auf eben dieser. Denn doppelt gezogene Überholverbotsstreifen auf der Fahrbahn werden hier lediglich als Vorschlag, keinesfalls als Regel angesehen. So wird man auch gern von einem Bus überholt, der seinerseits gerade von einem Motorrad überholt wird. Und das alles kurz vor einer Kurve. Dieses Manöver sollte wohl geübt sein, denn der am nächsten stationierte Rettungswagen ist mitunter dreißig Kilometer entfernt.

Andererseits ist die Anreise nicht ganz so beschwerlich wie noch zu meinen Kindestagen. Tausendsiebenhundert Kilometer einfach mit dem Auto! Aber von wegen einfach! Ohne Klimaanlage und mit defektem Radio, dies zu reparieren mein Vater nie als notwendig ansah! Das ganze Auto bis zum Dach bepackt und mit einer Kühltasche voller Lebensmitteln, die ab Basel den Namen schon nicht mehr verdient hatte und entsprechend roch! Heute lockt eine bekannte irische Billigfluglinie mit Flügen unter dreißig Euro ins relativ nahe gelegene Bari und die Kosten der Mietwägen um die letzten zweihundert Kilometer zu überbrücken sind auch überschaubar. Auf diese Weise könnte unser Kleiner zum ersten Mal fliegen und sich auf weitere bevorstehende Fernreisen vorbereiten, so zumindest das Argument und die Hoffnung meiner Frau.

Dazu kommt die Tatsache, dass die Region aus den bereits genannten Gründen alles andere als überlaufen ist. Selbst im Hochsommer sind die Strände nur am Wochenende wirklich voll. Das würde zumindest großes Sandschaufelvergnügen für unseren Sohn garantieren.

Ebenso sind die Preise im Süden moderat. Einen Sonnenschirm mit Liegestuhl bekommt man hier schon ab sieben Euro am Tag und dazu genügend Platz um sich seine Zeitung nicht mit dem Nachbar teilen zu müssen. Ganz anders als an der Adria oder in Spanien. Ganz zu schweigen von den Preisen für einen Kaffee oder einen Wein. Das in Italien seit Jahren fest verankerte „Espresso-Gesetz“ verbietet es gar den Wirten im ganzen Land, mehr als einen Euro für einen Kaffee im Stehen an der Bar zu verlangen. In der Basilikata kostet er nirgends mehr als achtzig Cent. Und auch sonst sind die Lebensmittel hier unglaublich lecker und auch günstig. Wenn man überhaupt zum Einkaufen kommt, dazu aber später mehr.

Unsere zweifelnden Blicke werden entspannter. Sollen wir wirklich?

Ich habe auch noch ein paar Verwandte dort. Nichts was man in Deutschland als direkte Verwandtschaft bezeichnen würde, seit meine Großmutter vor einigen Jahren verstarb. Aber aus Sicht der Menschen dort ist man auch als Cousin zweiten Grades durchaus als direkter Verwandter angesehen und daher wird erstrecht ab und zu eine Stippvisite erwartet. Gerade wenn ein kleiner Stammhalter unlängst geboren, aber noch nicht präsentiert wurde. Eine gewisse leidige Pflicht wäre also mit einem Besuch auch erledigt.

Auch die Unterkunft wäre vorhanden, denn meine Eltern unterhalten dort noch das Haus meiner Großmutter. „Ja, aber dort gibt es keinen Balkon“. Sabrinas Argument schlägt ein wie eine Bombe! Zwar gibt es Balkone an dem Haus, allerdings kennen Italiener – zumindest Süditaliener – Balkonien nicht. Balkone sind nur Mittel zum Zweck. Keinesfalls zur Entspannung gedacht. Auf Balkonen verlängert man die Küche um dort zu grillen, hängt die Wäsche auf – was an unseren Exemplaren noch über eine frühzeitliche Wäscheleine, die über einen Radmechanismus die beiden Balkonen verbindet und dabei herrlich quietscht, funktioniert – oder unterhält sich lauthals mit den Nachbarn. Dort sitzt man jedenfalls nicht. Schon gar nicht um z.B. zu lesen oder etwas zu trinken. Aber wir sind ja Deutsche und dort zu Besuch, so mein Argument. Man würde es uns also kaum übel nehmen wenn wir uns des Abends mit einem Wein niederlassen.