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Magisterarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Sprache: Deutsch, Abstract: Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" (1951) ist eine schonungslose und zutiefst pessimistische Momentaufnahme der jungen Bundesrepublik Deutschland und zeigt eine Gesellschaft zwischen Zusammenbruch, Neuanfang und Restauration. Eine Verdichtung des Zeitgeschehens gelingt durch geschickte Montage von Figuren und Schicksalen verschiedener Milieus im Verlauf eines einzigen Tages. Tief geprägt von der unmittelbaren, noch unbewältigten Vergangenheit sowie der als leidvoll empfundenen Gegenwart, fühlen sich die Figuren als Opfer ihrer Zeit, die sie als labilen Schwebezustand empfinden. Die vorliegende Arbeit stellt die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Bewältigung der destabilisierten Gegenwart heraus, wie sie an den Figuren und ihren Beziehungen untereinander sichtbar werden – in der geistigen und psychischen Bewältigung des Daseins ebenso wie im zwischenmenschlichen Verhalten –, und verfolgt das Scheitern der versuchten Lösungsansätze. Nach einer Einführung, in der der Roman in das Koeppen'sche Gesamtwerk eingeordnet (2.1), sowie ein Abriss des historischen Hintergrunds, der für den Roman maßgeblich ist, dargelegt wird (2.2), folgt ein Überblick über zentrale Stilmittel und Elemente der Erzählstruktur (3.). Der Hauptteil (4.) analysiert und interpretiert den oben genannten Themenbereich hinsichtlich folgender Aspekte: Während der erste Teil das den Roman dominierende Grundgefühl der Angst (4.1), mit den Elementen der allgemeinen Bedrohung durch Krieg, der individuell verschiedenen Ängste sowie der zwischenmenschlichen Folgen der Angst, darstellt, befasst sich der zweite Teil mit den sozialen Defiziten (4.2), wie sie sich innerhalb der Paar- und Familienbeziehungen, aber auch unter dem Aspekt der Kommunikation manifestieren. Der dritte Teil (4.3) zeigt die Suche nach Orientierung in Bezug auf Werte, Normen und Sinngebung und charakterisiert diesbezüglich verschiedene Weltbilder. Überdies untersucht das Kapitel die Verfolgung persönlichen Lebensglücks und das Element der Psychotherapie als professionelle Hilfe bei der Bewältigung von Vergangenheit und Gegenwart. Das Scheitern aller genannten Aspekte verweist auf den vierten Teil (4.4), der sich mit den Folgen des Scheiterns für die Lebenseinstellung und das Geschichtsverständnis nicht nur der Figuren befasst. Hier, wie auch im abschließenden Kapitel (5.), weitet sich die Perspektive auf Wolfgang Koeppen selbst.
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Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“ (1951)
-Einedestabilisierte Gegenwart als Ursache gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit und die Suche des Individuums nach psychischem, geistigem und sozialem Halt zwischen neuen Illusionen und alten Strukturen
zur Erlangung des akademischen Grades Magistra Artium (M.A.)
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Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ aus dem Jahr 1951 ist eine schonungslose und zutiefst pessimistische Momentaufnahme der jungen Bundesrepublik Deutschland und zeigt „eine Gesellschaft im Umbruch, im Schnittpunkt von Zusammenbruch, Neuanfang und Restauration.“1
Eine Verdichtung des Zeitgeschehens, von Koeppen als „die Essenz des Daseins, das Klima der Zeit“ (V 234)2bezeichnet, gelingt ihm durch geschickte Komposition einer „Vielzahl von Gestalten, Schicksalen und Milieus, Situationen und Vorgängen, Impressionen und Bewußtseinsebenen“3im Verlauf eines einzigen Tages.
„Die treffende Darstellung und Erhellung zeittypischer Schicksale, kollektiver Verhaltensweisen sowie politischer und geistiger Strömungen anhand der einzelnen Romanfiguren lassen ohne theoretische Ausführungen über Politik und Gesellschaft ein tiefgründiges realistisches Bild der Zeit entstehen.“4Die deutschen Figuren sind tief geprägt von der unbewältigten Vergangenheit, dem Nationalsozialismus und dem Krieg sowie der als leidvoll erlebten Gegenwart, die sich in folgenden Aspekten äußert:
„Ökonomische und wirtschaftliche Probleme, Schwarzmarkt, Nepp, Armut und Aggression, dumpfe Bewußtlosigkeit, Realitätsflucht und Selbstbetrug, Trostlosigkeit, Angst, Entfremdung und Verlorenheit - und dies alles im politischen Spannungsfeld, das von Konfliktverschärfungen und von militärischer Rüstung geprägt ist.“5Es fällt den 'Davongekommenen' des Weltkrieges sichtlich schwer, das veränderte Leben zu bewältigen, sind sie doch herausgerissen aus den ihnen vertrauten Lebenszusammenhängen, die ihnen Sicherheit und menschliche Bindungen vermit-
1 Koch, Manfred: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Romane des 20. Jahrhunderts. Band 2. Interpretationen. 1993. S. 34-58. S. 39.
2 Zitate beziehen sich auf die Ausgabe der Gesammelten Werke (Koeppen, Wolfgang: Gesammelte Werke. Band 1: Romane I. Eine unglückliche Liebe. Die Mauer schwankt. Band
2: Romane II. Tauben im Gras. Das Treibhaus. Der Tod in Rom. Band 3: Erzählende Prosa. Band 4: Berichte und Skizzen I. Band 5: Berichte und Skizzen II. Band 6: Essays und Rezensionen. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main 1990), ihre Herkunft wird im fortlaufenden Text mit römischen Ziffern für den Band und arabischen Ziffern für die Seitenzahl angegeben.
3 Reich-Ranicki, Marcel: Der Poet als Zeuge. 1963. In: ders.: Wolfgang Koeppen. Aufsätze und Reden. 1996. S. 25-52. S. 39.
4 Erlach, Dietrich: Wolfgang Koeppen als zeitkritischer Erzähler. 1973. S. 218.
5 Stühler, Friedbert: Totale Welten: der moderne deutsche Großstadtroman. 1989. S. 102.
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telten.6Richard Gunn stellt zu Recht heraus: „The book's central thrust is an examination of [..] the characters['] [...] inability to deal with the present, and how the recent past [...] has contributed to this inability.“7Sie fühlen sich als Opfer ihrer Zeit, die sie als labilen Schwebezustand empfinden, erleiden „das in sich mürbe, unsichere Leben in einer formlosen, unruhigen Zeit, die vom Zufall beherrscht wird“8, wie der Klappentext der Erstausgabe einen Kerngedanken des Romans beschreibt.
Das Ziel dieser Arbeit ist es nun, verschiedene Schwierigkeiten bei der Bewältigung der destabilisierten Gegenwart herauszuarbeiten, wie sie auf vielfältige Weise an einzelnen Figuren respektive ihren Beziehungen untereinander offenbar werden. Hier sind namentlich die Defizite in geistiger und psychischer Bewältigung des Daseins sowie im Sozialverhalten zu nennen, wobei die Probleme über „specific problems faced by West Germany in the immediate postwar era“ hinausgehen und „general problems peculiar to human existence“9berühren. Weiterhin wird zu zeigen sein, dass jedweder Ansatz zur Bewältigung oder konstruktiven Lösung der Probleme scheitert.
Nach einer Einführung, in der „Tauben im Gras“ in das Koeppen'sche Gesamtwerk eingeordnet(2.1),sowie ein Abriss des historischen Hintergrunds, der für den Roman maßgeblich ist, dargelegt wird(2.2),folgt ein Überblick über zentrale Stilmittel und Elemente der Erzählstruktur (3.). Der Hauptteil (4.) analysiert und interpretiert den oben genannten Themenbereich hinsichtlich nachstehender Aspekte: Während der erste Teil das den Roman dominierende Grundgefühl derAngst (4.1),mit den Nuancen der allgemeinen Bedrohung durch Krieg, der individuell verschiedenen Ängste sowie der zwischenmenschlichen Folgen der Angst, darstellt, befasst sich der zweite Teil mit densozialen Defiziten (4.2),wie sie sich innerhalb der Paar- und Familienbeziehungen, aber auch unter dem Aspekt der Kommunikation manifestieren. Der dritte Teil(4.3)zeigt die Suche nachOrientierungin Bezug auf Werte, Normen und Sinngebung und charakterisiert diesbe-
6 Vgl. Koch (1993): S. 45.
7 Gunn, Richard L.: Art and Politics in Wolfgang Koeppen's Postwar Trilogy. 1983. S. 29.
8 Klappentext der Erstausgabe, zitiert nach: Lorenz, Otto: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen - Peter Handke - Horst-Eberhard Richter. 1998. S. 108.
9 Gunn (1983): S. 177f.
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züglich verschiedene Weltbilder. Überdies untersucht das Kapitel die Verfolgung persönlichenLebensglücksund das Element der Psychotherapie als professionelle Hilfe bei der Bewältigung von Vergangenheit und Gegenwart. Das Scheitern aller genannten Aspekte verweist auf den vierten Teil(4.4),der sich mit den Folgen des Scheiterns für die Lebenseinstellung und das Geschichtsverständnis nicht nur der Figuren befasst; das Empfinden ist das einerKontingenz und Sinnlosigkeitdes Daseins. Hier, wie auch im abschließenden Kapitel (5.), weitet sich die Perspektive auf Wolfgang Koeppen selbst und seine aus dem Roman ableitbaren Einstellungen zu Leben und Geschichte.
Die vorliegende Arbeit entwickelt eine literarische Interpretation des Koeppen'schen Romans „Tauben im Gras“, bleibt werkimmanent und intendiert methodisch keine Anwendung soziologischer bzw. sozialpsychologischer Analysen oder Theorien. Wenn Wolfgang Koeppen auch mit scharfem Blick wesentliche gesellschaftsrelevante, sowie psychologische Fragestellungen erkennt, ist seine Arbeit dennoch rein literarisch, was ich methodisch berücksichtigen möchte. Aus dem gleichen Grund wird kein expliziter Vergleich mit der tatsächlichen historischen Realität angestrebt. Koeppen ist ein Erzähler, der „von der greifbaren, fühlbaren, sichtbaren Wirklichkeit ausgeht“10, die ihm jedoch lediglich als „Katalysator für die Imagination“ (II 222) dient. Realität und Fiktion verschmelzen dabei „zu einer Einheit, die die Wirklichkeit trifft und sie entlarvt.“11
Der in der Sekundärliteratur vielfach und zu Recht diskutierte politische Aspekt rückt im Rahmen des Themas dieser Arbeit in den Hintergrund und wird nur dort gestreift, wo er zur Darstellung der Roman-Atmosphäre beiträgt.
In aller Kürze sollen weitere wichtige Werke Wolfgang Koeppens genannt und der Roman „Tauben im Gras“ zeitlich in den Kontext des Gesamtwerks eingebettet werden. Koeppen hat seine großen Werke in mehreren Phasen geschrieben, die
10 Erlach (1973): S. 59.
11 Ebd.: S. 177.
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zum Teil von längeren Pausen unterbrochen wurden:
1934 erscheint sein Debütroman „Eine unglückliche Liebe“, 1935 folgt der zweite Roman „Die Mauer schwankt“. Die Bedrückungen durch den Nationalsozialismus, dem Koeppen negativ gegenübersteht und dessen Vertreter Koeppens Stil ablehnen, wobei das Erscheinen der Romane im jüdischen Bruno Cassirer Verlag eine zusätzliche Erschwernis bedeutet, sorgen neben dem späteren Krieg für ein einstweiliges Verstummen des Autors:
„Ein literarisches Wirken war nicht unmöglich gemacht. Ich hätte mich nur anpassen müssen. Das wollte und konnte ich nicht. Also war es mir doch unmöglich! Auch die berühmte Schublade blieb im großen und ganzen leer. [...] Der Schrecken lähmte. Auch war ich voll damit beschäftigt, zu überleben.“121948 erscheint „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“, die nach Tatsachen geschriebene Lebensgeschichte eines jüdischen Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtung. Erst Anfang der 1990er Jahre bekennt sich Koeppen zur Autorschaft.
Die drei Nachkriegsromane schreibt Koeppen in rascher Folge. 1951 erscheint „Tauben im Gras“, es folgen 1953 „Das Treibhaus“ und 1954 „Der Tod in Rom“. Diese 'Trilogie'13, deren Thema die „beängstigende[..] Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft zu Anfang der fünfziger Jahre“14ist, erhält ihre Besonderheit sowohl durch die Themenwahl als auch durch den Stil15und die Gesellschaftskritik, die herausragen aus einer literarischen Szene, welche beherrscht ist „von der Kahlschlagsideologie der Stunde Null, von den Kriegsheimkehrern, die in ihren Erinnerungen wühl[..]en, von einer christlich verbrämten Innerlichkeit“ und einer
12 Bienek, Horst: Werkstattgespräch. Horst Bienek im Gespräch mit Wolfgang Koeppen. Aufgenommen im Sommer 1961. In: Greiner, Ulrich (Hg.): Über Wolfgang Koeppen. 1976a. S. 247-256. S. 248.
13 Der Begriff wird hier in einem lockeren Verständnis gebraucht, um die Gruppe von Romanen mit einem gemeinsamen Thema innerhalb des Koeppen'schen Werkes zusammenzufassen. Josef Quack präzisiert: „Der Romanserie gelingt es, den exzeptionellen Zeit- und Bewußtseinswandel, der sich in den wenigen Jahren vollzogen hat, auf eine beklemmende Weise darzustellen. Darin liegt die wesentliche Einheit der drei Werke, und das ist der einzige Grund, der es rechtfertigen könnte, bei diesen Romanen, die nicht als Teile einer über-geordneten Werkeinheit geplant waren, von einer Trilogie zu sprechen.“ (Quack, Josef: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. 1997. S. 198)
14 Erlach (1973): S. 169.
Vgl.3. Stilmittel und Erzählstruktur im Überblick.15
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„Abscheu vor Politik.“16
Koeppen hingegen bleibt als „erster Romancier [...] der Gegenwart so dicht auf der Spur, daß die Zeit der Niederschrift mit der des Romangeschehens“17zusammenfällt und erzählt „denen, die noch einmal davongekommen waren, unliebsame Wahrheiten über ihre Gegenwart“18, thematisiert dabei „zentrale, aber tabuisierte Erscheinungen der bundesdeutschen Gesellschaftsentwicklung“19.
Koeppens „Warnrufe vor einem Dritten Weltkrieg, vor restaurativen gesellschaftlichen Entwicklungen oder existentialistisch artikulierte Lebensgefühle“20schon 1951 in „Tauben im Gras“ zeugen eindrucksvoll von der Bedeutsamkeit, die gerade dem ersten Buch innerhalb der 'Trilogie' zukommt. Eine positive Aufnahme durch ein größeres Lesepublikum bleibt den Romanen bei Erscheinen verwehrt, weil sie thematisch und stilistisch (noch) nicht den Zeitgeist treffen und in ihrer schonungslosen Kritik abgelehnt werden:
Die „apolitische, wenig selbstkritische und noch kaum weltoffene Grundhaltung der Nachkriegsdeutschen, insbesondere die Neigung zum Verdrängen der Nazi-Vergangenheit und das Fehlen von Zugängen zur literarischen Moderne [verhindern] eine breitere öffentliche Resonanz.“21
1958-61 erscheinen drei Bände mit Reisebeschreibungen: „Nach Rußland und anderswohin“ (1958), „Amerikafahrt“ (1959), „Reisen nach Frankreich“ (1961). Diese erfahren weitaus mehr Zustimmung und Verbreitung.
1976 erscheint „Jugend“, eine literarische Fiktionalisierung autobiographischer Erfahrungen.
Später erscheinen weiterhin zahlreiche Essays (Sammlung „Die elenden Skribenten“, 1981) und kleinere Prosastücke (Sammlung „Romanisches Café“, 1972).
16 Greiner, Ulrich: Wolfgang Koeppen oder Die Geschichte eines Mißerfolgs. 1976b. In: ders. (Hg.) (1976a): S. 9-21. S. 17.
17 Altenhofer, Norbert: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951). In: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Ts. 1983. S. 284-295. S. 284.
18 Greiner (1976b): S. 17.
19 Fischer, Ludwig: Dominante Muster des Literaturverständnisses. 1986b. In: ders. (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. 1986a. S. 179-213. S. 209.
20 Koch (1993): S. 37.
21 Lorenz (1998): S. 111.
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Ein knapper historischer Abriss der Situation (West-)Deutschlands Ende der 1940er/ Anfang der 1950er Jahre dient einem besseren Verständnis der gesellschaftlichen Lage, von der „Tauben im Gras“ ausgeht. Zudem sind die Stimmung, die in dem Roman transportiert wird, und die Probleme, mit denen die Figuren kämpfen, mit der historischen Situation untrennbar verknüpft.
Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands 1945 werden das Land und seine Hauptstadt Berlin von den Siegermächten Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und der Sowjetunion (UdSSR) in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Zunächst wird Deutschland grundsätzlich als Einheit betrachtet, aber die unterschiedlichen Vorstellungen über die weitere ökonomische und politische Entwicklung des Landes beenden bald den gemeinsamen Weg - Folge und Bestandteil des Ost-West-Konflikts22.
Die im Juni 1948 in den drei westlichen Besatzungszonen durchgeführte Wäh-rungsreform („VierzigMark Kopfgeld“,II 21) und die im Mai 1949 mit der Verkündung des Grundgesetzes erfolgte Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zementieren diesen Weg. Aus der ersten Bundestagswahl im August gehen mit der CDU/CSU (Christlich-Demokratische Union/ Christlich-Soziale Union) Konservative als stärkste Kraft hervor; Konrad Adenauer wird Bundeskanzler. Im September tritt das Besatzungsstatut in Kraft. Es beendet die Militärregierung in den Westzonen und überträgt Bund und Ländern die volle gesetzgebende, vollziehende und Recht sprechende Gewalt. Die Besatzungsmächte behalten sich jedoch die Zuständigkeit in einigen Punkten vor, z.B. die Kontrolle über die Einhaltung des Grundgesetzes, um bei einer Gefährdung der demokratischen Ord-
22 Dieser Begriff bezeichnet den politischen, militärischen und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gegensatz der von den USA und der UdSSR geprägten Welthälften nach dem Zweiten Weltkrieg und die Konkurrenz beider Systeme, zeitweise verbunden mit krisenhaften politischen Weltlagen. Die Zeit des Ost-West-Konflikts, auch als „kalter Krieg“ bezeichnet, war gekennzeichnet durch die außenpolitischen Doktrinen der Großmächte, die die jeweiligen Einflusszonen im globalen Rahmen abstecken sollten, und die strategischen Konzepte und Konflikte, die sich daraus ergaben. (Vgl. PLOETZ. Lexikon der Weltgeschichte. Personen und Begriffe. 1996. S. 335f.)
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nung erneut die volle Gewalt zu übernehmen.23
Im Oktober 1949 wird die Staatsgründung auch in der östlichen Besatzungszone vollzogen: die Deutsche Demokratische Republik (DDR) unter der Führung der Mehrheitspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) mit Walter Ulbricht als erstem Staatsoberhaupt entsteht.
Der 'Eiserne Vorhang'24trennt Deutschland in zwei Teile, in beiden bleiben die Siegermächte auch aufgrund des Ost-West-Konflikts stark präsent. Früh beginnen daher trotz aller Vorbehalte Diskussionen um eine mögliche militärische Aufrüstung der Bundesrepublik: Bereits im Dezember 1949 gibt Adenauer die Bereitschaft der BRD zu erkennen, sich an einem westeuropäischen Verteidigungspakt zu beteiligen.25(„Keinneuer Militarismus aber Verteidigungsbereitschaft“,II 67) Im Februar des Folgejahres erklärt der amerikanische Hohe Kommissar für Deutschland, General John McCloy, man könne angesichts der sich verschärfenden internationalen Gegensätze nicht länger auf eine starke BRD verzichten. Er kündigt eine baldige wirtschaftliche Gleichberechtigung an, die von einer Annäherung an Westeuropa begleitet sein müsse. Eine deutsche Teilnahme am europäischen Verteidigungssystem sei denkbar.26Im Januar 1951 beginnen deutsch-alliierte Gespräche über einen möglichen deutschen Verteidigungsbeitrag.27(„Wehr-beitraggefordert“;“Eisenhowerinspiziert in Bundesrepublik”; „Deutschland größtes Infanteriepotential“,II 12).
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in Westdeutschland ist zunächst außerordentlich prekär: Wohnungsnot, die aus dem großen Ausmaß an Zerstörung der Städte und Millionen aufzunehmender Flüchtlinge resultiert („Zuzugsperreaufgehoben“,II 24; „StadtBrennpunkt des Wohnungsbedarfs“,II 27), hohe Arbeitslosigkeit, Hunger und Verlusterfahrungen prägen den Alltag.
23 Vgl. PLOETZ. Lexikon der Weltgeschichte. Personen und Begriffe (1996): S. 53./ Benz, Wolfgang: Deutschland seit 1945. Entwicklungen in der Bundesrepublik und in der DDR. Chronik, Dokumente, Bilder. 1990. S. 200.
24 Von Winston Churchill geprägte Bezeichnung für die Maßnahmen der Sowjetunion, mit denen sie ihren Einfluss- und Herrschaftsbereich gegenüber der westlichen Welt möglichst undurchlässig abzuriegeln suchte. (Vgl. PLOETZ. Lexikon der Weltgeschichte. Personen und Begriffe (1996): S. 116.)
25 Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts. 1982. S. 731.
26 Vgl. ebd.: S. 736.
27 Vgl. ebd.: S. 748.
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Die Unterstützung aus dem Marshallplan28wird zur Starthilfe des raschen Wiederaufbaus („Marshallplanhilfeauch für Deutschland“,II 50). Zu Beginn des Jahres 1950 endet die Zeit der Lebensmittelmarken.29(„Aufrufzweiundsechzigeinhalb Gramm Weichkäse“,II 21)
Die 'Entnazifizierung', als deren Ziel die Bestrafung von Nationalsozialisten, ihre Ausschaltung aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben und die Vernichtung aller nationalsozialistischen Organisationen und Einflüsse gilt30, wird ergänzt durch die alliierten Ziele der Umerziehung und Demokratisierung des deutschen Volkes. Die Umerziehung ('reeducation') greift dabei in den Bereichen Bildung, Kulturpolitik, Presse und Rundfunk.31
Nach der Darstellung der Situation (West-)Deutschlands richtet sich das Augenmerk nun auf globale Krisenpunkte der Zeit32, die in ihren Auswirkungen bedeutsam für die Politik des Westens im Hinblick auf die Bundesrepublik und die Stimmung der Menschen in diesem Land sind. Koeppen erwähnt auch diese Weltkrisen in eingeschobenen Schlagzeilen und setzt so den Rahmen für die Gefühle der Angst und Ohnmacht seiner Figuren:
„Erwähnt wird eine gefährliche Krise im Persischen Golf, Korea, die Ost-West-Spannung spitzt sich zu, man diskutiert einen Wehrbeitrag der Bundesrepublik (II 11f., 67). Wesentlich mehr wird an politischen Informationen nicht gegeben, und es genügt vollauf, um die Krisen- und Spannungssituation zu charakterisieren, die die Ursache für das beängstigende Zeitklima ist.“33
Als Koeppen „Tauben im Gras“ schreibt, ist der Ost-West-Konflikt auf einem Höhepunkt: Im Juni 1950 hat mit der Überschreitung des 38. Breitengrades in Korea,
28 Ein nach dem amerikanischen Außenminister George C. Marshall benanntes, 1948 angelaufenes amerikanisches Hilfsprogramm für die westeuropäischen Staaten zur systematischen Wiederherstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse mittels Sachlieferungen und Krediten. (Vgl. PLOETZ. Lexikon der Weltgeschichte. Personen und Begriffe (1996): S. 125)
29 Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts (1982): S. 734.
30 Vgl. PLOETZ. Lexikon der Weltgeschichte. Personen und Begriffe (1996): S. 120.
31 Vgl. Brockhaus. Die Bibliothek. Eine Welt - und doch geteilt (seit 1945). 1999. S. 35.
32 Koeppen erklärt: „Nicht nur die deutschen Verhältnisse ängstigten mich. Ich blickte traurig in die Welt, die in Nürnberg den Krieg und seine Verbrecher verurteilt hatte und sich auf neue Kriege und neue Verbrechen vorbereitete.“ (Krüger, Horst: Selbstanzeige. 1971. In: Koeppen, Wolfgang: „Einer der schreibt“. Gespräche und Interviews. 1995. S. 30-40. S.
31)
33 Quack (1997): S. 102.
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der vereinbarten Begrenzung der amerikanischen und sowjetischen Einflusssphären, durch nordkoreanische Truppen der Koreakrieg begonnen. Südkorea wendet sich an die Vereinten Nationen und US-Streitkräfte werden zur Unterstützung ab-kommandiert.34
Die Nachricht vom Krieg löst in westlichen Hauptstädten zum Teil panikähnliche Reaktionen aus, wird darin doch ein erster Schritt zu einer weltumfassenden kommunistischen Offensive vermutet. In den USA reagieren Menschen mit Hamsterkäufen und großer Hektik beim Bau von Luftschutzbunkern. Noch größere Unruhe herrscht in der Bundesrepublik aufgrund ihrer empfindlichen geostrategischen Lage.35
In den Vereinigten Staaten wird der Koreakrieg als entscheidende Kraftprobe mit dem Kommunismus gesehen, die mit aller Macht gewonnen werden müsse.36Stimmen, die den sofortigen Ausbau des Atomwaffenpotenzials oder die Anwendung der Atombombe fordern, werden laut, wenn auch kritisiert („Wissenschaftlerwarnen vor Anwendung“,II 72). Unter Aufbietung aller Kräfte und großen Materialeinsatzes kann die Offensive, die durch das Eingreifen der Chinesen auf Seiten Nordkoreas massiv verstärkt wird, von den USA schlussendlich zurückgedrängt werden.37Nach zweijährigen Waffenstillstandsverhandlungen wird der Koreakrieg im Juli 1953 beendet.
Neben dem Krieg sorgen Atom- und Wasserstoffbombenversuche („Atomver-suchein Neu-Mexiko, Atomfabriken im Ural“,II 11) der Großmächte für eine starke Beunruhigung der Menschen.
Die Stationierung amerikanischer„Superbomber in Europa“(II 27) wird im Roman ebenso erwähnt wie die internationalen Spannungen durch die Verstaatlichung der iranischen Erdölindustrie („dasÖl den Eingeborenen“,II 11). Großbritannien, die von dieser Entscheidung hauptsächlich betroffene Nation, kann keine Revidierung erreichen und erwägt, die Ölfelder militärisch zu besetzen („Krieg
34 Vgl. Chronik des 20. Jahrhunderts (1982): S. 739f.
35 Vgl. ebd.: S. 740.
36 Vgl. ebd.: S. 741.
37 Vgl. ebd.: S. 746, 753.