An Ocean Full of Lies (Shattered Magic 2) - Hanna Frost - E-Book

An Ocean Full of Lies (Shattered Magic 2) E-Book

Hanna Frost

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Beschreibung

**Erkenne deinen wahren Feind** Niemals hätte sich Bell vorstellen können, einmal ihre geliebte Heimatinsel hinter sich zu lassen. Doch um ihre Familie zu beschützen, ist sie dem geheimnisvollen und arroganten Neo auf sein Schiff gefolgt. Und auch wenn der Halbgott von Tag zu Tag einen immer größeren Sog auf sie ausübt, bleibt ihr Ziel unvergessen: die Rückkehr der Götter zu verhindern. Das jedoch wird mit jeder zurückgelegten Seemeile immer schwieriger, denn in den Tiefen des Ozeans lauert ein mächtiger Feind, der alles daransetzt, ihre Niederlage heraufzubeschwören. Bell, die schon bald nicht mehr weiß, wem sie in dem göttlichen Spiel um die Herrschaft der Welt vertrauen kann, muss sich entscheiden, für was es sich zu kämpfen lohnt – für ihre Bestimmung oder ihr Herz … Bist du bereit, alles hinter dir zu lassen und dich auf ein knisterndes Abenteuer voller Gefahren, Intrigen und Liebe einzulassen? Textauszug: »Ich fragte mich, ob er das laute Pochen meines Herzens ebenfalls hören konnte. Seinen Herzschlag hörte ich zwar nicht, aber dafür spürte ich, wie auch er mein Gesicht fester umschloss und an sich heranzog. Durch den Kuss war ich so benebelt, dass ich für einen kurzen Moment sogar vergaß, dass ich um ein Haar ertrunken wäre – mal wieder. Dass wir eigentlich hier waren, um eines der Artefakte zu finden, dass Neo ein Halbgott war, der es sogar übers Herz brachte, Familien auseinanderzureißen. Dass er derjenige war, der mir beinah meinen Bruder genommen hätte – und den ich dennoch küsste, als würde mein Leben davon abhängen.« //Dies ist der zweite Band der göttlich-romantischen Dilogie »Shattered Magic«. Alle Bände der Buchreihe bei Impress: -- An Ocean Full of Secrets (Shattered Magic 1) -- An Ocean Full of Lies (Shattered Magic 2) -- Sammelband der göttlich-romantischen Fantasy-Dilogie (Shattered Magic)// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Hanna Frost

An Ocean Full of Lies (Shattered Magic 2)

**Erkenne deinen wahren Feind**

Niemals hätte sich Bell vorstellen können, einmal ihre geliebte Heimatinsel hinter sich zu lassen. Doch um ihre Familie zu beschützen, ist sie dem geheimnisvollen und arroganten Neo auf sein Schiff gefolgt. Und auch wenn der Halbgott von Tag zu Tag einen immer größeren Sog auf sie ausübt, bleibt ihr Ziel unvergessen: die Rückkehr der Götter zu verhindern. Das jedoch wird mit jeder zurückgelegten Seemeile immer schwieriger, denn in den Tiefen des Ozeans lauert ein mächtiger Feind, der alles daransetzt, ihre Niederlage heraufzubeschwören. Bell, die schon bald nicht mehr weiß, wem sie in dem göttlichen Spiel um die Herrschaft der Welt vertrauen kann, muss sich entscheiden, für was es sich zu kämpfen lohnt – für ihre Bestimmung oder ihr Herz …

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Vita

Danksagung

© privat

Hanna Frost wurde 2001 geboren und kann sich rückblickend an keine Nacht erinnern, in der sie nicht heimlich gelesen oder geschrieben hat. Mit 14 Jahren gründete sie ihren eigenen Literaturblog, fünf Jahre später schrieb sie ihr Debüt. Wenn sie nicht gerade an neuen Geschichten tüftelt oder in Tagträumen versinkt, verbringt sie gern Zeit mit ihrem Hund, plant ihre Reise ins All oder widmet sich ihrem Studium – übrigens in genau dieser Reihenfolge.

Every seashell has a story to tell.

Kapitel 1

»Aber wie würde es dir gefallen, wenn ich mir stattdessen deine kleine Freundin vorknöpfe?« Ich glaubte zu ersticken, während mir Narius’ Worte unaufhörlich durch den Kopf geisterten. Instinktiv legte ich mir eine Hand an meinen Hals, der von einem schweren Kloß aus Angst und Panik verstopft wurde. Während ich den Meeresgott aus großen Augen anstarrte, wurde dessen Gesichtsausdruck immer hämischer. »Was ist denn, kleine Bell?«, säuselte er in einem Ton, als würde er mit einem weinenden Kleinkind sprechen. »Gefällt dir mein Vorschlag etwa nicht? Vielleicht hast du Glück und dein Möchtegern-Gott vermag es, dich vor mir zu beschützen. Obwohl, in der Vergangenheit hat das ja auch nicht gerade gut geklappt, oder, Neo?«

»Wage es ja nicht«, knurrte der Halbgott, der immer noch schützend vor mir und Nala stand.

Hektisch sah ich mich in dem versteckten Raum, in dem wir das erste Artefakt gefunden hatten, um. Verdammt – wir saßen in der Falle. Narius und seine Schergen blockierten unseren einzigen Fluchtweg. Als mein Blick zufällig auf Neos Hände fiel, sah ich, wie er sie zu bebenden Fäusten ballte.

»Was soll ich nicht wagen, hm?«, provozierte ihn Narius, wobei sein fieses Grinsen noch breiter wurde. »Willst du mich etwa aufhalten, Neo? Wir wissen doch beide, dass du nicht den Hauch einer Chance gegen mich hast. Meine göttlichen Fähigkeiten sind übermächtig! Ich könnte deine kleine Bell einhändig erwürgen, ihr dünnes Genick in meiner Faust zerbersten lassen wie einen Schneeball oder ihr Köpfchen gegen die Wand schlagen, bis es abfällt. Du bist herzlich eingeladen uns beiden dabei zuzusehen und dich selbst von meiner immensen Macht zu überzeugen!«

Meine Knie wurden weich wie Butter. Ich musste mich mit beiden Händen an Nala festklammern, die schweigend neben mir stand, um nicht zu fallen.

»Oh, Verzeihung, Bell, nimm’s nicht persönlich!«, flötete Narius prompt und schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. Woher kannte dieses Ungeheuer eigentlich meinen Namen?

»Die Frage, was du von uns willst, können wir uns wohl sparen«, ergriff Nala unerwartet das Wort und schob sich ein Stückchen vor mich, wodurch ich den Blickkontakt zu Narius verlor.

»Aber wenn du mein Verlangen kennst, wieso erfüllst du es dann nicht?«, spottete er, doch in seiner Stimme schwang ein ernster Ton mit, der mir die Haare zu Berge stehen ließ. Suchend sah ich mich nach seinem Objekt der Begierde um und entdeckte den Handspiegel der Naturgöttin, das erste der drei Artefakte, hinter dem gläsernen Thron auf dem Marmorboden liegen. Er befand sich noch immer an der Stelle, an der Neo ihn fortgeworfen hatte … Ob ich es wagen sollte, zu ihm hinüberzulaufen? Vielleicht würde es mir ja gelingen, das Artefakt vor Narius zu erreichen und in unseren Besitz zu bringen. Aber vermutlich konnte der Gott viel schneller rennen als ich …

Als hätte er meine Gedanken gehört, räusperte er sich laut. »Ich plaudere ja wirklich gern mit euch Sterblichen, aber meine göttlichen Geschwister warten darauf, dass ich sie aus ihrem Stubenarrest befreie und die Welt unterwerfe. Darum gewähre ich euch nun eine letzte Chance, mir das Artefakt freiwillig zu übergeben. Entweder das oder ihr werdet in diesen alten Gemäuern euren Tod finden.«

»Vergiss es!«, zischte Nala, während sie meine Hand losließ und sich mit gezücktem Säbel neben Neo stellte.

Unbekümmert zuckte Narius mit seinen Schultern. »Ihr habt keine Chance.«

So überzeugt, wie seine Stimme klang, wurde mir ganz schwindelig vor Angst. Hektisch sah ich mich erneut nach dem Artefakt um, aber ich –

»Na, kleine Bell? Möchtest du auf dem Thron Platz nehmen, weil deine Knie vor Angst schlottern, oder warum siehst du dich andauernd um?« Der Spott in der Stimme des Meeresgottes war unüberhörbar. »Komm, setz dich ruhig! Du darfst gern aus erster Reihe mitansehen, wie ich deine Freunde in Grund und Boden stampfe.«

Ich stockte. Natürlich wollte mich der Meeresgott nur zur Närrin machen, aber eigentlich kam mir seine spöttische Aufforderung sehr gelegen. Schließlich war sie der perfekte Vorwand, um in die Nähe des Spiegels zu gelangen … »Vielen Dank«, nuschelte ich und ließ zu, dass Narius über mein scheinbar naives Wesen lachte, während ich auf den Thron zueilte. Artig setzte ich mich. Das Gelächter des Gottes war so kräftig, dass ich mir einbildete, der Thron würde beben.

»Ach, ihr Sterblichen seid so furchtbar amüsant! Wie schade, dass ich die Mehrheit von euch töten muss.« Als Narius seinen Kopf in den Nacken legte und seinen langen Hals präsentierte, blickte ich zu Neo hinüber. Unsere Blicke trafen sich. Wir teilten denselben Gedanken. Keinen Wimpernschlag später stürmte Neo auf den Gott zu und schwang seine Klinge in die Richtung seines Halses. Narius’ Lachen verstummte, doch leider gelang es ihm, im entscheidenden Moment einen Schritt zurückzutaumeln. Die Klinge des Säbels verfehlte seinen Kehlkopf um Haaresbreite und streifte stattdessen nur seine Brust. Unverzüglich holte Narius zum Gegenschlag aus. Eine Wassersäule schoss aus dem Boden empor, traf Neos Oberkörper und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die dahinterliegende Wand, dass ich hörte, wie der Stein bröckelte. Erschrocken japste ich nach Luft und sprang auf. Was sollte ich nur tun? Erstarrt beobachtete ich, wie Nala ebenfalls zum Angriff ausholte – doch ehe sie auch nur in die Nähe des Gottes kommen konnte, wurde auch sie von einer Wassersäule erfasst und durch den Raum geschleudert. Hilfesuchend sah ich mich um, doch die Kämpfenden waren so miteinander beschäftigt, dass mir keiner von ihnen einen Blick widmete. Ich musste meinen Freunden helfen – aber wie?! Zum Kämpfen war ich zu schwach, um Hilfe zu holen zu langsam … doch dann kam mir plötzlich der rettende Einfall. Unauffällig machte ich einen Schritt zur Seite. Und noch einen. Und noch einen. Dann huschte ich hinter den Thron, warf mich auf den Boden und robbte auf den Spiegel zu.

In meinen Ohren dröhnten währenddessen die Geräusche des Kampfes. Das Rauschen von Wasser vermischte sich mit Flüchen und Ausdrücken, für die mich meine Großmutter zum Kartoffelschälen verdonnert hätte.

Immerhin rückte der Spiegel nun in greifbare Nähe. Ich streckte meine Hand danach aus und umfasste den rosenverzierten Griff. Das Gold fühlte sich unnatürlich kühl an, beinahe schon eisig. Mit einer Mischung aus Angst und Neugierde blickte ich auf das Artefakt hinab, für das die Götter über Leichen gingen. Ich sah in ein blasses Gesicht, das von zerzaustem Haar eingerahmt wurde. Die Pupillen der jungen Frau waren riesig und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie sah mir verblüffend ähnlich, war aber doch so fremd. Wie eine Zwillingsschwester, deren bewegtes Leben sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Stutzig griff ich in mein eigenes kurzes Haar, das sich anfühlte, als würde ich in ein Vogelnest fassen. Zeitgleich imitierte mich die Frau im Spiegel. War sie etwa doch mein eigenes Spiegelbild? Gehörten diese müden Augen wirklich zu meinem Gesicht?

Mir blieb keine Zeit, mein Abbild weiter zu begutachten, denn das Glas nahm unvermittelt eine merkwürdige Färbung an. Nebelschwaden zogen darin auf und ließen mein Spiegelbild verschwimmen. Als sich die Wolken lichteten, erkannte ich einen weißen Sandstrand – meinen Sandstrand. Im Hintergrund erhob sich der einsame Berg meiner Heimatinsel, davor erblickte ich einige Häuschen. Ehe ich mir alle Details ansehen konnte, veränderte sich das Bild erneut. Als ich unser abgelegenes Haus auf der Düne erblickte, drohte mein Herz vor Freude überzuquellen – nur um im nächsten Moment beinahe vor Schmerz zu zerspringen, weil mir der Spiegel plötzlich ein Gesicht vorhielt, das ich nur allzu gut kannte. Schlagartig wurde mir bewusst, welche meiner Erinnerungen das Artefakt ausgewählt hatte, um mich in die Knie zu zwingen. Es zeigte mir den Teil meiner Vergangenheit, den ich schmerzlich verdrängt hatte. Zumindest hatte ich das angenommen – doch nun brannte sie wie die frische Bisswunde eines Haies.

»Nein«, hauchte ich erstickt und schüttelte den Kopf. Mit einem Mal konnte ich spüren, wie die warmen Sonnenstrahlen des damaligen Tages meine Haut erwärmten. Wie die Meeresluft durch mein Haar strich und mir den Geruch nach Salzwasser in die Nase trieb. Ich hörte sogar die Melodie des Meeres, die so laut war, dass die Geräusche des Kampfes um mich herum verstummten. Es kam mir so vor, als wäre ich durch ein magisches Portal hindurch in eine andere Welt getreten.

Schon wieder geriet das Bild im Glas des Spiegels in Bewegung. Ich starrte in ein Gesicht, das meine Augen trug; allerdings gehörte es weder mir noch meinen Geschwistern. Das blonde Haar, fast so hell wie der Sand unter unseren Füßen, wehte dem erwachsenen Mann um den Kopf. Augenblicklich fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Schweißperlen traten mir auf die Stirn und meine Hand begann so sehr zu zittern, dass ich kaum noch das Bild erkennen konnte, das mir der Spiegel zeigte. Allerdings musste ich es auch gar nicht zwingend mit eigenen Augen sehen, denn die Erinnerung war so fest in meinem Verstand verankert, dass ich auch blind in der Lage war, jedes Detail gedanklich abzurufen.

Mit zusammengepressten Lippen verfolgte ich, wie sich das Gesicht des Mannes im Spiegel zu einer bedauernden Grimasse verzog. Meine weinende Mutter stand neben ihm und sah zu ihm auf, presste sich eine Hand auf den Mund und schüttelte vehement den Kopf, während der Kerl, der Albtraum meiner Kindheit, leise auf sie einredete. Ihre andere Hand lag währenddessen auf der kleinen Wölbung ihres Bauches …

Plötzlich spürte ich, wie Phil neben mir nach meiner Hand griff und unsere Finger miteinander verschränkte. »Ich wusste es«, erklang die Stimme meines kindlichen Selbst, »ich habe es gewusst, Phil.«

»Ich nicht«, erwiderte er leise. »Aber vielleicht wird er eines Tages wieder zu uns zurückkehren. Wir sollten nicht –«

»So wie er es in den letzten Jahren Dutzende Male getan hat?«, zischte ich wütend und entriss Phil meine kleine Hand. Wütend stampfte ich durch den Sand und trat neben meine Mutter. Ich fixierte das Gesicht des Mannes, der meine Augen trug, während ich ihm die hasserfülltesten Worte entgegenschrie, die ich damals aufbringen konnte: »Ich will dich nie wiedersehen, verstehst du? Scher dich davon und komm niemals zu uns zurück, du gemeiner Verräter! Wir brauchen dich nicht!«

»Bell!« Unheimlich, dass ich mich noch immer so genau daran erinnerte, wie geschockt meine Mutter in diesem Moment geklungen hatte. Vermutlich hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht gewusst, dass ich überhaupt zu einer so negativen Emotion wie Hass fähig war. Vor und nach diesem schicksalhaften Tag hatte sie mich nie wieder so ungehalten erlebt …

Während sich der Tränenschleier vor meinen Augen verdichtete und mein Magen anfing zu schmerzen, als hätte ich verdorbenes Essen verschlungen, zeigte mir der Spiegel, wie mein Kindheits-Ich zu meiner Mutter herumfuhr. »Was? Bist du wirklich so leichtgläubig, Mutter? Es war doch klar, dass er uns das antun würde!« Wut und Verzweiflung rauschten durch meine Adern, während ich mich zu dem bekannten Gesicht umwandte. Der Schmerz, den ich bei seinem Anblick empfand, wurde mit jeder Sekunde unerträglicher. Ein leises Wimmern stahl sich über meine Lippen. »Verschwinde von hier!«, sprach ich die Worte aus meiner Vergangenheit leise mit. »Ich will dich nie wiedersehen, hörst du? Für mich bist du gestorben!«

Als hätte jemand den Korken gezogen, platzten die Gefühle ungebremst aus mir hervor. Mein ganzer Körper zog sich vor Schmerzen zusammen, während mir so heiß wurde, als hätte ich Fieber.

Ich war so dumm gewesen. So naiv. Hatte ich mir doch tatsächlich eingeredet, diese Erinnerung losgelassen zu haben. Was für ein Irrtum – denn ganz offensichtlich hatte ich gar nichts verkraftet. Das Artefakt hielt meinem Gewissen sprichwörtlich den Spiegel vor.

Meine Tränen ließen feuchte Streifen auf meiner Haut zurück. Kein Wunder, dass das Artefakt ausgerechnet diese Erinnerung ausgewählt hatte, um mich an meine Grenzen zu bringen. Nichts könnte jemals den Schmerz übertreffen, den ich empfunden hatte, als … als mein Vater … Ich schloss die Augen. Auch nach all den Jahren war ich noch immer zu feige, um mich meinem Gewissen zu stellen. Auf der Suche nach Halt klammerten sich meine Finger fester an den kühlen Griff des Spiegels, jedoch vergebens. Seufzend schlug ich meine Augen wieder auf und blickte durch das Glas hindurch auf das Gesicht meines Vaters, der sich mit unergründlicher Miene abwandte und wortlos davonging. Ich will dich nie wiedersehen … mein damaliger Wunsch hatte sich erfüllt – doch zu welchem Preis? Würde ich es wagen, ihn aus heutiger Sicht erneut auszusprechen? Kopfschüttelnd versuchte ich mein schlechtes Gewissen loszuwerden. Es kam mir vor, als würde ich mich wieder in diesem furchtbaren Strudel aus Zweifeln und Reue befinden, aus dem ich mich damals so mühsam befreit hatte. Was hätte es für einen Sinn, sich die gleichen quälenden Fragen erneut zu stellen? Ob mein Wunsch dazu beigetragen hatte, dass ich meinen Vater nie wiedergesehen hatte, ob er noch lebte oder nicht … all das lag außerhalb meines Einflussbereiches. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, was hätte sein können. Was geschehen war, konnte ich sowieso nicht mehr rückgängig machen. Nie wieder. Und eigentlich hatte ich dieses Kapitel schon vor langer Zeit geschlossen …

Ich holte tief Luft. Als ich meinen Atem seufzend ausstieß, lockerten sich meine Schultern. Es war vorbei. Ich musste meinen Frieden finden und mit meiner Vergangenheit abschließen. Ich musste heilen. Und kaum hatte ich diesen Entschluss verinnerlicht, verebbte der Schmerz in meinem Körper. Nun fühlte ich mich nur noch seltsam taub. So als hätte ich einen zu großen Schluck von Großmutters Schlaftrank genommen. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass der Nebel in meinem Kopf die schreienden Gedanken dämpfte und größtenteils verstummen ließ … Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht eines Tages wieder wie eine Sturmflut über mich hereinbrechen würden.

Als ich erneut in den Spiegel blickte, wirkte die Mimik meines Spiegelbildes abgeklärt, doch ehe ich mich darauf besinnen konnte, was um mich herum gerade geschehen war, verschwand mein Ebenbild und wurde von einer schnörkeligen Schrift ersetzt. Stirnrunzelnd betrachtete ich die Zeilen.

Suche auf dem berühmten Markt nach mir, doch erwarte nicht, dass du mich dort finden wirst. Wo der Mond im Dreieck steht, dort liege ich, aber suche nicht am Himmelszelt. Ich mag eine Waffe sein, jedoch verabscheue ich den, der mich gegen seinesgleichen richtet. Nur wer mich ohne böse Absichten aufsucht, dem öffne ich mein Herz. Kannst du mich finden?

Stirnrunzelnd legte ich den Kopf schief. Was sollte das denn schon wieder bedeuten? Worauf wollte dieser Spiegel hinaus? Ich hatte gedacht, er wäre das Artefakt, nach dem wir suchten … Warum sollte ich denn nun auch noch nach einem Mond im Dreieck Ausschau halten?

Ehe ich genauer über die rätselhaften Zeilen nachdenken konnte, ließ mich ein lautes Poltern aufschrecken. Ich fuhr herum und blickte an der hohen Lehne des Thrones vorbei auf ein paar hässliche Kreaturen, die sich um Narius herum versammelt hatten. Ihre schleimigen Körper schimmerten im Licht der Fackeln und der Gestank nach modrigen Algen zog in meine Nase. Bei diesem Anblick jagte mir einen furchtbaren Schauer über den Rücken – Untote!

»Schaltet die anderen Männer aus und sucht nach dem verdammten Artefakt!«, donnerte die Stimme des Meeresgottes durch das Gewölbe, während er eine weitere Wassersäule beschwor, die Neo und Nala von den Füßen riss. »Ihr dürft euch auch am Halbgott und der Leserin austoben, aber deren Tötung steht ganz allein mir zu, klar?«

Sofort schwärmten die Untoten aus und durchkämmten den Raum. Erschrocken japste ich nach Luft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, ehe mich jemand hinter dem Thron entdecken würde. Mein Blick fiel auf den Spiegel, den ich noch immer fest umklammert hielt. Wenn Narius mich so sehen könnte, würde er mir den Kopf abreißen. Hastig legte ich das Artefakt auf den Boden und betastete meinen Körper, doch zu meinem Unglück trug ich weder eine Waffe noch hatte ich etwas bei mir, worin ich den Spiegel verstecken konnte. Panisch sah ich mich um. Mein Herzschlag erschien mir dabei so laut wie das Donnern nach einem schweren Blitzeinschlag. Wenn die Untoten auch nur über ein halbwegs fähiges Gehör verfügten, würden sie sicherlich ebenfalls hören können …

Auf der Suche nach einem Ausweg blickte ich erneut an meinem Körper hinab. Gut, dann musste eben eine Notlösung her! Ohne weiter darüber nachzudenken, knöpfte ich meine Bluse bis zum Bauchnabel auf und schob den Spiegel hinein. Ich legte ihn etwas schief, sodass der Griff in mein linkes Hosenbein rutschte und der Spiegelkopf an meinem Bauch lag. Das kalte Glas hinterließ ein unangenehmes Gefühl auf meiner Haut, doch in Anbetracht dessen, was mich erwartete, wenn Narius mich fand, war dieses Schaudern eindeutig das kleinere Übel. Hastig tastete ich nach den Knöpfen und versuchte meine Bluse wieder zu verschließen. Anschließend schnallte ich meinen Gürtel enger, um den Spiegel zu fixieren. Plötzlich spürte ich einen heißen Atem auf meiner Schulter. Mein Körper erstarrte.

»Wen haben wir denn da?« Mit bebenden Lippen drehte ich mich zu der Bestie um, die direkt hinter mir stand und mich aus ihren senkrecht stehenden Augen musterte.

Das riesige Maul wirkte genauso überdimensional, wie ich es in Erinnerung hatte. Trocken würgte ich meinen Speichel hinab. »D…du weißt, dass du mir nicht wehtun darfst, oder?«

Lauernd neigte der Untote seinen riesigen Kopf. »Ach ja? Und wieso darf ich das nicht?«

»Hast du deinem Herrn etwa nicht zugehört? Er sagte doch, dass Neo und Nala ihm gehören. Und da ich Nala bin, darfst du mich nicht angreifen.«

Glucksend neigte die Kreatur ihren Kopf zur Seite. »Ich habe ihm sehr wohl zugehört, Sterbliche. Darum weiß ich auch, dass ich dich zwar nicht töten darf, Leserin, aber alles andere darf ich durchaus.« Kaum hatte er ausgesprochen, streckten sich seine knochigen Finger nach meiner Kehle aus.

Was sollte ich nur tun? Mich wehren? Weglaufen? Schreien? Ich hatte noch immer keine Antwort auf meine Frage gefunden, als plötzlich die echte Nala hinter dem Untoten auftauchte. Ohne zu zögern, rammte sie ihm die Klinge ihres Säbels in den Hinterkopf. Der Untote stieß einen hellen Schrei aus und sackte augenblicklich in sich zusammen.

Aus großen Augen beobachtete ich, wie sich sein Körper verflüssigte und als kleine Wasserpfütze endete. »Danke …«

Etwas grob packte Nala mein linkes Handgelenk und zog mich auf die Beine. »Komm, wir müssen hier weg. Sofort!« Während sie unverzüglich loslief und uns einen Weg zu Neo vorkämpfte, stolperte ich nur ungeschickt hinterher. Er und Narius lieferten sich gerade einen erbitterten Schlagabtausch, bei dem sie immer wieder Wassersäulen beschworen und gegeneinanderschlugen. Bei diesem Anblick wurde mir ganz übel. Wer hatte gedacht, dass ich eines Tages mit eigenen Augen sehen würde, wie sich zwei Götter bekämpften? Ich definitiv nicht. Und einer von beiden lag mir auch noch ganz schön am Herzen …

»Neo, komm!«, schrie Nala dem Halbgott zu, während wir an ihm vorbeirauschten.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er eine gewaltige Wasserwand auf Narius warf, die so stark war, dass sie den Gott für einen Moment von den Füßen fegte. Wir nutzten die Gelegenheit, um einen Vorsprung zu erhaschen und zu fliehen. Der Anblick, der sich mir bot, als wir die Haupthalle erreichten, ließ mir allerdings das Blut in den Adern gefrieren. Überall lagen die bewegungslosen Körper unserer Männer auf dem kalten Marmorboden. Zwischen ihnen zierten Dutzende Pfützen den Boden und tränkten ihre Kleidung. Gelähmt starrte ich auf die Katastrophe, die sich vor mir ausbreitete. Waren sie … waren sie alle tot? Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Neo das Wasser aus den Pfützen aufsteigen und auf die Untoten, die noch immer mit unseren verbliebenen Männern kämpften, niederschlagen ließ.

»Lauft in den Gang dort hinten«, rief Nala ihnen zu, während sie an mir riss, »dort muss es noch einen weiteren Ausgang geben!«

»Aber Nala, die Männer –«, hauchte ich und deutete auf die Bewegungslosen am Boden, doch Nala schüttelte nur knapp den Kopf und zog mich mit sich.

»Wir können ihnen nicht mehr helfen, Bell. Jetzt geht es nur noch darum, diesen verfluchten Tempel zu verlassen – mit so vielen Überlebenden wie möglich.«

Das Getrampel unserer Schritte wurde durch die Wände verstärkt und hallte durch das hohe Gewölbe, hinter uns erklangen die Schreie der Untoten und das Rauschen von Wasser. Ich vermutete, dass sie uns dicht auf den Fersen waren, und beschleunigte meine Schritte, doch plötzlich blieb ausgerechnet Neo, der sich zuvor an die Spitze unserer Gruppe gekämpft hatte, abrupt stehen. Instinktiv wollte ich es ihm gleichtun, aber Nala zerrte mich weiter.

»Nicht stehen bleiben, Bell!«

»Aber Neo –«

»Er hat das im Griff.«

»Bist du dir sicher? Und wenn doch etwas schiefgeht?«

»Du hast doch gehört, dass Narius nicht vorhat ihn umzubringen, oder? Neo wird schon klarkommen.«

Entrüstet blieb ich stehen und zwang Nala es mir gleichzutun. Ihr Blick wirkte genervt, aber davon ließ ich mich nicht einschüchtern – nicht, wenn es um Neo ging. »Und du glaubst, dass Narius dieses Versprechen unter allen Umständen einhält? Selbst wenn er ihn nur gefangen nehmen sollte, wäre das eine Katastrophe! Wir müssen Neo helfen!«

Seufzend verdrehte Nala die Augen und nahm mein Gesicht in ihre Hände, um es in die Richtung zu drehen, aus der die Schreie der Untoten erklangen. Sehen konnte ich jedoch keinen von ihnen, denn Neo hatte eine Wasserwand aufgetürmt, die fast bis zur Decke reichte. Ob das ausreichen würde, um die Schergen des Meeresgottes aufzuhalten?

Prompt drehte sich Neo zu uns um. Als sich unsere Blicke trafen, verfinsterte sich der Ausdruck seiner leuchtenden Augen. »Verdammt, wieso steht ihr hier noch rum?!«

»Weil Bell meinte, sie könnte dir behilflich sein«, spottete Nala, was dazu führte, dass ich mir mit einem Mal dumm vorkam. Sie hatte recht – was konnte ich schon ausrichten? Während Neo die Wasserwand aufrecht erhielt und zu uns aufschloss, wurden seine Lippen trotz meiner naiven Aktion von einem sanften Lächeln geziert. »Das ist lieb von dir, Bell. Aber glaubst du wirklich, dass es mein Ego zulassen würde, mich noch ein weiteres Mal von dir retten zu lassen?«

Meine Mundwinkel zuckten. »Nein, vermutlich nicht.«

Ehe er etwas erwidern konnte, ertönte plötzlich ein Ruf aus der Richtung unserer Männer, die uns mittlerweile ein gutes Stück vorausgeeilt waren. »Nala, wir haben den Ausgang gefunden!« Ohne zu zögern, drehten wir um und rannten in seine Richtung.

»Wieso sind wir eigentlich nicht über diesen Eingang in den Tempel eingedrungen?«, keuchte ich atemlos.

»Weil es kein Eingang ist, sondern nur ein Ausgang«, erwiderte Nala knapp. »Der Mechanismus lässt sich nur von innen öffnen, mal ganz davon abgesehen, dass wir ihn von außen wahrscheinlich gar nicht entdeckt hätten.«

Wir bogen um eine scharfe Ecke und gelangten in einen breiten Seitengang. Die anderen Überlebenden unserer Gruppe hatten sich bereits vor einer hohen Strickleiter versammelt, die säulenartig gen Decke ragte. Allein ihr Anblick reichte, um die Welt um mich herum kreisen zu lassen. Die verdammte Strickleiter war mindestens so hoch wie unser Hauptmast; der Mast, den ich gerade mal bis zur Hälfte erklimmen konnte, ehe meine Knie weich wurden und die Panik meine Brust einschnürte. Das würde ich niemals schaffen! Panisch sah ich mich nach Neo um. Er stand neben mir und blickte mitleidig auf mich herab, während er vorsorglich seinen Säbel kreiste. Vermutlich teilten wir die gleiche Befürchtung.

»Du schaffst das, Bell«, raunte er dennoch und stupste mir seinen Ellenbogen in die Seite.

»Du musst es schaffen«, ergänzte Nala. »Entweder das oder Narius wird dich einen Kopf kürzer machen.«

Ihre Worte verursachten mir Bauchschmerzen. Ich legte mir eine Hand auf mein Dekolleté und versuchte ruhig zu atmen. Unter meiner Handfläche spürte ich das gehetzte Pochen meines Herzens. Wenn das so weiterging, würde ich bald vor Erschöpfung umfallen.

»Also gut, die Jüngsten und Bell gehen zuerst«, wies Nala an und deutete in Richtung Decke, allerdings erkannte ich nur Schwärze.

Die Leiter wurde in einigen Metern Höhe von der Finsternis verschluckt und nur die Götter wussten, was dort oben auf uns lauerte. Mein Körper erschauderte.

Während ich beobachtete, wie die Jüngsten unserer Mannschaft die morschen Leiterhölzer erklommen, wurde meine Mundhöhle staubtrocken.

»Komm, Bell, hoch mit dir.«

Ehe ich reagieren konnte, nahm Neo meine Hand und führte mich zur Strickleiter. Wir hatten sie beinahe erreicht, als ich abrupt anhielt und zu ihm aufschaute. »Ich sollte als Letzte gehen.«

»Du hättest keine Chance gegen Narius. Du musst jetzt gehen und dich in Sicherheit bringen, Bell.«

»Und wenn ich es nicht schaffe und auf der Hälfte hängen bleibe? Ich würde euch alle aufhalten!«

»Du wirst nicht hängen bleiben.«

»Das kannst du nicht wissen. Unseren Mast konnte ich bisher auch noch nicht hochklettern, schon vergessen?«

Seufzend deutete Neo ein paar Männern vor uns auf die Leiter zu steigen. Er nahm mich etwas beiseite, dann griff er nach meinen Schultern und beugte sich so dicht an mein Gesicht heran, dass sein warmer Atem meine Nase kitzelte. »Bell, du musst jetzt gehen. Du kannst dich diesmal nicht drücken oder auf halber Strecke umkehren, verstehst du das? Im Gegensatz zu unseren Übungen auf dem Schiff gibt es weder ein Sicherheitsseil noch einen zweiten Versuch. Jetzt muss es gelingen, Inselmädchen – jetzt oder nie.«

Obwohl ich davon überzeugt war, auch dieses Mal wieder zu versagen, nickte ich. Neo schenkte mir ein ermutigendes Lächeln und klopfte mir auf die Schulter. »Glaub an dich und dein Können, Bell. Ich tue es schließlich auch.«

Tatsächlich ließen seine Worte die zweifelnden Gedanken in meinem Kopf etwas leiser werden. Die Zuversicht in Neos Augen war so ansteckend, dass ich tief durchatmete und entschlossen auf die Strickleiter zustapfte. Ich schaffe das! Ich schaffe das, ich schaffe das, ich schaffe das!

Als ich nach einer Sprosse griff, zeugte mein fester Griff von Entschlossenheit. »Jetzt oder nie, Bell«, flüsterte ich so leise, dass nur ich es hören konnte. »Jetzt oder nie.«

Während ich an der wackeligen Leiter hinaufkletterte, zählte ich in jede erklommene Stufe mit und feierte sie wie einen Etappensieg. Erst waren es nur fünf. Dann sechs. Zehn. Zwanzig. Dreißig. Doch gerade, als ich mich über die fünfzigste Sprosse freuen wollte, riss mich ein ohrenbetäubender Knall aus dem Konzept. Erschrocken hielt ich inne und blickte mich um; ein Fehler, der meiner Zuversicht das Genick brach. Denn als ich in die Tiefe hinabsah, begannen meine Hände binnen eines Wimpernschlages so schwitzig zu werden, dass ich um Halt bangen musste.

»Kletter weiter!«, schrie mir Nala aus einiger Entfernung zu, doch mein Körper schien mit einem Mal Wurzeln geschlagen zu haben. Mit geöffneten Lippen beobachtete ich, wie Neo und Narius am Fuße der Leiter miteinander kämpften. Soweit ich das von hier oben aus beurteilte, gingen die Angriffe eher von dem Meeresgott aus, während Neo nur versuchte diese bestmöglich abzuwenden. Ob er sich seine Kraft einteilen wollte und deshalb so zurückhaltend war? Oder lag es daran, dass seine Kraftreserven bereits erschöpft waren?

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr mich plötzlich eine Stimme unter meinen Füßen an.

Als ich hinabblickte, sah ich in die zornigen Augen eines Mannes, dem ich zuvor noch nicht begegnet war. »Beweg dich gefälligst, Weib, wir wollen nicht deinetwegen sterben!«

»Aber … aber Neo …«

»Hör mir gut zu, Mädchen: Es interessiert mich einen Scheiß, woher du kommst oder wer du überhaupt bist. Wenn der Käpt’n dich dabeihaben will, wird’s wohl Gründe geben. Aber wenn du deinen Hintern nicht wieder in Bewegung setzt und zügig nach oben kletterst, werde ich dich hinunterschubsen. Hast du das verstanden?«

Zwar erreichten seine Worte meinen Kopf, doch trotz seiner Drohung konnte ich ihn nur bewegungsunfähig anstarren. »Aber –« Meine Stimme wandelte sich zu einem spitzen Schrei. Der Mann hatte tatsächlich meinen Knöchel gepackt und von der Sprosse gezogen. Unter meiner Fußsohle spürte ich nichts als endlose Leere …

»Lass das!«, schrie ich panisch und zappelte mit meinem Bein, doch der feste Griff lockerte sich kein Bisschen.

»Entweder du kletterst sofort weiter oder ich schnappe mir auch deinen anderen Fuß!« Die bösartige Stimme ließ keinen Platz für Interpretationen – der Kerl meinte es todernst.

»Bell, jetzt mach schon!«, stimmte nun auch Nala in die Diskussion ein, allerdings klang ihre Stimme nach wie vor ein ganzes Stück weit entfernt. Ich traute mich jedoch nicht hinabzusehen, um nach ihr zu suchen. Stattdessen stiegen mir Tränen in die Augen, während ich mit zitternden Händen nach der nächsthöheren Sprosse griff, um meinen Aufstieg widerwillig fortzusetzen.

Kaum machte ich Anstalten hinaufzustiegen, gab der Mann meinen Knöchel frei. »Ganz genau, immer schön weiterklettern«, blaffte er unfreundlich, doch ich hatte keinen Nerv, mich länger mit ihm auseinanderzusetzen. Der Aufstieg erforderte nicht nur all meine Kraft, sondern auch all meine Konzentration.

Erstaunlicherweise schaffte ich es trotz meiner schweißnassen Hände und meiner zitternden Knie, immer höher hinaufzuklettern. Aber auch wenn ich äußerlich gefasst wirkte, tobte in meinem Inneren ein Orkan. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Was, wenn Neo es nicht schaffte? Die Kampfgeräusche waren in den letzten Minuten immer lauter geworden … Einerseits war dies bestimmt ein gutes Zeichen, weil es bedeutete, dass Neo dem Meeresgott standhielt – doch gleichzeitig fragte ich mich, wie lang er dieser überlegenen Kraft noch etwas entgegenzusetzen hatte.

Meine Angst trieb mich immer schneller voran. Ich blendete das Beben der Leiter aus, ebenso wie die Höhe und die lauten Geräusche um mich herum. Es war, als würde mein Körper dem Willen einer höheren Macht folgen. Mechanisch bewegten sich meine Gelenke und Muskeln, trugen mich immer höher und höher die Leiter hinauf. Plötzlich fiel ein Streifen Tageslicht auf meine Finger. Ich konnte es kaum glauben, doch ich sog tatsächlich den Geruch nach Bäumen und Gräsern ein. Endlich erreichte ich die geheime Luke, die die Männer vor mir bereits geöffnet hatten. Meine Unterarme zitterten vor Anstrengung, während ich mich durch das Loch im Boden aus dem unterirdischen Gemäuer zog.

Als ich aufsah, blickte ich die erschöpften Gesichter der Jungen, die vor mir die Leiter erklommen hatten. Sie halfen mir auf und zogen mich ein Stück zur Seite, damit die Männer hinter mir ebenfalls hinausklettern konnten. Einige von ihnen liefen in den Wald hinein und riefen Namen, die ich nicht kannte. Fragend wandte ich mich an einen der Jungen. »Sie suchen nach der Truppe, die zusammen mit Kai oben geblieben ist, während wir im Tempel waren«, erklärte er mit bebender Stimme.

Ich nickte knapp, zu mehr war ich momentan nicht imstande. Meine Beine zitterten so stark, dass ich befürchtete, sie würden jeden Moment zusammenklappen wie ein Kartenhaus.

Während ich beobachtete, wie weitere Männer aus der Luke im Boden kletterten und sich in der Nähe sammelten, wurde der Stein in meinem Magen immer schwerer, denn von Nala und Neo fehlte jede Spur. Die zeitlichen Abstände zwischen den Neuankömmlingen vergrößerten sich, bis schließlich sogar mehrere Minuten vergingen, ehe ein dunkler Haarschopf erschien.

»Nala!« Sofort stürmte ich auf sie zu, packte sie an den Armen und half ihr dabei, sich auf den Erdboden zu ziehen. Kaum ließ ich sie los, sackte sie zusammen und rollte sich auf den Rücken. Im Gegensatz zu ihrem bebenden Brustkorb kam meine Atmung beim Anblick ihres Körpers zum Stillstand. Ich öffnete meine Lippen, doch während ich mich neben sie in das weiche Moos kniete, drang kein Laut aus meiner Kehle hervor. Ungläubig starrte ich auf die dunkelrote Wunde, die in ihrem Bauch klaffte. Stöhnend legte sie sich eine Hand darauf, doch die Verletzung war so groß, dass ihre Handfläche nicht in der Lage war, alles zu verbergen. »Nala«, hauchte ich entsetzt und griff nach ihrer Hand, »wie konnte das passieren?« Obwohl meine Augen genauso fest an Nalas Wunde klebten wie das Blut an ihrer Kleidung, begriff mein Verstand einfach nicht, was ich dort sah. Nala war eine Kriegerin. Sie war die mutigste, stärkste Frau, der ich jemals begegnet war. Es kam mir irrational vor, dass ausgerechnet sie so stark verwundet worden war. Den Kampf mit dem Riesenkraken hatte sie weggesteckt, als hätte sie sich lediglich mit einer Katze duelliert. Wenn die Untoten und Narius in der Lage waren, selbst ihr so schwer zuzusetzen … gab es dann überhaupt noch Hoffnung auf einen Sieg?

»Was ist passiert?«

Als ich Kais Stimme hörte, fuhr ich augenblicklich hoch und suchte seinen Blick. Kaum fand er den meinen, erblasste sein Gesicht.

»Verdammt!« Ohne zu zögern, stürmte er auf uns zu und hockte sich neben mich auf den weichen Waldboden. »Ich brauche sofort die Medizintasche!«, wies er seine Männer an, ehe sein Blick kurz zu mir zuckte. »Bist du unversehrt?«

Ich nickte knapp. »Aber Neo ist noch da unten.«

»Narius hat ihm den Weg –«, versuchte Nala uns zu sagen, doch ihre Stimme brach bereits nach wenigen Worten. Mir fiel unterdessen auf, dass sich immer mehr Männer um uns herum versammelten. Ein breites Stoffband wurde Kai gereicht, genauso wie kleine Tiegel mit duftenden Cremes und Flüssigkeiten. Um ihnen nicht im Weg zu stehen, erhob ich mich und trat einen Schritt zurück. Nala war in guten Händen. Es gab sowieso nichts, was ich für sie tun konnte. Kai würde ihr schon zur Seite stehen – doch wer würde Neo helfen? Unauffällig schlich ich zu der Luke zurück, die in das Innere des Tempels führte. Ich beugte mich hinab und schaute in die Dunkelheit. Dumpfe Geräusche drangen an mein Ohr, doch ich konnte nicht genau bestimmen, wer oder was sie verursachte. Nervös blickte ich wieder zu den anderen, die immer noch um Nala herumstanden.

Als Kais Blick den meinen traf, weiteten sich seine Augen. »Das ist keine gute Idee, Bell«, warnte er mich und richtete sich etwas auf, um mich besser sehen zu können. »Bleib du lieber hier bei Nala, ich kümmere mich gleich um Neo!«

Unschlüssig legte ich eine Hand auf meinen Bauch. Das kühle Gold des Spiegelgriffes spürte ich sogar durch den Stoff meiner Bluse hindurch. Ob Narius sich auf einen Handel einlassen würde – das Artefakt für Neos Leben?

»Bell, komm her!«, hörte ich Kais Stimme, die deutlich ungeduldiger klang als zuvor.

Für einen Wimpernschlag huschte mein Blick zu ihm hinüber. Mir war bewusst, dass ich wenig gegen den Gott des Meeres ausrichten konnte. Sollte er Neo bereits in seiner Gewalt haben, wäre ich machtlos. Dennoch verlangte mein Herz danach, erneut in die Tempelanlage hinabzusteigen. Ich konnte Neo nicht allein lassen. Vielleicht würde ich ihm nicht helfen können, aber untätig hier oben rumzusitzen war auch keine Option. Wären unsere Rollen vertauscht, würde er ebenfalls nichts unversucht lassen, um mich zu retten – dessen war ich mir sicher.

»Bell!«

Ehe mich jemand aufhalten konnte, schob ich ein Bein über die Kante des Schachtes und tastete in der Dunkelheit nach einer Sprosse. Als ich das Holz unter meiner Sohle spürte, hangelte ich mich vorsichtig hinab in die Dunkelheit. Stufe für Stufe kletterte ich tiefer, wohlbedacht nicht danebenzutreten. Währenddessen wurden Kais ärgerliche Rufe von einem Rauschen übertönt, das zunehmend lauter wurde. Als ich mich nach einigen Sprossen traute zum ersten Mal einen Blick hinabzuwerfen, blieb mir vor Schreck der Atem weg. Das Gemäuer stand meterhoch unter Wasser. Ich entdecke einige Untote, die wie Raubfische an der Oberfläche schwammen und aus ihren winzigen Augen zu mir heraufsahen. Einige von ihnen bleckten bereits die spitzen Zähne. Plötzlich schoss unterhalb der Leiter eine Wassersäule zu mir empor. Erschrocken schrie ich auf und klammerte mich fester an die Sprossen, die gefährlich hin und her schaukelten.

»Sieh an, wen haben wir denn da?«, säuselte Narius mit einem Mal neben meinem Ohr. Ich blinzelte vorsichtig in seine Richtung und erkannte, dass er auf der Spitze der Wassersäule stand, die bis zu meinen Knöcheln emporragte. Der Meeresgott beugte sich so dicht an mein Gesicht heran, dass mir der Geruch seines modrigen Atems in die Nase stieg. Angewidert verzog ich das Gesicht. »Wo ist Neo? Was hast du mit ihm gemacht?«

»Oh, du möchtest deinen Halbgott sehen? Kein Problem!« Grinsend riss Narius seinen Arm empor, als würde er nach einer lästigen Fliege schlagen. Noch bevor ich mich umsehen konnte, hörte ich bereits, wie etwas durch die Wasseroberfläche unter meinen Füßen brach. Ein Schatten rauschte an mir vorbei und schoss gen Himmel. Als ich aufblickte, sah ich gerade noch, wie Neo von einer Wassersäule gegen die Decke des Gewölbes geschleudert wurde. Die Wucht seines Aufpralls konnte ich förmlich in meinen eigenen Knochen spüren.

»Da ist er ja!«, verkündete Narius erfreut, doch der hämische Ausdruck in seinen schwarzen Augen erzählte eine ganz andere Geschichte. »Ziemlich tough, unser Möchtegern-Gott. Dabei hatte der Zirkel dich doch damals als das schwächste Mitglied auserkoren, oder, Neo? Was hatten sie noch gleich gesagt – die göttliche Magie in dir sei eine maßlose Verschwendung, weil du es sowieso nie zu etwas bringen würdest? Tja, da haben sie sich zu deiner Verteidigung wohl geirrt, immerhin hast du sie alle überdauert. An deiner Stelle würde ich ihnen diese Tatsache mal unter die Nase reiben … Ach nein, stimmt ja! Das kannst du gar nicht, weil der Zirkel bis auf die letzte Seele ausgerottet wurde! Hast du deiner kleinen Menschenfreundin eigentlich schon erzählt, wie es dazu gekommen ist? Ich wette, dass es sie brennend interessieren würde zu hören, wie du –«

Ein riesiger Schwall Wasser schoss auf den Gott zu und traf ihn mit so viel Wucht, dass er von seiner eigenen Wassersäule heruntergeschubst wurde und hinabfiel. Hektisch blickte ich zu Neo auf. Er hatte seine Hände vor die Brust gestreckt und schien das Wasser, welches ihn noch zuvor an der Decke fixiert hatte, hinabzudrücken. Als er auf meiner Höhe ankam, griff er nach der Strickleiter. »Du musst sofort hier raus«, befahl er mir schwer atmend, »du hast keine Chance gegen ihn!«

»Du aber auch nicht, oder?«, erwiderte ich etwas schnippisch. Schließlich hatte ich mich doch nicht extra überwunden und war noch einmal in dieses scheußliche Loch gestiegen, nur um dann sofort wieder kehrtzumachen!

Seufzend verdrehte Neo die Augen. Scheinbar war er von meinem Mut weniger beeindruckt, als ich insgeheim angenommen hatte. »Ein bisschen besser als deine Chancen würde ich meine eigenen schon einschätzen – und jetzt ab nach draußen!«

Ehe ich etwas erwidern konnte, hörte ich, wie das Wasser erneut durchbrochen wurde. Keinen Wimpernschlag später tauchten Narius’ tiefschwarze Augen direkt vor meinem Gesicht auf. »Tut mir leid, Kleine, aber ich fürchte, dass ich dich nicht einfach gehen lassen kann«, presste er zornig hervor.

Mein Mund wurde staubtrocken. Es war, als hätte ich meine Sprache verschluckt, aber zum Glück entschied sich Neo an meiner Stelle zu antworten.

»Wag es ja nicht, sie anzurühren. Es ist gegen die Regeln, dass du einen der Auserwählten umbringst, solange die Artefakte nicht –«

»Glaubst du wirklich, dass ich mich davon einschüchtern lassen würde, Möchtegern-Gott?« Während sich Narius’ Lippen zu einem boshaften Grinsen verzogen, verdichtete sich der Kloß in meinem Hals. »Außerdem gehört deine Kleine gar nicht richtig zu euch, schließlich ist sie keine Auserwählte … Tja, Neo, vielleicht hättest du deinen Zirkelmitgliedern doch besser zuhören sollen, denn dann wüsstest du um die Regeln der Prophezeiung, die du anscheinend gar nicht so recht verstehst?«

Zaghaft sah ich zu Neo hinüber, der meinen Blick ernst erwiderte. Trotz des schummrigen Lichts sah ich, wie sein Kiefer mahlte. »Halte dich von ihr fern, Narius.«

»Sonst passiert was? Greifst du mich an? Mach dich nicht lächerlicher, als du bist, Neo. Wir wissen beide, dass du sie nicht vor mir beschützen könntest. Ganz schön skrupellos von dir, dass du sie überhaupt auf diese Reise mitgenommen hast. Schließlich wäre sie bei diesem Abenteuer früher oder später sowieso draufgegangen – das weißt du genauso gut wie ich. Lass es mich beenden, damit sie sich nicht noch mehr quälen muss.«

Zwar lag Narius mit seiner Einschätzung nicht komplett daneben, aber dennoch spürte ich, wie Trotz in mir aufkeimte. Ja, ich mochte nicht besonders stark sein, aber immerhin hatte ich einen Riesenkraken besiegt, den Biss eines Untoten überlebt und Neo geheilt. Ich würde ganz sicher nicht zulassen, dass dieser aufgeblasene Wichtigtuer der Grund für mein Scheitern sein würde – dafür war ich bereits zu weit gekommen. Entschlossen verstärkte ich meinen Griff um die Leitersprossen. Der Meeresgott hatte recht: Die Bell, die vor einigen Wochen an Bord der Blutroten Lady gestiegen war, hätte auf dieser Reise früher oder später den Tod gefunden, wenn sie sich nicht angepasst hätte – doch das hatte sie. Heute war ich zäher und mutiger, als ich es jemals für möglich gehalten hatte. Und genau diese Tatsache würde ich Narius am eigenen Leib spüren lassen!

»Neo, wir müssen springen!«

»Was?« Er hätte nicht fassungsloser klingen können.

»Wir haben das Artefakt vergessen«, log ich atemlos, »wir müssen es holen!« Ich hatte kaum ausgesprochen, da spürte ich bereits eine kalt-feuchte Hand an meiner Kehle.

»Wo. Ist. Es?«, fuhr mich Narius in einem Ton an, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Auf einen Schlag wurde mir bewusst, wie groß der Druck war, der auf dem Meeresgott lastete. Ich hatte noch nie direkt darüber nachgedacht, aber Narius wäre genauso aufgeschmissen wie wir, wenn er die Artefakte nicht rechtzeitig in seinen Besitz brachte. Schließlich stand für ihn nicht weniger auf dem Spiel als die Entbannung der Götter und somit auch deren Rückkehr zu früherer Macht. Seine göttlichen Geschwister verließen sich genauso erbittert auf ihn wie wir Menschen uns auf Neo …

»Wo?«

Sein Fauchen jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Neo eine weitere Wassersäule aufsteigen ließ. Der Griff um meine Kehle wurde unterdessen fester. Japsend legte ich meine Hand auf die des Gottes, doch seine Finger ließen sich nicht bewegen.

»Lass die Spielchen, Neo, oder ich breche deinem Menschenmädchen das Genick!«

Trotz ihrer geringen Lautstärke quollen Narius’ Worte vor Hass über. Ich zweifelte nicht im Geringsten an ihrer Glaubhaftigkeit.

»Lässt du uns gehen, wenn ich es dir verrate?«, würgte ich darum hervor, ehe ich vor Sauerstoffmangel bewusstlos werden würde.

Raubtierartig neigte der Meeresgott seinen Kopf zur Seite. »Du willst mit mir verhandeln? Ich glaube nicht, dass du dich in der Lage dazu befindest. Sag mir endlich, wo der Spiegel ist, oder ich werde dich auf der Stelle umbringen. Liegt dir denn gar nichts an deinem Leben, Bell?«

»Liegt dir denn gar nichts am Artefakt, Narius?«, erwiderte ich spitz. »Neo wird dir wohl kaum verraten, wo es sich befindet, wenn du mir das Genick brichst. Es wäre also nur fair, wenn du uns im Gegenzug für das Artefakt gehen lassen würdest.«

Narius’ Finger drückten fester auf meine Haut. Ich reckte den Kopf und versuchte nach Luft zu japsen, doch ich musste mir eingestehen, dass ich gegen die immense Kraft des Gottes keine Chance hatte.

»Weißt du was, Bell? Lass uns das unter vier Augen klären – dein Halbgott ist ja lästiger als ein Schwarm Bienen.« Verwundert runzelte ich die Stirn. Doch ehe ich mir genauere Gedanken darüber machen konnte, was der Gott meinen könnte, sah ich, wie eine imposante Wassersäule neben uns emporschoss. Sie traf mit voller Wucht auf Neo, der daraufhin durch das Gewölbe flog, als wäre er ein Blatt im Wind. Rückwärts knallte er gegen eine Wand. Als das Wasser von ihm abließ, fiel er hinab wie ein nasser Schwamm. Ich schrie seinen Namen, doch der Halbgott versank wortlos im Wasser. Die kreisförmigen Linien auf der Oberfläche waren noch nicht gänzlich verebbt, als bereits die Untoten auf sie zuschwammen. Sollte Neo durch seinen Aufprall verletzt oder gar bewusstlos sein, wäre er ihnen hoffnungslos ausgeliefert.

»Wenn du es wagst, mich noch ein einziges Mal anzugreifen, drehe ich deiner Freundin den zarten Gänsehals um!«, schallte Narius’ Stimme durch das Gewölbe, obwohl ich mir sicher war, dass Neo ihn sowieso nicht hören konnte. »Dachtest du wirklich, du könntest mein eigenes Element gegen mich einsetzen? Denn dann bist du ein noch viel größerer Narr, als ich dachte!«

Meine Augen begannen zu brennen. Hilflos sah ich mich um, doch ohne Neo an meiner Seite schien mein Verstand nicht mehr richtig zu arbeiten. Mir fiel weder ein, wie ich ihm helfen konnte, noch, wie ich mich selbst retten konnte. Blieb nur zu hoffen, dass er sich gegen die Untoten zu wehren wusste, ehe sie ihn – nein, daran durfte ich nicht einmal denken! Angespannt versuchte ich den Kloß in meinem Hals hinunterzuwürgen, doch der Griff um meine Kehle war so fest, dass mir nicht einmal das gelang.

Langsam richteten sich Narius’ Augen wieder auf mein Gesicht. »Wo ist der Spiegel, Bell?«

»Lass … mich … los!« Vor meinen Augen tanzten bereits kleine Punkte. Ich wagte schon nicht mehr zu hoffen, dass Narius meinen Köder doch noch schlucken würde, als er mich plötzlich unvermittelt losließ. Hustend versuchte ich wieder zu Atem zu kommen und krümmte mich vor Schmerzen.

»Merk dir dieses Gefühl, Bell«, zischte mir der Meeresgott ins Ohr. »Wenn ich dich eines Tages ertränken werde, wirst du noch viel mehr leiden. Und jetzt sag mir endlich, wo sich mein Artefakt befindet!«

»E…es liegt noch unter d…dem gläsernen Thron.«

Augenblicklich verengten sich seine pechschwarzen Augen zu schmalen Linien. »Lügst du mich gerade an, Bell?«

Mein Herz erstarrte. »Nein, das würde ich nicht wagen!«

»Du tust es schon wieder, Miststück. Ich sehe es in deinen Augen!«

»Nein, wirklich ni–«

»Hältst du mich für so blöd, dass ich nicht nachgesehen habe, ob das Artefakt noch in der alten Schatzkammer liegt?« Narius’ Stimme bebte vor Zorn. Ich fühlte es bis in meine Magengrube. Meine schwitzigen Hände machten es mir derweil immer schwerer, mich an der Leiter festzuhalten. Wie hatte ich nur so naiv und übermütig sein und ernsthaft denken können, dass ich clever genug wäre, um einen Gott zu überlisten?

»Nein, das kann nicht sein«, stammelte ich, »der Spiegel lag unter dem Thron, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe! Vie…vielleicht hat ihn –« Erneut wurde mir die Kehle abgedrückt.

»Ich habe dich gewarnt, was geschehen wird, wenn du mich zum Narren hältst, Bell!«

»Nein! Ich schwöre dir, dass der Spiegel –« Meine Stimme verstummte. Zeitgleich prallte Wasser gegen meinen Bauch und presste allen Sauerstoff aus meinen Lungenflügeln. Ich war so überrumpelt, dass mir nicht einmal ein Schrei entwich, während ich neben der Leiter hinabfiel. Die Wasseroberfläche kam rasend schnell auf mich zu. Ich japste nach Luft. Im nächsten Moment schlugen die Wellen über meinem Kopf zusammen.

Kapitel 2

Die Kälte des Wassers kroch tief in meine Knochen. Ich riss die Augen auf und versuchte auszumachen, in welche Richtung ich schwimmen sollte, doch alles um mich herum war tiefschwarz. Aus der Dunkelheit tauchte mit einem Mal das entstellte Gesicht eines Untoten vor mir auf, der gierig die Zähne bleckte. Panisch tastete ich meinen Körper ab, doch natürlich trug ich nichts bei mir, mit dem ich mich zur Wehr setzen konnte. Ehe der Untote angriff, geriet das Wasser um mich herum erneut in Bewegung. Ich wurde in eine Art Strudel gerissen, der mich in einem wahnsinnigen Tempo hinabsog. Um den Schrei zu unterdrücken, der mir von innen gegen die Lippen drückte, presste ich mir beide Hände auf den Mund. Plötzlich wurde ich an den Schultern geprackt und mein Kreisen dadurch jäh unterbrochen.

»Sieh mich an, Bell!«, hörte ich Neos Stimme klar und deutlich in meinen Ohren. Ich wurde herumgedreht, dann entdeckte ich ihn endlich. Als sich unsere Blicke trafen, wirkte der Ausdruck in seinen Augen fürchterlich besorgt. »Wir haben nicht viel Zeit, Narius könnte jeden Moment zu uns stoßen. Also, der Plan sieht so aus, dass ich ihn ablenke und du –«

Ehe er aussprechen konnte, griff ich nach dem Saum meiner Bluse und riss ihn ruckartig hoch.

Sichtlich irritiert versuchte Neo seine Augen auf meinem Gesicht ruhen zu lassen. »Ähm … Bell?«

Mir fehlte die Zeit, um ihm ausführlich zu erklären, was genau vorgefallen war, weshalb ich nur stumm auf den Spiegel an meinem Bauch deutete. Als sich Neos Augen auf die Größe einer Miesmuschel weiteten, wusste ich, dass er verstanden hatte, worauf ich hinauswollte. »Was? Aber wie hast du –?«

»Keine Zeit«, fuhr ich dazwischen und griff nach seiner Hand, »wir müssen uns beeilen! Wie kannst du das Artefakt auf dich prägen?«

»Ich muss es berühren, denke ich. Aber vorerst muss der Schutzzauber gelöst werden. Oder … oder hast du das etwa schon geschafft?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe es berührt und mir eine Erinnerung angesehen, anschließend hat mir der Spiegel ein seltsames Rätsel gezeigt, mit dem ich aber nichts anfangen kann.«

Staunend nickte Neo und streckte seine Hand langsam nach dem Artefakt aus. »Klingt so, als hättest du die Prüfung wirklich bestanden und den Schutzzauber gelöst. Das würde auch erklären, weshalb weder Narius noch ich gespürt haben, dass du den Spiegel in unserer Nähe an dir getragen hast. Ist der Schutzzauber erst gelöst, verliert ein Artefakt seine magische Anziehungskraft auf uns göttliche Wesen.«

»Klingt einleuchtend … also, irgendwie zumindest. Worauf wartest du dann noch? Narius wird bestimmt gleich hier sein.«

Da Neo noch immer etwas unentschlossen wirkte, packte ich sein Handgelenk, um ihm die Entscheidung abzunehmen. Ruckartig zog ich seine Handfläche an meinen Körper und presste sie auf die Rückseite des Spiegels. Augenblicklich erhitzte sich das Glas und verursachte ein unangenehmes Brennen auf meiner Haut. Vor Schmerz verzog ich das Gesicht und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als ich wieder aufblickte, erstarrte ich vor Ehrfurcht.

Neo sah aus, als hätte sich ein Geist seines Bewusstseins bemächtigt. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch sowohl seine Pupillen als auch seine Iriden waren verschwunden. Stattdessen erstrahlten seine Augäpfel in einem goldenen Licht, welches mich so sehr blendete, dass ich meine Lider verengen musste. Neos Rücken war etwas nach hinten gekrümmt, während er seine Arme und Beine kerzengerade ausgestreckt hatte. Der Strudel um uns herum schien sich unterdessen zu verdichten, gleichzeitig legte er an Tempo zu. Das Glühen an meinem Bauch wurde so unerträglich, dass ich das Gefühl bekam, man würde mir meine Haut versengen.

Plötzlich entdeckte ich einen Schatten am oberen Rand meines Gesichtsfeldes. Bei genauerem Hinsehen stellte er sich als Narius heraus, der mit wutverzerrtem Gesicht auf uns zuschwamm.

»Neo!«, schrie ich ihm über das Rauschen des Meeres zu, doch der Halbgott rührte sich kein bisschen. Erst als Narius nur noch eine Armbreite von uns entfernt war, drehte er sein Gesicht ganz langsam in dessen Richtung. Neos leuchtende Augen verengten sich, während er zeitgleich seinen linken Arm hob und Narius seine Handfläche entgegenstreckte.