Andropows Kuckuck - Owen Jones - E-Book

Andropows Kuckuck E-Book

Owen Jones

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Beschreibung

Eine junge, patriotische, idealistische Sowjetfrau heckt einen gewagten und gefährlichen Plan aus, um die Vereinigten Staaten auszuspionieren. Sie hält es für einen Scherz, aber ihre Mutter und die Kommunistische Partei machen es möglich. Wie wird sie mit dem Druck fertig werden, und was wird ihr Schicksal sein?
Andropov's Cuckoo ist ein spannender Spionage-Thriller.

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Andropows Kuckuck

Eine Geschichte der Liebe, der Intrigen und des KGB

von

Owen Jones

übersetzt von

Eva-Maria Peidelstein

URHEBERRECHTE ©

Copyright © 2024 Owen Jones

Alle Rechte vorbehalten

Herausgegeben von

Megan Publishing Services

https://meganthemisconception.com

WIDMUNG

Diese Ausgabe ist meiner Frau Pranom Jones gewidmet, weil sie mein Leben so einfach macht wie sie nur kann – sie macht ihre Sache sehr gut. Karma wird jedem alles gerecht vergelten.

INSPIRIERENDE ZITATE

Glaube nicht einfach an alles, nur weil du es gehört hast.

Glaube nicht einfach an alles, nur weil man darüber spricht und redet.

Glaube nicht einfach an alles, nur weil es in deinen religiösen Büchern geschrieben steht.

Glaube nicht einfach an alles, nur weil die Autorität deiner Lehrer und Eltern es fordert.

Glaube nicht einfach an alles, nur weil die Tradition es über Generationen hin gebietet.

Falls du aber nach genauer Beobachtung und Analyse erkennst, dass es vernünftig ist

und dem Guten wie dem Wohlergehen des Einzelnen und aller dient,

dann akzeptiere es und lebe strikt danach.

Gautama Buddha

–—

Oh großer Geist, dessen Stimme ich in den Winden vernehme, höre mich. Ich brauche Deine Kraft und Weisheit.

Mache, dass ich immer den roten und purpurnen Sonnenuntergang sehe. Mögen meine Hände die Dinge achten, die Du mir gegeben hast.

Lehre mich die Geheimnisse, die unter jedem Blatt und jedem Stein verborgen sind, wie Du die Menschen schon immer gelehrt hast.

Lass mich meine Kraft nicht dazu gebrauchen, meinen Brüdern überlegen zu sein, sondern um meinen größten Feind – mich selbst – zu bekämpfen.

Lass mich immer mit reinen Händen und einem offenen Herz vor dich treten, damit mein Geist, wenn mein Erdenleben wie der Sonnenuntergang schwindet zu Dir zurückkehren kann, ohne sich schämen zu müssen.

(Frei nach einem traditionellen Gebet der Sioux)

Inhaltsverzeichnis

1 WILLIAM DAVIES

2 YUI MIZUKI

3 NATALJA PETROWNA MYRSKI

4 DER SOMMER VON 1967

5 JURI WLADIMIROWITSCH ANDROPOW

6 OPERATION YOURIKO

7 DER PLAN WIRD IN GANG GESETZT

8 DER KGB

9 ALLTAGSTROTT

10 DER URLAUB

11 LUBJANKA

12 ARCHIPELAG GULAG

13 EIN NEUER JOB

14 LENINGRAD 1978

15 TOTAL VERKNALLT

16 SOTSCHI, KRASNODARSKI KRAJ

17 ZUR VOLLEN FLASCHE

18 DIE MAULTIERKARAWANE

19 DIE LETZTE ETAPPE

20 CHELTENHAM

21 EPILOG

Bonuskapitel eines neuen Buches:

Weitere Bücher desselben Autors:

1 WILLIAM DAVIES

„Er kommt zurück, Peter!“

„Halt ihn hier!“ befahl der Herz-und Gefäßchirurg, während er mit geübtem Blick rasch die Maschinen und Monitoren auf den Gestellen über der gegenüberliegenden Seite des Bettes checkte. „Lass ihn nicht wieder das Bewusstsein verlieren. Wenn wir das zulassen, könnte es das letzte Mal sein.“

All die blinkenden und flatternden Lichter auf allen Monitoren begannen sich ebenso wie die Pieps-und Summtöne zu normalisieren.

„Mach schon, William, schlaf uns jetzt nicht weg“, drängte er seinen Patienten.

„Ich bemühe mich ja“, hörte ich mich in meinem Kopf sagen, aber ich schaffte es nicht, meine Lippen dazu zu bringen, meine Gedanken auszusprechen. Tatsächlich hatte ich, zehn Minuten bevor ich die erste Stimme sprechen hörte, eine Weile gedacht, ich sei gestorben. Der einzige Grund, mein Ableben zu bezweifeln, war die Tatsache, dass ich Spiritualist bin. Ich habe immer daran geglaubt, dass Freunde und Verwandte auf der Anderen Seite warten, um die Verstorbenen zu begrüßen. Niemand hatte auf mich gewartet… Nicht dass ich viele Freunde oder Verwandte, ob nun tot oder lebendig, hätte. Obwohl ich wusste, dass es einen Menschen gab, auf den ich mich verlassen konnte.

Ich musste mich den Ärzten ergeben und mich auf ihre Kompetenz verlassen. Ich wollte ihnen ein Zeichen geben, dass ich sie hören konnte, also versuchte ich, mit meinen Fingern zu klopfen und meine Zehen zu bewegen, aber ich hatte keine Ahnung, ob sie sich bewegten oder nicht. Nach der fehlenden Reaktion der Ärzte und Schwestern zu schließen, die offensichtlich um mein Bett herumstanden und versuchten mir zu helfen, bewegten sie sich nicht.

„Seine Augen zucken, Ich glaube, er versucht sie zu öffnen“, bemerkte eine weibliche Stimme bewegt. Ermutigt von dieser Unterstützung strengte ich mich noch mehr an, und eine Minute oder so später konnte ich durch einen Spalt in meinen Augenlidern das gütige Gesicht eines Mannes erkennen, der mich anlächelte.

„Willkommen zurück, William“, sagte er und schien es ernst zu meinen, „wir dachten, diesmal hätten wir dich verloren. Willkommen zurück im Land der Lebenden. Es tut mir sehr leid, mein Alter, aber ich muss weg, jetzt wo du wieder in Ordnung kommst. Aber die Damen und Herren hier sind außerordentlich kompetent und werden sich genauso gut um dich kümmern wie ich es könnte. Bis später!“

Er gab den anderen flüsternd Anweisungen, dann ging er.

Es ist seltsam, aber wenn man nur noch sehr wenig Kraft hat, ist es bemerkenswert einfach zu fühlen, wie sie abebbt oder wiederkommt. Was meinen Fall angeht, ich wurde mit jeder Sekunde kräftiger. Ich weiß nicht, was für Medikamente man mir gegeben hatte, aber sie und mein Lebenswille wirkten Wunder.

„Wir behalten Sie über Nacht hier, William, aber wenn es morgen gut aussieht, können Sie in Ihr eigenes Bett zurück. Das wird fein, nicht wahr?“

Ich versuchte zu nicken und zu lächeln, aber ich fühlte nur eine Träne aus meinem linken Auge über meine Schläfe und in mein Ohr rinnen. Ich habe schon seit fast drei Jahren nicht mehr in meinem eigenen Bett geschlafen, aber ich wusste natürlich, was sie meinte. Sie versuchte nur nett zu sein… optimistisch, und ich wusste es zu schätzen. Es ist nur… Es ist komisch, woran man so denkt, wenn man merkt, dass man in den letzten Atemzügen liegen könnte.

Ich halte mich nicht für gläubig, obwohl ich annehme, dass andere mich so sehen könnten. Ich glaube einfach an ein Leben nach dem Tod, an Reinkarnation und Karma. Also hatte der Tod nie irgendwelchen Schrecken für mich, und das Leben ist nur dadurch ein wenig besser, dass es eine größere Vielfalt an Erfahrungen und mehr davon ermöglicht.

Meine letzten Gedanken hatten nicht Leben oder Tod und nicht einmal meinem Schöpfer, dem ich bald gegenüberstehen sollte, gegolten, sondern den Menschen, die ich geliebt habe, und besonders den Frauen, denn ich hatte ihre Gesellschaft immer der von anderen Männern vorgezogen. Man könnte argumentieren, das wäre das Vorbeiziehen meines Lebens vor meinen Augen gewesen, aber es war eine nette, bearbeitete Version und es zog nicht vorbei. Es verweilte in träger, üppiger, verführerischer Weise.

Ich glaube sogar, der Film meines Lebens wäre nicht zu Ende gewesen, wenn ich an dem Herzinfarkt gestorben wäre, bei dem ich dachte, dass ich sterben würde. Er wäre weitergelaufen und ich hätte keinen Körper mehr gehabt – das wäre die einzige Änderung gewesen.

Mein ganzes Erwachsenenleben lang bin ich ein großer, kräftiger Mann gewesen: über einen Meter achtzig groß und über hundert Kilo schwer, dabei aber fit und gesund. Ich habe Krankheiten gehabt und gebrochene Knochen, aber nichts hat mich für lang umgehauen. Aber ich fürchte, dass diese Tage vorüber sind, denn das hier war mein zweiter Herzinfarkt, von dem Sie mich gerade wieder zurückkommen sahen, und ich bin Realist genug, um zu wissen, dass ich den dritten Aufruf, das Zeitliche zu segnen, wahrscheinlich nicht ignorieren können werde.

Ehrlich gesagt bin ich nicht einmal sicher, dass ich das wollte. Ich bin jetzt einundsiebzig, ich lebe in einem Altenheim in Südspanien und meine Frau und meine Freunde sind alle schon vor mir gestorben. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist ein sehr komfortables Heim, das eigens für englischsprachige Oldies wie mich betrieben wird. Es ist wirklich sehr nett, aber es ist kein Zuhause, wie Sie sicher verstehen werden, und das Bett, das sie mein eigenes nennen, ist nicht das Bett, das ich mit meiner Frau geteilt habe, bis sie vor zwei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen starb.

Es war dieses unser Bett, von dem aus sie ins Krankenhaus gebracht wurde, wo sie verstarb, ohne das Bewusstsein wieder zu erlangen. Sie hat ihren ersten Herzinfarkt nicht überlebt. Es ist eine Schande, ich dachte, sie würde…, wenn die Zeit käme. Ich schlief danach eine Weile lang in einem Hotel und dann zog ich in das Heim – Gottes Warteraum, so nennen wir Bewohner es!

Jedenfalls… ich schweife ab, aber ich fürchte, Sie werden mir vergeben müssen, lieber Leser, denn es stimmt schon, die Gedanken eines alten Mannes schweifen ab. Wenn Sie die Ausdauer haben, bis zum Ende bei mir zu bleiben, will ich Ihnen die Geschichte einer Frau erzählen, die die ganze Welt kennen soll.

Es ist schwierig, die Geschichte von jemand anderem zu erzählen, und in diesem Fall wird dies erschwert durch die Nebel der Zeit und das Erinnerungsvermögen eines alten Mannes, aber ich werde es schon schaffen, das verspreche ich Ihnen hoch und heilig.

Ich bin das älteste Kind in meiner Familie, in meiner Generation unserer Familie, sollte ich wohl sagen, drei Jahre älter als mein ältestes Geschwister, und so war ich lange Zeit ein Einzelkind. Ich hatte aber Glück, denn es gab viele Kinder in den fünf Häusern bei unserem, und der Zufall wollte es, dass acht von diesen neun Kindern Mädchen waren. Ich liebte sie alle in der Zeit, bevor ich in den Kindergarten kam, weil ich keine eigenen Schwestern hatte. Ich habe schöne Erinnerungen an Fantasie-Teepartys, bei denen ich der Vater und eines der Mädchen die Mutter waren.

Die meisten von ihnen waren ein paar Jahre älter als ich, sodass sie, als sie in die Schule kamen, neue Freunde fanden. Schließlich kam auch ich in die Schule. Dort verliebte ich mich mit sechs Jahren in ein Mädchen, das Debbie hieß. Eines Tages nach der Schule, als wir sieben waren, saßen wir bei Donner, Blitz und Regen auf den Schaukeln in der Hoffnung, dass ein Blitz uns einen romantischen gemeinsamen Tod bescheren würde. Natürlich passierte das nicht, alles was wir uns einhandelten, war eine Standpauke von unseren Eltern.

Dann war da Sally, als wir neun waren. Ich bin ihr immer nachgeschlichen und als sie sagte, ich sei der dritthübscheste Junge, den sie kannte, war ich im siebten Himmel. Als ich fünfzehn war, war da Lesley, die ich aus der Ferne liebte, mit der ich aber nie ein Wort geredet habe. Das ging so, bis ich siebzehn war.

Ich werde diese wunderbaren Mädchen, unsere Unschuld und die tolle Zeit, die wir zusammen hatten oder haben wollten, nie vergessen.

Über manche Dinge kann man nicht sprechen, nicht einmal wenn man einundsiebzig und gerade dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Und über andere Dinge will man nicht sprechen, weil sie Erinnerungen darstellen, die man am besten für sich genießt. Ich frage mich oft, ob diese ersten Lieben, denn sie waren ja noch nicht meine Geliebten, sich auch gern an mich erinnern, aber ich werde es wohl nun nie mehr erfahren, und das ist wahrscheinlich auch gut so. So kann ich mir einbilden, sie tun es.

Sehen Sie, ich kann sie nicht fragen, weil ich immer herumgezogen und nie mit jemandem in Verbindung geblieben bin. Das ist ein Grund dafür, dass ich keine Freunde und enge Familie habe. Zuerst ging ich zum Studium an eine Universität zweihundertfünfzig Kilometer von zuhause entfernt und dann kam ich in den diplomatischen Dienst, was ebenfalls viele Reisen bedeutete… aber ich greife voraus.

Die Mädchen, mit denen ich im Alter von achtzehn bis dreiundzwanzig ausging, begannen Frauen zu werden, und das war noch aufregender. Ich erinnere mich an Janine, Glenys und Andrea… und so viele andere Freunde und Geliebte. Ich träume oft von ihnen allen auf eine Weise, die meiner Frau gegenüber nicht respektlos ist.

Die Krankenschwester ist hier, um mich einzuschläfern… nicht wie einen alten Hund, Sie verstehen, mehr so wie ein krankes Kind. Ich fürchte, ich laufe Gefahr, zu so einem kranken Kind zu werden. Das ist ein Grund, warum ich Ihnen meine Geschichte bald erzählen will. Ich werde mein Bestes tun, morgen damit weiterzukommen.

Müesli und frische Ananas mit einer Naturjoghurthaube zum Frühstück, dazu eine Tasse schwachen Kräutertee. Welche Kräuter kann ich vom Geschmack her nicht sagen, aber es ist alles sehr gut, wenn auch vorhersehbar. Mein Zustand wird Joggen noch eine Weile unmöglich machen, also brauche ich viele Ballaststoffe. Der Tee ist wahrscheinlich auch ein mildes Abführmittel.

Jedenfalls ist mir über Nacht bewusst geworden, dass meine Geschichte, wenn sie eines Tages veröffentlicht werden soll, aufgeschrieben oder aufgenommen werden muss. Ein Diktiergerät wäre am wenigsten anstrengend für mich, also habe ich die Schwester, die mein Frühstück gebracht hat, gebeten, dafür zu sorgen, dass die Heimangestellten eines für mich besorgen. Sie versuchte, sich aus der Sache herauszuwinden, indem sie mich darauf hinwies, dass ich innerhalb der nächsten acht Stunden „nach Hause gehen“ würde und es ihnen also selbst auftragen könnte.

Ich wollte aber nichts davon wissen. „Ich habe nicht vergessen, dass ich heute zurück ins Heim soll, wenn es mir gut genug geht!“ sagte ich zu ihr. „Rufen Sie sie an und sagen Sie ihnen, sie sollen mir ein Diktiergerät besorgen, wie ich gebeten habe, bitte!“ Sie zog beleidigt ab, aber Leute in meinem Alter dürfen schon von Zeit zu Zeit ein bisschen schrullig sein, das wird von uns erwartet, und es ist eine Entschädigung für das Altwerden. Man könnte es einen Preis nennen dafür, dass jemand über die zugeteilten dreimal zwanzig plus zehn Jahre hinaus überlebt hat.

Als eine andere Krankenschwester meine Teller wegräumte, fragte ich wieder nach meinem Diktiergerät. Zehn Minuten später rief sie mich am Telefon bei meinem Bett an und sagte, dass die Sache erledigt würde. Sie sind ziemlich entgegenkommend hier, im Großen und Ganzen, auch dort, wo ich wohne.

Während wir hier darauf warten, dass die mich „nach Hause“ bringen, wo mein Diktiergerät auf mich warten soll, damit ich die Geschichte erzählen kann, die ich Ihnen versprochen habe, will ich die Zeit nutzen, um Ihnen ein bisschen über mich selbst zu erzählen, aber keine Angst, ich werde mich kurzfassen. Ich will Sie nicht langweilen und in der richtigen Geschichte geht es ohnehin nicht um mich. Dies hier ist kein Ego-Trip, wie die guten alten Hippies zu sagen pflegten.

Ich habe die Siebziger geliebt, aber ich war zu jung, um Spaß an den Sechzigern zu haben.

Ich wurde in Cardiff, in Südwales, Großbritannien als ältestes Kind einer arbeitsamen Arbeiterfamilie geboren. Mein Vater war nach dem Wehrdienst Zimmermann, aber er hatte bald seine eigene Baufirma, und er und meine Mutter hatten bald eine Familie mit fünf Jungen. Wir wuchsen alle gesund, stark und glücklich auf. Unsere Eltern waren Spiritualisten, und Dad nahm uns jeden Freitag abend mit in die Kirche, wenn er seine Heilungen machte, um meiner Mutter einen wohlverdienten „freien Abend“ zu ermöglichen.

Religion wurde uns jedoch nie aufgezwungen. Unsere Schulen waren Church in Wales, die Pfadfinder waren Methodisten und unsere Lieblingstante war katholisch. Religion war einfach kein Problem in unserer Familie oder Nachbarschaft. Die ersten zwei Dinge, die meine Mutter sagte, an die ich mich erinnere, sind, dass sie sterben würde, bevor sie zweiundvierzig wäre und dass ich Diplomat werden sollte. Beides wurde wahr.

Englisch war meine Muttersprache; aber im Alter von sechs Jahren begann ich, Walisisch zu lernen, dann folgten Französisch, Deutsch, Latein, Holländisch und Russisch bis zur Geläufigkeit und ein bisschen Chinesisch und Spanisch. Der diplomatische Dienst zahlt einen Bonus für jede Sprache, die man spricht, was ein großer Anreiz für mich war. Dasselbe galt für die Aussicht auf Auslandsreisen, da ich schon mit fünfzehn im Ausland gereist war und studiert hatte. Mit achtzehn war ich bereits ein souveräner Reisender.

Was mir besonders gefiel, war Autostoppen, aber damals taten das alle junge Leute gern, und aus irgendeinem Grund war es damals sicherer als heute.

Ich neige dazu, ein Einzelgänger und Denker zu sein, obwohl ich nicht behaupten will, dass ich zu vernünftigeren Schlussfolgerungen komme als andere. Aber ich versuche es, und das war einer der Gründe, warum ich in den diplomatischen Dienst aufgenommen wurde. Ich hatte ein großartiges Leben im Dienst und viel Spaß… aber ich reiße diese Geschichte ja schon wieder an mich, beuge sie zu mir, neige sie in Richtung meiner Lebensgeschichte… Ach ja, ich hatte vergessen… wir müssen ja auf das Diktiergerät warten, bevor wir richtig zur Sache kommen können, nicht wahr?

Dafür bitte ich um Verzeihung, aber ich bin genauso ungeduldig wie Sie sein müssen. Ehrlich!

Vom Krankenhaus zum Heim waren es nur ein paar Kilometer, sodass die Fahrt in dem komfortablen Krankenwagen, den man zur Verfügung gestellt hatte, nicht lange dauerte. Tatsächlich verließen wir das Krankenhaus ohne Vorwarnung um elf Uhr Vormittag und um zwölf Uhr Mittag saß ich bereits in einem großen, bequemen Sessel auf dem Gelände des Heims mit Aussicht auf den schönen Jachthafen in Marbella und wartete auf mein Mittagessen.

Ich weiß, dass Sie schon eine ganze Weile warten, dass ich endlich auf den springenden Punkt kommen, was dieses Buch betrifft, ich habe es nicht vergessen, auch wenn ich nicht mehr genau weiß, wie lange. Als also die Schwester mir mein Mittagessen brachte, fragte ich noch einmal nach dem Gerät. Sie rief mit ihrem Handy den Empfang an und versicherte mir, dass es innerhalb der nächsten Stunde geliefert werden würde. Ich lächelte, dankte ihr, und langte fest zu bei meinem gekochten Fisch mit Salat, wieder gefolgt von Joghurt und Tee.

Ich mag diese Art von Essen, aber ich war in kulinarischer Hinsicht schon immer leicht zufriedenzustellen, solange ich kein Junk-Food essen muss. Früher bevorzugte ich indische und thailändische Küche, aber das ist nun alles so gut wie verboten für mich, genauso wie Käse, frisches, knuspriges Brot und Rotwein oder Bier, die heutzutage ebenfalls seltene Gaumenfreuden sind.

Das Essen und die Stunde sind beide vorbei, aber die einzige Änderung in meinen Umständen ist, dass ich müde bin. Wahrscheinlich ist es die Meeresluft. Wenn sie mir mein neues Spielzeug nicht bald bringen, schlafe ich wieder… und werde von den Menschen aus meiner Jugend träumen, Menschen, die vielleicht schon lange tot sind… Vielleicht sollte ich das ja auch sein, welchen Nutzen bringe ich denn hier noch? Essen und trinken und Geld ausgeben, aber wozu? Nur um mich am Leben zu erhalten? Es kümmert doch keinen außer den Eigentümern des Heims, und denen wäre es auch bald egal, wenn mir das Geld ausgehen würde, was es nicht wird… Dafür wird die gute alte britische Regierung sorgen, bis ich den Löffel abgebe.

Obwohl in gewisser Weise werde ich dadurch zurückgehalten von meiner Reise durch einen weiteren Tod zu einer weiteren Wiedergeburt. Ich kann nicht anders, ich denke immer, mein Geld wäre anderweitig besser ausgegeben. Ich schweife gerade wieder ab, habe ich das Gefühl. Ich muss am Leben bleiben, um Ihnen meine Geschichte zu erzählen, die nicht wirklich meine Geschichte ist, weil sie nicht von mir handelt, ich weiß, ich habe Ihnen das schon mal gesagt, aber ich kenne diese Geschichte fast mein ganzes Leben lang. Das ist der Grund, warum ich mich ans Leben klammere, nicht um des Lebens selbst willen.

Ehrlich gesagt, kann ich es kaum erwarten, den nächsten Abschnitt meiner Reise zu beginnen, und das schon seit zwei Jahren, sieben Monaten und vierzehn Tagen. Sie fehlt mir so sehr, dass ich jedes Mal weinen könnte, wenn ich an sie denke, zäher alter Mistkerl, der ich zu sein glaube… vorgebe zu sein. Schließlich glaubt jeder diesem Image und lässt einen in Ruhe weitermachen… ohne zu merken, dass das das Letzte ist, was man von ihnen will. Ich habe einfach zu große Angst davor, meine Gefühle zu zeigen, das ist wahr… aber das sind wohl die meisten Männer.

Naja, jetzt ist es zu spät, um das noch zu ändern… Vielleicht in meinem nächsten Leben oder in dem danach. Es ist eine gute Sache, dass die Ewigkeit so lange ist, das gibt einem ausreichend Zeit, seine Fehler und Schwächen zu korrigieren und, weiß Gott, ich brauche das.

Da ist eine plötzliche, unerwartete Erinnerung an Ricky, einen Jungen von der Universität. Er war aus Battersea und täuschte einen Cockney Akzent vor. Er benahm sich wie der Hahn auf dem Mist, aber eines Abends bat er mich, mit ihm auf ein indisches Curry zu gehen, weil er noch nie eines gegessen hatte und ein Mädchen beeindrucken wollte, das sagte, es sei ihre Lieblingsspeise. Er betrank sich mit Rotwein und Bier, sodass er mit dem Gesicht in sein Chicken Madras fiel und darin Blasen machte! Hahaha… die gute alte Zeit. Ein Kellner und ich putzten ihn ab und ich brachte ihn nach Hause zu seiner Freundin, die das ganze Haus voller Nacktfotos von sich hatte, die ihre Mitbewohnerin gemacht hatte.

Ich kann mich nicht mehr an den Namen der Mitbewohnerin erinnern, aber sie war Jüdin und an diesem Abend nahm sie mich zusammen mit noch mehr Rotwein mit in ihr Bett. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht mehr an ihren Namen erinnern kann, aber Maria oder Marsha scheint zu dem Gesicht zu passen, dass ich in meinem Kopf sehe. Seltsam, ich habe fast fünfzig Jahre nicht an diese drei Leute gedacht.

Entschuldigung, ich muss wohl eingenickt sein. Da ist ein Zettel, der unter meiner Tasse steckt: „Ihr Diktiergerät befindet sich an der Rezeption. Bitte, rufen Sie an und man wird es zu Ihnen hinausbringen.“ Ich freue mich für Sie genauso wie für mich selbst, lieber Leser, denn jetzt kann ich mein Versprechen halten, und Sie werden sehen, ob das, was ich gesagt habe, wahr ist oder nicht. Einen Moment bitte, ich muss einen Anruf machen.

„Da haben Sie, William. Ich war so frei und habe es aufgeladen, während Sie geschlafen haben. Viel Spaß damit“, sagte das Mädchen, das es brachte.

„Ja, danke, das werde ich“, antwortete ich fröhlich, aber ich dachte „Was für eine freche Göre!“ Manche der jüngeren behandeln uns, als ob wir senil wären. Das ärgert mich. Es stimmt, dass manche von uns total plemplem sind, aber nicht alle… noch nicht.

Ich spielte mit dem Nokia, drehte es in meinen Händen auf der Suche nach vertrauten Merkmalen. Es war ein einfaches Gerät, genau das, was ich wollte… es konnte auch sprachaktiviert werden. Moderne Technologie war mir nicht fremd, aber da hatte ich einen weiteren plötzlichen Einfall. Ich habe Tausende von Berichten geschrieben, aber noch nie eine Biographie. Ich habe viele gelesen, ja, aber noch nie eine geschrieben. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Wirklich! Das ist total nervig. Ich, wir, haben vierundzwanzig Stunden auf das Diktiergerät gewartet und jetzt kann ich immer noch nicht anfangen!

Ich hob meine Tasse, um den Tee auszutrinken, und eine warme Brise blies den Zettel den Rasen runter. Mir wird klar, dass die Geschichte, die ich erzählen will, ihre Geschichte, nicht hätte passieren können, wenn nicht zuerst andere Ereignisse stattgefunden hätten… Also, in diesem Fall, wo Sie bis jetzt so nachsichtig mit mir waren, will ich Sie noch ein bisschen weiter drängen und Sie ganz an den Anfang zurücktragen, so weit zurück, wie es mir nur menschenmöglich ist. Der wirkliche Beginn dieser Geschichte liegt in einem anderen Land, das sich fast ein Jahrzehnt vor meiner Geburt in einer sehr misslichen Lage befand.

Die Frau, von der ich Ihnen eigentlich erzählen will, hatte viele Namen, aber sie wurde im sowjetischen Kasachstan als Natalja geboren, obwohl wir in Japan mit der Familie Mizuki anfangen müssen. Ich habe ihre Geschichte über die Jahrzehnte hinweg aus den verschiedensten Fallnotizen, die ich in meinem Berufsleben als Diplomat entdecken konnte, und aus Sachen, die man mir erzählte oder die ich mitanhörte, zusammengestückelt. Und so will ich Ihnen nun mit meinem vollfunktionierenden brandneuen Diktiergerät über die ersten Akteure in unserem Drama, Yui Mizuki und ihre Familie, erzählen und hoffe, dass ich nicht zum dritten Mal vor den Vorhang gerufen werde, bevor wir fertig sind.

2 YUI MIZUKI

Herr Hiroto Mizuki arbeitete bei Tag als mittelrangiger Beamter in Unabkömmlichstellung im Finanzministerium in Tokio und bei Nacht als Teil der Heimwehr. 1944, als er siebenundzwanzig war, war er in eine Kollegin verliebt, die von seinem Büro aus den Gang runter arbeitete, und er schwor sich, dass er sie zu seiner Frau machen würden, wenn sie die laufenden amerikanischen Angriffe überlebten. Hiroto und seine Freundin, Suzume, kamen aus ähnlichen Gesellschaftsschichten, waren beide Shintoisten, verehrten beide Kaiser Hirohito als einen Gott und waren beide davon überzeugt, dass es für Japan unmöglich war, den Krieg zu verlieren – den größten Krieg, den Japan jemals geführt hatte.

Die ersten Anzeichen dafür, dass sie unrecht haben könnten, waren das Verschwinden junger Männer von den Straßen ihrer geliebten alten Hauptstadt Tokio, und die gnadenlosen Bombenangriffe der Amerikaner. Am Abend des 9. März 1945 wurden fast 700000 Brandbomben abgeworfen, die 100000 Menschen töteten, weitere 110000 verletzten und vierzig Prozent der Stadt in einem Inferno zerstörten, das sich durch die größtenteils aus Papier und Bambus bestehenden Gebäude rasend ausbreitete.

Suzumes Zuversicht begann zu bröckeln, während ihre Nerven aufgerieben wurden. Nach einer weiteren schlimmen Bombennacht am 20. Juli, als eine riesige Pumpkin-Bombe – ein Vorläufer der Atombomben, die folgen würden – in der Nähe ihres Elternhauses, in dem sie ebenfalls lebte, abgeworfen wurde, flehte sie Hiroto an, sie wegzubringen. Bei einem Treffen in ihrem Haus am 21. Juli sagte sie ihm auf Knien, dass sie es nicht länger aushielte. Wenn er sie nicht bald wegbrächte, würde sie entweder allein weggehen müssen oder „den einzigen ehrenhaften Ausweg nehmen“. Ihre Eltern gaben ihnen ihren Segen und eine hastige Shinto-Hochzeitszeremonie wurde arrangiert.

„Aber wo sollen wir hingehen?“ fragte Hiroto. „Ich habe keine Ahnung, was hier in unserem eigenen Land vorgeht, aber ich glaube, der Süden ist sicherer – irgendwo weit weg von Tokio, denn sie scheinen darauf erpicht zu sein, die Stadt und alle, die darin leben, platt zu bombardieren.“ Hiroto trank Tee in kleinen Schlucken und tat so, als gäbe er der Angelegenheit seine ungeteilte Aufmerksamkeit, um seiner verängstigten Verlobten Zuversicht einzuflößen. Doch er hatte keine Ahnung, er sah nur eine einzige Möglichkeit.

„Mein Vater und meine Mutter haben einen komfortablen Bauernhof im Süden“, überlegte er, „Wir könnten dort hingehen… Sie haben fast keine Kampfhandlungen erlebt.“

„Das ist fantastisch“, sagte Suzume und strahlte ihn bewundernd an. „Wo ist das, sag?“

„Tja, wenn die Züge noch fahren würden, wäre es nur etwa zwölf Stunden von hier…“, sagte er lächelnd und es genießend, seine zukünftige Braut zu necken, „und wenn wir ein Auto hätten und Benzin natürlich, wäre es ungefähr neun Stunden, aber es gibt diese Sachen ja nicht mehr… Also, wenn du wirklich dorthin willst, dauert es zwölf bis vierzehn Tage, um dorthin zu laufen. Willst du immer noch gehen?“

„Mit dir an meiner Seite, mein Liebster, wäre es mir egal, wenn es einen Monat dauern würde, aber wo ist es?“

„Fünfzehn Kilometer nördlich von Hiroshima. Es ist schön und ruhig dort!“ antwortete er. „Wir werden dort in Sicherheit sein, und meine Eltern werden sich freuen, dass wir bei ihnen sind. Kommen Sie mit uns, zukünftige Schwiegermutter und Schwiegervater?“

Der alte Mann schaute zu seiner Frau.

„Nein, mein Sohn. Pass gut auf unsere Tochter auf and habt viele Kinder. Unser Schicksal, ob es nun gut ist oder schlecht, ist mit dem regierenden Kaiser und seiner Hauptstadt verbunden. Wir bleiben hier. Wir könnten ohnehin nicht zu Fuß nach Hiroshima gehen, selbst wenn wir wollten, es wäre viel zu anstrengend für uns.“

„Wir kommen euch besuchen, wenn der Krieg vorbei ist und die Züge wieder fahren“, tröstete Suzumes Mutter sie.

Die folgenden vier Tage gingen sie zur Arbeit, dann meldeten sie sich krank, um sicher zu sein, dass jeder von ihnen noch einen Monatslohn bekäme, und um genügend Zeit zu haben, diejenigen von Hirohitos Habseligkeiten, die sie nicht brauchten, zu verkaufen, zu heiraten und sich von Suzumes Familie zu verabschieden. Am Morgen des 27. Juli, eines Freitags, brachen sie auf, gekleidet in sackartige Kleider wie Bauern, mit zerzaustem Haar und Essenspaketen, versteckt in der Kleidung, die sie zum Wechseln dabeihatten, und schlossen sich den Scharen von Flüchtlingen an, die auf der Suche nach einem ruhigeren Leben Richtung Süden unterwegs waren.

Das Leben unterwegs war hart, sie hatten Geld an ihren Körpern versteckt und Essen in ihren Taschen, aber die meisten anderen hatten nichts. Sie fühlten sich furchtbar herzlos, als sie abseits von den anderen saßen und hungernden Kindern nichts zu essen gaben, denn wenn sie irgendetwas von ihren Vorräten weggäben, würden sie auch bald betteln müssen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn es unterwegs Geschäfte gegeben hätte, aber die Flüchtlingsströme entlang dieser trostlosen und staubigen Straßen waren seit so langer Zeit so stark und unablässig gewesen, dass nichts mehr übrig war, und die Essensvorräte waren ohnehin spärlich wegen der Blockaden und Bombenangriffe. Alles, was man sehen konnte, soweit das Auge reichte, waren verfallene Bauernhäuser und verwüstete Felder. Es gab kein Vieh, denn das war entweder bereits gegessen, verkauft oder als künftige Sicherheit versteckt worden. Durch dieses Land zu gehen, war auf seine Art genauso deprimierend wie in Tokio zu bleiben, nur dass die Luft reiner war. Reiner, aber nicht besser.

Einer der glücklichsten Augenblicke während des Tages war das Abhaken von weiteren vierundzwanzig Stunden, und die traurigsten Momente waren, wenn sie um die Leichen derer herumgehen mussten, die unterwegs gestorben waren. Oft gab es Raufereien um die Habseligkeiten von Verstorbenen, sogar um ihre Kleidung, und die Leichen wurden nackt auf der Straße zum Verwesen liegen lassen oder in den Straßengraben getreten, wenn sie zu schlimm rochen. Es war Sommer und heiß, und so dauerte es nicht lange, bis die Fliegen und ihre Maden ihr grausiges Werk begannen. Sie gingen meistens nachts, weil es da kühler war, aber das erhöhte das Risiko, auf den unbeleuchteten Straßen über verwesende Leichen zu stolpern. Der Gestank der Verwesung selbst war keine Warnung, da er überall war. Sie versuchten, sich selbst daran zu erinnern, dass das hier weniger als zwei Wochen vom Rest ihres gemeinsamen Lebens dauern würde.

Nach elf Tagen unterwegs waren sie in der Nähe von Hiroshima.

„Komm, Suzume, es ist acht Uhr, lass uns unsere letzten Vorräte essen. In acht Stunden können wir auf dem Hof sein, wenn wir ein Telefon hätten, könnten wir Mama sagen, wir kommen zum Tee. Das würde ihr den Schock ihres Lebens verpassen! Komm, schauen wir, ob wir von hier aus die Stadt sehen können.“

Er half ihr einen kleinen Hügel am Wegesrand zu erklimmen, und sie setzten sich. Sie schaute sich um, ob jemand sie beobachtete, bevor sie ein kleines Paket unter ihrer Kleidung hervorholte.

„Wir haben ein wenig Reis von gestern übrig, Liebling, und eine letzte Dose Fisch. Kannst du von dort drüben was sehen?“

„Nein, eigentlich nicht… Ich bin nicht sicher, der Morgennebel, weißt du? Komm hier rüber, wenn die Sonne wärmer wird, könnte es bald aufklaren und wir könnten einen Blick erhaschen.“

Suzume ging hinüber zur Südseite der Hügelkuppe und sie setzten sich. Hiroto schaute auf seine Uhr.

„Hm, zehn nach acht. Papa wird jetzt die Feldarbeiter anschreien und sagen, sie seien faule So-und-sos und Mama wird kochen und aufräumen und das Dienstmädchen schelten, weil es schlampig ist. Manche Dinge ändern sich nie, nicht wahr, Liebling, trotz all dem Chaos geht das Leben weiter.“

Sie goss den Fisch über den Reis und legte das Tuch auf das Gras zwischen ihnen.

„Lang zu“, sagte sie, „bon appétit…“ Als Hiroto mit seinen Essstäbchen eine winzige Portion Fisch und Reis nahm, hörte er seine Frau fragen: „Schau mal, Hiroto, was kann das nur sein? Es ist schreckenerregend.“

„Was ist los, Liebling“ fragte er und schaute auf. Sein Mund blieb weit offen, als eine riesige Wolke mit der Form eines Pilzes, aber groß wie ein Berg, vor ihnen aufstieg. Voller Angst hielten sie einander instinktiv fest, gerade rechtzeitig, um den Blitz nicht zu sehen, aber dem Wind entkamen sie nicht. Zuerst wurde ihr improvisierter Teller mit der spärlichen Nahrungsmenge weggefegt, und dann wurde das Paar rückwärts über den nördlichen Hang des Hügels geblasen. Sie rollten hinunter in das stinkende Wasser des Bewässerungsgrabens am Fuß des Hügels bei der Straße, aber das rettete ihnen wohl das Leben.

Während sie hinunterpurzelten, bekamen sie flüchtig zu sehen, wie die anderen Reisenden umgeweht und umgestoßen wurden wie Kegel. Sie hatten Glück, während die, die sich noch auf den Füßen hielten, wie aus einer Donnerbüchse mit Holztrümmern, Bambusstangen und sogar kleinen Felsen beschossen wurden. Sie hielten sich nicht lange auf den Füßen, und der Wind klang die ganze Zeit so, als käme er aus der Hölle selbst, heiß, wild, heftig und wütend.

Dann war es vorbei, und eine unheimliche Stille senkte sich für einen Augenblick, gerade lange genug, um den Kopf zu heben und sich zu fragen, was passiert war, und sich die Verwüstung anzusehen. Dann kam der Wind zurück von wo auch immer er gewesen war, aber nicht der ganze Wind kam zurück… Er war weniger wild, weniger heiß und weniger wütend, ganz so als schämte er sich für die Verheerung, die er angerichtet hatte.

Als das Klingeln in den Ohren nachließ, konnten sie die Schmerzens-und Angstschreie der Menschen hören, die auf der Straße lagen oder ziellos herumliefen. Manche waren nackt, andere trugen Fetzen am Leib. Viele waren verletzt und hatten Stangen oder Stöcke in ihnen stecken wie spanische Stiere in einer Stierkampfarena. Andere waren blind… Viele von ihnen waren blind, sie stießen gegeneinander, fielen in den Straßengraben oder stolperten über die Körper von Menschen, die entweder nicht mehr genug Leben in sich hatten, um aufzustehen, oder die zu verängstigt dazu waren.

Suzume machte die Augen auf und schrie. Mit einem Ruck zog sie den Daumen von dem Ding weg, an dem sie sich festgehalten hatte, um wenigstens eine Art von Halt zu haben – dem offenen Mund eines seit langem toten Körpers. Die Leichen im Straßengraben waren zum Vorschein gekommen, als das Wasser entweder weggeweht worden oder verdampft war, wahrscheinlich beides. Ihren anderen Arm hatte sie um Hiroto gelegt. Er hob sie hoch und trug sie in seinen Armen auf die Hügelkuppe. Zuerst war er vorsichtig, aber der Sturm schien vorbei zu sein. Sie zitterte, war kurz davor, in Schockzustand überzugehen, aber er konnte nichts machen, außer mit ihr zu reden.

„Wa… wa… was für ein Teufel war das, Hiroto?“ stammelte sie mit Augen so groß wie Untertassen.

„Ich weiß nicht, Liebling. Vielleicht ist eine Munitionsfabrik in die Luft gegangen – wegen Sabotage, Bomben oder einem Unfall. Mach dir jetzt keine Sorgen darüber. Trink ein bisschen Wasser.“ Er nahm eine Flasche aus seinem Umhang und hielt sie an ihre Lippen, während sie versuchte, eingebildete Fetzen von verwestem Fleisch von ihrem Daumen auf das Gras zu wischen.

„Hast du gesehen, in was ich meine Hand hatte?“

„Versuch, nicht daran zu denken, Liebste“, ermahnte er sie, während er ein paar Tropfen Wasser auf ihren Daumen goss und ihn an seiner Kleidung abtrocknete. „Machen wir eine kleine Pause, dann gehen wir weiter, weg von diesen traurigen, schrecklichen Leuten.“

Tatsächlich wanderten die, die aufstehen konnten, bereits in alle Richtungen außer ihre davon. Manche liefen einfach solange, bis sie umfielen, und blieben liegen und weinten wie Babys.

Eine Stunde später war fast niemand mehr auf der Straße Richtung Süden unterwegs, während der Verkehr aus dem Süden stärker zu werden begann. Die meisten der Leute, die gehen konnten, und das waren nicht viele, waren in demselben traurigen Zustand, den sie bei anderen gesehen hatten, aber es gab auch ein paar Autos und Busse, von denen nur wenige noch versuchten, um die Menschen auf der Straße herumzufahren, egal ob sie tot oder lebendig waren.

„Bleib hier, Suzume, ich muss herausfinden, was passiert ist. Nimm das“, sagte er und gab ihr seine halbautomatische Acht-Schuss-Nambupistole Modell 14 von der Heimwehr. Ich werde in Sichtweite bleiben, ich möchte nur ein Auto aufhalten und fragen, was diese Wolke da war.“

„Bitte, komm bald zurück, ich mag diesen Ort hier nicht. Die Kami hier sind zornig und sehr mächtig. Bitte, beeil dich.“

„Mach ich, Liebling, keine Angst, aber ich muss es herausfinden… meine Eltern, verstehst du?“

Sie verstand, dass er sie für eine Weile allein lassen musste.

Die Fahrzeuge, die Richtung Norden fuhren, kamen wegen der vielen Leichen auf der Straße, von denen viele durch den Verkehr stark geschunden waren, und wegen der Pfützen aus Gehirnmasse und Eingeweiden nicht schnell voran. Aber trotzdem wollte niemand stehen bleiben und mit ihm reden. Schließlich blieb ein Armeeoffizier stehen und kurbelte sein Fenster runter, aber er richtete eine Waffe auf Hiroto.

Es war ein verängstigter junger Mann, aber er war nicht der Offizier, für den er sich ausgab. Er hatte die Pistole eines Offiziers, die gleiche Nambu wie Hirotos, und eine Leutnantsmütze auf dem Kopf, aber er trug die Uniform eines Gefreiten.

„Machen Sie keine Anstalten“, befahl er, „ich habe keine Angst, sie zu verwenden, wissen Sie?“

„Nein, ich bin sicher, dass sie keine Angst haben. Ich werde nicht näherkommen. Ich bin nicht bewaffnet und ich will ihnen nichts tun. Ich muss nur wissen, was da gerade passiert ist. Meine Eltern leben da unten…“

„Ich bezweifle, dass sie noch am Leben sind, Sir. Niemand da unten ist mehr am Leben… das ganze verdammte Hiroshima ist verschwunden… es gibt nur noch viele Kilometer Nichts… Nichts und wieder Nichts, nur Asche und Rauchschwaden und Leichen… noch mehr als hier!“ sagte er und deutete mit der Pistole auf die Straße. „Das hier ist ein verdammtes Kinderpicknick im Vergleich zu dort“.

„Was war das? Ist eine Munitionsfabrik oder ein Munitionslager in die Luft gegangen?“

„Ich weiß nicht, ich habe noch nie gesehen, dass eine Bombe so eine Wolke erzeugen oder so viele Leute töten kann. Was auch immer das war, es ist teuflisch, und der Mensch, der das gemacht hat, ist ein Teufel.“

„Sind Sie sicher, dass nichts mehr da ist?“

„Gar nichts, in einem Umkreis von dreißig Kilometern um die Stadt, Sir. Ich muss jetzt weiter. Viel Glück, Sir!“

„Warten Sie, warten Sie, können meine Frau und ich mit Ihnen kommen? Wir leben in Tokio… wir können Ihnen Geld geben, wenn wir zum Elternhaus meiner Frau kommen… Wir waren auf dem Weg zu meinen Eltern, die ganz in der Nähe von Hiroshima leben… lebten.“ Er deutete seiner Frau, zu ihm zu kommen, und sie kletterte den Hang hinunter. „Es scheint, es hat nicht mehr viel Sinn weiterzugehen, und wir laufen schon zehn oder elf Tage. Hier ist sie, es wäre ein großer Trost für sie, wenn Sie uns ein Stück mitnehmen könnten.“

„Ok, steigen Sie ein, aber beeilen Sie sich, ich möchte das alles hier so schnell wie möglich so weit wie möglich hinter mir lassen. Der Wagen hat einen vollen Tank, also sollte er uns den größten Teil der Strecke bringen können, aber ich bin mir noch nicht sicher, wohin ich gehen soll, ich will einfach nur so weit von diesem Irrenhaus weg wie möglich.“

Sie erreichten Tokio am 9., gerade als verlautbart wurde, dass eine weitere, noch größere Atombombe abgeworfen worden war, diesmal auf Nagasaki. Eine Woche später hatte Kaiser Hirohito kapituliert und die Vergewaltigung und Plünderung Japans begann so richtig.

Die Mizukis zogen zu Suzumes Eltern, da Hirotos Haus nicht mehr existierte und eine obdachlose Familie das Grundstück besetzt hatte. Er brachte es nicht über sich, sie zu verjagen, während er ein richtiges Dach über dem Kopf hatte. Am Montag, den 13. kehrten sie zurück an ihre Arbeit als ob nichts passiert wäre, aber sie taten es nur wegen des Geldes und der Stabilität, die es ihnen in dem Tohuwabohu ihres Lebens brachte. Doch etwas hatte sich dennoch geändert und zwar grundlegend.

Die Mizukis konnten nicht glauben, wie dumm sie in ihrem blinden Glauben an ihren sogenannten Gott-König gewesen waren, und sie wollten nie wieder einen Krieg sehen. Sie fühlten sich angezogen von der Kommunistischen Partei Japans, und zwar wegen der Slogans, die sie ausgab - wie „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ -, genauso wie wegen des Grauens und der Enttäuschung, die Hirohitos Torheit ihnen bereitet hatte, sowie der sinnlosen Gräueltaten, die die amerikanischen Soldaten täglich begingen.

Auf den Tag genau vier Jahre nach dem Kriegsende in Japan, am 14. August 1949, wurde Suzume von einem Mädchen entbunden, dem sie den Namen Yui gaben. Sie erzogen sie wie alle anderen japanischen Mädchen, und ihre Großeltern lehrten sie Shinto, aber ihre Eltern brachten ihr die kommunistische Ethik bei und zeigten ihr, dass die offizielle Erklärung für Ereignisse in der Zeitung nie die einzige und oft nicht einmal die korrekte war.

Doch sie hielten die ganze nicht-traditionell japanische Seite ihres Lebens geheim, denn die Mizukis hatten gelernt, niemandem außer den örtlichen Parteiführern zu vertrauen. Das Leben in den ersten Jahren nach dem Krieg hatte sich geändert, als das Schicksal der Familie Mizuki von den Launen MacArthurs abhing, obwohl die KPJ mit Spendenmitteln von Mutter Russland sich um die ihren kümmerte und die Mizukis gute Jobs hatten. Es ging ihnen viel besser als den meisten.

Sie belohnten ihre politischen Wohltäter mit Brocken von Information, die nach Moskau geschickt wurden.

1967 wurde Yui an der Universität Tokio aufgenommen, wo sie Sprachen – Englisch, Russisch und Chinesisch, ihre Lieblingsfächer – studierte, und ihr Vater ließ sie auf die Liste für einen Job im Ministerium setzen. Sie hatten drei Jahre Zeit, um das nötige Schmiergeld für den Job zusammenzubekommen, aber sie machten sich keine Sorgen deswegen. Sie wollten nur, dass sie ins Außenamt hineinkam und die Prüfungen für den diplomatischen Dienst ablegen konnte.

Yuis Zukunft war gesichert, solange sie ihre Abschlussprüfungen an der Universität schaffte. Ihre kommunistischen Neigungen zeigte sie nie und niemandem. Ihre Eltern hatten ihr ihre eigene Zurückhaltung anerzogen und sie verstand, dass das eine weise Strategie war. Trotzdem ging sie als Mitglied der Öffentlichkeit zu manchen KPJ-Kundgebungen und spielte manchmal den Advocatus Diaboli und stellte den Führungspersonen auf dem Podium ungeschickte, im Vorhinein festgelegte Fragen.

Doch manche der höherstehenden Mitglieder der KPJ wussten, wer sie war, und ihre Eltern spielten weiter eine aktive, wenn auch geheime Rolle. Trotz ihrer privilegierten Stellung war alles, wonach sich Yui wirklich sehnte, der Tag, an dem sie einen Job annehmen und anfangen konnte, gutes Geld zu verdienen, um ihren Eltern auf jede Weise zu helfen, die sie wollten. Sie sehnte sich danach, Japan zu verlassen und seinen spießigen Traditionen und altmodischen Ideen zu entkommen. Sie war eine moderne Frau mit den dazugehörigen Ideen und sie fühlte sich in ihrem eigenen Land unterdrückt.

Sie hatte keine wirklichen Präferenzen, aber Großbritannien, Kanada oder die USA würden für den Anfang reichen. Ihre Erziehung und Lebensphilosophie ließen sie die reiche Elite dieser Länder genauso hassen wie die in ihrem eigenen Land, aber als Kommunistin machte sie andererseits der Arbeiterklasse, die dort lebte, keinen Vorwurf.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Ziel erreichen und trotzdem ihre Eltern ehren konnte, aber ins Finanzministerium einzutreten, zum Außenministerium zu wechseln und sich dann um einen Posten im diplomatischen Dienst zu bewerben, war das einzige, das ihr bis dahin eingefallen war, das der Sache nahekam, und außerdem waren ihre Eltern bereit, sie dabei zu unterstützen, ihr Ziel zu erreichen.

Yui legte sich ins Zeug und nahm eine Hürde nach der anderen, aber glücklich war sie nicht.

3 NATALJA PETROWNA MYRSKI

Im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945, als das Hauptziel der sowjetischen Regierung war, die Invasion der Deutschen an ihrer Westgrenze zurückzuschlagen, kämpfte Pjotr Iljitsch Myrski in der Mandschurei gegen die Japaner. Diese Schlacht gipfelte in der Niederlage der japanischen Streitkräfte im sowjetisch-japanischen Krieg von 1945, die dazu betrug, den zweiten Weltkrieg zu beenden. Er hatte nur wenig Urlaub, aber er fuhr trotzdem einmal pro Jahr nach Hause nach Alma-Ata, das damals die Hauptstadt der Kasachischen Sowjetischen Sozialistischen Republik war, um seine Sandkastenliebe Marina Antonowa zu sehen.

Marina hatte ihr Japanischstudium an der örtlichen Universität für die Dauer des Krieges unterbrechen müssen, um in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Außerdem hielt sie Vorlesungen zur politischen Bildung von Arbeitern, Einheimischen, Einwanderern und Übersiedlern in örtlichen Fabriken und Vorträge für Kinder in Schulen.

Die Kriegszeiten waren hart und Lebensmittel knapp, obwohl es in der Gegend viele Bauern gab und Alma-Ata und die Provinz keine Kriegsschäden erlitten hatten. Die Probleme waren bedingt durch einen rasanten Anstieg der Bevölkerung. Viele Sowjetbürger aus dem europäischen Teil des Landes und ein Großteil von Russlands Industrie wurden während des Krieges nach Kasachstan verlegt, als die Armeen der Nazis drohten, alle europäischen Industriezentren im westlichen Teil der Sowjetunion zu erobern. Große Gruppen von Krimtataren, Deutschen und Muslimen aus dem Nordkaukasus wurden nach Kasachstan deportiert, weil man fürchtete, sie würden mit dem Feind kollaborieren, und auch etwa eine Million Polen aus Ostpolen, das 1939 von der Sowjetunion besetzt wurde, wurden ebenfalls nach Kasachstan deportiert. Es wird angenommen, dass etwa die Hälfte von ihnen dort starben. Die Einheimischen wurden jedoch bekannt dafür, dass sie ihre spärlichen Lebensmittelrationen mit den hungernden Fremden teilten und mehr als 52000 Einwohner der Stadt erhielten die Auszeichnung „Dankbarkeit für Ihre Selbstlose Arbeit“. Darüber hinaus erhielten achtundvierzig Bewohner den Titel „Held der Sowjetunion“.

Als er 1945 demobilisiert wurde, kehrte Pjotr zu seinem Job in einer örtlichen Ingenieursfirma zurück, aber er hatte den Plan, sich zu verbessern, indem er in einer Abendschule technisches Zeichnen lernte. Er wollte Geräte lieber designen als bauen. Marina kehrte unterdessen an die Universität zurück, und sie nahmen ihre Beziehung wieder auf. Eines sternenklaren Abends versprachen sie einander zu heiraten, sobald sie ihre Abschlussprüfungen bestanden hätten.

Als Mitglied der kommunistischen Partei und politische Aktivistin kritisierte Marina Pjotr oft für seinen bourgeoisen Wunsch „sich zu verbessern“, weil dieser unterstellte, dass das Entwerfen von Dingen höherwertiger war als ihre Produktion, was, wie sie sagte, Klassenunterschiede erzeugte und die Spaltung der Gesellschaft verstärkte. Das war die Parteilinie, auch wenn sie im Stillen seinen Ehrgeiz unterstützte. Doch sie musste das Stalinismus-Spiel mitspielen, denn jeder wusste, dass sie in gefährlichen Zeiten lebten. Jeder erinnerte sich an die Große Säuberung kurz vor dem Krieg, bei denen mindestens eine Million Menschen hingerichtet und um die fünf Millionen „umgesiedelt“ worden waren, viele in das Netz des Gulags oder in Zwangsarbeitslager.

Marina war Realistin, sie wusste, dass diese Dinge passierten, aber sie wollte nicht, dass sie mit ihr passierten, also zeigte sie Parteilinientreue auch in Bezug auf ihre Familie und ihren Freund.

Eines schönen Augusttags im Jahr 1948, als sie die Nachricht erhielten, dass sie beide ihren Abschluss geschafft hatten, gingen sie zum Standesamt im Stadtzentrum und schlossen den Bund fürs Leben. Beinahe auf den Tag genau ein Jahr später, am 14. August, wurden sie mit einer Tochter gesegnet, jedenfalls hätten sie es so ausgedrückt, wenn es Überfliegern in der sowjetischen Gesellschaft erlaubt gewesen wäre, an einen Gott zu glauben, der sie hätte segnen können.

Sie kam als Natalja Petrowna Myrski zur Welt, aber noch bevor sie vierundzwanzig Stunden alt war, nannte ihre Mutter sie Natascha und ihr Vater Tascha.

Marina war ehrgeizig, vorsichtig und parteitreu, und sie genoss die Privilegien, die ihre Parteimitgliedschaft und ihr Uniabschluss mit sich brachten. Im Gegenzug war ihr nichts zu viel Arbeit, solange die Partei sie bat, es zu tun. Infolgedessen verbrachte Pjotr viele Abende mit Tascha spielend vor dem Radio, während seine Frau aus war und mit den Aktivisten die Worte von Vater Stalin oder Genosse Chruschtschow, dem „Vater des Tauwetters“, verbreitete.