Iced Ashes (Ein Königreich aus Feuer und Schatten 2) - Hanna Frost - E-Book
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Iced Ashes (Ein Königreich aus Feuer und Schatten 2) E-Book

Hanna Frost

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Beschreibung

**Niemand kann es mit ihr aufnehmen, außer ihre eigene Vergangenheit**  Gerade noch streifte Kaida durch die Wälder des Nordens und tötete als verborgene Assassinin Kreaturen dunkler Magie. Nun hängt ihr Leben ausgerechnet von den Fae ab, die sie einst umbringen wollten, und sie hat auch noch das Vertrauen des eiskalten Prinzen Jace verloren, der ihr Herz so sehr berührt hat. Doch dann tauchen gleich zwei alte Bekannte auf, die alles infrage stellen, wofür Kaida bislang gekämpft hat: ihr Bruder Callum, der sie gerade erst verraten hat, und der mächtigste Hexenmeister des Landes, der immer noch auf der Jagd nach ihr ist. Ein Komplott braut sich zusammen, das alle Talente der Assassinin erfordern wird – und jegliche Hilfe, besonders die von Prinz Jace … Welchen Weg wirst du gehen? Den leichten oder den richtigen? //Dies ist der zweite Band der magisch-fantastischen Dilogie »Ein Königreich aus Feuer und Schatten« von Hanna Frost. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Burning Soul (Ein Königreich aus Feuer und Schatten 1) -- Iced Ashes (Ein Königreich aus Feuer und Schatten 2)//             Die Reihe ist abgeschlossen.

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Hanna Frost

Iced Ashes (Ein Königreich aus Feuer und Schatten 2)

**Niemand kann es mit ihr aufnehmen, außer ihre eigene Vergangenheit**Gerade noch streifte Kaida durch die Wälder des Nordens und tötete als verborgene Assassinin Kreaturen dunkler Magie. Nun hängt ihr Leben ausgerechnet von den Fae ab, die sie einst umbringen wollten, und sie hat auch noch das Vertrauen des eiskalten Prinzen Jace verloren, der ihr Herz so sehr berührt hat. Doch dann tauchen gleich zwei alte Bekannte auf, die alles infrage stellen, wofür Kaida bislang gekämpft hat: ihr Bruder Callum, der sie gerade erst verraten hat, und der mächtigste Hexenmeister des Landes, der immer noch auf der Jagd nach ihr ist. Ein Komplott braut sich zusammen, das alle Talente der Assassinin erfordern wird – und jegliche Hilfe, besonders die von Prinz Jace …

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Vita

Danksagung

© privat

Hanna Frost wurde 2001 geboren und kann sich rückblickend an keine Nacht erinnern, in der sie nicht heimlich gelesen oder geschrieben hat. Mit 14 Jahren gründete sie ihren eigenen Literaturblog, fünf Jahre später schrieb sie ihr Debüt. Wenn sie nicht gerade an neuen Geschichten tüftelt oder in Tagträumen versinkt, verbringt sie gern Zeit mit ihrem Hund, plant ihre Reise ins All oder widmet sich ihrem Studium – übrigens in genau dieser Reihenfolge.

Für meine Eltern.Danke für alles.

Prolog

Als Kaida ihre müden Lider hob, war da nichts als tiefe Schwärze. Es war dieselbe Dunkelheit, die sie schon seit Wochen einhüllte, wenn nicht sogar seit Monaten. Ihre Sinne waren wie benebelt, ihr Kopf fühlte sich seltsam matschig an. Es fiel ihr schwer, ihn überhaupt aufrecht zu halten. Plötzlich tat sich ein Lichtstreifen auf dem Boden vor ihren nackten Füßen auf, in dessen Mitte sie einen langen menschenähnlichen Schatten entdeckte, der langsam auf sie zukam. Kalte Hände strichen über ihre Wangen, über ihre Schultern und schließlich wieder ihren Hals hinauf. Als die eisigen Fingerspitzen über die Enden ihrer Ohren glitten, fuhr ein schmerzhaftes Stechen durch Kaidas Körper. Ihre Ohren brannten, als stünden sie in Flammen.

Kaida wollte protestieren. Wollte all den wirren Gedanken in ihrem Kopf und den beißenden Gefühlen in ihrem Herzen Raum geben; doch alles, was ihr über die trockenen Lippen glitt, war ein erschöpfter Seufzer. Mit jedem Wimpernschlag wurden die Umrisse der Gestalt unschärfer, bis sie schließlich gänzlich mit der Finsternis verschmolzen. Schlagartig verschwand auch der Lichtstreifen vom Boden.

Kaida war wieder allein – allein mit den quälenden Gedanken in ihrem Kopf, der Dunkelheit um sie herum und der Einsamkeit in ihrem Herzen …

Kapitel 1

Panisch riss Kaida ihre Augen auf und röchelte gierig nach Luft. Ihre Lungenflügel schmerzten bei jedem Atemzug, sie hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Als sie realisierte, dass sie seitlich auf dem kalten Steinboden lag, begann sie unkoordiniert mit ihren gefesselten Beinen zu strampeln. Auch die Stricke um ihre Handgelenke nahm sie nun allzu deutlich wahr, genauso wie das unüberhörbare Piepen in ihrem Kopf und das grelle Licht, das Tränen in ihre Augen trieb.

Dumpfe Geräusche drangen in ihre Ohren. Nur langsam manifestierten sich die Töne und wurden zu einer strengen Männerstimme, die Kaida schmerzlich bekannt vorkam. Die Muskeln in ihren Beinen begannen zu zucken, als würden sie das Weite suchen wollen, noch bevor ihr Gehirn auch nur annähernd verstanden hatte, was hier vor sich ging. Plötzlich legten sich kalte Hände um ihre Knöchel und fixierten sie am Boden.

»Das reicht!«, befahl die bekannte Stimme streng. »Lasst sie los, in ihrer aktuellen Verfassung wird sie schon keinen großen Schaden anrichten können.«

So schnell, wie die Hände gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. In Kaidas Ohren dröhnte der hohle Klang ihres Atems. Sie spürte, wie ihr kalter Schweiß die Schläfen entlanglief. Ihr ganzer Körper zitterte und krampfte, jedes Stückchen Haut schien in Flammen zu stehen. Alles um sie herum wirkte laut und aufgewühlt, doch gleichzeitig fühlte sie sich selbst so taub und leer, als wäre sie in einem Körper, der gar nicht ihr eigener war.

So gut es die Fesseln zuließen, rollte sie sich zusammen und presste ihre heiße Wange gegen den kalten Steinboden. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Blick mit jedem Augenblinzeln etwas klarer wurde und mehr Farbnuancen zuließ. Als Kaida langsam zu dem blassen Gesicht des Mannes aufsah, der nur eine Armlänge entfernt vor ihr stand, gefror das Blut in ihren Adern. »Oberon …«

»Ganz genau«, erwiderte der Fae-König leise, doch seine Stimme klang keinesfalls beruhigend. Er hatte seinen Kopf geneigt und betrachtete Kaida so lauernd wie ein Wolf ein hilfloses Lamm. Geschmeidig beugte er sich zu ihr hinunter, griff nach ihren Schultern und setzte sie wie eine Stoffpuppe auf. Kaida spürte eine kalte Wand in ihrem Rücken, als er sie unsanft dagegen presste.

»Gebt mir ihre Wasserflasche!«, blaffte der König und wedelte ungeduldig mit einer Hand. Augenblicklich löste sich ein Soldat hinter ihm aus der Dunkelheit und reichte dem Fae schweigend eine Flasche. Geschickt lösten die schlanken Finger des Königs den Verschluss. Als er die Öffnung an Kaidas trockene Lippen legte und der erste Wassertropfen auf ihre Zunge traf, reckte sie ihm gierig den Kopf entgegen. Ihr Kehlkopf schmerzte bei jedem Schluck. Sie konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal etwas getrunken hatte.

Als Oberon die Flasche etwas ungeschickt anwinkelte, verschluckte sie sich an der kühlen Flüssigkeit. Hastig setzte sie ab und rutschte ein Stückchen vom König weg.

»Bist du jetzt wacher?«, fragte dieser schadenfroh und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Du sahst aus, als hättest du eine kleine Abkühlung mehr als nötig gehabt …«

Hustend krümmte sich Kaida und starrte ihn aus hasserfüllten Augen an. »Ich hasse dich, Oberon!«, krächzte sie, bereute ihre Worte jedoch sofort. Gallenflüssigkeit war in ihrem Hals aufgestiegen und verätzte ihre Kehle. Würgend und röchelnd drehte Kaida ihren Kopf zur Seite, um sich wenigstens nicht auf Oberons Stiefelspitzen zu übergeben – obwohl es ja durchaus keinen Unschuldigen getroffen hätte …

Über ihr Husten hinweg hörte sie, wie der König etwas in einer fremden Sprache sagte, das alles andere als freundlich klang. Eine schwere Tür fiel ins Schloss, dann wurde es schlagartig wieder still um sie herum. Seufzend gab Kaida der Erschöpfung nach, die sie zu übermannen drohte. Ihr Kopf fiel schlaff zur Seite und ihre Augenlider zitterten so stark, dass sie nichts mehr erkennen konnte.

»Schön bei Bewusstsein bleiben«, hörte sie Oberon drohen, »oder willst du, dass ich dir einen ganzen Eimer voll Wasser über den Kopf schütte?«

»Wieso?«, erwiderte sie undeutlich, wobei ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren merkwürdig fremd klang. »Ich soll doch nur wach bleiben, damit … damit du mehr Spaß beim Foltern hast, oder? Aber diesen Gefallen werde ich dir … nicht tun.«

Oberon schnaubte amüsiert. »Schön zu sehen, dass selbst die vielen Betäubungstränke und Tinkturen deinen Sturkopf nicht aufweichen konnten. Zeitweise sah es gar nicht so gut für dich aus … Wie dem auch sei, ich will dich nicht foltern, du sollst mir nur zuhören. Es gibt ein paar Dinge zu besprechen, ehe ich dich wieder auf die Welt loslassen kann.«

Irritiert runzelte Kaida die Stirn. Auf die Welt loslassen? Nach all den Vorfällen, den Lügen und dem Verrat hätte sie eher damit gerechnet, dass er sie für den Rest ihres Lebens hier unten versauern ließ. Apropos Leben …

»Warum bin ich eigentlich nicht gestorben, als Jace’ Fluch auf mich überging? Und warum hat Nia mich nicht umgebracht, obwohl sie doch die Gelegenheit dazu hatte? Ich kann mich nur noch an ein Pulsieren erinnern … daran, dass ich irgendwie aufgebrochen, beinah explodiert bin, aber was danach geschah …« Schlagartig weiteten sich ihre Augen und eine Welle der Panik erfasste ihren Körper. »Jace!«, stieß sie erschrocken hervor und blickte Oberon eindringlich an. »Wo ist er? Geht es ihm gut?« Kaidas Herz begann zu rasen. Ruckartig versuchte sie sich aufzurichten, doch Oberons Hände auf ihren Schultern drückten sie hinunter.

»Ganz ruhig, Sturkopf, du würdest eh nicht weit kommen. Ich befehle dir, mir jetzt zuzuhören!«

Trotzig schnaubte Kaida und spuckte ihm vor die Füße. »Du hast mir gar nichts zu befehlen, Spitzohr!«

»Und ob ich das habe, Untertanin.«

Seine Worte trafen sie so unvorbereitet, dass Kaida ihre Gegenwehr augenblicklich einstellte. Verwirrt blinzelte sie einige Male, ehe sie ihre Sprache wiederfand. »Ich … ich bin nicht deine Untertanin.«

»O doch, das bist du. Das warst du schon immer, meine kleine Kaida, aber spätestens seit diesem Vorfall mit deiner Magie kann es niemand mehr leugnen.«

Ungläubig starrte sie in seine stahlgrauen Augen. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ einen eisigen Schauer über ihren Rücken kriechen.

»Du siehst aus wie sie«, fuhr Oberon leise fort und streckte einen Finger nach ihrer Ohrenspitze aus. Erneut stieg Übelkeit in Kaida auf. Das Gefühl, dass hier gerade etwas wahnsinnig schieflief, legte sich wie ein Backstein in ihren Magen. Was, um Himmels willen, war mit dem König passiert? Hatte er den Verstand verloren?

»Hör auf«, presste sie mit zitternder Stimme hervor, »hör auf, so merkwürdig zu sein. Foltere mich oder wirf mir vor, dass ich dein Land verraten habe, aber hör auf mich so fürsorglich anzustarren. Du machst mir furchtbare Angst.«

»Du mir auch«, erwiderte Oberon mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen, doch zu Kaidas grenzenloser Erleichterung zog er sich ein Stückchen von ihr zurück. »Du wirst den Grund schon noch früh genug erfahren. In deiner jetzigen Verfassung würdest du sowieso nicht alles verstehen können. Den Rest der Aufklärungsstunde kann Jace übernehmen, sobald du wieder in einem halbwegs präsentablen Zustand bist. So abgemagert und mit Schatten unter den Augen, die den seinen ernste Konkurrenz machen, kann ich dich unmöglich zu ihm lassen.«

Kaida schluckte trocken. Das war zwar nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte, aber immerhin schien der Prinz am Leben zu sein. »Wie geht es ihm? Ist er wohlauf?«

»Jace geht es den Umständen entsprechend gut, so, wie man sich eben fühlt, wenn sich das Mädchen, in das man sich dummerweise verliebt hat, als Verräterin entpuppt. Deine Fürsorge in Ehren, Kaida, aber an deiner Stelle würde ich mich mehr um mein eigenes Wohl sorgen.«

»Ist mir klar«, erwiderte sie schroff und entlockte dem König sogar ein leichtes Schmunzeln.

»Durch Nias Dolchstoß hast du enorm viel Blut verloren, mal ganz zu schweigen von dem immensen Kraftakt, den dein Körper aufbringen musste, um die Magie zu wirken. Wahrscheinlich hast du dich deshalb so gefühlt, als wärst du aufgebrochen wie eine hohle Nussschale … Wir mussten dich mit unseren Tränken und Tinkturen mehrere Wochen lang betäuben und deine Sinne vernebeln, weil du den Schmerz sonst nicht ertragen hättest.«

»Und … und diese Explosion? Was ist mit mir geschehen?« Kaida fühlte sich von den ganzen Informationen, deren Bedeutungen sich ihr noch nicht ganz erschließen wollten, wie erschlagen. Ihr Kopf pochte, als wäre eine Kutsche darübergerollt.

»Nun, als du ›auseinandergebrochen‹ bist, wie du es so passend beschrieben hast, ist das Nebengebäude, in dem wir uns zu diesem Zeitpunkt befanden, eingestürzt. Aber bis auf ein paar Kratzer sind alle verschont geblieben«, erklärte Oberon schulterzuckend. »Was genau passiert ist, kann dir, wie bereits gesagt, jemand anderes erklären. Du solltest lieber erst einmal zusehen, dass du wieder auf die Beine kommst. Die Welt da draußen ist während deiner Abwesenheit weder friedlicher geworden noch sicherer. Ich würde sogar behaupten, dass du in größerer Gefahr schwebst als je zuvor … Doch für den Moment muss dir dieses Wissen genügen.«

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, erhob sich der König aus der Hocke. Sein schwarzes Haar fiel ihm über den Rücken, als er sich schwungvoll umdrehte und auf die Tür des Kerkers zulief.

Er hatte seine Hand bereits auf die Klinke gelegt, als Kaida endlich ihren Mut zusammennahm, um ihn nach einem Gefallen zu fragen. »Oberon … kannst du ihm bitte sagen, dass es mir leidtut?«

Als sich der König zu ihr umdrehte, trug er ein mitfühlendes Lächeln auf den Lippen. »Ich weiß nicht, ob das ausreicht, Kaida. Seit dem Vorfall ist er dir zwar kaum von der Seite gewichen – und wenn er auch nur vor deinem Zimmer auf- und abgelaufen ist –, aber der Schmerz über deinen Verrat sitzt tief. Er mag dir in der Hektik der Situation verziehen haben, aber während du bewusstlos warst, haben viele Leute Zweifel in ihm gesät. Du solltest ihm Zeit geben, Kaida. Du solltest euch beiden Zeit geben.«

Als die Tür ins Schloss fiel, erlosch das grelle Licht um sie herum und ließ Kaida allein in der ihr wohlbekannten Dunkelheit zurück – doch diesmal war alles anders. Sie konnte wieder etwas fühlen. Fühlen, wie sich das schlechte Gewissen wie ein Dolch in ihr Herz bohrte. Fühlen, wie sie die Sorge und Sehnsucht nach Jace förmlich um den Verstand brachte. Ihr war abscheulich zumute. Sie glich einer Verräterin, die all ihre Freunde ans Messer geliefert hatte … Ob Oberon deshalb plötzlich so bemüht um sie war? Weil sie in seinen Augen ein genauso kaltherziges Ungeheuer war wie er selbst? Kaida wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie ihr scharfes Bewusstsein nicht behalten wollte. Ob Oberon ihr noch einmal einen Betäubungstrank verabreichen würde, wenn sie ihn auf Knien danach anflehte?

Kapitel 2

»Was glaubst du, wer diese hübsche Frau ist?«, fragte das Mädchen neugierig und zupfte am Hemdsärmel ihres Bruders.

»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser pikiert. »Nero hat uns verboten nach ihr zu fragen, also sollten wir es auch dabei belassen.«

Das rothaarige Mädchen zog einen Schmollmund und verschränkte ihre Arme vor dem Oberkörper. Ihre puppenhaften Augen begutachteten das hübsche Gesicht der Frau, das jemand auf einem Ölgemälde verewigt hatte. Ihre blonden Haare flossen wie Gold über ihre Schultern und bedeckten einen Großteil des Kleides, dessen Stoff die gleiche Farbe hatte wie die rosafarbene Lilie, die, an einer Haarspange befestigt, in ihr Haar geklemmt worden war.

»Callum, woher hat die Frau diese schöne Blume da?«, fragte das Mädchen neugierig und streckte ihre kleine Hand nach dem Gemälde aus, das hoch oben über dem Kamin hing.

»Keine Ahnung … von hier jedenfalls nicht«, antwortete ihr Bruder leicht genervt. »Jetzt komm endlich, Kaida, wenn Nero uns hier findet, wird er sehr wütend werden.«

Als sich seine Schwester nicht rührte, packte sie der Junge grob am Handgelenk und zog sie mit sich aus dem prunkvoll eingerichteten Zimmer. Die Kleine warf noch einen letzten Blick auf die kantigen Wangenknochen und den traurigen Ausdruck in den Augen der Frau. Dann fiel die Tür des versteckten Zimmers, das sie eigentlich gar nicht betreten durften, leise ins Schloss.

***

Als Kaida die Augen aufschlug, fühlte sie sich ungewöhnlich wach. Ihre Gedanken waren klar, ebenso ihr Geist. Stirnrunzelnd sah sie sich in ihrem kleinen steinernen Verlies um. Trotz der Dunkelheit konnte sie eine schwere Metalltür erkennen, die sich schwach aus der umliegenden Schwärze abzeichnete.

»Die ist mir nicht geheuer«, drang eine Männerstimme dumpf an ihr Ohr, »wir sollten dem Weib lieber wieder Schlafmittel verabreichen. Ich habe keine Lust darauf, dass mich dieser menschliche Mutant angreift.«

Aufmerksam neigte Kaida den Kopf. Sollte der Fremde wirklich versuchen in ihre Zelle einzudringen, müsste er die Tür öffnen. Vielleicht könnte sie sich ja dahinter verstecken und ihn aus dem Hinterhalt heraus angreifen … Überzeugt von ihrer Idee stand sie auf und versuchte einen Schritt zu machen, doch kaum hatte sie einen Fuß angehoben, verlor sie das Gleichgewicht und knallte auf den kalten, harten Steinboden. Schmerz durchfuhr ihre Glieder und ein frustrierter Schrei entwich ihrer Kehle. Ihre aufgeschlagenen Knie brannten höllisch, außerdem konnte sie spüren, wie eine warme Flüssigkeit aus ihnen herausquoll.

»Hast du das gehört?«, drang eine weitere Stimme plötzlich an Kaidas Ohr. »Ich glaube, das Weib hat geschrien. Sollten wir nach ihr sehen?«

Abrupt biss sie sich auf ihre Unterlippe, doch als sie ein leichtes Schaben im Schlüsselloch wahrnahm, wusste Kaida, dass die Kerle bereits auf dem Weg zu ihr waren. Sie wollte sich aufsetzen, doch etwas an ihren Fußgelenken hinderte sie daran. Erst als sie stirnrunzelnd an sich hinabsah, bemerkte sie die Fesseln, die wohl auch die Schuld an ihrem vorherigen Sturz trugen. Genervt von ihrer eigenen Unachtsamkeit verdrehte Kaida die Augen.

»Was habt ihr an dem Türschloss zu suchen?«, drang eine weitere Stimme in ihr Gefängnis, doch dieses Mal wusste sie sofort, wem sie gehörte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, seit Kaida den tiefen Klang zum letzten Mal vernommen hatte. Ihr Herz schien ihr vor Erleichterung beinah aus der Brust springen zu wollen. Hastig griff sie mir zittrigen Fingern nach dem dicken Seil, das um ihre Knöchel gebunden war, und begann mit aller Kraft daran zu ziehen. Tatsächlich ließ sich der Knoten soweit lockern, dass Kaida ihre Füße aus der Schlaufe ziehen konnte.

Wie von einer Wespe gestochen eilte sie auf die Tür zu. Obwohl ihre Beine die letzten Wochen nur nutzlos herumgelegen hatten, pulsierte nun eine solche Kraft in ihnen, dass Kaida binnen eines Wimpernschlags die Tür erreichte und unbeholfen dagegen prallte.

»Zurück, Eure Hoheit! Die Situation könnte gefährlich werden«, verkündete eine der fremden Stimmen.

»Was hat das zu bedeuten?«, knurrte Jace hörbar gereizt. »Ich dachte, ihr hättet sie zu ihrem eigenen Schutz gesichert? Wie kann es dann sein, dass –«

»Jace, bitte hol mich hier raus. Ich muss mit dir reden!«, fiel Kaida ihm ins Wort, während sie mit einer Faust gegen das kühle Metall der Tür hämmerte. Etwas klapperte, dann erklang erneut das Geräusch eines Schlüssels, der im Türschloss umhergedreht wurde.

»Eure Hoheit, ist das nicht eine dumme Idee? Euer Vater –« Die Tür wurde so ruckartig aufgerissen, dass Kaida nach vorn stolperte. Sie prallte gegen einen festen Körper, dessen Besitzer sie augenblicklich schützend in die Arme nahm. Als sein unverkennbarer Duft in ihre Nase zog, hatte Kaida große Mühe damit, nicht an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen.

»Jace«, schluchzte sie leise an seine Brust, »es tut mir alles so leid!«

»Mir auch, Kleines.« Als sein warmer Atem über ihre Ohren strich, begannen diese erneut zu brennen, als stünden sie in Flammen.

»Geht es dir gut?«, erwiderte sie zaghaft.

»Den Umständen entsprechend«, murmelte Jace in den Worten seines Vaters, als hätten sie sich abgesprochen.

»Eure Hoheit, ihr solltet die Verräterin wieder in ihre Zelle werfen. Sie ist gefährlich und wir wissen nicht, wozu die Mutantin noch imstande ist. Wenn sie wieder explodiert, sollte sie besser hinter dicken Steinmauern verschlossen sein.«

Als Jace seine Hände auf Kaidas Schultern legte und sie sanft zurückschob, wäre sie dem Wachposten am liebsten an die Gurgel gegangen. Hasserfüllt sah sie zu dem Mann hinüber, der daraufhin instinktiv nach seinem Schwertknauf tastete. Als Kaida sich wieder Jace zuwandte, bemerkte sie, dass er sie nachdenklich musterte. Ihr entging nicht, wie lange sein Blick an ihrem Gesicht hängen blieb, eher er prüfend über ihren Körper wanderte. Ein tiefer Stich durchfuhr ihr Herz; er musterte sie wie eine Fremde … Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, sich erneut bei ihm zu entschuldigen, auch wenn ihre Worte nichts mehr an dem Geschehenen ändern konnten.

»Ich wollte dir nicht wehtun, weder dir noch deiner Familie«, murmelte sie schüchtern. »Du musst mir nicht verzeihen, das kann ich wirklich nicht verlangen … aber ich möchte trotzdem, dass du weißt, dass ich dich nicht verraten habe. Weder an Nero noch an Callum. Die Sache mit Luce –«

Als sie sah, wie er bei ihren Worten zusammenzuckte, brach Kaida abrupt ab. Ein Schild wie aus Eis tauchte in Jace’ Augen auf und verwehrte ihr den Blick in sein Innerstes. »Habt … habt ihr ihn wiedergefunden?«

Langsam schüttelte der Prinz den Kopf. »Sieht so aus, als hätten wir beide unsere Brüder verloren.«

Kaida schluckte trocken. Sie wusste nicht, was sie mehr bestürzte: die Bitterkeit in seinen Augen oder die Endgültigkeit in seiner Stimme … »Wir werden ihn finden«, versprach sie entschlossen. »Lass uns keine Zeit mehr verlieren!«

Gerade als Jace seinen Mund öffnete, polterten plötzlich schwere Schritte durch den Gang.

»Du gehst nirgendwo hin!«, donnerte Oberon mit autoritärer Stimme.

Ruckartig fuhr Kaida herum, ihre Hände tasteten nach denen von Jace. »Komm, wir müssen los!«, zischte sie ihm eindringlich zu, doch zu ihrer Überraschung schüttelte der Prinz nur müde den Kopf. Erst jetzt, wo sie sein Gesicht genauer betrachtete, fielen ihr die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. Zudem wirkte er unnatürlich blass und seine Wangenknochen stachen mehr aus seinem Gesicht hervor, als sie es in Erinnerung hatte.

»Du solltest wieder in deine Zelle zurückgehen«, erklärte er ruhig, aber dennoch bestimmt. »Wenn du hier drinnen bist, bist du am sichersten … und wir auch.«

Seine Worte bohrten sich wie Dolche in Kaidas Herz und raubten ihr den Atem. Tränen quollen aus ihren Augen hervor und flossen haltlos über ihre Wangen. »Es tut mir so unendlich leid«, murmelte sie wie ein Mantra, während die Soldaten sie wieder in ihre Zelle führten. Kaida erhaschte einen letzten Blick auf Jace, der sie genauso verletzt ansah, wie sie sich fühlte. Dann fiel die Tür ihres Gefängnisses wieder laut ins Schloss.

Mit einem Mal wich alle Kraft aus ihrem Körper, stattdessen legte sich eine schwere Müdigkeit über ihre Glieder. Seufzend lief Kaida in die hinterste Ecke der Zelle zurück und ließ sich an der Wand hinab auf den Boden sinken. Sie zog ihre Knie fest an ihren Oberkörper und schlug sich die Hände vors Gesicht, damit niemand mitbekommen konnte, wie ihre Tränen auf dem Stein aufschlugen und zersprangen. In ihren eigenen Ohren hörte es sich jedes Mal so an, als würde eine Kanonenkugel in den Boden ihres Gefängnisses einschlagen.

»Jace, du solltest dich doch von ihr fernhalten«, hörte sie die Stimme des Königs dumpf durch die dicken Steinwände hallen. »Es hat einen Grund, warum ich euch zwei getrennt habe. Der Moment, um euch gegenseitig zuzuhören und die Vergangenheit aufzuarbeiten, ist noch nicht gekommen. Gib ihr Zeit. Gibt dir Zeit.«

»Das versuche ich ja, Vater«, hörte sie den Prinzen leise antworten. Seine Stimme klang furchtbar erschöpft. »Aber es gelingt mir einfach nicht … Ich bin nicht dumm, ich weiß um ihren Verrat und die Gefahr, die sie über unsere Familie und unser Volk gebracht hat. Aber –«

»Ich weiß, mein Junge. Doch solange sie ihre Gabe noch nicht im Griff hat, kann ich nicht verantworten, dich in ihre Nähe zu lassen. Mach dir keine Sorgen, wir bekommen das wieder hin. Bis dahin sollten wir abwarten und uns um Luce kümmern, meinst du nicht?«

»Ja, du hast wahrscheinlich recht …«

Kaida hörte, wie sich mehrere Schritte entfernten. Auch von den Soldaten vor ihrer Tür war nichts mehr zu hören. In ihrem Kopf hingegen wurden die Gedanken mit einem Mal so laut, dass sie sich am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst hätte. Vor ihrem inneren Auge tauchte Luce auf, der sie aus seinen unschuldigen Welpenaugen ansah. Das Funkeln darin war erloschen, stattdessen schlich sich Angst in seinen Blick – Todesangst. Bei dem Gedanken daran, dass das Schicksal des Jungen vielleicht in Callums oder Neros Händen lag, hätte Kaida sich am liebsten übergeben. Ein eisiger Schauder huschte über ihren Rücken, als sie an ihre Kindheit in Neros Fängen zurückdachte. Luce würde dessen Erziehungsmethoden sicherlich nicht so gut wegstecken wie sie …

Die Schuldgefühle nahmen Kaida vollkommen ein, vernebelten ihre Gedanken, bis sie nur noch Luce’ angstgeweitete Augen vor sich sah. Es war ganz allein ihre Schuld. Sie hatte ihn und den Rest seiner Familie da mit reingezogen, und wofür? Zornig ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Bei dem bloßen Gedanken an ihren Bruder, der sie einfach hintergangen und ausgeliefert hatte, wollte sie sich am liebsten die Haare ausreißen. Wie hatte er ihr das nur antun können?

Als Kind hatte sie stets zu ihm aufgesehen, hatte ihm blind vertraut, doch am Ende hatte er sie genauso ins Messer laufen lassen, wie Nero es einst getan hatte …

Während sie auf dem kalten Steinboden hockte und über ihre Vergangenheit grübelte, verlor Kaida jegliches Zeitgefühl. Irgendwann klopfte es leise an der Tür und eine Bedienstete schob ihr einen Teller mit gematschten Kartoffeln vor die Fußspitzen, doch Kaida würdigte die Speise keines einzigen Blickes; im Moment würde sie sowieso nichts hinunterbekommen.

Genervt davon, zum Nichtstun verdammt zu sein, begann sie nach einer Weile in ihrer Zelle auf und ab zu tigern. Wenn sie sich nicht bald irgendwo abreagieren könnte, würden am Ende doch noch ihre Haare dran glauben müssen …

Plötzlich hörte sie, wie erneut etwas im Schlüsselloch kratzte. Ruckartig fuhr sie zu der Metalltür herum und durchbohrte sie mit finsterem Blick. Wenn einer dieser schmierigen Soldaten versuchen sollte, ihr zu nahe zu kommen … Wütend ballte sie ihre Hände zu Fäusten und presste die Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer schmerzte. Als sich die Tür endlich aufschob, tauchte zu Kaidas Überraschung jedoch kein fremdes Gesicht im Türrahmen auf – im Gegenteil, das arrogante Grinsen war ihr mittlerweile bestens bekannt. Genervt schnaubte sie und verdrehte die Augen. »Was willst du, Oberon?«

»Schauen, ob dich dein Frust schon aufgefressen hat«, antwortete der König schulterzuckend und trat in die Zelle. Misstrauisch beobachtete Kaida die Tür, die langsam wieder ins Schloss fiel. »Ziemlich mutig von dir«, bemerkte sie spöttisch. »Hast du gar keine Angst, dass ich dich angreifen könnte? Wo sind deine Wachen?«

Ein humorloses Lachen drang aus seiner Kehle, während er kopfschüttelnd den Raum durchquerte und sich Kaida gegenüberstellte. »Wie ich sehe, bist du etwas größenwahnsinnig geworden, kleine Kaida. Ich bräuchte sicher keine Hilfe, um mit dir fertigzuwerden. Aber das ist auch gar nicht der Grund für meinen Besuch.«

»Ach nein?« Kaida konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der König ohne hinterhältige Absichten zu ihr gekommen war. Andererseits hätte sie sich auch nie erträumen lassen, dass er so nachsichtig, beinah schon einfühlsam sein konnte wie vorhin … Oder dass er sie mal kleine Kaida nennen würde.

Plötzlich verschwand der überhebliche Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich gebe es nur ungern zu«, begann er leise, »aber ich fürchte, dass uns ein weiterer Krieg bevorsteht. In diesen Palastmauern gibt es mehrere Dinge, die Nero in seine schmierigen Klauen bekommen will. Neben materiellen Gegenständen wie der Krone, die für ihn allerdings eher zweitrangig ist, haben auch andere Objekte sein Interesse geweckt – Dinge und Lebewesen. Zwar bist du nicht die Einzige, die in großer Gefahr schwebt, aber … aber es gibt Gründe, weshalb ich dich besonders im Auge behalten muss. Die Magie, die du damals im Nixensee und auch bei deiner Auseinandersetzung mit meiner Tochter eingesetzt hast, ist ein riesiges Geschenk, aber gleichzeitig auch eine unermessliche Gefahr, solange du sie nicht unter Kontrolle hast. Normalerweise gibt es bestimmte Hilfsmittel und Prozeduren, die unseren Fae-Kindern im Umgang mit ihrer Magie helfen, aber auf diese Ressourcen können wir leider nicht zurückgreifen. Darum werden wir uns wohl mit alternativen Lehrmethoden zufriedengeben müssen.«

Sprachlos starrte Kaida den König an. Hatte er – Oberon, der grausamste und rücksichtsloseste König, den Tenebris je gesehen hatte – gerade ausgerechnet ihr angeboten, sie zu unterrichten? Welche Gründe könnte er dafür haben? Und seit wann erzählte er ihr von seinen Bedenken und Vorhaben?

»Habe ich in einer dir unzugänglichen Sprache gesprochen oder kommt dein Kopf einfach nicht mit dem Denkprozess hinterher?«, fragte der König pikiert.

Ungläubig blinzelte Kaida. Sie traute dem Spitzohr nicht, schließlich hatte er ihr in der Vergangenheit wenig Grund dazu gegeben. Oberons Taten wirkten im Vergleich zu denen von Nero vielleicht etwas harmloser, doch sie wusste, dass sie sich davon nicht täuschen lassen durfte. Egoistisch waren beide Männer, sie scherten sich nicht um anderer Leute Wohl. »Lass die Spielchen«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, woraufhin Oberon überrascht eine Augenbraue hob. »Du glaubst mir nicht?«

»Natürlich nicht! Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum du dich plötzlich so um mich sorgst! Mein Leben bedeutet dir gar nichts und Jace’ zuliebe würdest du mich auch nicht verschonen. Das Einzige, was dir an mir liegen könnte, wäre meine Magie. Aber wenn du glaubst, dass ich mich einfach für deine Zwecke missbrauchen lasse, hast du dich geschnitten.«

Erneut schlich sich dieser nachdenkliche, leicht melancholische Ausdruck in die Augen des Königs, der Kaida trocken schlucken ließ. Was war nur los mit ihm? Der Oberon, den sie kannte, wäre vor Wut über ihre Aufmüpfigkeit schon längst an die Decke gegangen …

»Ich kann es dir beim besten Willen nicht verraten, Kaida. Noch nicht. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, aber in deinem Fall schützt sie zumindest das Leben derer, die nicht um deine wahre Vergangenheit wissen.«

»Ich weiß, was du meinen Eltern angetan hast«, platzte es unvermittelt aus Kaida heraus. Sie konnte förmlich dabei zusehen, wie dem König das Blut aus den Adern wich. Sein Gesicht wurde blass, seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Aus starren Augen blickte er zu ihr hinüber. »Wie bitte?«, presste er zischend hervor.

»Du hast mich schon verstanden. Ich weiß, dass ich das Kind des Menschenpaares bin, an dem du grausame Experimente durchgeführt hat. Du hast sie auf dem Gewissen, Oberon. Deinetwegen mussten sie sterben, deinetwegen haben Callum und ich unsere Kindheit und unser Zuhause verloren, deinetwegen sind wir –«

»Es reicht!« Die Stimme des Königs klang wie ein heftiger Donnerschlag, so hasserfüllt und zornig, dass Kaida erschrocken zusammenzuckte. »Du weißt nichts, Kaida, gar nichts! Die Welt ist nicht so einfach, wie du sie dir gern vorstellst! Wie kannst es wagen, mir zu unterstellen, ich hätte meiner eigenen Familie –« Abrupt verstummte er.

Stirnrunzelnd neigte Kaida den Kopf. »Familie? Ich habe doch gar nichts gegen deine Familie gesagt? Du –«

Ehe sie ihren Satz beenden konnte, durchfuhr ein höllischer Schmerz ihre Schläfen. Erschrocken schrie Kaida auf und presste sich ihre Hände mit aller Kraft auf die Ohren, doch es half nichts. Das schrille Piepen in ihrem Kopf sorgte dafür, dass sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten und sich ein eisiger Schauer ihre Wirbelsäule hinabfraß. »Hör auf!«, wimmerte sie verzweifelt, doch der Schmerz verstärkte sich auf ihre Bitte hin nur noch mehr. »Wehr dich endlich, du dummes Gör!«, hörte sie Oberon knurren. »Wofür hast du denn deine Gabe?«

Panisch horchte Kaida in ihren Körper hinein, doch der Schmerz war so stark, dass es ihr nicht gelang, sich auf das leichte Pulsieren in ihrem Bauch zu konzentrieren. Sie spürte, dass es dort irgendwo verborgen lag – doch sie konnte es nicht greifen. Plötzlich ging ein Ruck durch ihr Sichtfeld. Oberons Umrisse verschwammen, die Dunkelheit ihres Gefängnisses wurde von einem grellen Licht abgelöst. Kaida blieb das Herz stehen, als sie plötzlich in rote Augen starrte, die wie Kohle glühten …

»Da bist du ja endlich«, säuselte der Hexenmeister, wobei er seine Mundwinkel derartig nach oben zog, dass Kaida all seine fauligen spitzen Zähne sehen konnte. Ein eisiger Schauer jagte ihr über den Rücken, während sie zu dem Mann aufsah. Zwar wirkte er nicht weniger angsteinflößend als sonst, doch irgendetwas an ihm war anders. Die zusammengekauerte Körperhaltung, die Haut, die in schlaffen Falten an ihm herabhing … Er wirkte ausgezehrt und abgeschlagen, doch Kaida konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wieso.

»Mein Herr, ist alles in Ordnung mit Euch? Wieso habt Ihr nach mir rufen lassen? Callum wollte mich gerade im Schwertkampf unterrichten, als ein Diener auftauchte und –«

»Erspar mir dein Geschwafel! Es interessiert mich nicht, was du den Tag über getrieben hast. Und würdest du meinen Lehrstunden mehr Aufmerksamkeit schenken, könntest du dir zusammenreimen, was geschehen ist.«

Nachdenklich neigte Kaida ihren Kopf. Je länger sie über die Worte des Hexers nachdachte, desto tiefer wurde die Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Ich … ich weiß nicht …«

»Natürlich nicht«, erwiderte Nero und schüttelte enttäuscht den Kopf, »du dummes Mädchen verstehst wie immer gar nichts. Ich sollte dich dafür bestrafen, doch heute wird sich jemand anderes die Finger an dir schmutzig machen …«

»Kaida«, donnerte Oberons Stimme gereizt, »jetzt setz dich endlich zur Wehr und benutze deine verdammte Gabe!«

Zitternd schüttelte sie den Kopf und sackte noch mehr in sich zusammen, bis sie schließlich wie ein Häufchen Elend auf dem kalten Steinboden des Verlieses kauerte …

»Oh, sieh an, wer da kommt!«, platzte Nero voller Vorfreude hervor und rieb sich grinsend die Hände. Kaida fiel die Kinnlade hinunter, als sie auf den Koloss starrte, der sich hinter dem Hexer aufgebaut hatte. Die Gestalt erinnerte sie an die eines Schattenfressers, doch anstatt verquollen und neblig zu wirken, zeichneten sich gewaltige Muskeln unter der dünnen Rauchschicht ab, die das Wesen umkreiste.

»Es ist mir gelungen, eine noch stärkere Form meiner Schattenfresser zu erschaffen!«, verkündete Nero, wobei seine Stimme vor Stolz nur so strotzte. »Es kostet mich zwar noch mehr Magie als üblich, weshalb ich etwas angeschlagen aussehe, aber ich denke, dass dieser Kerl hier es allemal wert ist. Um das herauszufinden, sind allerdings noch ein paar Tests nötig … Na Kaida, wie wär’s? Willst du dich endlich mal nützlich machen?«

»Oberon, bitte hör auf!«, wimmerte Kaida schwach, während sie ihre Augen so fest zusammendrückte, dass es schmerzte. »Ich will das nicht sehen …«

»Dann wehre dich endlich, verdammt! Wie soll ich dich nur erst beschützen, wenn Nero wirklich hier auftaucht? Ich kann mich nicht nur um dein Wohl scheren, Luce und die anderen sind genauso in Gefahr! Du musst endlich lernen mit deiner Gabe umzugehen. Horch ganz tief in dich hinein, Kaida, du musst das Pulsieren in dir spüren und es irgendwie festhalten.«

Doch Kaida versuchte erst gar nicht seinen Vorschlägen zu folgen. Sie rollte sich nur noch mehr zusammen, unfähig auch nur ihren kleinen Finger zu rühren. Sie wusste, welche Erinnerung Oberons Gabe ihr gerade aufdrängte. Konnte sich noch genau daran erinnern, wie das Monstrum sie einst tief in die Gewölbe der Schwarzen Festung verschleppt und sie dort attackiert hatte. Sie schmeckte Gallenflüssigkeit auf ihrer Zunge, spürte das Brennen in ihren Augen. Ob Oberon wohl –

»Ich bin enttäuscht von dir«, hörte sie den König sagen.

Augenblicklich zog sich der Schmerz aus ihrem Kopf zurück und hinterließ nur noch ein dumpfes Pochen. »Aber was habe ich auch erwartet? Zwar haben deine Eltern meine Experimente überlebt und die Torturen überstanden, wurden zuletzt sogar mit Magie belohnt, aber am Ende sind auch sie verendet. Dein nutzloser Vater konnte sich ja nicht einmal gegen eine Handvoll Soldaten behaupten, ganz zu schweigen von deiner Mutter, die abgesoffen ist wie ein –«

»Wag es ja nicht, sie zu verspotten«, drang plötzlich ein gefährliches Knurren aus Kaidas Kehle. Der Schmerz in ihrem Herzen verwandelte sich in eine glühende Flamme aus Wut und Hass. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden und ihre Körpertemperatur durch die beißende Hitze in ihrem Inneren anstieg. Dieser widerliche Bastard …

»Wieso? Macht dich das etwa wütend, kleine Kaida?«, spottete der König und beugte sich grinsend zu ihr hinab, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Sieh dich doch nur mal an. Du liegst winselnd und wimmernd vor meinen Füßen, bettelst darum, dass ich dich verschone. Dieses Gefühl kennst du nur allzu gut, nicht wahr? Wie viele Jahre hast du dich von Nero unterdrücken und erniedrigen lassen? Siebzehn? Ich gebe zu, dass ich mir während des Wettkampfs staunend eingestehen musste, dass du doch sehr begabt bist. Aber anscheinend war das alles nur eine Fassade … Jetzt, wo weder dein feiner Bruder noch mein Sohn oder Nero auf dich achtgeben und dir sagen, was du zu tun hast, zeigt sich dein wahrer Charakter. Du bist ein Niemand, eine Versagerin … nutzlos wie deine Eltern. Wenn du –«

Schlagartig konnte Kaida es spüren. Das Pulsieren in ihrem Inneren war so stark, dass es alle anderen Empfindungen überschattete. Sie musste es Oberon beweisen; ihm zeigen, dass sie kein hilfloses Mädchen war, keine Versagerin. Ihr früheres Leben bei Nero war alles andere als ein Spaziergang gewesen, doch neben all den schlimmen Erinnerungen hatte es ihr auch noch etwas anderes mit auf den Weg gegeben; es hatte sie gelehrt, dass sie stark war. Stärker, als sie sich jemals zugetraut hätte. Anstatt in ihrem Leid zu ertrinken, hatte sie sich aus eigener Kraft aus dem Sumpf des Schmerzes und der Gewalt herausgezogen und von all dem Gift befreit, das jahrelang ihre Sinne benebelt hatte – und genau diese Stärke würde sie Oberon jetzt mit aller Kraft entgegenschleudern.

Kaida konzentrierte sich auf das Pulsieren, auf ihre Magie, die wie ein Wirbelsturm durch ihren Körper fegte. Ließ das Gefühl auf sich wirken, erkundete seine Struktur und die Macht, die es ausstrahlte. Es war ihre Macht. Ihre Gabe. Und auch wenn es erschreckend war, wie gefährlich und mächtig sie sich fühlte, so verspürte Kaida trotzdem Ruhe und Überlegenheit, wenn sie daran dachte, was sie mit ihrer neu gewonnenen Macht bewirken konnte. Plötzlich tauchten leuchtende Linien vor ihren geschlossenen Augen auf, die sich zu einer Art Ball gewunden hatten. Vorsichtig tastete sie nach den Fäden, die eine seltsame Wärme ausströmten, ähnlich wie das Feuer eines Kamins. Zuerst hatte Kaida das Gefühl, die unkontrollierte Magie nicht richtig greifen zu können, doch dann gelang es ihr endlich, einen der Magiefäden zu erhaschen und sich an ihm festzuhalten. Sie spürte, wie der Faden wie ein brennendes Lasso um ihren Arm kroch.

Ihre Adern wurden von einem berauschenden Gefühl geflutet, das all die Angst und Zweifel aus ihrem Kopf verdrängte. Eine ungewohnte Leichtigkeit überkam ihre Sinne und sprengte die Fesseln, die ihr Inneres eingepfercht hatten.

Kaida öffnete die Augen. Sie war bereit, ihre Magie wie eine Flutwelle über Oberon hereinbrechen zu lassen. Bereit, jeden einzelnen seiner Knochen zu brechen. Doch als sie den stolzen Ausdruck in seinem Blick bemerkte, verpuffte ihre Entschlossenheit wie das Feuer einer Fackel, über die man einen Eimer Wasser geschüttet hatte.

Kapitel 3

»Konzentriere dich auf deine Atmung und versuche deine Magie vor deinem Körper aufzuspannen«, hörte Kaida den König ruhig erklären. Sie war so irritiert von seinem plötzlichen Stimmungswechsel, dass sie prompt die Konzentration verlor. Augenblicklich begannen die Magiefäden zu rebellieren. Angestrengt versuchte Kaida sie im Zaun zu halten, doch sie spürte, wie ihre Aufmerksamkeit dadurch immer weiter abdriftete und sich stattdessen an das Schwindelgefühl in ihrem Kopf heftete. All die Leichtigkeit in ihrem Körper war verschwunden, stattdessen machte sich Panik in ihm breit. Was, wenn sie die Kontrolle über ihre Gabe verlieren und den ganzen Palast zum Einsturz bringen würde?

»Kaida«, hörte sie Oberons’ Stimme dumpf durch den Nebel ihrer Gedanken dringen, »du musst dich konzentrieren! Wenn du merkst, dass dir deine Gabe entgleitet, dann verschließe sie, ehe sie sich völlig deiner Kontrolle entziehen kann.«

»Wie denn?«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihre Glieder schmerzten bereits vom Kampf gegen ihre eigene Magie. Kaida fühlte sich müde und ausgelaugt, am liebsten hätte sie die Magiefäden einfach losgelassen … Ruckartig schüttelte sie den Kopf. Wenn sie jetzt aufgab, wäre alles verloren. Angestrengt konzentrierte sie sich erneut auf die Magiefäden, die noch immer um ihre Arme krochen, und versuchte sie durch die Kraft ihrer Gedanken wieder in ihr Inneres zu ziehen.

Als die goldenen Fäden langsam wieder in ihren Handflächen verschwanden, atmete sie erleichtert aus – doch der Kampf war noch lange nicht vorbei. Sie konnte noch immer spüren, wie die Flammen des Zaubers in ihrem Inneren loderten. Es kam Kaida beinah so vor, als würde ihre Gabe sie von innen heraus verbrennen wollen, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ob das der Grund war, weshalb sie seinerzeit am Nixensee explodiert war? Damals hatte sie ihre Gabe noch nicht so präzise wahrgenommen wie jetzt, vielleicht war die Magie einfach aus ihr herausgebrochen, weil sie sie nicht unter Kontrolle gehabt hatte …

»Das machst du sehr gut.« Im ersten Moment war Kaida so überrascht von dem Lob, dass sie gar nicht glauben konnte, dass es wirklich von Oberon stammte. Was war nur in ihn gefahren?

»Erst … erst machst du mich nieder und jetzt hilfst du mir?«, presste sie angestrengt hervor, während sie versuchte ihre Magiefäden aufzuwickeln wie Garn um eine Spule. Schweiß rann ihr über die Stirn.

»Dich wütend zu machen war der einfachste Weg, deine Gabe aus dir herauszukitzeln«, erklärte der König geduldig. »Du konntest sie bisher nur noch nicht so feinfühlig wahrnehmen und kontrollieren, weil wir dich als Kind mit einem Schutzzauber versehen haben, der deine Gabe in dir verschloss. Nur in absoluten Notlagen konnte sie diesen Zauber durchbrechen und dir das Leben retten, so zum Beispiel damals im Nixensee oder auch in der Halle, in der dich Nia mit ihrer Macht angegriffen hat. Die Tatsache, dass du nun allein dazu in der Lage bist sie heraufzubeschwören, beweist, dass dieser Zauber endgültig durchbrochen wurde. Versuch doch mal, ob du die Fäden wie ein Netz vor dir aufspannen kannst. Dadurch sollte es dir gelingen, Angriffe abzuwehren.«

Mit zusammengebissenen Zähnen erlaubte Kaida ihrer Magie wieder an die Oberfläche zu steigen. Behutsam ließ sie die Enden der Fäden von ihrem Körper wegschweben, doch egal wie sehr sie sich anstrengte, die Fäden wollten sich einfach nicht verweben lassen. Frustriert zog sie ihre Augenbrauen zusammen.

»Das wird so nichts«, rügte Oberon, »du bist noch nicht stark genug, um deine Gabe nur über deine Gedanken zu befehligen. Nimm deine Hände zur Hilfe und stell dir vor, wie die Fäden aus deinen Fingerspitzen aufsteigen. Verflechte sie ineinander und mache dir ein Bild davon, wie dein Netz am Ende aussehen soll.«

Genervt verdrehte Kaida die Augen. »Pff, du kannst leicht reden …« Doch zu ihrem Erstaunen schien Oberons Tipp tatsächlich besser zu funktionieren als gedacht. So gelang es ihr, die Fäden aus ihren Fingerspitzen aufsteigen zu lassen und vor ihrem Körper zu lenken. Sie verbildlichte sich, wie ein Spinnennetz aussah, und versuchte das Muster zu imitieren. Ihre Adern wurden von einer unbändigen Euphorie geflutet, als die Fäden ihrem Willen folgten und sich langsam aufspannten.

»Sehr gut, Kaida«, lobte Oberon anerkennend, »und jetzt versuch bitte –«

Der Rest seiner Anweisung ging in dem lauten Knall der Metalltür unter, die mit voller Wucht gegen die Steinwand gedonnert wurde. Kaida fuhr so sehr zusammen, dass sie sich den Hals verrenkte. Als sie mit ihrer Hand nach der schmerzenden Stelle griff, nutzte die Magie ihre Unachtsamkeit sofort aus und schnellte auf Oberon zu, der nur im letzten Moment ausweichen konnte.

Als Kaida in die grauen Augen der Prinzessin blickte, die sie hasserfüllt anstarrten, wurde ihr vor Schreck ganz schwindelig.

»Was soll das, Nia?«, fuhr Oberon seine Tochter an, doch die schnaubte nur verächtlich und hob ihrerseits die Hände vor ihren Oberkörper. »Als mir die Wachen verraten haben, dass du dieser miesen Verräterin im Umgang mit ihrer Magie hilfst, hielt ich ihre Aussage für einen unfassbar schlechten Witz. Wie kannst du nur dieser Mutantin Unterstützung zukommen lassen, Vater? Es kann dir doch nicht egal sein, was sie Jace angetan hat!«

»Halt dich aus Angelegenheiten raus, die dich nichts angehen, Nia«, blaffte der König hörbar zornig.

Überrascht weiteten sich Kaidas Augen, während sie ihr Hauptaugenmerk darauf legte, die Magie wieder in ihre Handflächen zu ziehen. Oberon verhielt sich zwar schon die ganze Zeit über sonderbar, aber dass er sie nun vor seiner eigenen Tochter in Schutz nahm, brachte das Fass zum Überlaufen – zumindest schien es das für Nia. Denn ehe Kaida reagieren konnte, wurde sie auch schon von einem heftigen Luftstoß gegen die Wand in ihrem Rücken gedrückt. Die Luft presste so stark gegen ihren Brustkorb, dass Kaida nach Luft japste. Instinktiv riss sie ihre Hand nach oben, tastete nach ihren Magiefäden und ließ einige davon auf Nia zurasen. Die Fäden wickelten sich wie Seile um die Handgelenke und Knöchel der Prinzessin.

Ungläubig betrachtete Nia das Spektakel und zog die Augenbrauen zusammen. Ehe sie begriff, was Kaida im Schilde führte, zog diese ihre Magie wieder fest an sich heran und riss Nia somit von den Füßen. Sofort verschwand der Druck von Kaidas Brustkorb und sie sog gierig die stickige Kellerluft ein.

»Hört sofort auf damit!«, befahl Oberon streng. Sein Tonfall machte Kaida so stutzig, dass sie ihre Magie wieder zurückzog und sich zu dem König umdrehte. »Ich bin nicht deine Tochter, du hast mir gar nichts zu sagen!«, brummte sie missmutig.

»Ha, mit dir verwandt sein … das fehlte mir ja noch!«, presste Nia lachend hervor, wobei sie beinah hysterisch klang. Kopfschüttelnd beobachtete Kaida, wie sich die Magiefäden in ihre Handflächen zurückzogen. Alles wirkte so kontrolliert, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan … doch die Erinnerungen und der Schmerz über den Vorfall am See schnitten noch immer wie Glasscherben in ihr Herz. Ob sie die Nixen hätte retten können, wenn sie schon damals gewusst hätte, wer sie wirklich war? Was in ihr steckte?

»Die Magie zum ersten Mal unter Kontrolle zu bekommen ist am schwierigsten«, hörte sie Oberon leise sagen. Als sie zu ihm aufblickte, nickte er ihr ermutigend zu. »Konzentrier dich auf deine Atmung und stell dir vor, wie du deine Gabe in deinem Inneren verschließt. Es gibt noch viel, das ich dir beibringen muss, aber wir sollten es nicht übertreiben. Am wichtigsten ist, dass du den Prozess einmal durchlaufen bist und wenigstens die grundlegenden Schutzmechanismen kennst.«

Stutzig starrte Kaida den König an. Als ihr Blick kurz zu Nia hinüberhuschte, erkannte sie, dass die Prinzessin genauso ungläubig zu Oberon blickte wie sie selbst. »Vater, wir müssen uns unterhalten.«

»Von mir aus. Aber die Hoffnung auf Antworten kann ich dir jetzt schon nehmen.«

»Kaida ist eine Verräterin, warum baumelt sie noch nicht in einem Strick vor den Toren unserer Stadt? Selbst wenn es dich nicht kümmert, dass sie deinem Sohn das Herz gebrochen hat, so müsstest du doch trotzdem unzählige Gründe haben, sie an den Galgen zu bringen. Sie hat uns für den Roten Mond ausspioniert, deinen Feind, falls du es vergessen haben solltest. Ihretwegen wurde Luce entführt! Als ihre Gabe aktiv wurde, hätte sie uns beinah umgebracht, außerdem –«

»Hättest du mir nicht einen Dolch in den Rücken gerammt und meine Lunge ausgepresst wie eine Zitrone, wäre meine Gabe gar nicht erst ausgebrochen«, widersprach Kaida beleidigt. Ja, die Prinzessin hatte mit ihren Vorwürfen nicht ganz unrecht, doch sie sah nicht ein, warum sie sich noch mehr Katastrophen zuschreiben sollte als die, die sie wirklich zu verantworten hatte. Ächzend drückte Kaida die restliche Magie in ihr Innerstes zurück. Sie versuchte die Fäden wieder wie einen Ball aus magischem Garn zusammenzuwickeln und ihn anschließend tief in ihrem Innersten zu verschließen. Währenddessen atmete sie ruhig ein und aus, redete sich bei jedem Atemzug ein, innerlich zu entspannen – und tatsächlich! Als sie endlich spürte, wie das Pulsieren ihrer Magie mit jedem Atemzug mehr abklang, hätte sie am liebsten laut aufgeseufzt. Endlich schien dieses verdammte Kräftemessen zwischen ihrem Kopf und ihrer magischen Kraft überstanden zu sein. Kaida atmete noch ein allerletztes Mal tief durch – und dann war es weg. Verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Es war ihr herzlich egal, wie man das plötzliche Verschwinden des Pulsierens nennen mochte, Hauptsache, diese verdammte Tortur war vorüber.

»Du schuldest uns Antworten«, blaffte Nia ihren Vater an und obwohl Kaida es nur sehr ungern tat, musste sie der Prinzessin diesbezüglich zustimmen. Seufzend setzte sie sich gerade auf und strich sich die roten Haarsträhnen aus dem Gesicht, die leicht an ihrer Haut klebten. Als ihr Blick auf den von Oberon traf, zog sie herausfordernd eine Augenbraue nach oben. »Wieso tust du auf einmal so, als würdest du dich um mich scheren? Wieso hilfst du mir meine Magie zu kontrollieren?« Schulterzuckend hielt der König ihrem Blick stand. »Weil ich egoistisch bin. Solange du deine Gabe nicht im Griff hast, bist du einfach ein zu großes Risiko. Außerdem … außerdem habe ich jemandem versprochen auf dich achtzugeben.« Misstrauisch neigte Kaida den Kopf, doch gerade als sie ihren Mund öffnete, kam ihr Nia zuvor. »Seit wann tust du Jace einen Gefallen? Hast du etwa deine moralische Seite entdeckt? Ich verstehe einfach nicht, was ihr zwei an diesem rothaarigen Miststück findet … Wenn du dich nur halb so sehr für deinen zweiten Sohn einsetzen würdest wie für diese Verräterin, wäre Luce wahrscheinlich schon seit Wochen wieder zurück!«

Die Worte der Prinzessin trafen Kaida wie ein gewetztes Schwert. Luce. Der Junge war noch immer in großer Gefahr, während sie hier geschützt in Oberons Obhut verweilte. Ob Nia recht hatte? Vielleicht lenkte sie den König und Jace ja wirklich von den eigentlichen Problemen ihrer Familie ab …

»Ich werde Kaida auf ein anderes Zimmer verlegen«, hörte sie Oberon wie aus einer weiten Ferne sagen. »Du kommst mit mir, Nia, ich muss dir etwas zeigen.«

Kapitel 4

Kaidas Beine baumelten von der Bettkante und zappelten unruhig umher, während sie zum wiederholten Mal an ihren Fingernägeln knabberte. Sie war allein in dem kleinen Zimmer, das wohl ursprünglich für Bedienstete eingerichtet worden war. Es war nicht annährend so prunkvoll wie Jace’ Gemächer, aber zum Wohnen reichte es allemal. Das Einzige, was Kaida hier drinnen wirklich vermisste, waren Fenster.

Während sie auf der durchgelegenen Matratze saß und ihren Gedanken nachhing, schallten von draußen die Stimmen von Oberon und einigen anderen Fae zu ihr hinein. Die Männer sprachen durcheinander und wurden in dem Versuch, einander zu übertönen, zeitweise ziemlich laut.

Nachdenklich hob Kaida ihre Hände vors Gesicht und musterte die blasse Haut, unter der feine blaue Adern hindurchleuchteten. Sie sahen aus wie gewöhnliche Menschenhände, doch sie wusste es mittlerweile besser; denn Menschen explodierten nicht. Sie konnten weder Magiefäden heraufbeschwören und damit andere Lebewesen attackieren noch den bittersüßen Todeskuss von Jace’ Fluch überleben. Irgendetwas stimmte hier nicht – und nicht zu wissen, was es war, trieb Kaida beinah in den Wahnsinn. Als sie ein leises Knarzen hörte, fuhr sie erschrocken herum.

Ihr Blick traf auf Oberon, der plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war. Ihre Augen wanderten über sein glattes Haar hinauf zu der silbernen Krone, die in der gleichen Farbe schimmerte wie sein königliches Gewand. Sein Blick wirkte streng, doch da lag auch noch ein anderer Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht benennen konnte. Plötzlich tauchte noch eine weitere Gestalt im Türrahmen auf. Kaida sog scharf die Luft ein, als ihr Blick auf die Augen des Prinzen traf, die förmlich in Flammen zu stehen schienen. Wortlos überreichte er seinem Vater eine Pergamentrolle, während er Kaida eindringlich fixierte. Sofort musste sie daran zurückdenken, wie er sich wenige Stunden zuvor um sie gekümmert hatte. Nachdem Oberon sie auf ihr neues Zimmer geschickt hatte, war Jace bei ihr aufgetaucht und hatte sich gegen den Willen seines Vaters nicht davon abbringen lassen, eine Weile an ihrer Seite zu bleiben. Zu Kaidas Erstaunen hatte er sie sogar in eine feste Umarmung geschlossen und erst wieder losgelassen, als sie ihm versichert hatte, dass sie nach der Auseinandersetzung mit Nia unversehrt war. Auf ihren verwirrten Gesichtsausdruck hin hatte er ihr klar gemacht, dass sein Fluch laut Oberon keine Auswirkungen mehr auf sie hätte. Den Grund dafür hatte ihm der König zwar nicht verraten wollen – natürlich nicht – aber für Kaida zählte sowieso nur die Tatsache, dass sie den Prinzen nun gefahrenlos berühren konnte. Doch je länger sie jetzt in Jace’ Augen sah, die mit einem Mal jegliche Wärme verloren hatten, desto mehr drängte sich ihr die Frage auf, ob er diese Berührungen überhaupt noch wollte. Natürlich war ihr klar, dass zwischen ihnen noch längst nicht alles geklärt war. Kaida wusste, dass Jace ihr nicht einfach verzeihen konnte, was sie ihm und seiner Familie angetan hatte – schon gar nicht, so lange Luce noch verschwunden war. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sich die Kluft zwischen ihnen erneut vergrößert hatte. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Etwas, das erneut die Wut in ihm entfacht hatte …

»Ein Brief von deinem lieben Bruder«, riss Oberon sie aus ihren Gedanken und hielt die Papierrolle hoch wie einen Pokal. Jace schnaufte missmutig und wandte sich kopfschüttelnd ab. Kaida wollte ihm folgen, doch als sie einen Schritt auf die Tür zumachte, streckte Oberon herrisch eine Hand nach ihr aus und hielt sie zurück. »Dein Bruder bietet uns einen Handel an«, erklärte er mit kurzem Blick auf das dünne Papier in seinen Händen. »Er lässt meinen Bastard am Leben, wenn wir ihm im Gegenzug Waffen, Nahrung und Medizin zukommen lassen. Hast du eine Ahnung, was er mit 800 Broten, 100 Wasserfässern und 90 Säcken Heilkräutern anstellen will? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Luce ihm die Haare vom Kopf frisst und die Vorräte allein aufbraucht.« Ein zynisches Glucksen drang aus seiner Kehle, während er die Rolle kopfschüttelnd unter seinem Mantel verschwinden ließ. »Stell dir vor, mein Bastard nimmt den Roten Mond auseinander, indem er ihm die Nahrung wegfuttert … Findest du das nicht auch amüsant?« Als er keine Antwort erhielt, seufzte er theatralisch und wandte sich zum Gehen. »Dann ertrink eben in deinem Selbstmitleid und knabbere weiter an deinen Fingernägeln herum, bis du keine mehr hast … Brote werden im Palast wohl erst einmal knapp werden, an deiner Stelle würde ich schon mal welche bunkern. Bis später, Kaida.«

»Was stand noch in dem Brief?«, fragte sie hastig, als der König bereits in den Flur getreten war.

Überrascht hielt er inne und drehte sich zu ihr um. »Bitte?«