Anders satt - Friederike Schmitz - E-Book

Anders satt E-Book

Friederike Schmitz

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Beschreibung

Radikal-realistischer Fahrplan für eine umfassende Agrar- und Ernährungswende. Die Tierindustrie befeuert die Klimakrise, fügt Tieren furchtbare Qualen zu und gefährdet unsere Gesundheit. All das spricht für eine grundlegende Transformation unseres Ernährungssystems. Aber was heißt das konkret? Friederike Schmitz zeigt, welche Maßnahmen jetzt unerlässlich sind und was wir dabei gewinnen können. Es reicht nicht, wenn Einzelne bewusster konsumieren. Kleine Reformen hin zu etwas mehr »Tierwohl« oder Klimaschutz sind ebenfalls keine Lösung. Stattdessen brauchen wir einen politisch organisierten Ausstieg aus der Tierindustrie. Eine sinnvolle Ernährungspolitik kann den Konsum von Fleisch, Milch und Eiern auf demokratische Weise schnell reduzieren. Durch Umschichtung von Subventionen und Gesetzesänderungen lässt sich auch eine gerechte Agrarwende gestalten. Die Vorteile sind gewaltig: Wenn wir auf pflanzliche Nahrungsmittel setzen, können wir gesünder leben, Treibhausgase in Böden und Wäldern einlagern und ein besseres Verhältnis zu Tieren entwickeln. Damit all dies passiert, müssen wir uns politisch einmischen. Dieses Buch liefert dafür die entscheidenden Fakten und Lösungsvorschläge – und neue Impulse für die gesellschaftliche Debatte. »Ein sehr konkretes und sehr hilfreiches Buch, das man wirklich sehr empfehlen kann.« – Catherine Newmark, Deutschlandfunk Kultur »Es gibt zahlreiche Gründe, warum der Ausstieg aus der Tierindustrie unumgänglich ist. Friederike Schmitz hat sie alle in ihrem Buch beschrieben. Sie geht jedoch einen großen Schritt weiter: Für "Anders satt" hat sie sich auf die Suche nach Alternativen gemacht, die jetzt schon gelebt werden, und deckt andererseits problematische Irrwege auf. Es ist ein Buch, das Hoffnung macht – und zeigt, was wir gewinnen können. Für die Tiere, die Natur, das Klima, uns alle und eine friedliche gerechte Zukunft.« – Kathrin Hartmann, Journalistin und Autorin von »Die grüne Lüge« »Es ist dringend notwendig, unsere Ökosysteme vor dem Zusammenbruch zu schützen und unsere Beziehung zu der Natur und Lebewesen zu regenerieren. Das geht nur mit einer gerechten und gesunden Landwirtschaft. Friederike Schmitz ist die inspirierende Vordenkerin, die pragmatisch und detailliert zeigt, wie dies gelingen kann.« – Annemarie Botzki, Sprecherin Extinction Rebellion Deutschland »Einfach phänomenal, wie gründlich Friederike Schmitz recherchiert, wie klar sie Informationen aufbereitet und welch konstruktive Vorschläge sie unterbreitet. Dieses Buch hat das Zeug, die Debatte um eine gerechte Ernährung einen großen Schritt voranzubringen!« – Hilal Sezgin, Autorin von »Artgerecht ist nur die Freiheit«

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Seitenzahl: 615

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Friederike Schmitz

Anders satt

Wie der Ausstiegaus der Tierindustriegelingt

Friederike Schmitz ist promovierte Philosophin, Autorin und eine der profiliertesten Stimmen der deutschen Tierrechtsbewegung. Zu ihren Veröffentlichungen zählen unter anderem der viel besprochene Sammelband »Tierethik. Grundlagentexte« (Suhrkamp 2014) und das Buch »Tiere essen – dürfen wir das?« (Metzler 2020). In Artikeln, Seminaren und Vorträgen setzt sie sich seit Jahren faktenbasiert mit den Folgen der Tierindustrie und den Alternativen auseinander. Als gefragte Gesprächspartnerin in den Medien und bei Veranstaltungen diskutiert sie regelmäßig mit Menschen aus Landwirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft darüber, was sich in unserem Ernährungssystem ändern muss. Mit ihrem aktuellen Buch zeigt sie konkrete Wege zur Transformation auf.

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2022

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten.

print-ISBN 978-3-95575-192-0

e-ISBN 978-3-95575-624-6

Covergestaltung: Oliver Schmitt, unter Verwendung einer Fotografie von Alice Baldwin

Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Niko Rittenau

Einleitung

1.Zoonosen und Zivilisationskrankheiten: Was ist Gesundheit uns wert?

Achtung Ansteckung • Frische Viren aus eigener Zucht • Die nächste Pandemie? • Die Superbazillen • Ist es das wert? • Bohnen oder Bulette • Krankheiten verhindern – Tierfabriken schließen

2.Klimakatastrophe und Gerechtigkeit: Die Zeit zu handeln ist jetzt

Warm oder noch wärmer? • Klimakiller Tierindustrie • Futtermittel und Neokolonialismus • Klimaschutzpotentiale • Politik für Erderhitzung • Klimafreundliche Weidehaltung? Achtung Greenwashing • »Nutztiere« gegen Wildtiere • Das Ernährungssystem innerhalb der planetaren Grenzen

3.Respekt statt Ausnutzung: Ein anderes Verhältnis zu Tieren

Skandale und Normalität • Die Psychologie der Gewalt gegen Tiere • Das Fleischparadox, der Karnismus und die Biotierhaltung • Das Leben unter Wasser • Eine andere Perspektive • Tiere essen: Natur und Ethik • Das Ende der (Aus-)nutzung • »Tierwohl« oder Gerechtigkeit für Tiere

4.Geht das überhaupt? Die neue Landwirtschaft

Die Düngerfrage • Bodenschonende und tierfreundliche Landwirtschaft • Vegane Verschwendung? • Nährstoffe zurück auf den Teller • Und was wird aus dem Grünland? • Bäume für alle • Stadtgärten, Gewächshäuser und Algentanks • Sessel und Pullover ohne Tiere

5.Zukunft durch Technik? Alternative Proteine auf dem Vormarsch

Perfekte Kopien • Veggie-Schnitzel aus der Fleischfabrik • Käse ohne Kühe • Die Rolle der Konzerne • Kuhkäse ohne Kühe • Sauberes Fleisch?

6.Pflanzlich glücklich: Die Ernährungswende

Staatliche Ernährungspolitik? • Instrumente für eine »nachhaltigere« Ernährung • Der Bürgerrat Klima • Anders essen – was braucht es dafür? • Soziale Normen • Eine große neue Erzählung • Die Vision

7.Gerechte Transformation: Die Produktion umstellen

Ein neuer Gesellschaftsvertrag für die Landwirtschaft? • Entschädigungen, Entschuldung und Umstiegshilfen • Milliarden für die Tierindustrie – oder für die Alternativen • Auflagen verschärfen und durchsetzen • Ganz anders wirtschaften?

8.Rebellieren statt konsumieren: Gemeinsam für Veränderung

Kleine Schritte und die Rolle der NGOs • Selbst wirksam werden • Aktiv in Parteien • Die Kraft zivilen Widerstands • Bäuerliche Perspektiven • Bewegungen verbinden • Wer nicht kämpft, hat schon verloren

Anmerkungen

Dank

Vorwort von Niko Rittenau

Mit großer Freude schreibe ich dieses Vorwort zu dem Buch »Anders satt« von Dr. Friederike Schmitz, da es eine wichtige Lücke in der aktuellen Debatte um die dringend benötigte Ernährungswende schließt. Es führt die vielen – häufig augenscheinlich widersprüchlichen – Argumente für und gegen die aktuell vorherrschende Tierhaltung und unsere damit einhergehende westliche Mischkost zusammen und schafft es dadurch, dass trotz der Komplexität der Thematik das große Ganze auch für Nicht-Fachkräfte verständlich wird.

Dabei behält Dr. Schmitz stets einen objektiven Blick auf die in ihrem Buch besprochenen Themen, beleuchtet die Argumente von Befürworter*innen und Kritiker*innen gleichermaßen und liefert damit genau das, was auch der Untertitel verspricht: Eine fundierte Begründung sowie eine realitätsnahe Anleitung für den Ausstieg aus der Tierindustrie.

Im Zuge all dieser wichtigen Debatten steht allerdings eine große Frage im Raum, die quasi wie das sprichwörtliche Damoklesschwert über all jenen schwebt, die sich für eine tierproduktfreie Ernährung einsetzen: Und zwar die Frage, ob es aus ernährungsphysiologischer Sicht überhaupt möglich ist, zur Gänze auf tierische Lebensmittel zu verzichten und dabei keinerlei gesundheitlich abträgliche Effekte befürchten zu müssen. Als Ernährungswissenschaftler habe ich dieser Fragestellung in den letzten Jahren mehrere Bücher gewidmet und behandle dieses Thema ebenfalls vertiefend im Rahmen meiner aktuell laufenden Dissertation. Die Kurzantwort auf diese Frage ist ein klares »Ja«. Allerdings lohnt es sich hier noch deutlich tiefer einzusteigen, um dieses vielschichtige Thema mit der angebrachten Differenziertheit zu beleuchten.

Grundsätzlich kann zu Beginn festgehalten werden, dass Menschen (ebenso wie alle anderen Lebewesen) keine bestimmten Lebensmittel, sondern nur bestimmte Nährstoffe benötigen. Auch wenn man es anders hört und liest; weder tierische noch pflanzliche Lebensmittel haben per se ein Monopol auf einzelne essenzielle Nährstoffe; oder anders gesagt: Es gibt keinen lebensnotwendigen Nährstoff, den man ausschließlich über den Konsum tierischer oder pflanzlicher Lebensmittel erhält. Es ist nicht das Fleisch, das wir brauchen, sondern beispielsweise gewisse Amino- und Fettsäuren sowie bestimmte Vitamine und Mineralstoffe, die im Fleisch stecken. Diese stecken aber auch mehr oder weniger dicht konzentriert in unterschiedlichen nicht-tierischen Lebensmitteln. Wir benötigen auch nicht zwingend Milch für unsere Kalziumversorgung oder Fisch für die Jod- und Omega-3-Versorgung. All diese Stoffe stecken selbstverständlich in diesen Lebensmitteln, aber wir können sie auch abseits dieser Produkte zuführen.

Das liegt daran, dass Tiere quasi nie die Primärproduzenten derartiger lebensnotwendiger Nährstoffe sind. Ebenso wie der Mensch nehmen andere Tiere die meisten der Nährstoffe, die wir mit den aus ihren Körpern hergestellten Produkten assoziieren, extern über die Nahrung auf und reichern sie dann lediglich in ihrem Gewebe an. Vereinfacht gesagt: Es ist beispielsweise nicht der Fisch, der für den Großteil des Omega-3-Gehalts seines Filets verantwortlich ist, sondern es sind marine Pilze und Mikroalgen, die jene Omega-3-Fettsäuren ursprünglich in großer Menge als Primärproduzenten herstellen und die sich dann schlichtweg im Laufe der Nahrungskette anreichern, da sie von Fischen verzehrt werden und diese wiederum von anderen Raubfischen. So gelangt ursprünglich pflanzliches Omega 3 auch in die Fische, die wir dann als Omega-3-Quelle kennen. Ebenso verhält es sich mit anderen Fett- und Aminosäuren, aber auch mit Vitaminen: Diese werden von Pflanzen, Pilzen und Bakterien produziert und gelangen so in den Nahrungskreislauf. B12 und andere Vitamine sind bakteriellen Ursprungs und weder Kuh, Schwein noch Huhn sind in der Lage, B12 zu produzieren. Sie sind allerdings in der Lage, das extern aufgenommene B12 (bzw. bei Wiederkäuern das in ihrem Verdauungstrakt von Bakterien produzierte B12) in ihren Organen und Muskeln als Vorrat zu speichern, und geben auch moderate Mengen davon in ihre Muttermilch bzw. ihre Eier ab. Auch all die Mineralstoffe, die wir mit tierischen Lebensmitteln assoziieren – Eisen in rotem Fleisch, Kalzium in der Milch oder Jod im Fisch -, stammen ursprünglich aus unseren Böden, aus denen sie von den Wurzeln von Pflanzen aufgenommen und dann entweder über die Pflanzen oder den Umweg des Tiers zu uns gelangen. Wenn wir diesen Grundsatz verstanden haben, merken wir, dass wir den »Mittelfisch«, die »Mittelkuh« und auch alle anderen von uns als sogenannten Nutztiere gehaltenen Lebewesen nicht benötigen, um alle für uns lebensnotwendigen Nährstoffe zu erhalten. In früheren Zeiten mag dies anders gewesen sein und auch heute gibt es noch Gebiete auf der Welt, in denen die Tierausbeutung für Menschen ein notwendiges Übel darstellt. Doch hierzulande verfügen wir über das notwendige Wissen, um über Fermentation, selektive Pflanzenzüchtung, Lebensmittelanreicherung und Nahrungsergänzung alle mit tierischen Produkten assoziierten Nährstoffe auch abseits des Tiers zu bekommen. Mit ein wenig Know-how in der Lebensmittelverarbeitung können Mineralstoffe aus pflanzlichen Lebensmitteln ebenso gut bioverfügbar sein wie aus tierischen Quellen, die biologische Wertigkeit pflanzlicher Proteinträger ebenso hoch wie jene von Fleisch, Milch und Eiern und auch das restliche Nährstoffspektrum kann vergleichbar sein. Durch moderne Lebensmitteltechnologie sind wir außerdem in der Lage, die von vielen Menschen geliebten Geschmäcker von tierischen Produkten ohne Tierprodukte zu replizieren.

All diese Prozesse wären heute schon sowohl technologisch als auch finanziell umsetzbar, jedoch verlassen wir uns als Gesellschaft noch zu sehr auf das System der Tierhaltung, um unseren Speiseplan mit Nährstoffen zu versorgen, und so wird es noch einige Zeit dauern, bis wir eine derart nährstoff-optimierte Lebensmittelproduktion hierzulande vorfinden. Bis es soweit ist, müssen die Personen, die eine tierproduktfreie Ernährung verfolgen zwar als Übergangslösung noch einige der Nährstoffe supplementieren (oder über angereicherte Lebensmittel zuführen), die unter den aktuellen Rahmenbedingungen überwiegend in tierischen Produkten zu finden sind. Aber dies ist nur eine temporäre Notwendigkeit und stellt in sich auch kein valides Argument gegen die Position des Veganismus dar. Ob eine Ernährungsweise einen oder mehrere Nährstoffe in Form eines Nahrungsergänzungsmittels enthält oder ob der gesamte Nährstoffbedarf gänzlich ohne Nahrungsergänzungsmittel gedeckt werden kann, spielt allerdings bei richtiger Dosierung und Qualität der Nährstoffe keine relevante Rolle für die gesundheitliche Bewertung der jeweiligen Ernährungsform, solange die Bedarfsdeckung gewährleistet wird.

Supplementiert wird darüber hinaus ohnehin von beinahe allen Menschen in westlichen Ländern, denn eine Nährstoffzugabe zu den Tierfuttermittel ist in der herkömmlichen Tierhaltung gang und gäbe. Somit supplementieren die allermeisten mischköstlich essenden Personen ebenfalls, aber eben über den Umweg des Tieres. Durch die richtigen Anbau- und Verarbeitungsmethoden können zukünftig all die essenziellen Nährstoffe auch gänzlich ohne Nahrungsergänzungsmittel durch nichttierische Lebensmittel zugeführt werden, aber hierfür benötigt es noch eine weitreichendere Reformation unserer aktuellen Lebensmittelproduktion mit einem stärkeren Schwerpunkt auf die Nährstoffbedürfnisse von Personen, die sich gänzlich frei von Tierprodukten ernähren. Dieser Fokus ist von äußerst großer Bedeutung, denn er ermöglicht es, dass wir als Gesellschaft zukünftig keine Kompromisse mehr in Bezug auf die ethischen, ökologischen, gesundheitlichen und kulinarischen Aspekte unserer Ernährung mehr eingehen müssen.

Denn wenn wir über gesunde Ernährung sprechen, kommen wir schlichtweg nicht umher, Faktoren wie den ökologischen Fußabdruck unserer Kostzusammenstellung zu besprechen, da ein gesundes Überleben unserer Spezies nur im Rahmen eines intakten Ökosystems machbar ist, wie Dr. Schmitz in aller Ausführlichkeit beschreibt. Bezieht man darüber hinaus noch die Ethik in die Essensentscheidung mit ein – und es gibt kein valides Argument, dies nicht zu tun –, stellt man fest, dass eine reine Reduktion tierischer Lebensmittel zugunsten mehr pflanzlicher Lebensmittel (was aus ökologischer und weltgesundheitlicher Sicht ausreichend wäre) eben nicht genügt, wie es Dr. Schmitz in aller Ausführlichkeit in diesem Buch und ihren bereits publizierten Büchern beschreibt.

Ich bin zuversichtlich, dass das vorliegende Werk meiner geschätzten Kollegin bei allen Leser*innen zu vielen erhellenden Momente beitragen wird und viele Zusammenhänge zwischen unseren täglichen Essensentscheidungen und der Gesundheit des Planeten und seiner Bewohner*innen besser begreifbar macht. Ich bin zudem davon überzeugt, dass dieses Buch einen wichtigen Beitrag zu der dringend benötigten Reformierung der Mensch-Tier-Beziehung leistet und wünsche viel Freude beim Lesen.

Niko Rittenau,Ernährungswissenschaftler & Autor

Einleitung

Die Liste der Probleme, die mit der aktuellen Tierhaltung und dem Konsum von Tierprodukten verbunden sind, ist lang: Tierleid, Gesundheitsgefahren, Klimaemissionen, Ressourcenverschwendung, um nur einige zu nennen. Ähnlich lang ist die Liste der Lösungsvorschläge, die jeweils Teile der Problematik adressieren: Bessere Tierschutzvorschriften und Fördergelder sollen das Leid der Tiere in den Mastanlagen verringern. Technische Innovationen könnten die Erzeugung von Fleisch und Milchprodukten klimafreundlicher machen. Beliebt ist auch der Fokus auf den individuellen Konsum: Jede Person kann etwas für die eigene Gesundheit und die Umwelt tun, indem sie einfach weniger Wurst und Käse konsumiert.

In diesem Buch argumentiere ich dafür, dass solche Maßnahmen dem Ernst der Lage nicht gerecht werden. Mit kleinen Anpassungen in der Tierhaltung oder unseren Ernährungsgewohnheiten ist es nicht getan. Stattdessen braucht es, so meine These, einen Ausstieg aus der Tierindustrie – und damit meine ich eine politisch organisierte, umfassende Transformation von Landwirtschaft und Ernährung, im Zuge derer die sogenannte Nutztierhaltung systematisch und schnell abgebaut und schließlich abgeschafft wird.

Diese Transformation bietet zugleich immense Chancen: Gerade weil die Tierindustrie eine Schnittstelle so vieler Probleme und Krisen bildet, bringt ihr Ende Vorteile in vielen Bereichen. Wir können nicht nur große Mengen Klimagase einsparen, sondern dazu Artenvielfalt wiederherstellen, neuen Pandemien vorbeugen, gigantisches Tierleid beenden und auf freiwerdenden Flächen aktiv Klimaschutz betreiben.

Die Ansicht, dass die Tierindustrie nicht reformierbar ist, sondern stattdessen abgeschafft gehört, gilt in vielen Diskussionen als radikal. Ich bin aber davon überzeugt – und werde in den folgenden Kapiteln begründen –, dass genau diese Radikalität der Sache, also unserer aktuellen Realität, angemessen ist.

Schon der Ausdruck »Tierindustrie« wird häufig als Kampfbegriff aufgefasst, mit dem man eine sachliche Debatte verlässt. Dabei ist auch dieser Begriff der Realität angemessen: Wir haben es mit einer Wirtschaftsbranche zu tun, die an jedem einzelnen Tag allein in Deutschland über zwei Millionen fühlende Lebewesen tötet und verarbeitet – die allermeisten davon an Fließbändern in großen Schlachtfabriken.

Viele Argumente für einen politisch organisierten Ausstieg aus dieser Industrie liegen eigentlich seit Jahren auf dem Tisch. Und es kommen sogar stetig neue Gründe hinzu.

Stichwort Gesundheit: Seit 2020 wissen wir aus eigener Erfahrung, was eine globale Pandemie bedeutet. Viele seriöse Institutionen haben seitdem darauf hingewiesen, dass gerade die Tierindustrie praktisch täglich Gefahr läuft, neue Viren heranzuzüchten, die sich zudem als viel zerstörerischer erweisen können als Covid-19.1

Stichwort Ernährungssicherheit und Ressourcenverschwendung: Im Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Neben den direkten, furchtbaren Auswirkungen auf die Menschen und Tiere in der Ukraine hat der Krieg auch Folgen für das globale Ernährungssystem, denn Russland und die Ukraine sind wichtige Exportländer für Getreide und Düngemittel. Wenn diese Güter knapper werden, steigen die Lebensmittelpreise und gerade ärmere Menschen können sich nicht mehr ausreichend ernähren. In dieser Situation ist es besonders unverantwortlich, dass global ein Drittel der Getreideernte an Tiere verfüttert wird und wir in Deutschland sogar fast die Hälfte des Ackerlands dafür verwenden, Tierfutter anzubauen.2

Stichwort Klima: Im April 2022 ist ein neuer Bericht des Weltklimarats erschienen, der unmissverständlich klarstellt: Wir sind auf Kurs in eine kaum vorstellbare Klimahölle aus extremen Unwettern, Dürren und Hitze. Um die Erderwärmung noch abzubremsen, braucht es drastische Umbrüche in allen Wirtschafts- und Lebensbereichen. Und eine Umstellung von Landwirtschaft und Ernährung auf pflanzenbasierte Nahrung hat dabei besonders großes Potential.3

Die Situation der Tiere in der Tierindustrie wiederum ist trotz aller Bemühungen um »mehr Tierwohl« seit Jahren fast unverändert grauenhaft. Schweine müssen auf wenigen Quadratmetern Spaltenboden über ihrem eigenen Kot leben. Hühner sind so gezüchtet, dass viele von ihnen kaum mehr laufen können oder sie sich, wie im Fall der sogenannten »Legehühner«, mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens einmal in ihrem kurzen Leben das Brustbein brechen. Und die Kühe, die zur Milchproduktion genutzt werden, sind praktisch dauerschwanger, ohne dass sie eines ihrer Kälber je selbst versorgen dürfen.

Wenn man all diese Problemfelder ernstnimmt, wird schnell klar, dass es mit moderaten Reformen nicht getan ist – etwas mehr Platz würde den Tieren kein gutes Leben verschaffen und eine nur etwas verringerte Produktionsmenge bliebe klimaschädlich, verschwenderisch und gesundheitsgefährdend.

Es ist auch nicht angemessen, den Verbraucher*innen die ganze Verantwortung zuzuschieben, indem man nur dazu aufruft, dass wir alle als Einzelne bessere Kaufentscheidungen treffen sollen. Erstens geht das in Anbetracht der Krisen nicht schnell genug: Der Fleisch- und Milchkonsum sinkt in Deutschland zwar bereits, aber nur in sehr geringem Maße, während der Konsum von Käse und Eiern sogar zwischen 2010 und 2021 gestiegen ist.4 Zweitens ist das Agrar- und Ernährungssystem von staatlichen Regelungen und Subventionen stark geprägt. So fließen jedes Jahr mindestens 13 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern in die Erzeugung von Fleisch, Milch und Eiern.5 Wir haben nicht nur Verantwortung für den je eigenen Konsum, sondern eine gemeinsame Verantwortung für diese einflussreichen Rahmenbedingungen.

Aber obwohl diese Einsichten eigentlich auf der Hand liegen, werden sie bislang weder von relevanten Parteien ernsthaft aufgegriffen noch von großen Organisationen in politische Forderungen übersetzt. Das liegt sicher auch daran, dass die logische Konsequenz, also der umfassende Ausstieg aus der Tierindustrie, als unrealistisch gilt – der Verdacht ist, dass es sich zwar vielleicht um eine schöne Utopie handelt, aber nicht um eine echte Option. Denn es scheinen zu wichtige Interessengruppen dagegen zu stehen.

Da ist zum einen die übergroße Mehrheit der Konsument*innen. 90 Prozent der Deutschen essen Fleisch, vegan lebende Menschen bilden nur verschwindende zwei Prozent.6 Wer eine Änderung von Ernährungsweisen fordert, wird sofort an die Reaktionen auf den »Veggie Day«-Vorstoß der Grünen im Bundestagswahlkampf 2013 erinnert: Weil die Partei vorgeschlagen hatte, in Kantinen einen fleischfreien Tag pro Woche einzuführen, brach in vielen Medien ein Sturm der Empörung los.

Zum anderen gibt es die tierhaltenden Landwirt*innen, die Tierindustrie-Konzerne und ihre Interessenverbände, die die Branche vehement verteidigen und zudem häufig darauf beharren, dass eine Landwirtschaft mit deutlich weniger oder ohne Tierhaltung gar nicht praktikabel wäre.

In dieser Situation scheint das einzig Vernünftige zu sein, einen Kompromiss im Sinne eines Mittelwegs zu suchen und zum Beispiel einen bloßen »Umbau der Tierhaltung« anzustreben – was eben bedeutet, die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern nur anzupassen, aber nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.

Nun möchte ich gar nicht bestreiten, dass die Suche nach Kompromissen in einer Demokratie der richtige Ansatz ist. Ich bin unbedingt der Überzeugung, dass man die Wünsche und Interessen sowohl der Verbraucherinnen als auch der Landwirte sehr ernst nehmen muss, auch weil ohne sie eine Transformation von Landwirtschaft und Ernährung gar nicht funktionieren wird.

Aber wer die Situation richtig einschätzen will, muss auch anerkennen, dass die allermeisten Verbraucher*innen in tiefen Widersprüchen leben. Sie konsumieren Tierprodukte, wenden sich aber mit Grausen ab, wenn sie Videoaufnahmen aus Mastanlagen oder Schlachthöfen sehen – denn zum ganz normalen moralischen Empfinden gehört, dass wir Tiere nicht leiden lassen wollen. Tatsächlich stimmten bei einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2021 fast 70 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die Massentierhaltung in Deutschland verboten werden sollte. Nur 21 Prozent waren dagegen.7

Genauso möchten die allermeisten Menschen ein lebenswertes Klima erhalten und sind dafür auch zu persönlichen Umstellungen bereit, wenn sie Informationen erhalten und über gemeinsame Maßnahmen mitentscheiden können.

Im Bürgerrat Klima zum Beispiel kamen 160 zufällig ausgeloste und nach repräsentativen Kriterien ausgewählte Menschen zusammen, um unterstützt von Wissenschaftler*innen über sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen zu beraten. Für den Bereich Ernährung stimmten am Ende über 90 Prozent der Ratsmitglieder u. a. dafür, in allen öffentlichen Kantinen den Anteil von Tierprodukten drastisch zu reduzieren.8

Die Agrarverbände und Tierhalter*innen wiederum stützen sich, wenn sie die Tierindustrie verteidigen, in Wahrheit zum großen Teil auf Mythen und irreführende Darstellungen, die leicht zu widerlegen sind. So suggeriert zum Beispiel der Bundesverband Rind und Schwein gern, die besonders klimaschädliche Rinderhaltung sei eigentlich klimaneutral, weil das dabei entstehende Methan nach etwa zehn Jahren wieder zu Kohlendioxid zerfalle.9 Dabei ist diese kurze Lebensdauer des Methans in den üblichen Berechnungen zur Klimabilanz schon längst berücksichtigt.

Auch wird von Agrarseite immer wieder behauptet, dass die Tierhaltung notwendig sei, um nicht ackerfähiges Land und pflanzliche Nebenprodukte sinnvoll zu nutzen. Tatsächlich kann man mit diesem Argument aber das aktuelle Ausmaß der Tierindustrie nicht rechtfertigen. Denn wenn man die Tiere nur noch auf dieser Basis ernähren wollte, müssten die Tierzahlen eben massiv sinken. Es gibt außerdem für diese Flächen und die Nebenprodukte auch andere Nutzungsmöglichkeiten.10

Dass diejenigen, die die Tierindustrie verteidigen, zu solchen Mitteln greifen, zeigt vielleicht schon an, in welcher Zwangslage sie sich befinden: Sie sind derzeit wirtschaftlich von einer Praxis abhängig, die den Empfehlungen der Wissenschaft zuwiderläuft und zunehmend den gesellschaftlichen Rückhalt verliert. Die Polarisierung zwischen Gesellschaft und Landwirtschaft wird zwar allerorten beklagt, zu wenig wird dabei aber anerkannt, dass viele – wenn auch sicher nicht alle – Kritikpunkte an der modernen Tierindustrie nicht auf Entfremdung oder Unkenntnis von Stadtmenschen beruhen, sondern ganz reale Probleme adressieren.

In dieser Situation einen Kompromiss mit der Tierindustrie zu suchen, bedeutet letztlich, die Falschdarstellungen ernst zu nehmen und die gravierenden Probleme, die für einen konsequenten Ausstieg sprechen, zu ignorieren. Damit erweist man aber nicht nur der Gesellschaft oder den Tieren, sondern am Ende auch der Landwirtschaft selbst einen Bärendienst.

Stattdessen muss es darum gehen, auf Basis der Fakten eine Lösung zu suchen, die für alle gut ist. Und genau das kann der Ausstieg aus der Tierindustrie sein, wie ich in diesem Buch zeigen möchte. Ebenfalls möchte ich zeigen, dass es sich entgegen verbreiteter Einschätzungen nicht bloß um eine unerreichbare Utopie, sondern dagegen um eine realistisch umsetzbare Option handelt: Eine Landwirtschaft ohne sogenannte »Nutztiere« funktioniert und ist effizient. Es gibt politische Maßnahmen, mit denen sich die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung beeinflussen lassen, ganz ohne Essensdiktatur – sogar im Gegenteil: Gerade eine Demokratisierung des Ernährungssystems ist ein wichtiger Schritt hin zu einer ökologisch und ethisch vertretbaren Ernährung. Und für diejenigen, die heute von der Tierhaltung leben, lässt sich eine gerechte Transformation gestalten, indem Subventionen umgeschichtet und gute Alternativen geschaffen werden.

Ich möchte in diesem Buch verdeutlichen: Der Ausstieg aus der Tierindustrie ist nicht nur eine der dringlichsten gesellschaftlichen Aufgaben. Er ist zugleich eine gewaltige Chance, der Klimakatastrophe zu begegnen und den Umgang mit unseren Mitlebewesen und miteinander auf ein neues Fundament zu stellen. Wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen.

Aber ist es nicht vermessen von mir, gleichsam aus dem Lehnstuhl heraus ein solches Transformationsprogramm vorgeben zu wollen – gerade weil viele Praktiker*innen aus der Landwirtschaft meinen Zielen, gelinde gesagt, sehr skeptisch gegenüberstehen? Tatsächlich ist das ein beliebter Vorwurf gegenüber allen, die Kritik an der Tierindustrie üben oder sich für drastische Veränderungen einsetzen: Sofern sie nicht selbst Landwirtschaft betreiben oder Tiere halten, sollten sie eigentlich gar nicht mitreden.

Der Vorwurf verkennt aber zum einen, dass es jede Menge Kritik an der Tierindustrie auch innerhalb der Landwirtschaft gibt – für dieses Buch habe ich zum Beispiel mit einigen Landwirt*innen gesprochen, die sich aus tiefer Überzeugung für vegane Anbaumethoden einsetzen.

Zum anderen geht die Frage, wie wir uns in Zukunft ernähren werden, natürlich uns alle an. Wir müssen gemeinsam als Gesellschaft darüber verhandeln und entscheiden. Und dafür sind eine immense Vielzahl an Themen relevant, die zu ganz unterschiedlichen Praxisbereichen und wissenschaftlichen Disziplinen gehören: In dieses Buch sind zum Beispiel Erkenntnisse aus der Klimawissenschaft, der Verhaltensforschung, der Bodenkunde, der Virologie, der Systemanalyse und der Soziologie eingeflossen, um nur einige zu nennen. Wenn wir Lösungen für die komplexe Problematik unseres Agrar- und Ernährungssystems finden wollen, dürfen wir uns nicht auf einseitige Fachkompetenzen verlassen, die häufig ja von der herrschenden Normalität geprägt sind. Genauso wenig dürfen wir uns aber auf bloße Meinungen ohne Faktenbasis stützen. In diesem Buch verfolge ich gegen beide Tendenzen den Anspruch, verschiedene Sichtweisen ernst zu nehmen und alle meine Aussagen fundiert zu begründen. Genau an diesem Anspruch müssen sich letztlich meine Vorschläge messen lassen.

Das radikal-realistische Transformationsprogramm, das ich skizziere, möchte ich schließlich niemandem »vorschreiben« – wie auch? –, sondern ich möchte es als Beitrag in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zur Diskussion stellen. Dort muss es verhandelt werden; als Alternative sowohl zu den moderaten Reformplänen als auch zu den unerreichbaren Utopien. Das ist so wichtig, gerade weil wir es uns umgekehrt gar nicht leisten können, viele weitere Jahre nur zu diskutieren. Die Argumente für radikale Schritte sind da, geeignete Maßnahmen sind verfügbar. Es muss jetzt darum gehen, sie umzusetzen – gemeinsam.

Überblick

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: In den ersten drei Kapiteln behandle ich zentrale Problemfelder der aktuellen Tierindustrie. Dabei erkläre ich zugleich, warum ein bloßer »Umbau« nicht die Lösung ist und welche Vorteile ein umfassender Ausstieg mit sich bringen würde.

Zunächst geht es im ersten Kapitel um Pandemiegefahren, resistente Keime, Feinstaub und gesunde Ernährung. Danach betrachte ich im zweiten Kapitel den Zusammenhang von Tierindustrie und Klimakatastrophe, ich beleuchte Fragen der globalen Gerechtigkeit sowie das Potential für Klima- und Artenschutz, das in pflanzlichen Ernährungsweisen liegt. Im dritten Kapitel rücke ich endlich diejenigen in den Fokus, die am direktesten unter der aktuellen Tierindustrie leiden, nämlich die Hühner, Schweine, Fische und all die anderen Tiere, deren Körper und Körperprodukte routinemäßig zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden. Ich beleuchte, unter welchen Umständen diese Tiere heute leben und sterben müssen, warum so viele Menschen trotz ethischer Gegengründe das System aufrechterhalten und wie sich ein besseres Verhältnis zu Tieren entwickeln könnte.

In den folgenden Kapiteln stehen dann nicht mehr die Probleme, sondern die Lösungen im Vordergrund. Zunächst erkläre ich im vierten Kapitel unter dem Motto »Die neue Landwirtschaft«, wie die Alternativen zur Tierindustrie konkret aussehen. Ich berichte von Besuchen bei vegan anbauenden Landwirt*innen und antworte auf beliebte Einwände und Bedenken gegen eine Landwirtschaft ohne Melkanlagen, Ställe und Schlachthöfe.

Das fünfte Kapitel behandelt die rasante Entwicklung neuer Nahrungsmittel, die Tierprodukte immer originalgetreuer nachahmen – und so die Hoffnung wecken, dass technische Fortschritte die Tierindustrie bald überflüssig machen könnten. Ich werfe einen differenzierten Blick auf diese Entwicklung. Aus meiner Sicht spielen die neuen Produkte eine wichtige Rolle für die nötige Ernährungswende, dürfen aber zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dafür auch gesellschaftlicher und politischer Veränderungen bedarf.

Um genau solche Veränderungen geht es daraufhin im sechsten Kapitel. Ich erkläre, warum eine staatliche Ernährungspolitik sinnvoll und nötig ist und mit welchen Mitteln verschiedene Institutionen dazu beitragen können, den Konsum von Tierprodukten zu senken. Dabei entsteht eine Vision davon, wie sich soziale Normen im Bereich der Ernährung in kurzer Zeit verschieben könnten.

Im siebten Kapitel präsentiere ich ergänzend dazu ein Paket an Maßnahmen auf der Seite der Produktion. Die Frage ist, was in der Agrarpolitik getan werden muss, um einen schnellen und zugleich sozial gerechten Abbau der Tierzahlen zu erreichen. Ich schlage u. a. vor, Tierhalter*innen zu entschädigen, wenn sie aus der Tierhaltung aussteigen, und landwirtschaftliche Subventionen ganz anders zu verteilen. Außerdem diskutiere ich in diesem Kapitel, ob eine marktbasierte Landwirtschaft eigentlich das beste System ist, und welche Chancen in solidarisch organisierten Projekten liegen.

Das Transformationsprogramm, das ich vor allem in den Kapiteln 6 und 7 für Ernährung und Landwirtschaft entwerfe, könnte sofort umgesetzt werden – sofern der politische Wille dafür vorhanden wäre. Tatsächlich ist das leider bislang nicht der Fall. Daher geht es im achten und letzten Kapitel darum, wie wir als Bürger*innen dafür sorgen können, den benötigten politischen Willen hervorzubringen, und wie wir entsprechende Veränderungen von unten anstoßen können. Denn das ist letztlich das Wichtigste von allem: Dass wir als Gesellschaft nicht nur wissen, was zu tun wäre, sondern es auch tun.

* Um eine geschlechtergerechte Sprache umzusetzen, verwende ich meist das Gendersternchen. Weil das aber nicht bei jedem Wort gleich gut funktioniert und in der Häufung die Lesbarkeit erschweren kann, benutze ich bisweilen auch die männliche Form, die weibliche Form oder die Doppelnennung. Ziel ist, alle Geschlechter einzuschließen und sichtbar zu machen, aber zugleich einen gut lesbaren und verständlichen Text zu bieten.

1.

Zoonosen und Zivilisationskrankheiten: Was ist Gesundheit uns wert?

Im größten Schlachthof Europas im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück standen im Sommer 2020 für mehrere Wochen alle Fließbänder still. Es fuhren keine Lastwagen mit aufgeregten, schreienden Schweinen auf das Gelände. Es floss kein Blut. An einem normalen Tag werden hier über 20.000 Schweine getötet und verarbeitet – so viele Tiere, wie Menschen in einer kleinen Stadt leben. Die mehrwöchige Schließung wurde von den Behörden verordnet, weil sich in dem Schlachtbetrieb der Firma Tönnies hunderte Arbeiter*innen mit dem Corona-Virus angesteckt hatten. Die Zahl stieg bald auf über 1.500 Infizierte.1

Dass sich das Virus unter den Arbeitskräften am Schlachthof so stark verbreitete, war kein Zufall. Schon in den Monaten zuvor hatte es mehrere Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen gegeben. Ein Grund: Die miesen Arbeitsbedingungen und die schlechte Unterbringung. Allein bei Tönnies betraf das mehrere Tausend Menschen. 2020 waren viele Arbeiter*innen mit Werkverträgen bei Subunternehmen angestellt und schufteten zehn, zwölf Stunden am Tag im Schlachthof.

In den großen Hallen, in denen die Schweine zerlegt werden, ist es kalt, nur etwa 12 Grad. Es ist so laut, dass man schreien muss, um sich zu verständigen. Die Menschen stehen eng beieinander. Sie sind immer unter Zeitdruck. »Die Vorarbeiter haben uns am Hinterkopf gepackt, manchmal Kisten voller Fett auf Kollegen geschmissen und uns ausgeschimpft, dass wir schneller machen sollen«, berichtet ein Mann, der bei Tönnies als Werkvertragsarbeiter beschäftigt war. »Man musste funktionieren wie ein Roboter. Die Arbeit im Schlachthof ist ziemlich hart, daran kann man sich noch gewöhnen. Aber der psychische Stress ist nicht auszuhalten.«2

Die Wohnungen, in denen die Arbeitskräfte von den Subunternehmen untergebracht wurden, waren häufig extrem beengt und unhygienisch: Sechs oder zehn Menschen teilten sich ein Zimmer, funktionierende Waschbecken und Duschen waren oft Mangelware. Durch Schimmel in den Unterkünften hatten manche schon vor Corona Atemwegserkrankungen.3

Als im Frühling 2020 deutschlandweit Kontaktbeschränkungen galten, als wir alle in Supermarkt und im Zug Masken tragen mussten, änderte sich für die Arbeiter*innen in den Schlachthöfen wenig: Sie zerschnitten die Schweine weiter eng beieinander und ohne Masken, sie hausten weiter in Mehrbettzimmern und fuhren in Sammelbussen zur Arbeit. Lange schien das niemanden zu interessieren – schließlich galten Schlachthöfe als Teil der »kritischen Infrastruktur« für die Versorgung der Bevölkerung.4 Bis es zu spät war und sich die Infektionen häuften. Erst dann wurden mehrere Schlachthöfe geschlossen und Hygieneregeln verschärft. Dabei kam die Misere für viele nicht überraschend.

»Angesichts der Bedingungen, unter denen die Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie arbeiten müssen, war solch ein Ausbruch leider vorhersehbar«, meint der niedersächsische Pfarrer Peter Kossen, der seit vielen Jahren dafür kämpft, dass sich die Situation der Arbeitenden verbessert. Denn die Tätigkeit im Schlachthof ist auch ganz unabhängig von Corona gesundheitsschädlich.5

Der Hausarzt Florian Kossen, der Bruder des Pfarrers, behandelt in seiner Praxis Arbeiter*innen aus mehreren Schlachthöfen in Niedersachsen. Diese Patienten zeigten oft eine totale Erschöpfung, sagt er. Sie hätten keine Möglichkeit zur Regeneration, »weil sie durch ihre Arbeitsund Lebensbedingungen ständig physisch und psychisch unter Druck stehen«.6 Wer sich krankschreiben lässt oder wer wegen Verletzungen nicht weiterarbeiten kann, werde entlassen und ersetzt. Diejenigen, die die harte Arbeit in kalten Räumen über mehrere Jahre durchhielten, trügen chronische Leiden davon, sagt Arzt Kossen.

Die Ausbeutung der Arbeitenden wurde mit ermöglicht durch das Modell der Werkverträge. Die Menschen waren bei Subunternehmen angestellt, so dass die großen Unternehmen wie Tönnies für die Bedingungen nicht direkt verantwortlich gemacht werden konnten. Erst durch die Corona-Infektionen rückten die Zustände in die öffentliche und politische Diskussion. Im Sommer 2020 kündigte die Bundesregierung an, Werkverträge in der Fleischindustrie zu verbieten – offenbar mussten erst Anwohner*innen durch negative Folgen (hohe Corona-Inzidenzen) betroffen sein. Das Leid der migrantischen Arbeitskräfte reichte zuvor nicht aus, um hinreichenden Handlungsdruck zu erzeugen.7

Seit Januar 2021 gilt tatsächlich ein neues Arbeitsschutzgesetz: In bestimmten Kernbereichen wie Schlachtung und Zerlegung ist es nun verboten, dass Subunternehmen die Arbeit für die Schlachthofbesitzer liefern.

Das Gesetz hat zwar laut Beobachter*innen der Branche einige Aspekte verbessert, zum Beispiel eine gewerkschaftliche Organisierung ermöglicht. Aber einiges hat sich trotzdem nicht verändert, kritisiert Pfarrer Peter Kossen. »Die Behandlung dieser Leute – auch das Austricksen, das Umgehen von Sozialstandards, primitivsten Standards – das ist nach wie vor Gang und Gäbe.« Die Betroffenen schilderten, dass sie genauso behandelt und angeschnauzt würden, wie es vorher der Fall war.8

Das Gesetz deckt zugleich nicht alle Arbeitsbereiche im Schlachthof ab. Die Reinigungskräfte, die nachts die Maschinen säubern, sind noch immer über Werkverträge und Subunternehmen angestellt. Und allgemein gilt: Die Arbeit an Schlachthöfen ist weiterhin extrem hart, die Menschen verdienen wenig und ihre Gesundheit wird kaum geschützt. Auch im Jahr 2021 kam es immer wieder zu Corona-Ausbrüchen an Schlachthöfen. Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, der Schlachthof-Arbeiter*innen berät, kritisiert zusätzlich, dass häufig nicht ordentlich getestet wurde und Menschen trotz Infizierung nicht quarantänisiert wurden.9

Ich finde das skandalös. Diese Industrie macht also immer noch Arbeiter*innen krank. Und das ist nicht alles: Die Massenproduktion von Fleisch, Milch und Eiern birgt immense Gesundheitsrisiken für die gesamte Bevölkerung, also für uns alle.

Achtung Ansteckung

Im Falle von Corona haben sich die Menschen in den Schlachthöfen gegenseitig infiziert. Der Umgang mit den Tieren spielte dabei keine direkte Rolle. Aber das Corona-Virus selbst ist, wie wir mittlerweile wissen, eine Zoonose, d.h. eine Krankheit, die von Tieren auf Menschen übertragen wurde – nach jetzigem Kenntnisstand wahrscheinlich von Wildtieren auf dem Fisch- und Tiermarkt von Wuhan.10 Dass wir uns bei Tieren mit gefährlichen Keimen anstecken, ist keine Seltenheit: Tatsächlich sind 60 Prozent aller Infektionskrankheiten Zoonosen. Die Pest, Tuberkulose, Pocken, Masern, die Spanische Grippe, Ebola, AIDS – viele der schlimmsten Seuchen der Geschichte wurden von Tieren auf Menschen übertragen. Wenn man nur die neu auftretenden Erreger betrachtet, stammen sogar drei Viertel von ihnen von Tieren – teils von Wildtieren, teils von domestizierten Tieren.11

Bei Wildtieren können wir uns nur anstecken, wenn wir in irgendeiner Weise in Kontakt mit ihnen kommen. HIV zum Beispiel wurde von Affen auf Menschen übertragen. Man geht davon aus, dass Jäger, die Affen gejagt und verspeist haben, sich erstmals mit dem Virus infizierten. Es braucht aber nicht unbedingt diesen absichtlichen direkten Kontakt. Dadurch, dass wir die Lebensräume von Tieren zerstören, kommen wir ihnen zwangsläufig immer näher.

»Die Wissenschaft ist eindeutig: Wenn wir weiterhin die Tierwelt ausbeuten und unsere Ökosysteme zerstören, können wir mit einem stetigen Strom dieser Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden, in den kommenden Jahren rechnen«, warnte die Chefin vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), Inger Andersen, im Sommer 2020.12 Eine wichtige Rolle spielt dabei die immer weiter steigende Entwaldung. Es ist nicht nur so, dass wir uns die Keime von Tieren einfangen können, die vorher tief im Urwald verborgen waren. Hinzu kommt, dass sich in geschädigten Ökosystemen Viren leichter verbreiten können. Die Wissenschaft forscht noch an den genauen Ursachen, aber klar scheint zu sein: Eine hohe Artenvielfalt fungiert als Krankheitskontrolle.13

Je mehr Wald wir also abholzen, je mehr Land wir in Beschlag nehmen und je mehr Spezies wir ausrotten, desto mehr steigt das Risiko für neue Krankheiten und Pandemien – die auch deutlich schlimmer ausfallen könnten als die Corona-Pandemie. Aber was hat das mit der Tierindustrie zu tun? Sie ist ein wesentlicher Faktor bei dieser Entwicklung, weil sie global die Entwaldung und das Artensterben vorantreibt. Denn um immer mehr Fleisch, Milch und Eier zu produzieren, braucht es immer mehr Land – entweder um die Tiere weiden zu lassen, wie es oft in Brasilien auf ehemaligen Regenwaldflächen geschieht, oder um Futtermittel wie Soja anzubauen. Auch in den hiesigen Tierfabriken wird weiterhin Soja aus Regenwaldgebieten verfüttert.14 Auf diese Weise steigert auch die deutsche Tierindustrie das Risiko, dass neue Erreger von Wildtieren auf uns überspringen.

Frische Viren aus eigener Zucht

Wenn in einer Hühnermastanlage die Vogelgrippe ausbricht, können innerhalb weniger Tage alle Tiere daran erkranken. Einige Hühner bekommen Atemnot, andere Durchfall, Blutstauungen an den Füßen oder Gleichgewichtsstörungen. Zu den Symptomen gehört auch ein Ausfluss aus Augen und Schnabel sowie Teilnahmslosigkeit. Die Krankheit führt oft innerhalb von ein paar Stunden zum Tod. Bis dahin vergehen ab der Infektion nur ein bis drei Tage. Der Verlauf ist für die Hühner offensichtlich qualvoll.

Weil die Seuche große wirtschaftliche Bedeutung hat – Tierhaltungsbetriebe und Schlachtkonzerne können durch sie viel Geld verlieren –, ist sie meldepflichtig und muss staatlich bekämpft werden. Das bedeutet, dass bei einem Ausbruch alle Tiere in dem betroffenen Stall getötet werden. Die toten Vögel und die kotbeschmutzte Einstreu werden entsorgt. Damit soll verhindert werden, dass die Erreger in die Umgebung gelangen und so Wildvögel und weitere Bestände von Nutzgeflügel infizieren.

Trotz dieser Maßnahmen breitet sich die Krankheit immer wieder großflächig aus. Alle paar Jahre kommt es auch in Deutschland zu Ausbrüchen und Tötungsaktionen. Seit 2020 ist das Virus sogar dauerhaft in Europa präsent. Allein im Winter 2020/21 wurden in Deutschland 1,4 Millionen Vögel, vor allem Puten, getötet.15

Der Seuche fallen immer auch zahlreiche wild lebende Gänse, Enten, Möwen und andere Vögel zum Opfer. Im November 2020 meldete Schleswig-Holstein, dass über 10.000 Wildvogelkadaver an den Küsten und anderswo gefunden wurden.16 Im Sommer 2022 starben an Nord- und Ostsee tausende Brandseeschwalben an dem Virus. Häufig hatten sie Küken zu versorgen, die reihenweise in den Nestern verhungerten.17

Woher kommt aber dieses tödliche Virus? Als ich zu dem Thema recherchiert habe, las ich in den Zeitungsartikeln häufig, es sei von Wildvögeln aus Asien eingeschleppt worden. Das sagt auch das Friedrich-Löffler-Institut, das Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit.18 Besonders Zugvögel würden das Virus über weite Strecken verbreiten. In die geschlossenen Mastställe kann es dann zum Beispiel gelangen, indem Menschen es an den Schuhen hineintragen. Diese Verbreitungsgeschichte erklärt allerdings noch nicht, wo die gefährlichen Grippeviren ursprünglich entstehen. Dafür sind nämlich üblicherweise nicht die Wildvögel verantwortlich – in den Hintergrundmaterialien zur Vogelgrippe stellt auch das Friedrich-Löffler-Institut das klar.19

Wildlebende Vögel tragen zwar jede Menge Grippeviren mit sich herum – sie gelten als »natürliches Reservoir für aviäre Influenzaviren«. Diese sind aber meist ziemlich harmlos, also verursachen bei den Vögeln keine schweren Krankheitssymptome. Erst wenn sie mutieren, werden sie zu gefährlichen Killern. In natürlichen Ökosystemen haben so mutierte Viren aber nur geringe Chancen, sich zu etablieren, denn sie töten ihr Wirtstier in so kurzer Zeit, dass sich kaum andere Vögel anstecken können. Außerdem sind Gruppen von Wildvögeln genetisch vielfältig. Ein Virus, das bei einem Vogel tödlich wirkt, kann bei anderen auf Resistenzen stoßen.

Ganz anders sieht es in einer industriellen Geflügelanlage aus. »Tierfabriken sind optimal, um aus allen möglichen Krankheitserregern die gefährlichsten herauszuselektieren«, sagt der Evolutionsbiologe Rob Wallace.20 Verständlich wird das, wenn man sich die Bedingungen in der Geflügelindustrie anschaut.

In einer üblichen Mastanlage sind in Deutschland mehrere Zehntausend Hühner untergebracht. Sie stehen dicht an dicht, pro Quadratmeter drängen sich über 20 Tiere. Ein Virus hat es so besonders leicht, von Huhn zu Huhn überzuspringen. Auch tote Tiere können noch viele andere anstecken. Daher können sich auch die Viren, die sehr krank machen und in kurzer Zeit zum Tod führen, ungehindert ausbreiten.

Alle Hühner in einer Mastanlage sind außerdem genetisch extrem ähnlich. Man hat sie für die Zwecke der Mast auf ganz bestimmte Eigenschaften gezüchtet, sie sind standardisiert wie andere Industriewaren. Abweichungen sind genauso wenig erwünscht wie bei Autos oder Waschmaschinen. Beliebt in Deutschland und weltweit ist zum Beispiel das Modell Ross 308, ein Masthuhn der Firma Aviagen, die zur deutschen EW Group gehört, dem Weltmarktführer in Hühnergenetik. Bei richtiger Fütterung soll das Huhn im Alter von 28 Tagen genau 1.573 Gramm wiegen. So lautet das »Performance-Ziel« laut einem Dokument auf der Firmen-Website, das man als Produktdatenblatt verstehen kann.21

Ein Virus, das sich in einem dieser Hühner erfolgreich vermehrt, kann das also bei allen anderen genauso gut, weil es kaum genetische Abweichungen gibt, die seine Verbreitung aufhalten könnten. Hinzu kommt ein dritter Faktor, der es den Viren in Vogelfabriken besonders leicht macht: Die Tiere haben nur schwache Abwehrkräfte. Ihr Körper ist darauf ausgelegt, in kurzer Zeit möglichst viel an Gewicht zuzunehmen. Der Gesundheit tut das nicht gut – die Tiere neigen schon ohne Virus zu Skeletterkrankungen und Stoffwechselproblemen.22 Weil sie auf ihrem eigenen Kot stehen, atmen sie stetig Ammoniakdämpfe ein, auch das beeinträchtigt ihr Immunsystem.

Zehntausende geschwächte, genetisch fast gleiche Tiere auf engstem Raum: Mit den industriellen Geflügelställen hat die Tierindustrie ideale Zuchtstationen für gefährliche Viren erschaffen. Aus harmlosen Influenza-Viren, die von Wildvögeln in den Stall gelangen, können hochpathogene Vogelgrippestämme entstehen. Von dort wird die Krankheit dann zurück auf Wildvögel übertragen, die zur Verbreitung beitragen – und selbst reihenweise leiden und sterben.

Zwar gilt Asien als ein »Schwerpunkt des Seuchengeschehens«, von wo aus sich immer wieder Epidemien nach Europa ausbreiten.23 Bei einer seit 2021 wütenden Variante ist allerdings bislang unklar, wo sie entstanden ist.24 Einige andere Virenstämme sind zudem zuerst in den Niederlanden und in Niedersachsen aufgetreten. Zwischen 1959 und 2015 wurde weltweit 39-mal eine Wandlung eines harmlosen zu einem krankmachenden Virus festgestellt. Die große Mehrheit dieser Wandlungen fand in Industrienationen statt: 14 in Europa, sieben in Australien, sechs in Nordamerika.25

Und die Tendenz ist steigend: Anzahl und Schwere der Seuchenausbrüche haben in den letzten Jahren weltweit stark zugenommen, konstatiert das Friedrich-Löffler-Institut.26 Das scheint kein Zufall zu sein: Seit dem Jahr 2000 hat sich die Geflügelfleischerzeugung weltweit fast verdoppelt.27 In Deutschland ist die Industrie sogar noch stärker gewachsen: Wir produzieren heute 2,2-mal so viel Vogelfleisch wie noch vor zwanzig Jahren.28

Wenn wir die gesamte globale Tierindustrie betrachten, sehen wir: Verheerende Tierseuchen, die die Industrie mindestens teilweise selbst verschuldet, sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Während Hühner- und Putenhalter sich vor der Vogelgrippe fürchten, haben Schweinemästerinnen Angst vor der Afrikanischen Schweinepest. Diese tödliche Viruserkrankung tritt seit dem Herbst 2020 auch bei Wildschweinen in Deutschland auf. Seit 2021 gibt es auch vereinzelte Fälle von infizierten Hausschweinen.

Schon das Virus-Vorkommen bei Wildschweinen ist für die deutsche Schweineindustrie ein Problem, weil China deshalb kein deutsches Schweinefleisch importiert. Das Land hat nämlich die Seuche gerade erst selbst wieder in den Griff bekommen – im Jahr 2019 sind in China wegen der Schweinepest bis zu 200 Millionen Schweine gestorben oder getötet worden, 40 Prozent des gesamten Bestandes.29

Die Afrikanische Schweinepest stammt, wie der Name schon sagt, aus Afrika. Sie hat sich durch Lebensmittel- und Tiertransporte auf andere Kontinente ausgebreitet, u. a. über Fleisch- und Wurstprodukte. Letztlich erkranken und sterben also die Wildschweine hierzulande aufgrund der globalen Warenströme, die zur aktuellen Tierindustrie dazugehören.

Virusinfektionen wie Vogelgrippe oder Schweinepest sind natürlich nicht die einzigen Gesundheitsprobleme, an denen Hühner, Puten, Schweine und Rinder in der Nutztierhaltung leiden. Die Weltgesellschaft für Tiergesundheit schätzt, dass Tierkrankheiten pro Jahr mindestens ein Fünftel der globalen Tierproduktion vernichten.30

All das ist grauenhaft genug – denn hinter jedem statistischen Todesfall steht ein fühlendes, leidendes Lebewesen. Die Virenzuchtstationen, um die es sich bei den industriellen Tierfabriken handelt, sind darüber hinaus hochgefährlich für uns Menschen.

Die nächste Pandemie?

Am Montag, dem 5. Januar 2004, informierten vietnamesische Behörden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über einen ungewöhnlichen Vorfall in Hanoi: Elf Kinder waren wegen schwerer Atemwegsbeschwerden und Fieber ins Krankenhaus gekommen. Sieben waren schon gestorben, zwei schwebten in Lebensgefahr. Die Ärzt*innen befürchteten, dass ein ungewöhnliches Virus die Ursache war.

Wenige Tage später stellte sich heraus, dass in zwei Geflügelanlagen im Süden Vietnams zahlreiche Vögel an dem Vogelgrippevirus H5N1 verendet waren, das schon im Dezember des Vorjahres in drei Betrieben in Korea gewütet und viele Hühner getötet hatte. Am 12. Januar 2004 stand fest: Mindestens drei der toten Kinder in Hanoi waren mit dem Virus infiziert gewesen.31

Zu der Zeit war schon bekannt, dass dieser Virusstamm besonders gefährlich ist. Denn obwohl es sich ursprünglich um ein Vogelvirus handelt, kann H5N1 die Speziesgrenze überwinden und Menschen anstecken. Sobald das geschieht, verursacht das Virus schwere Erkrankungen mit hoher Sterblichkeit: Bis zu 60 Prozent der infizierten Menschen sterben. Das Virus ist damit mehr als 50-mal so tödlich wie der COVID-19-Erreger, der bis Juni 2022 weltweit in unter 1,2 Prozent der dokumentierten Fälle zum Tod führte.32 Man kann sich kaum ausmalen, wie zerstörerisch eine Pandemie mit diesem Vogelgrippe-Virus wäre, wenn es leicht von Mensch zu Mensch übertragen würde. Das ist Stoff für Katastrophen- und Endzeitfilme.

Genau diese Eigenschaft, leicht von Mensch zu Mensch übertragen zu werden, fehlte dem Virus H5N1 aber im Jahr 2004. Auch von Vögeln auf Menschen sprang es nur in wenigen Fällen über, obwohl viele Menschen Kontakt mit infizierten Tieren hatten. Das waren wichtige Gründe dafür, warum es damals nicht zur Pandemie unter Menschen kam – obwohl die Grippe Tausende Geflügelställe in ganz Asien heimsuchte. 120 Millionen Vögel starben oder wurden zum Seuchenschutz getötet. Trotzdem sind bis zum Jahr 2021 weltweit nur rund 850 Menschen an H5N1 erkrankt, von denen rund 450 starben.33

Ein Virus droht nur dann eine ernste Gefahr für die ganze Bevölkerung zu werden, wenn es eine ganz bestimmte Kombination von Eigenschaften aufweist. Es muss ansteckend für Menschen sein, leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden und schwere Symptome verursachen. Den verbreiteten Vogelgrippeviren fehlt bislang mindestens eine dieser Eigenschaften – zum Glück. Das muss aber nicht so bleiben. Je mehr Chancen die Viren bekommen zu mutieren, desto eher kann einmal die richtige Kombination an Eigenschaften dabei herauskommen. Mehrere Studien bestätigen, dass Vogelgrippeviren sich die nötigen Eigenschaften für die Mensch-Mensch-Übertragung aneignen können.34 In zahllosen Hühner- und Putenbetrieben auf der ganzen Welt finden die Viren die idealen Bedingungen vor, um sich auf diese Weise weiterzuentwickeln. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen sieht entsprechend den global wachsenden Konsum von Tierprodukten als einen der wichtigsten Treiber für das Auftreten neuer Pandemien.35

Es gibt außerdem einen weiteren Weg, auf dem tierische Grippeviren für viele Menschen bedrohlich werden können: Viren verändern sich nicht nur durch Mutation, sondern auch durch einen anderen Vorgang, der »Reassortment« genannt wird. Wenn zwei verschiedene Viren dieselbe Zelle infizieren und Teile ihrer Gensequenz austauschen, entstehen neue Gen-Kombinationen – wie wenn bei einem Kartenspiel zwei Spieler untereinander die Karten tauschen. Und genau das passiert leicht im Körper von Schweinen. Diese Tiere können sich nämlich sowohl mit Vogelgrippe als auch mit menschlichen Grippeviren anstecken. Zusätzlich tragen sie manchmal auch Viren der Schweinegrippe in sich. Und dann fungieren sie als eine Art Mischgefäß, in dem alle diese Viren untereinander Gensequenzen tauschen können.36

Auf diese Weise entstand wahrscheinlich der Subtyp vom Virus H1N1, der im Jahr 2009 tatsächlich eine Pandemie auslöste. Die Krankheit wird Schweinegrippe genannt, aber müsste richtig eigentlich »Schweine-Vogel-Menschen-Grippe« heißen – denn das Virus enthält Gensequenzen aller drei Virenarten. Bei Menschen brach es zuerst in Mexiko und den USA aus. Obwohl sie viel milder verlief als zunächst befürchtet, tötete die neue Grippe allein im ersten Jahr bis zu 575.400 Menschen weltweit und führte zusätzlich vermutlich zu hunderttausenden Fällen der Myalgischen Enzephalomyelitis, die wir heute auch als Langzeitfolge von Covid-19-Infektionen kennen.37

Der Ursprung des Virus wird in Schweinefabriken in Nordamerika gesehen. Da einige von diesen in der Nähe industrieller Geflügelanlagen liegen, könnten von dort die Vogelgrippe-Viren stammen. Und über die Arbeitkräfte in den Anlagen kamen dann menschliche Grippeviren hinzu. In den gestressten, genetisch fast gleichen und dicht an dicht zusammengesperrten Schweinen konnten sich die Viren ungebremst entwickeln.

Wie es zu der Pandemie kam, kann man daher nur verstehen, wenn man betrachtet, wie sich Landwirtschaft und Ernährung in Nordamerika in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass sich die gefährlichen Zoonosen in den letzten Jahren weltweit häufen. Es reicht nicht, die biologischen Mechanismen von Mutation und Reassortment zu kennen. Denn es sind politische und wirtschaftliche Umstände, die für den Aufstieg der Tierindustrie und die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft sorgten.

Der Evolutionsbiologe Rob Wallace hat deswegen eine neue wissenschaftliche Disziplin definiert, die er »politische Virologie« nennt: Seine Arbeitsgruppe aus unabhängigen Wissenschaftler*innen untersucht, wie biologische, soziale und ökonomische Verhältnisse verknüpft sind.38 Das H1N1-Virus von 2009 nennt Wallace »NAFTA-Virus«, nach dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen: »1994 öffneten Mexiko und die USA die Grenzen für den Warenverkehr, US-Firmen entsorgten Fleisch auf dem mexikanischen Markt. Das zerstörte lokale Ernährungssysteme und trieb die industrialisierte Landwirtschaft voran. So gelangte H1N1 nach Mexiko City, in die USA und von dort in die ganze Welt.«39

Auch die vielen Vogelgrippe-Ausbrüche und die immer neuen Virusstämme gäbe es nicht ohne die Geflügelindustrie, die trotz der Gefahren immer weiterwächst. Genau dieser Zusammenhang wurde aber auch in Deutschland lange kaum diskutiert. Das Friedrich-Löffler-Institut, zuständig für die Erforschung von Tierkrankheiten, empfahl bis Ende 2021 nur konkrete Seuchenschutzmaßnahmen gegen die Vogelgrippe: Bei Ausbruch in einem Betrieb werden die Tiere getötet und entsorgt. Schutz- und Überwachungszonen werden eingerichtet. Bei Ausbrüchen in anderen Ländern darf kein Geflügelfleisch von dort importiert werden.40

Daneben soll generell die »Biosicherheit« der Hühner- und Putenanlagen erhöht werden – das bedeutet, dass man die Tiere so weit wie möglich von der Außenwelt isoliert, damit keine Keime hinein- oder hinausgelangen. Am sichersten ist es, wenn die Tiere immer im Stall sind, weil sie dort kaum mit Wildtieren in Kontakt kommen können. Menschen, die in den Anlagen arbeiten, müssen Schutzkleidung anziehen und beim Betreten und Verlassen durch eine Desinfektionsschleuse gehen.

Tatsächlich sehen manche einen großen Vorteil der industriellen Tierhaltung darin, dass sie eine solche Abschottung besonders gut gewährleistet. »Ich finde eine hochindustrialisierte Tierhaltung sehr unangenehm, aber in manchen Bereichen ist sie auch sehr professionell«, sagt zum Beispiel Christina Hölzel, die an der Universität Kiel über Zoonosen forscht. »Beim Schutz gegen Erreger werden viele Dinge richtig gemacht.« Daher seien für die Übertragung von Infektionskrankheiten die geschlossenen Tierfabriken weniger gefährlich als »romantische kleine Bauernhöfe«, wo nicht so strenge Hygieneregeln gelten.41

Für die Verbreitung gefährlicher Viren spielen offene Tierhaltungen zwar wirklich eine wichtige Rolle. Außerdem bieten sie den Viren auch gute Gelegenheit zum Reassortment, also dem Austausch von Gensequenzen. So kam es zum Beispiel in China immer wieder zu neuen Kombinationen aus verschiedenen Vogelviren, weil dort eine Vielzahl großer und kleiner Geflügelbetriebe und Lebendtiermärkte zusammenwirken.42 Aber trotzdem gilt, dass die besonders krankmachenden Virusstämme typischerweise in den industrialisierten Anlagen entstehen – und sich dann erst mit den harmloseren Wildvogelviren vermischen.

Kein Biosicherheitskonzept ermöglicht eine vollständige Abschottung der Tiere von der Außenwelt. Wenn das funktionieren würde, könnte die Vogelgrippe ja nicht in die geschlossenen Ställe hineinkommen – offensichtlich tut sie das auch in Deutschland aber immer wieder. Beim Transport der Tiere und auch über die Gülle gelangen Viren wieder in die Außenwelt. Und sobald gefährliche Tierviren die Fähigkeit bekommen, leicht auf Menschen überzuspringen, werden Arbeitskräfte in den Ställen und Schlachthöfen sowie Tierärzt*innen sich anstecken und die Krankheit weitertragen.

Natürlich ist bei der Abschottung noch viel Luft nach oben. In China entstehen gerade mehrgeschossige Schweinefabriken, die abgelegen in den Bergen Zehntausende von Schweinen beherbergen. Die Arbeiter*innen wohnen direkt neben der Anlage und müssen bei der Ankunft für mehrere Tage durch eine Quarantäne-Schleuse.43

Soll das die Zukunft der Tierindustrie sein? Ich finde diese Vorstellung grausig. Und völlige Sicherheit bieten diese Anlagen auch nicht – die Afrikanische Schweinepest schaffte es trotzdem in einige Schweinehochhäuser hinein.

Das Friedrich-Löffler-Institut hat seine Risikoeinschätzung zur Vogelgrippe im Januar 2022 um neue Empfehlungen ergänzt. Neben den Maßnahmen zur Biosicherheit rät das Institut nun immerhin dazu, kurz- bis mittelfristig die Dichte kommerzieller Geflügelbetriebe durch Wiederbelegungsverbote zu verringern.44

Die Superbazillen

Nicht nur Viren können uns krankmachen. Die andere große Gruppe von Krankheitserregern, die Bakterien, halten wir derzeit hierzulande noch ziemlich gut in Schach – dank Antibiotika. Die Tierindustrie allerdings trägt mit dazu bei, dass diese wertvollen Medikamente auf Dauer ihre Wirkung verlieren – weil immer mehr Resistenzen entstehen. Schon seit Jahren kritisieren Fachleute und NGOs die großen Mengen an Antibiotika, die in den Mastanlagen eingesetzt werden. Geändert hat sich aber noch viel zu wenig.

»Wenn wir den Antibiotika-Resistenzen nicht Einhalt gebieten, könnte die nächste Pandemie eine bakterielle sein und viel tödlicher als COVID-19«, sagt Maria Helena Semedo, Generaldirektorin der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung. Dabei spiele der globale Lebensmittel- und Agrarsektor eine zentrale Rolle, heißt es in einer Stellungnahme der Organisation vom November 2020. Denn: »In vielen Weltregionen werden mehr Antibiotika bei Tieren als bei Menschen eingesetzt«.45

Genau das ist auch in Deutschland der Fall. Etwa 670 Tonnen Antibiotika bekamen Hühner, Puten, Schweine und Rinder in deutschen Ställen im Jahr 2019 verabreicht – das ist fast doppelt so viel, wie alle Menschen zusammen im gleichen Zeitraum einnahmen.46 Jeder Einsatz von Antibiotika befördert aber Resistenzen. Denn die Bakterien, die aufgrund genetischer Besonderheiten das Antibiotikum abwehren können, haben plötzlich freie Bahn – sie vermehren sich besonders schnell. Die direkten Folgen sind klar messbar: Bei einer Untersuchung wurden in allen betrachteten 34 Hähnchenmastanlagen resistente Bakterien gefunden; bei Schweinemast- und Milchbetrieben wurden die Wissenschaftler in vier von fünf Ställen fündig.47 Mehr als jedes zweite Stück Hähnchenfleisch ist mit solchen Keimen belastet.48 Auch in der Gülle, die auf den Feldern landet, lassen sich resistente Bakterien nachweisen.49

Wenn sich solche Bakterien zum Beispiel in einer Wunde einnisten, nachdem man sich beim Kleinschneiden der Hühnerbrust geschnitten hat, kann es passieren, dass Antibiotika nichts mehr ausrichten. Die Wunde heilt nicht, es kann zu Blutvergiftung kommen. Auch bei inneren Infekten wie einer Lungenentzündung sind resistente Keime gefährlich. Heute erkranken in Europa jedes Jahr etwa 670.000 Menschen durch multiresistente Erreger, 33.000 Menschen sterben daran.50 Wenn sich die Resistenzen häufen, drohen Antibiotika insgesamt ihre Wirkung zu verlieren. Das sei für die Medizin eine Katastrophe, sagt Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts:

»Durch die Antibiotika sind wir eigentlich erst in die Lage versetzt worden, die moderne Medizin zu betreiben. In der Krebstherapie stellen Sie die Patienten unter einen Antibiotikaschutz. Wenn Sie bestimmte Operationen durchführen, brauchen Sie einen Antibiotikaschutz, um den Menschen vor Infektionen zu schützen. Wenn Sie Transplantationen vornehmen zum Beispiel. Das heißt, die Antibiotika sind ein Pfeiler der modernen Medizin. Und darum gilt es diese Waffe Antibiotika so lange wie möglich stark zu halten. Sie muss wirken.«51

In welchem Ausmaß ist aber die Tierhaltung für die resistenten Keime verantwortlich, an denen die Menschen heute schon erkranken? Der Nierenarzt Gerd-Ludwig Meyer behandelt Patient*innen, bei denen Antibiotika nicht mehr wirken, in seiner Praxis in Niendorf in Niedersachsen. Er sagt, er könne an den jeweiligen Keimen ablesen, was in den Agrarfabriken gerade verwendet werde. Resistenzen gegen Penizillin-Präparate seien rückläufig, weil deren Einsatz in der Tierhaltung zurückgegangen sei. Dafür gebe es mehr Resistenzen gegen andere Wirkstoffe, die auch in den Ställen zugenommen hätten.52

Die Tiermedizinerin Christina Hölzel dagegen, die an der Uni Kiel über Zoonosen forscht, meint: Die weit überwiegende Zahl der Keime, die in Krankenhäusern zu Problemen führen, hätten mit den resistenten Keimen in den Ställen nichts zu tun. Sie stammten aus der Humanmedizin.53 Genauere Zahlen gibt es für einzelne Bakterienarten: Der wohl bekannteste Keim ist der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA). Von allen MRSA-Keimen gehen tatsächlich nur wenige Prozent auf die Tierindustrie zurück – am höchsten liegt der Anteil in Regionen mit hoher Dichte an Mastanlagen, wo der Keim immer wieder Menschen besiedelt, die beruflich mit »Nutztieren« zu tun haben. Dort stammen etwa zehn Prozent der untersuchten MRSA-Erreger aus der Landwirtschaft.54

Für bestimmte andere Erreger, die Menschen besiedeln, schätzt eine niederländische Studie, dass sie in ca. 60 Prozent auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch zurückzuführen ist, wohingegen eine Übertragung von Lebensmitteln tierischen Ursprungs 17,8 Prozent und von Haustieren 7,9 Prozent ausmacht.55 Bei vielen weiteren Erregern lässt sich derzeit nicht eindeutig sagen, welcher Anteil auf die Nutztierhaltung zurückgeht. Unklar ist auch, welche Auswirkungen die Keime haben, die über die Gülle in die Umwelt gelangen.

Auch wenn der Großteil der resistenten Keime, an denen Menschen derzeit erkranken, wohl nicht aus Ställen stammen, trägt die Tierindustrie doch ihren Teil zum Problem bei. Und dieses Problem wird insgesamt dramatisch wachsen, da sind sich Fachleute einig. Weltweit ist davon auszugehen, dass die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle stark ansteigen wird, weil sich immer mehr Resistenzen bilden und die medizinische Forschung nicht im gleichen Tempo neue Medikamente entwickelt.56

Antibiotika tonnenweise in der Nutztierhaltung zu verpulvern, erscheint vor diesem Hintergrund extrem unvernünftig. Es sind sich auch alle Akteure einig, dass möglichst wenig Antibiotika eingesetzt werden sollten. So ein »möglichst« lässt allerdings viel Interpretationsspielraum. Die Branche weist darauf hin, dass sie schon große Fortschritte gemacht habe, da sich ihr Verbrauch von Antibiotika in Deutschland seit 2011 mehr als halbiert habe.57 Was die Gesamtmenge in Tonnen betrifft, stimmt das.58 Allerdings werden teilweise wirksamere Mittel verwendet – das reine Gewicht ist also nur bedingt aussagekräftig. Und bei einigen Tieren, nämlich in der Hühner- und Putenmast sowie in der Kälbermast, hat sich seit mehreren Jahren kaum etwas geändert – die Antibiotika-Mengen sind fast unverändert hoch.59

Man kann daher davon ausgehen, dass ein durchschnittliches Masthuhn noch immer an zehn von 42 Lebenstagen Antibiotika erhält.60 Bei Hühnern bekommt immer gleich der ganze Stall die Medikamente ins Futter gemischt, weil sich bei 40.000 Tieren die Mühe nicht lohnt, die kranken Hühner von den gesunden zu trennen. Zwar müssen Antibiotika tierärztlich verordnet werden. Aber die Tierärzt*innen haben ein Eigeninteresse daran, möglichst viel Antibiotika zu verwenden: Sie verkaufen die Antibiotika selbst und verdienen daran. Die Einnahmen daraus machen sogar ein Drittel bis die Hälfte ihres Einkommens aus.61

Besonders brisant ist, dass Hühner und Puten in den letzten Jahren zunehmend sogar mit Antibiotika gefüttert werden, die von der WHO als besonders wichtig für die Behandlung von Menschen eingestuft werden – die Ärzt*innen zum Beispiel einsetzen, wenn andere Antibiotika nicht mehr helfen. Der Verbrauch solcher Medikamente, oft auch »Reserveantibiotika« genannt, ist in der Tierindustrie in den letzten Jahren sogar gestiegen.62 Für Nierenarzt Meyer ist das ein Verbrechen:

»Reserveantibiotika sind dafür entwickelt worden, Menschenleben zu retten, schwerste Verläufe, Septikämien, Pneumonien schwerster Art, auf Intensivstationen. Dafür sind die da – und nicht, um dafür zu sorgen, dass das Masthähnchen seinen Zweiunddreißigsten, nämlich den Schlachttag, erreicht.«63

Seit Juli 2022 gibt es einen neuen EU-Rechtsakt, der bestimmte antimikrobielle Mittel allein für den Menschen reservieren und ihren weiteren Einsatz in der Veterinärmedizin untersagen soll. Tatsächlich wird durch den Rechtsakt aber keines der Antibiotika, die die WHO als besonders wichtig einstuft, geschützt.64

Solange sich weder das Ausmaß noch die Art der Tierhaltung grundlegend wandeln, werden also weiterhin große Mengen der kostbaren Medikamente in Tierställen eingesetzt werden. Neue Resistenzen, die auch im Essen und in der Umwelt landen, nehmen wir auf diese Weise in Kauf.

Ist es das wert?

Man könne die Antibiotika-Gaben kaum weiter herunterfahren, argumentiert der Bauernverband gegen die anhaltende Kritik. Dabei führt er ein geradezu ironisches Argument ins Feld: Tierschutz. »Kranke Tiere müssen mit Blick auf den Tierschutz medizinisch behandelt werden, ein vollständiger Verzicht auf Antibiotika in der Nutztierhaltung ist deshalb nicht möglich«, heißt es im »Faktencheck Antibiotika«.65 Auch auf das wichtige Reserveantibiotikum Colistin könne man mit Blick auf das Tierwohl nicht verzichten, solange es keine guten Alternativen gebe.66 Mit Alternativen sind dabei andere, neue Medikamente gemeint. Auch die ehemalige Agrarministerin Klöckner sprach sich 2020 mit derselben Begründung gegen drastische Maßnahmen zur Reduktion von Antibiotika in der Tierhaltung aus.67

Wer so argumentiert, blendet offensichtlich die Ursachen der hohen Medikamentenmengen völlig aus. Erstens ist klar, dass viele Tiere überhaupt erst aufgrund der Zucht- und Haltungsbedingungen krank werden. Untersuchungen zeigen auch, dass oft gerade in größeren Betrieben besonders viel Antibiotika pro Tier eingesetzt werden.68 Wenn es tatsächlich um Tierschutz ginge, müsste man natürlich die Lebensbedingungen der Tiere grundlegend verändern – genau das passiert aber nicht. Die Geflügelwirtschaft zum Beispiel will nur auf Reserveantibiotika verzichten, wenn neue Wirkstoffe zugelassen werden.69 Die Tiere auf andere Weise gesundzuhalten, kommt offenbar nicht in Frage.

Zweitens gibt es all diese Tiere, gesund oder krank, nur, weil sie für die Erzeugung von Fleisch, Milch oder Eiern regelrecht produziert worden sind. Ein Tier, das gar nicht erst zur Welt kommt, braucht aber mit Sicherheit keine Antibiotika. Es geht nicht darum, ob kranke Tiere ein Recht auf Behandlung haben – natürlich haben sie das. Aber: Wenn wir drastisch weniger Tiere halten, mästen und töten würden, müssten wir ganz automatisch drastisch weniger Antibiotika einsetzen und würden die Resistenzbildung drastisch verringern. Damit würden wir zugleich auch die Risiken für eine neue Grippe-Pandemie viel wirksamer verringern als durch »Biosicherheit«, d.h. die Abschottung der Anlagen von der Außenwelt.

Aber müssen wir denn, so könnte man einwenden, um jeden Preis alle Gesundheitsrisiken verhindern? Natürlich nicht. Eine Gesellschaft kann sich dazu entscheiden, negative Folgen und Gefahren einer Praxis in Kauf zu nehmen. Um große Mengen günstiges Fleisch zu bekommen, könnten wir die gesundheitlichen Risiken akzeptieren. Aber haben wir uns dazu entschieden? Haben wir überhaupt jemals ernsthaft darüber diskutiert? Tatsächlich geht es in den meisten öffentlichen Debatten allein darum, ob und wie wir die negativen Folgen der Tierhaltung abmildern können – anstatt um die Frage, ob wir die Probleme überhaupt entstehen lassen wollen.

Das wird besonders deutlich im Fall eines weiteren Krankmachers aus der Tierindustrie, bei dem die Opferzahlen derzeit noch deutlich höher liegen als bei den Viren und Bakterien: Feinstaub. Die winzigen Partikel dringen über die Atemluft in die Bronchien und Lungenbläschen ein; besonders feine Staubteilchen gelangen in das Lungengewebe und sogar in den Blutkreislauf. Sie können lokale Reizungen und Entzündungen auslösen und auch zu Lungenkrebs, verschiedenen Herzleiden und Infarkten führen.70

Über Feinstaub wird meist im Zusammenhang mit dem Autoverkehr gesprochen. Dabei stammt in Deutschland nur etwa ein Fünftel des Feinstaubs aus Fahrzeugmotoren. Mehr als doppelt so viel, 45 Prozent, wird landwirtschaftlichen Emissionen zugeordnet.71 Es handelt sich zum größten Teil um Ammoniak-Gase aus Tieranlagen und Gülle, die sich in der Atmosphäre mit anderen Gasen zu Feinstaub verbinden.

Die Feinstaubbelastung bewirkt, dass in Deutschland mehrere Zehntausend Menschen pro Jahr vorzeitig sterben – verschiedene Studien beziffern die Zahl auf 34.000 bis zu 120.000 vorzeitige Todesfälle. Knapp die Hälfte davon gehen also auf das Konto der Tierindustrie.72 Schlechte Luft erhöht auch das Risiko, an COVID-19 zu sterben: Laut einer Untersuchung vom Herbst 2020 ist jeder fünfte Corona-Todesfall in Deutschland darauf zurückzuführen, dass die Opfer über einen längeren Zeitraum schmutzige Luft einatmeten.73

Fast in allen Regionen des Landes liegt die Belastung durch Feinstaub deutlich über den Grenzwerten, die die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Ihrer Einschätzung zufolge gibt es zudem keine ungefährliche Dosis: Sogar kleine Feinstaub-Level sind schädlich.74

Auch in diesem Fall ist das Problem bekannt und seit Jahren tut sich fast nichts. Bei den Ammoniak-Emissionen aus der Landwirtschaft verstößt Deutschland sogar seit mehr als zehn Jahren dauerhaft gegen internationale Abkommen – allerdings ohne Konsequenzen.75 Europäische Richtlinien schreiben zudem vor, dass die Ammoniak-Emissionen bis 2030 um fast ein Drittel sinken müssen. Der Bauernverband sieht nicht, wie das zu schaffen sei.76 Die Maßnahmen von der Politik konzentrieren sich bislang auf technische Lösungen: Mehr Ställe sollen teure Filteranlagen bekommen, die Lagerung der Gülle soll sich verbessern, auf dem Acker muss die Gülle schneller eingearbeitet werden. Das Agrarministerium selbst vergab im Jahr 2021 Fördergelder von hunderten Millionen Euro für neue Anlagen zur Gülle-Lagerung.77