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Hauptkommissar Jan Kempff kann es nicht fassen. Ausgerechnet er soll einen Mordfall am Timmendorfer Strand aufklären. Dabei wollte er nie im Leben einen Fuß an die Ostsee setzen. Schließlich ist er ein waschechter Hamburger und eingefleischter Nordsee-Fan. Aber das gesamte Kommissariat vor Ort hat sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen - und der Polizeichef liegt tot am Strand. Angeblich wurde er von einem Hai getötet. Dass die Ostsee ein schmutziger Tümpel ist, hat Kempff ja schon immer gewusst. Aber dass darin ein Hai sein Unwesen treiben soll, kommt ihm dann doch spanisch vor.
Bei seinen Ermittlungen stößt der Hamburger Kommissar auf viel Abneigung und noch viel mehr Schweigen. Irgendwas ist da doch faul. Zum Glück naht mit seinem jungen Kollegen Martin Unterstützung. Zum Unglück kündigt aber auch Jans chaotische Hippie-Mutter ihren Besuch an. Und als er endlich versteht, warum das Opfer sterben musste, ist es fast zu spät: Denn nun hat der Hai Kurs auf ich genommen ...
"Ein wirklich unterhaltsamer und kurzweiliger Urlaubskrimi mit einigen überraschenden Wendungen." (Ascora, Lovelybooks)
"Ich habe schon lange nicht mehr so bei einem Buch gelacht. Dieser Krimi hat mich echt komplett begeistert." (Tigerbea, Lovelybooks)
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Seitenzahl: 331
Cover
Über dieses Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
PROLOG
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EPILOG
Hai-Alarm am Ostseestrand!
Polizeichef Rudi Allenbach wird tot an den Strand gespült – offenbar wurde er Opfer eines Hais! Und das Kommissariat vor Ort ist durch eine Lebensmittelvergiftung außer Gefecht gesetzt. Also übernimmt der Hamburger Hauptkommissar Jan Kempff den rätselhaften Fall vom Timmendorfer Strand – und stößt als eingefleischter Nordsee-Fan erst einmal auf eine Mauer des Schweigens. Zum Glück erhält er bei der Arbeit an dem Fall bald Unterstützung von seinem jungen Kollegen Martin – aber auch Besuch von seiner Mutter. Und als Kempff endlich versteht, warum das Opfer sterben musste, ist es fast zu spät. Denn nun hat der Hai Kurs auf ihn genommen …
Christian Gailus schreibt Hörspiele, Krimis, Kinderbücher und Drehbücher, zuletzt den Thriller »Glashaus« und die Serie »Lovecraft Letters«. Als gebürtiger Hamburger ist er froh, sich nicht zwischen Nord- und Ostsee entscheiden zu müssen.
Christian Gailus
ANGEBISSEN
KEMPFF UND DER HAI
Küstenkrimi
beTHRILLED
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Dieses Werk wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel.
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Heike Rosbach
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: S.Borisov | sumroeng chinnapan | miroslavmisiura | More Images | Nerthuz | Phattanit | Roman Sigaev
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5767-7
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Kalt und stumm erstreckte sich das Wasser bis zum Horizont. Die aufsteigende Sonne färbte den Himmel rot. Scharbeutz, Sierksdorf und Neustadt reihten sich in einem weiten Bogen an der Küste entlang Richtung Norden. Von Osten her schob sich ein in Travemünde gestartetes Kreuzfahrtschiff in die Lübecker Bucht. Irgendwo hinter dem schmalen Band zwischen Himmel und Meer erhob sich Dänemark aus den Fluten. Doch das ließ sich nur erahnen. Vom Timmendorfer Strand aus gesehen glich die Ostsee einem riesigen Spiegel, der seine Geheimnisse unter einer düsteren Oberfläche verborgen hielt. Ein feiner Nieselregen schwängerte die Luft. Und ein intensiver Fischgeruch wehte Richtung Land. Es herrschte eine gespannte Stille. Die Ruhe vor dem Sturm, der jeden Augenblick losbrechen konnte.
Wie jeden Morgen eilte Kristin Peters über die schmalen Holzbohlen der Seeschlösschenbrücke zum Café Himmelwärts. Der ehemalige Ruheort im asiatischen Stil war gegen den Protest vieler Timmendorfer errichtet worden, die Probleme mit der fernöstlichen Architektur hatten. Nach einigen Querelen übernahm ein privater Investor das Gebäude und baute es zum Café aus. Mittlerweile hatten sich die erhitzten Gemüter beruhigt, und das Himmelwärts war fester Bestandteil der Gastronomie am Timmendorfer Strand.
Kristin arbeitete seit einem Jahr in dem Café und finanzierte damit ihr Studium. Am liebsten übernahm sie die Frühschicht ab acht Uhr. Dann herrschte an dem beliebten Kurort noch Ruhe. Nur ein paar Jogger arbeiteten am endlosen Sandstrand ihr Pensum ab. Vom Trubel Tausender Sommerurlauber war noch nichts zu spüren.
»Haut ab!«, rief Kristin den Möwen zu, die auf dem geschwungenen Dach des Himmelwärts darauf warteten, den einen oder anderen Leckerbissen abzustauben. »Ihr bekommt eh nichts!« Sie wedelte mit den Armen, aber die Möwen reagierten nicht. Unbeeindruckt verfolgten sie den Weg der Studentin. Drohende Gesten schreckten sie schon lange nicht mehr ab. Sie hatten gelernt, dass Beharrlichkeit zum Erfolg führte.
Kristin pulte den Sicherheitsschlüssel aus der Tasche ihrer engen Jeans und öffnete die Eingangstür. Im Inneren des Cafés deaktivierte sie die Alarmanlage und schaltete das Licht ein. Dann öffnete sie die Fenster und Türen, um frischen Wind in den Pavillon zu lassen. Der Weg zur Außenterrasse führte über ein gutes Dutzend Glasscheiben, die im Boden des Cafés eingelassen waren und den Blick auf die plätschernden Wellen der Ostsee freigaben. Und obwohl Kristin die je rund einen Quadratmeter großen Blöcke schon hundertmal überquert hatte, zögerte sie jeden Morgen erneut, bevor sie ihren Fuß auf sie setzte. Denn seit ein paar Wochen durchzog eine von ihnen ein großer Sprung.
Ihr Chef hatte die Scheibe sofort austauschen lassen wollen. Aber es handelte sich um eine Spezialanfertigung, und der Zulieferbetrieb war in der Zwischenzeit pleitegegangen. Der Hersteller hatte bislang keinen Ersatz finden können, versicherte aber, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, da es sich bei den Scheiben um eine mehrere Zentimeter dicke Spezialverglasung handle, die ohne massive Gewalteinwirkung nicht brechen könne. Solange also nur der untere Teil defekt war, bestand keine Gefahr. Und für die Gäste bot die kaputte Scheibe einen zusätzlichen Nervenkitzel, wenn sie sich wie ein Filmheld darauf stellten und so taten, als würde jede ihrer Bewegungen den Sprung vergrößern.
Die Mitarbeiter des Himmelwärts hatten sich mittlerweile an den defekten Glasblock gewöhnt. Kristin nicht. Sie überkam jedes Mal ein mulmiges Gefühl, wenn sie ihn betrat. Aber da es der einzige Weg zum Außenbereich des Cafés war, musste sie ihn meistern.
Behutsam setzte sie den linken Fuß auf die transparente Fläche. Nichts geschah. Sie verlagerte ihr Gewicht und zog den rechten Fuß nach, wobei sie versuchte, sich so leicht wie möglich zu machen.
»Du kannst dich nicht leichter machen, als du bist«, hatte ihr Kollege Luis mal gesagt. Er studierte Physik und musste es wissen. Aber Kristin ging trotzdem lieber auf Nummer sicher. Sie machte einen weiteren Schritt und stand mittig auf dem Glasquadrat. Die Hälfte des Wegs war geschafft. Nur noch zwei Schritte …
Kristin hielt inne. Da war etwas gewesen. Im Wasser. Ein Schatten, der rasch vorübergezogen war. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie starrte nach unten. Das Wasser der Ostsee schwappte träge hin und her. Normalerweise konnte man an dieser Stelle bis zum sandigen Grund sehen, der nur ein paar Meter unter der Oberfläche lag. Aber seit einigen Tagen trieben vermehrt Algen in die Lübecker Bucht und raubten einem die Sicht. War es bloß ein Algenteppich gewesen, den die Strömung Richtung Strand schob, fragte sich Kristin. Aber dann musste dort unten eine ungewöhnlich starke Strömung herrschen, denn der Schatten war geradezu vorübergerast!
Knack!
Kristin starrte auf den Sprung im Glas. Hatte er sich vergrößert? Breitete er sich wie ein Spinnennetz immer weiter aus? Kristins Knie wurden weich. Sie begann zu zittern.
Dann kehrte der Schatten zurück. Aber nicht von der Seite, wohin er verschwunden war. Er schälte sich aus der Tiefe des trüben Wassers und trieb nach oben, bereit, nach Kristin zu schnappen, sobald die Scheibe brach und die junge Frau in die Tiefe stürzte. War es ein Hai? Das würde erklären, warum der Schatten sich kurz zuvor so schnell bewegt hatte. Lauerte dort unten eine gierige Bestie, die ihren leeren Magen füllen wollte? Mit dem Fleisch einer jungen Studentin?
Knack!
Der Riss wurde größer. Kristin wollte schreien, aber ihr stockte der Atem. Der Schatten nahm Konturen an. Und die junge Frau erkannte lange, wedelnde Arme. Das war kein Hai, das war ein Krake. Ein Riesenkalmar!
Im selben Augenblick, als das Ungeheuer die Wasseroberfläche durchstieß und seine widerlichen Tentakel nach ihr ausstreckte, zersplitterte das Glas, und Kristin fiel schreiend hinab – mitten in den glitschigen Schlund des gierigen Monsters.
Olaf Sachtleben seifte gerade seinen Allerwertesten ein, als es wie verrückt an der Tür schellte. Normalerweise hätte er diese freche Störung einfach ignoriert, schließlich befand er sich nicht nur unter der Dusche, sondern auch noch im Urlaub. Aber als das Klingeln durch Hämmern mit der Faust und »Präsident Sachtleben«-Rufe ergänzt wurde, hatte er notgedrungen ein Einsehen. Er schaltete die Dusche ab, schlang sich ein recht knappes Handtuch um die üppigen Hüften und tapste ungelenk über den Flur.
»Ich komm ja schon!« Während seine Linke das Handtuch in Position hielt, öffnete er mit der Rechten die Tür. Frau Steingarten, die Wirtin der Seeanemone, stand mit hochrotem Kopf vor ihm.
»Herr Präsident, es ist was Schlimmes passiert. Sie müssen gleich mitkommen. Sofort!« Sie packte ihn am nackten Oberarm. Sachtleben widerstand dem Gezerre ebenso wie dem Drang, die unverschämte Person mit einer kräftigen Ohrfeige zur Räson zu bringen.
»Was ist passiert?«, fragte er stattdessen, um einen ruhigen Ton bemüht. »Und was habe ich damit zu tun?« Er wand sich aus der Umklammerung.
Die Steingarten schluckte. »Es ist was Schlimmes passiert. Auf der Seeschlösschenbrücke. Oder besser gesagt: darunter. Eine schreckliche Tragödie. Es ist alles voller Blut!«
Wieder schoss ihre Hand an seinen Arm. Offenbar war dies die übliche Methode, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sachtleben schwor sich, die Steingarten verhaften zu lassen, wenn sie es noch einmal tat. Eine Nacht in der Zelle würde ihr schon klarmachen, dass man einen Polizisten nicht einfach begrapschte. Und den Polizeipräsidenten von Hamburg schon gar nicht!
»Ist jemand zu Schaden gekommen?«, fragte Sachtleben routiniert.
Die Steingarten nickte. »Oh ja, es ist jemand zu Schaden gekommen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sachtleben seufzte. Was für eine hysterische Person!
»Ist es schlimm?«
»Schlimm?« Die Steingarten starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ich denke schon, dass der Tod schlimm ist.«
»Jemand ist tot?« Das war natürlich etwas anderes. »Etwa ein Gewaltverbrechen?«
»Ein Verbrechen mit Gewalt, allerdings. Bitte, Herr Polizeipräsident, Sie müssen mitkommen!«
»Natürlich.« Sachtleben wollte sich gerade umdrehen, um sich anzuziehen, als ihm etwas einfiel. »Warum holen Sie mich? Ich mache hier Urlaub. Wieso kümmert sich nicht Ihre eigene Polizei um die Angelegenheit?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte die Steingarten. »Ich habe nur den Anruf erhalten, den Herrn Präsidenten zu bitten, sofort zum Tatort zu kommen.«
»Und von wem kam der Anruf?«
»Von Gunnar Langmann, dem Chef der Feuerwehr.«
Sachtleben nickte knapp. »Ich komme gleich.« Damit ließ er die Tür ins Schloss fallen und tapste zurück ins Bad, um sich die Seife vom Po zu spülen. Das war’s dann wohl mit dem Urlaub, dachte er halb genervt, halb enttäuscht. Nächstes Mal fahre ich weiter weg, am besten ins Ausland. Mallorca oder so. Das hat man nun davon, wenn man in der Heimat Urlaub macht.
Er hatte sich so auf ein paar ruhige Tage gefreut, hier am Timmendorfer Strand.
Pustekuchen!
*
Zwanzig Minuten später starrte Olaf Sachtleben auf den toten Körper, den die Feuerwehr aus dem Wasser gezogen hatte. Selbst für einen Laien war ersichtlich, dass kein Leben mehr in ihm steckte. Der Leib wies mehrere große Wunden auf, als wäre das Fleisch regelrecht herausgerissen worden. Anhand der aufgedunsenen weißen Haut war zu erkennen, dass die Leiche schon einige Stunden im Wasser getrieben haben musste.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Sachtleben Langmann.
»Noch nicht«, erwiderte der hagere Kerl mit dem Ziegenbart. »Dazu müssen wir erst einmal den Tintenfisch von seinem Gesicht abbekommen. Das Biest hat sich festgesaugt.«
Sachtleben warf einen Blick auf das Tier, das den Kopf des Toten mit seinen Tentakeln umschlungen hielt. »Schneiden Sie ihn ab«, schlug er ohne erkennbare emotionale Regung vor.
»Ich soll den Tintenfisch töten?«, fragte Langmann überrascht.
»Ja klar, was denn sonst?«
»Aber …« Der Feuerwehrmann schluckte. »Der Tintenfisch hat doch gar nichts getan. Und ist außerdem total selten hier in der Ostsee. Ist das nicht ein Verbrechen, wenn wir den jetzt einfach meucheln?« Er wirkte verzweifelt.
Sachtleben war kurz davor zu explodieren. »Wir haben es hier mit einer übel zugerichteten Leiche zu tun«, sagte er und versuchte seinen rasenden Puls zu drosseln. »Und Sie machen sich Gedanken um einen Tintenfisch, der sowieso heute Abend auf dem Teller irgendeines Touristen gelandet wäre?« Er schüttelte den Kopf. Mann, Mann, Mann, immer diese Provinzheinis mit ihren läppischen Bedenken. In Hamburg hätten sich seine Beamten darum geprügelt, den achtarmigen Bastard abzumurksen. Und dann hätten sie ihn gegessen. Und zwar roh!
»Tun Sie es!«, ordnete Sachtleben an und richtete den Blick auf eine junge Frau, die ein paar Meter abseits stand und zu Boden starrte. In ihrer zitternden Hand hielt sie eine Zigarette. »Hat sie die Leiche gefunden?«
»Kristin Peters«, bestätigte Langmann. »Arbeitet im Himmelwärts als Kellnerin. Sie hat uns alarmiert.«
Hübsches Ding, dachte Sachtleben und drückte sein Kreuz durch. Lässig schlenderte er zu ihr. »Frau Peters?«
Sie hob den Kopf. In ihren Augen spiegelte sich Kummer.
»Tut mir leid, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen«, fuhr Sachtleben behutsam fort. »Ist das in Ordnung?«
Sie nickte, und Sachtleben tastete rasch ihren wohlgeformten Körper ab. Natürlich nur mit den Augen. Ach, wäre ich doch dreißig Jahre jünger und zwanzig Kilo leichter …
»Wann haben Sie die Leiche gefunden?«
»Vor einer Stunde. Ich hatte gerade meinen Dienst begonnen und wollte die Türen öffnen, um durchzulüften. Das mache ich jeden Morgen so. Aber heute war etwas anders als sonst. Das habe ich gespürt. Irgendwie …« Sie schluckte.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Sachtleben und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
Kristin Peters nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Da ist dieser Sprung in der Scheibe«, fuhr sie mit heiserer Stimme fort. »Ich hab’ jedes Mal Schiss, wenn ich drüber muss. Ich denk dann immer an Jurassic Park 2, wo das Wohnmobil über der Klippe baumelt und die Hauptdarstellerin auf der Glasscheibe liegt, die jeden Augenblick zerbrechen wird. Während der Dinosaurier den Wagen Richtung Abgrund schiebt. Sie kennen den Film?«
Sachtleben schüttelte den Kopf. Sein letzter Film im Kino war Doktor Schiwago gewesen. Und wenn er sich richtig erinnerte, kamen darin keine Dinosaurier vor.
»Reden Sie weiter«, munterte er die junge Frau auf und begann ihr die Schulter zu massieren.
»Heute war es besonders schlimm«, fuhr Kristin fort. »Keine Ahnung, wieso. Liegt vielleicht an meinem Biorhythmus. Wegen der Umstellung. Ich ernähre mich nämlich seit ein paar Wochen vegan.«
Aber qualmt wie ein Schlot, nee, is’ klar, dachte Sachtleben und lächelte wohlwollend.
»Ich guck also nach unten, und da ist dieser Schatten. Erst dachte ich, es ist ein Tier, ein großer Fisch oder so. Da taucht der Schatten plötzlich aus der Tiefe auf, und ich seh … dass es ein Mensch ist. Mit einem Krakengesicht. Es war so furchtbar!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sachtleben massierte stärker.
»Haben Sie irgendjemanden gesehen?«, fragte er, ganz Profi. »Auf Ihrem Weg zum Café?«
Kristin schluckte. »Am Strand waren ein paar Jogger. Wie jeden Morgen.«
»Und hier auf dem Bretterdingsbums?«
»Sie meinen auf der Seeschlösschenbrücke?« Kristin schüttelte den Kopf. »Nein, hier war niemand.« Sie hob den Blick. »Hat der Tintenfisch ihn getötet?«
Sachtleben schüttelte den Kopf. »Tintenfische reißen ihren Opfern keine faustgroßen Fleischbrocken raus, soweit ich weiß.«
»Was war es dann? Etwa ein Hai?«
Sachtleben fuhr zurück. »Ein Hai? Hier am Timmendorfer Strand?«
Kristins Blick verfinsterte sich. »Könnte doch sein. Wegen Klimawandel und so.«
Sachtleben mimte den Nachdenklichen, während er überlegte, auf welchen Körperteil er seine Hand noch legen konnte, ohne dass er sein Konterfei am nächsten Tag bei Spiegel Online wiederfand.
»Herr Polizeipräsident!«
Langmann. War ja klar.
Sachtleben drehte sich zu ihm und versuchte ein Lächeln, das aber irgendwie an den Clown aus Es erinnerte. »Was gibt’s denn?«
»Wir haben den Tintenfisch abbekommen.« Der Feuerwehrmann wischte sich etwas Schweiß von der Stirn. »Er ist auch nur leicht verletzt.«
Na prima, dachte Sachtleben und tätschelte Kristin die Wange. »Bin gleich wieder da.«
Er schlenderte zu dem Toten und betrachtete das aufgedunsene und mit Hämatomen übersäte Gesicht. »Sieht übel aus.«
»Die Verletzungen stammen vom Tintenfisch«, erklärte der Feuerwehrmann und zeigte zum Tier, das ein paar Meter weiter auf den Holzbohlen vor sich hin zuckte. Sachtleben riskierte einen Blick. Nur leicht verletzt, nee, is’ klar.
»Kennen Sie das Opfer?«
Langmann nickte. »Ja, ich kenne es.«
»Und wer ist es?«, fügte der Polizeipräsident hinzu, nachdem er die Hoffnung begraben hatte, dass der Feuerwehrdepp auch ohne Aufforderung weitersprechen würde.
»Das ist Rudi Allenbach«, erwiderte Langmann. »Also eigentlich Rüdiger Allenbach.«
»Das heißt, er kommt hier aus der Gegend?« Sachtleben wiederholte stumm seinen eigenen Namen wie ein Mantra, damit er dem Feuerwehrmann nicht an die Gurgel ging.
»Rudi Allenbach kommt aus Timmendorfer Strand«, bestätigte Langmann. »Er war der Polizeichef des Ortes.«
*
»Herr Präsident?«
Olaf Sachtleben drehte sich um. Vor ihm stand eine hübsche Enddreißigerin, dunkler Teint, schmales Gesicht und sehr lange Wimpern.
»Und Sie sind?«
»Mein Name ist Michaela Wagner.« Sie reichte Sachtleben die Hand. »Ich bin die Bürgermeisterin von Timmendorfer Strand.« Und ehemalige Miss Timmendorf, fügte Sachtleben in Gedanken hinzu. »Wir haben ein Problem.«
»Allerdings.« Sachtleben angelte einen Keks aus der Schale vor sich. Seit er ohne Vorwarnung die Dusche verlassen musste, waren zwei Stunden vergangen. Und er hatte noch nicht gefrühstückt. Gleich nachdem er die Leiche in Augenschein genommen hatte, war er in die Lobby der Tourismuszentrale gebeten worden, um den Behörden Auskunft zu erteilen. Das Frühstück würde also noch warten müssen.
»Nicht so, wie Sie denken«, fuhr die Bürgermeisterin fort. »Es gibt einen Grund, warum Sie zum Tatort gerufen wurden und nicht die Timmendorfer Polizei. Unsere Beamten sind nämlich krank.«
Sachtleben hob überrascht die Brauen. »Alle?«
»Alle«, bestätigte Wagner. »Sie hatten gestern Abend ihre jährliche Polizeifeier in Travemünde. Und jetzt liegen sie flach. Die komplette Mannschaft.«
»Katzenjammer?«, fragte Sachtleben und schob sich den Keks in den Mund.
»Brechdurchfall.«
Er verschluckte sich. Hustete.
Frau Wagner reichte ihm ein Taschentuch. Sachtleben wischte sich den Mund ab. »Wer ist in einem solchen Fall zuständig?«
»Formal die Polizei in Lübeck«, antwortete Wagner. »Aber die sind alle in Hamburg. Wegen des Gipfels. Außerdem …« Sie beugte sich vor und blickte Sachtleben tief in die Augen. »Außerdem möchte ich die Ermittlungen ungern in deren Hände geben.«
»Warum denn nicht?«, fragte der Präsident und unternahm mit seinen Augen einen Ausflug in den tiefen Ausschnitt seines hübschen Gegenübers.
»Ein Tod wie dieser ist hier noch nie vorgekommen«, erklärte Wagner. »Und dazu haben wir noch Hochsaison. Sie sehen ja selbst: Das Wetter ist hervorragend, die Strände werden wieder voll. Timmendorfer Strand ist ausgebucht. Und in den Sommermonaten machen die Einwohner fast ihren kompletten Jahresumsatz. Wenn publik wird, dass hier jemand gestorben ist, womöglich umgebracht …« Sie beugte sich noch weiter vor. »Sie verstehen?«
Sachtleben bekam Appetit auf Melonen.
»Ich möchte, dass der Fall so schnell wie möglich aufgeklärt und zu den Akten gelegt wird«, fuhr Wagner fort. »Und dafür braucht es einen echten Profi.«
»Nun ja, das kann ich gut verstehen«, gab Sachtleben geschmeichelt zurück. »Aber ich bin Polizeipräsident, ich ermittle nicht mehr selbst. Außerdem bin ich im Urlaub.«
»Aber Sie haben in Hamburg doch sicher jemanden, dem Sie die Lösung eines solch heiklen Falls zutrauen. Jemanden, der kompetent und diskret zugleich ist. Und ein Meister seines Fachs dazu.«
Sachtleben runzelte die Stirn. Eigentlich kannte er niemanden, der diese Voraussetzungen erfüllte. Außer sich selbst natürlich. Aber wenn er weiter von Früchten träumen wollte, musste er etwas in den Ring werfen.
Ein Meister seines Fachs. Kompetent. Diskret. Da fiel ihm wirklich niemand … oder doch!
Sachtleben grinste Frau Wagner breit an. »Wenn ich Ihnen helfe, würden Sie dann auch etwas für mich tun?«
Die attraktive Bürgermeisterin schenkte ihm zwei Grübchen. »Was schwebt Ihnen denn vor, Herr Präsident?«
*
Jan Kempff glaubte, sich verhört zu haben.
»Du tust was?«
»Ich verlasse dich«, erwiderte seine Frau in einem Ton, als hätte sie ihm gerade mitgeteilt, dass sie heute Abend ins Kino gehen würde.
Kempff senkte den Blick und betrachtete die beiden Tickets in seiner Hand. Der Flug ging morgen früh. Auf die Malediven. Hochzeitstag feiern. Den fünfundzwanzigsten. Und zwar mit exakt jener Frau, die ihm gerade mitgeteilt hatte, dass sie ihn verlassen würde.
Er musste sich verhört haben. Etwas anderes war gar nicht möglich.
»Sag das noch mal«, verlangte Kempff, als Harriet beidhändig ihren schweren Koffer in den Flur schleppte. Den Koffer, den sie für den Urlaub auf die Malediven gepackt hatte. Oder?
Sie ließ ihn fallen, stemmte die Hände in die Hüften und sah Jan genervt an.
»Ich. Verlasse. Dich. Jetzt verstanden?«
Es klingelte an der Tür.
»Machst du bitte auf.« Harriet drehte sich um und verschwand wieder im Schlafzimmer.
Kempff zögerte. Überlegte kurz, ob er ihr hinterherstürzen, sie in seine Arme nehmen und leidenschaftlich küssen sollte; so wie damals beim Abschlussball der Polizeischule, als sie auf seine Frage, ob sie tanzen wolle, Nein gesagt hatte. Kempff hatte Harriets Antwort einfach nicht akzeptiert, sondern ihre Hand gepackt, sie herumgewirbelt und ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Drei Monate später waren sie verheiratet.
Vielleicht sollte er das wiederholen. Möglicherweise wollte Harriet sogar zurückerobert werden, und das alles war bloß ein Test. Ein letzter Warnschuss. Es lag in seiner Hand, das Ruder herumzureißen!
Ding-Dong.
Wäre da nur nicht dieses Klingeln an der Haustür.
Ding-Dong! Ding-Dong! Ding-Dong!
Wer um alles in der Welt schellte auf diese penetrante Art und Weise? Und dann auch noch in einem so unpassenden Moment?
Harriet reckte den Kopf in den Flur. »Die Tür«, sagte sie und hob die Brauen. Ist wohl besser, sie nicht spontan zu küssen, dachte Kempff. Außer er wollte sich eine Backpfeife einfangen.
Also schlurfte er zur Haustür …
Ding-Dong! Ding-Dong! Ding-Dong!
… drehte den Schlüssel rum …
Ding-Dong! Ding-Dong! Ding-Dong! Ding-Dong …
… und machte sich bereit, dem, wer auch immer dort stehen würde, gehörig den Marsch zu blasen.
Als er den blassen Kerl mit den hängenden Schultern und dem mit Akne übersäten Gesicht sah, fiel sein Plan in sich zusammen. Nervös versuchte der Typ Kempffs Blick auszuweichen, indem er an seinem Hemd herumnestelte.
War das etwa der neue Lover seiner Frau? Oder bloß der Taxifahrer, der Harriet abholte, um sie zu ihrer Mutter zu bringen?
»Ah, h-hallo, Sie m-müssen J-Jan sein«, stotterte das Weichei.
Taxifahrer schied also schon mal aus.
»Und Sie sind?«
»Mein Name ist Marvin.«
Marvin? So wie der depressive Roboter aus Per Anhalter durch die Galaxis? Das sollte ja wohl ein Witz sein! Niemand nannte sein Kind Marvin. Außer man wollte, dass es noch vor Erreichen der weiterführenden Schule von mobbenden Klassenkameraden in einen dunklen, feuchten Keller gesperrt wurde.
Jan fixierte das arme Würstchen wortlos. Marvin wurde immer nervöser. Schien auf eine Reaktion zu warten. Aber da konnte er lange warten. Immerhin war Kempff Polizist. Und seine Spezialität waren Verhöre, bei denen er Verdächtige so lange stumm anstarrte, bis sie in Tränen ausbrachen und bereit waren, alles zuzugeben. Kempff hatte Sitzfleisch wie kein Zweiter. Im Präsidium nannten sie ihn Stahlarsch – natürlich nur, wenn sie glaubten, er höre es nicht.
Marvin räusperte sich. »Ja, also, ist die Harriet da?«
Die Harriet? Hatte der Typ einen Knall? Wie redete er denn von seiner Frau? Klang ja fast so, als würde er mit ihr ins Bett gehen!
Was er vermutlich auch tat, falls es sich wirklich um den neuen Lover seiner Frau handelte. Sie hatte doch einen, oder? Welchen Grund gäbe es sonst, ihn zu verlassen? Kempff dachte nach. Er war jetzt fünfzig und für sein Alter noch gut in Schuss. Natürlich gab es auch Verschleißerscheinungen. Aber an jedem zweiten Wochenende stand er seinen Mann! Darüber hinaus war er zuvorkommend, freundlich und eine rundum gute Seele. Und er war witzig. Behaupteten jedenfalls einige seiner Kollegen. Wie konnte jemand, der Stahlarsch hieß, auch nicht witzig sein?
Warum sollte Harriet ihn also verlassen? Und wieso hatte er nichts von ihren Plänen mitbekommen? So rein gar nichts! Kempff erschien es schlicht unvorstellbar, dass er gemeinsam mit seiner Frau den Jubiläumsurlaub geplant hatte, während sie gleichzeitig mit einem anderen in die Kiste stieg. Davon hätte er doch was merken müssen!
Wo er so drüber nachdachte: Harriet verhielt sich ihm gegenüber schon länger ziemlich kühl und abweisend. Schon seit Wochen hatte sie keine Lust mehr gehabt, mit ihm auszugehen. Oder zu reden. Geschweige denn auf Sex.
Sie hatte ihn auch nicht zum Geburtstag seiner Mutter nach Frankfurt begleitet – das erste Mal, seit sie sich kannten. Und als er Harriet mit einem Spontantrip nach Helgoland überraschte, hatte sie einen Migräneanfall erlitten, und er war alleine gefahren.
Es gab Anzeichen. Ziemlich viele sogar. Nur hatte er sie offenbar nicht wahrgenommen. Hatte es vielleicht auch nicht gewollt. Schließlich waren sie doch glücklich gewesen. Fünfundzwanzig Jahre lang. Das warf man doch nicht einfach weg!
»Marvin, nimmst du bitte den Koffer?« Harriet warf dem Kerl an der Tür ein Lächeln zu und verschwand im Bad.
Als Kempff wieder zu ihm sah, hatte sich der kleine, schmächtige Kerl in einen gut gebauten, braun gebrannten Südländer verwandelt, dessen strahlend weißes Hemd definitiv zwei Knöpfe zu weit offen stand. Sein Gesicht war nicht mehr mit Akne übersät, sondern hatte vielmehr Ähnlichkeit mit einer dieser Statuen, die er und Harriet vor ein paar Jahren in Venedig bewundert hatten. Die Typen waren Schönlinge wie aus dem Katalog, hatten aber alle keinen Schniedel mehr.
»Darf ich mal!« Kempff trat zur Seite und der Muskelberg schob sich an ihm vorbei. Als er den Koffer packte, spannte sich der Hemdsärmel über seinem Bizeps.
»Ist das alles?«, rief er Richtung Bad.
»Ich pack nur noch Kleinkram zusammen«, antwortete Harriet. »Warte doch unten auf mich, Schatz. Ich komme gleich.«
Kempff fürchtete, sein Herz würde jeden Moment aussetzen. Hatte seine Frau diesen Adriano-Celentano-Verschnitt gerade Schatz genannt?
Als Marvin sich erneut an Kempff vorbeidrängte, warf er ihm einen Tja, Kumpel!-Blick zu, und Kempff überlegte, diesen Typen in den Polizeigriff zu nehmen und ihm dabei aus Versehen die Schulter auszukugeln.
Er tat es nicht.
Und Marvin verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.
Kurz darauf erschien Harriet mit der Tasche, die er ihr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Das war gerade mal drei Monate her.
»Ich denke, du weißt Bescheid«, sagte sie mit derselben kühlen Gelassenheit, mit der wahnsinnige Wissenschaftler in B-Movies menschliche Embryonen einfrieren. »Und falls nicht, hilft vielleicht Nachdenken. Ich weiß, das fällt dir schwer. Aber jetzt hast du ja Zeit. Viel Zeit. Ich bin sicher, dir wird früher oder später ein Licht aufgehen.«
Sie zwängte sich an ihm vorbei.
»Harriet!«
»Ja?«
Er starrte sie an. Wollte etwas sagen. Etwas, das sie zum Bleiben zwingen würde.
Aber da war nichts. Absolut nichts. Komisch.
»Du solltest den Müll runterbringen, bevor er zu stinken anfängt«, sagte Harriet und drehte sich um. Sie zog die Tür ins Schloss. Und war weg.
Kempff lauschte der Stille. Und erlebte sie das erste Mal seit vielen Jahren nicht als erholsam. Ganz im Gegenteil: Sie erschien ihm so brutal wie der Bankräuber, der ihm vor mehr als zehn Jahren die Pistole auf die Brust gesetzt und abgedrückt hatte. Und nur weil die SIG Sauer eine Ladehemmung hatte, war er noch am Leben.
Reiner Zufall.
Oder steckte ein Plan dahinter? Sein Lebensplan? Kempff war nie besonders religiös gewesen. Jetzt, allein in der Drei-Zimmer-Altbauwohnung in Hamburg-Eimsbüttel, beschlich ihn das Gefühl, dass vielleicht doch alles einen Sinn haben könnte.
Wenn er nur wüsste, welchen.
Sein Handy klingelte.
Kempff zog das Uraltgerät aus der Hosentasche und klappte es auf. Vielleicht war es ja Harriet, die es sich überlegt hatte und statt bei Bizeps doch lieber bei Stahlarsch blieb.
»Schatz?«, sagte er hoffnungsfroh.
»Kempff?«, fragte eine tiefe Stimme. Das war eindeutig nicht seine Frau.
»Äh, ja?«
»Sachtleben hier. Wollten Sie nicht weg?«
Mist! Wieso hatte er nicht aufs Display gesehen, bevor er das Gespräch angenommen hatte?
Weil das Display kaputt war, fiel es ihm wieder ein. Vielleicht sollte er doch mal darüber nachdenken, sich so ein modernes Ding zu besorgen, mit Internet und …
»Ich bin in Timmendorfer Strand«, unterbrach Sachtleben seine Gedanken. »Hier wurde eine Leiche angespült. Total zerstückelt. Leider ist die hiesige Polizei überfordert, oder sagen wir lieber: Es ist gerade niemand da, der den Fall bearbeiten kann.«
»Ich habe Urlaub«, erwiderte Kempff.
»Und was, glauben Sie, mache ich hier?«, brüllte Sachtleben, fing sich aber gleich wieder. »Tut mir leid. Bin emotional gerade ziemlich runter. Wäre also nett, wenn Sie vorbeikommen könnten. Oder haben Sie was anderes vor?«
Kempff warf einen Blick auf die Tickets in seiner Hand. »Nein.«
»Prima! Dann schwingen Sie Ihren Allerwertesten mal in die Karre. Setzen Sie das Blaulicht aufs Dach, dann geht’s schneller. Bye!«
Aufgelegt.
Kempff klappte das Handy zusammen und seufzte. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich in Gedanken am schneeweißen Strand der Malediven liegen sehen. Jetzt sollte er an der algenverseuchten Ostsee rumlatschen? Was, zur Hölle, war bloß geschehen?
Er trottete in die Küche und öffnete den Mülleimer. Frühstücksreste lagen in der bis zum Rand gefüllten Tüte. Eine Fruchtfliege machte sich über eine angebissene Papaya her. Kempff stopfte die Tickets in den Eimer und packte die Griffe der Plastiktüte. Um den Müll runterzubringen.
Hatte Harriet gesagt.
Weil’s sonst stank.
Kempff ließ die Henkel los.
Na und? Ihm doch egal. Stank doch sowieso schon lange hier. Sollte es halt stinken.
Er drehte sich um, nahm seine Jacke und verließ die Wohnung.
*
»Der Zug nach Lübeck fährt heute statt von Gleis 4 auf Gleis 11«, schnarrte die Stimme über den Lautsprecher. Kempff stöhnte auf. Gerade erst war er von Gleis 7 nach Gleis 4 gekommen, weil die Durchsage behauptet hatte, der Zug nach Lübeck würde heute von dort fahren. Jetzt wurde er zu Gleis 11 geschickt. Er überlegte kurz, ob er einfach hierbleiben sollte – falls sich der Abfahrtsort noch einmal änderte. Durch die Bauarbeiten auf den Gleisen 8 und 9, schien der Fahrplan der Deutschen Bahn ziemlich durcheinanderzugeraten.
Seit vier Monaten wurde dort nun schon rumgemacht, und man hätte vermuten können, dass sich die tägliche Organisation im Hauptbahnhof mittlerweile verbessert hätte. Weit gefehlt! Jeden Tag herrschte aufs Neue ein jungfräuliches Chaos, das Kempff schon mehrfach zu der Überlegung verleitet hatte, die Mitarbeiter in der Schaltzentrale hätten klammheimlich einen Riesenspaß daran, die Reisenden von einem Gleis zum anderen zu hetzen. Wie eine Herde Schafe.
Kempff hasste Zugfahren. Und der einzige Grund, warum er nicht in seinem Wagen an die Ostsee bretterte, war der Verlust seines Führerscheins vor ein paar Tagen. Wegen akuter Kopfschmerzen hatte der Hauptkommissar den ärztlichen Dienst aufgesucht, eigentlich nur, um ein paar Tabletten abzustauben. Aber der junge Arzt war gerade neu in die Dienststelle gekommen und so voller Elan, dass er kurzerhand einen Sehtest mit Kempff durchführte. Oft läge die Ursache für Kopfschmerzen nämlich in den Augen, hatte er behauptet. Prompt ergab der Test, dass Kempff kurzsichtig geworden war und eine Brille brauchte. Autofahren dürfe der Hauptkommissar »so auf keinen Fall mehr«, hatte der Doktor hinzugefügt und »sicherheitshalber« den Führerschein einkassiert. Obwohl er das gar nicht durfte. Aber Kempff hatte es widerspruchslos hingenommen, so geschockt war er von der Neuigkeit.
Eine Brille! Kempff konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden und hatte das Thema auf später verschoben. Vorerst war er ohnehin mit Akten beschäftigt, und dann käme der Urlaub. Auf den Malediven wäre genug Zeit, sich mit seinen Augen zu befassen.
Doch dann verließ ihn seine Frau. Und die Flugtickets stopfte er in den Müll. Deshalb musste er nun den Zug nehmen. Das Leben konnte so furchtbar sein!
»Haste ma ’n Euro?«, raunte eine Stimme.
Kempff sah sich um. Hinter ihm stand ein abgerissener, vollbärtiger Mittdreißiger mit nikotinverseuchten Fingern und einer Flasche Korn in der Hand. Ein scharfer Schweißgeruch ging von ihm aus.
»Birkenrad?«, fragte Kempff erstaunt.
»Kempff?«, entgegnete der Suffkopp ebenso überrascht. »Ich denk, du hast Urlaub.«
»Ich denk, du bist undercover unterwegs.«
»Bin ich ja auch.« Birkenrad sah sich hektisch um. »Steck mir ’n Euro zu, damit nicht auffällt, dass wir uns kennen.«
»Wenn ich ihn zurückbekomme.«
»Mach schon!«
Kempff zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche, nestelte einen Euro hervor und drückte ihn Birkenrad in die Hand. »Wiedersehen macht Freude.«
»Danke, Sir Meister«, skandierte Birkenrad extralaut und checkte die Echtheit der Münze mit den Zähnen.
Kempff schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie einen Obdachlosen gesehen, der auf eine Münze beißt.«
Birkenrad ließ den Euro in der Tasche verschwinden. »Wohin biste unterwegs?«
»Nach Gleis 11.«
Birkenrad verdrehte die Augen. »Komm schon, du weißt, wie ich das meine.«
»Timmendorfer Strand«, seufzte Kempff. »Sachtleben hat ’ne Leiche und keine Polizei.«
Birkenrad hob die Brauen. »Sachtleben? Ist der nicht im Urlaub?«
»Genau wie ich«, gab Kempff achselzuckend zurück.
Der Undercoverbeamte wurde ernst. »Geht es etwa um die Leiche, die heute Morgen angespült wurde?«
»Nehme ich mal an. Hat sich das schon rumgesprochen?«
»Allerdings. Ist ja schließlich nicht irgendeiner, der da ins Gras gebissen hat. Sondern der Polizeichef von Timmendorfer Strand. Hat sich wahrscheinlich zu Tode gelangweilt.« Birkenrad lachte schäbig. Kempff trat ihn gegens Bein. »Der Polizeichef von Timmendorfer Strand ist tot?«
Birkenrad nickte. »Rüdiger Allenbach. Seine Leiche wurde im Wasser gefunden. Mit ziemlich üblen Wunden. Heißt, es könnte ’n Hai gewesen sein.«
Kempff riss entsetzt die Augen auf. Mit der Nennung des Namens nahm die Sache eine völlig andere Wendung.
»Ist dir ’ne Kontaktlinse rausgefallen?«, fragte Birkenrad besorgt.
»Ich kannte Allenbach«, murmelte Kempff abwesend.
»Echt? Woher?«
»Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.«
»Tut mir leid. Ich meine, nicht, dass ihr zusammen auf der Akademie wart, sondern … ach, du weißt schon.«
»Ist schon ’ne Weile her.«
»Achtung auf Gleis 11, der Zug nach Lübeck fährt ein. Der ursprünglich für Gleis 4 geplante Zug nach Lübeck …«
»Ich muss«, sagte Kempff und riss sich aus seinen Gedanken los.
»Wo willste denn hin?«, fragte Birkenrad.
»Zum Zug nach Lübeck. Auf Gleis 11.«
Birkenrad schüttelte den Kopf. »Der fährt nicht von Gleis 11.«
»Haben die doch gerade durchgesagt«, erwiderte Kempff genervt.
»Ich bin seit drei Wochen mehr oder weniger durchgehend hier. Glaub mir, der Zug fährt nicht von Gleis 11, sondern von Gleis 7.«
»Achtung auf Gleis 11, der ursprünglich für Gleis 4 geplante Zug nach Lübeck fährt jetzt ein …«
»Da hast du’s«, sagte Kempff triumphierend.
Birkenrad lächelte.
» … ich korrigiere«, meldete sich die Stimme über Lautsprecher erneut. »Der Zug nach Lübeck fährt auf Gleis 7 ein. Der ursprünglich von Gleis 4 auf Gleis 11 verschobene Zug nach Lübeck …«
Birkenrad tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Man sieht sich.«
*
Kempff ließ sich in den Sitz fallen, und der Nahverkehrszug rumpelte los. Durch das Fenster beobachtete er, wie Birkenrad einen Passanten anschnorrte und eine Münze zugesteckt bekam. Kempff fragte sich, wie viel Kohle sein Kollege auf diese Weise am Tag zusammenbettelte und ob dieser Betrag in irgendeiner Beziehung zu seinen sehr schleppenden Ermittlungen stand.
Aber dann schweiften seine Gedanken ab. Zu Rüdiger »Großmaul« Allenbach – so nannten sie ihn damals auf der Akademie. Denn Rudi Allenbach war der Prototyp eines Alphamännchens. Er war groß, sah nicht schlecht aus und hatte ein Ego, das auch einem Erdbeben der Stärke 8.0 locker standhielt.
Der Typ war ein unverbesserlicher Besserwisser. Er fragte nicht lange, sondern ordnete an. Und hatte mit dieser Brachialmethode Erfolg!
Sprachlos hatte Kempff zur Kenntnis nehmen müssen, dass es nicht wenige Kollegen gab, die offenbar nur auf einen wie Allenbach gewartet hatten. Hirten und Schafe existierten zwar in jeder Gruppe, aber Allenbach wollte Oberhirte sein und tat alles, um ein Ziel zu erreichen. Hätte nicht Brian damals am Kreuz neben Jesus gehangen, sondern Allenbach, wäre die Geschichte des Christentums vermutlich ganz anders verlaufen.
Kempff hatte Allenbach gehasst. Und zwar nicht nur, weil der Typ ein Dreckskerl war, sondern vor allem, weil er Kempff die Freundin ausgespannt hatte. Das war auch so eine von Allenbachs Angewohnheiten. Klar, als Leitwolf erhob er natürlich Anspruch auf sämtliche Weibchen in seiner Umgebung.
Dörte Friesenheim hieß Kempffs Herzensangelegenheit. Sie war sensibel, humorvoll und künstlerisch begabt gewesen. Und sie war wunderschön. Kempff hatte schon in der Schule um sie gebuhlt, aber Dörte hatte ihn zappeln lassen. Erst als sie sich zufällig auf dem Uni-Campus in Hamburg wiedergetroffen hatten, war sie auf sein Werben eingegangen, und die beiden waren ein Paar geworden.
Kempff hatte Dörte abgöttisch geliebt. In ihrer Gegenwart waren seine Fantasien mit ihm durchgegangen, und er hatte seine Zukunft deutlich vor sich gesehen: Er als aufrechter Polizist, der sich um Recht und Gesetz kümmerte; Dörte in ihrem gemeinsamen Haus, mit einem halben Dutzend Kinder, die um ihren weiten Rock herumwuselten. Kempff wollte immer Kinder haben, und zwar möglichst viele. Und in Dörte glaubte er die ideale Partnerin für dieses Vorhaben gefunden zu haben. Aber das Schicksal hatte es anders gewollt.
Und das Schicksal hieß Allenbach.
Als der angefangen hatte, Dörte Avancen zu machen, hatte Kempff das erst mal kaltgelassen. Schließlich war er offiziell mit ihr liiert gewesen, und Allenbach hatte sich derart gockelhaft gebärdet, dass Kempff keine Sekunde geglaubt hatte, seine Freundin könne dem Macho verfallen.
Was Kempff unterschätzt hatte, war Allenbachs Charme, den er trotz allem versprühte und der auf Frauen eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben schien. Während Kempff also darauf vertraute, dass Allenbach bei seiner Dörte niemals eine Chance haben würde, hatte der sie längst flachgelegt.
Und nicht nur das: Allenbach hatte Gefallen gefunden an der hübschen Brünetten und hatte mit ihr, entgegen seiner Gewohnheit, eine feste Bindung eingehen wollen. Dörte hatte eingewilligt.
Die Nachricht hatte Kempff wie ein Faustschlag ins Gesicht getroffen. Aber noch schlimmer war es gewesen, mitzuerleben, wie sich Dörte in Allenbachs Nähe verwandelt hatte. Als würde eine Raupe zum Schmetterling erblühen.
Das hatte sich zum Beispiel in ihrem Äußeren gezeigt. Dörte hatte schon immer einen schönen und wohlgeformten Körper besessen. Aber solange Kempff sie kannte, hatte sie ihn nie öffentlich zur Schau gestellt. Nachdem Allenbach die junge Frau vereinnahmt hatte, änderte sich Dörtes Erscheinungsbild radikal. Sie hatte knielange Röcke und blickdichte Blusen gegen Hotpants und tief ausgeschnittene T-Shirts getauscht. Kempff war schockiert gewesen. Er hatte das nicht sexy gefunden, sondern nuttig. Und er hätte es nie zugelassen, dass sich Dörte in seiner Gegenwart derart offenherzig präsentierte.
Und vielleicht war genau das das Problem gewesen, dachte Kempff irgendwann. Allenbach hatte bei Dörte eine Seite zum Vorschein gebracht, von der Kempff gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Und auch wenn er diese Seite nicht besonders gemocht hatte, war sie offenbar ein Teil von ihr. Kempff hatte einsehen müssen, dass Dörte nicht das Heimchen am Herd war, das er sich wünschte. In ihr steckte eine vielschichtige Persönlichkeit mit zahlreichen Facetten, und eine davon war wild und laut und bunt.
Nach wenigen Wochen hatte Allenbach sie fallen lassen. So wie alle anderen zuvor. Ihn reizte nur das kurze Vergnügen. Und als er sich sattgefressen hatte, verlor er das Interesse. Morgens ging Allenbach mit einer Liebschaft aus dem Haus, abends kehrte er mit einer anderen zurück. Für ihn war das kein Problem. Für die Verlassenen schon.
Als Kempff hörte, dass Allenbach Dörte abserviert hatte, wollte er sie zurückgewinnen. Schließlich hatte die wilde Phase seiner Ex nur ein paar Wochen gedauert.
Aber als er sich mit ihr getroffen hatte, hatte er einen veränderten Menschen vorgefunden. Dörte war weder so zurückhaltend gewesen, wie sie sich in Kempffs Gegenwart stets gegeben hatte, noch so überkandidelt, wie sie mit Allenbach gewesen war. Dörte befand sich in einer Art Zwischenreich. Als wäre sie nach einem raketengleichen Start verglüht. Nun trudelten die Überreste des prächtigen Feuerwerks zu Boden. Und waren nichts als Überbleibsel eines verblassenden Traums.
Dörte hatte ihre Persönlichkeit verloren und offenbar wenig Hoffnung gehegt, eine neue zu entdecken. Sie hatte den Kontakt zu Kempff abgebrochen und war wenig später aus Hamburg verschwunden. Das Letzte, was er über sie gehört hatte, war, dass sie irgendwo auf dem Land lebte. Aber wo und mit wem, hatte er nie herausbekommen.
Erst war Kempff traurig gewesen, dann erleichtert. Denn er war sich gar nicht mehr so sicher, ob es mit ihnen beiden geklappt hätte. So war die Erinnerung an sie verblasst, und Kempff hatte Harriet kennengelernt, die ganz anders als Dörte war. Harriet wusste, was sie wollte, und sagte es auch. Bei ihr hatte Kempff genau gewusst, woran er war: What you see is what you get. Das mochte er. Wenn ihm auch manchmal ein wenig die Leidenschaft gefehlt hatte. Denn Harriet war durch und durch pragmatisch veranlagt. Für wilde Träumereien hatte sie nichts übrig.
Kempff und Harriet hatten ihr Leben strukturiert, zwei Kinder bekommen, die zu passablen Persönlichkeiten herangewachsen waren. Lili war dreiundzwanzig und studierte in München Medizin. Nils war einundzwanzig und arbeitete in einer Hamburger Firma als IT-Experte. Alles im grünen Bereich.
Bis auf die Sehnsucht. Sie hatte Kempff in den vergangenen Jahren hin und wieder heimgesucht, nach dem Auszug der Kinder häufiger. Ein tiefes Gefühl unerfüllten Verlangens, so wie ein Versprechen, das noch nicht eingelöst war. Und immer, wenn er es spürte, sah er ein Bild vor sich. Das Bild von Dörte.
Das Handyklingeln riss ihn aus seinen trüben Gedanken.
»Ja?«
»Janni?«
Oh nein! Bitte nicht! Nicht jetzt!
»Bist du da?«
»Hallo, Mutter.«
Er brauchte dringend ein Smartphone, das ihm nicht nur sagte, wer anrief, sondern in dem er auch eine rote Liste anlegen konnte für Anrufer, die grundsätzlich abgewimmelt wurden.
»Janni, das ist ja schrecklich!«
Zum Beispiel seine Mutter.