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Der Privatdetektiv Harry Angel wird von dem mysteriösen Louis Cyphre beauftragt, den einst so erfolgreichen Schlagersänger Johnny Favorite zu suchen. Angel ahnt nicht, dass er einem Teufelsbetrug mit schrecklichen Konsequenzen auf der Spur ist. Kaum hat er die Suche nach dem Verschwundenen aufgenommen, da wird er mit makabren Ritualmorden konfrontiert. Harry Angel verfängt sich immer tiefer in jenem unheimlichen Labyrinth, das fantastische Anhänger von Dämonenglauben, Teufelskult und Schwarzer Magie für ihn inszeniert haben...
»Erschreckend... als hätte Raymond Chandler DER EXORZIST geschrieben. Ich habe so etwas noch nicht gelesen.«
- Stephen King
Der Roman Angel Heart von William Hjortsberg (* 23. Februar 1941 in New York City, New York; † 22. April 2017 in Livingston, Montana) wurde in den USA erstmals im Jahre 1978 veröffentlicht und gilt als erfolgreichstes Werk des Autors. 1987 wurde der Roman von Alan Parker verfilmt – mit Mickey Rourke als Harry Angel, Robert De Niro als Louis Cyphre, Lisa Bonet als Epiphany Proudfoot und Charlotte Rampling als Margaret Krusemark; der Film und seine literarische Vorlage gelten heute als Klassiker des Noir-Horror.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neu-Ausgabe von Angel Heart in seiner Reihe APEX HORROR – ergänzt um ein Produktionstagebuch von Regisseur Alan Parker.
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WILLIAM HJORTSBERG
Angel Heart
Roman
Apex Horror, Band 22
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
ANGEL HEART
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel
Einundvierzigstes Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel
Vierundvierzigstes Kapitel
Fünfundvierzigstes Kapitel
Sechsundvierzigstes Kapitel
Siebenundvierzigstes Kapitel
Achtundvierzigstes Kapitel
BEAT BY BEAT: Alan Parker zur Entstehung seines Films ANGEL HEART
Der Privatdetektiv Harry Angel wird von dem mysteriösen Louis Cyphre beauftragt, den einst so erfolgreichen Schlagersänger Johnny Favorite zu suchen. Angel ahnt nicht, dass er einem Teufelsbetrug mit schrecklichen Konsequenzen auf der Spur ist. Kaum hat er die Suche nach dem Verschwundenen aufgenommen, da wird er mit makabren Ritualmorden konfrontiert. Harry Angel verfängt sich immer tiefer in jenem unheimlichen Labyrinth, das fantastische Anhänger von Dämonenglauben, Teufelskult und Schwarzer Magie für ihn inszeniert haben...
»Erschreckend... als hätte Raymond Chandler DER EXORZIST geschrieben. Ich habe so etwas noch nicht gelesen.«
- Stephen King
Der Roman Angel Heart von William Hjortsberg (* 23. Februar 1941 in New York City, New York; † 22. April 2017 in Livingston, Montana) wurde in den USA erstmals im Jahre 1978 veröffentlicht und gilt als erfolgreichstes Werk des Autors. 1987 wurde der Roman von Alan Parker verfilmt – mit Mickey Rourke als Harry Angel, Robert De Niro als Louis Cyphre, Lisa Bonet als Epiphany Proudfoot und Charlotte Rampling als Margaret Krusemark; der Film und seine literarische Vorlage gelten heute als Klassiker des Noir-Horror.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neu-Ausgabe von Angel Heart in seiner Reihe APEX HORROR – ergänzt um ein Produktionstagebuch von Regisseur Alan Parker.
Für Bruce, Jada, Ellen und Nick,
»Boys and girls together...
On the sidewalks of New York.«
Und für Bob,
who tripped the light fantastic.
Es war Freitag, der Dreizehnte, und der gestrige Schneesturm hing noch über den Straßen wie ein übriggebliebener Fluch. Der Matsch lag knöcheltief draußen. Durch die 7. Avenue, um die Terrakottafassade des Times Towers, zog die ewig gleiche Parade der Neonschlagzeilen: HAWAII ALS 50. STAAT IN DIE UNION AUFGENOMMEN: KONGRESS STIMMT AUFNAHME 232 ZU 89 ZU. EISENHOWERS UNTERSCHRIFT UNTER GESETZ GESICHERT... Hawaii, süßes Land der Ananas und Haleloki; klimpernde Ukulelen, Sonnenschein und Brandung, schwingende Baströcke in tropischer Brise.
Ich drehte mich auf meinem Stuhl im Kreis und starrte auf den Times Square hinaus. Die imposante Camel-Reklame paffte dicke Rauchringe auf den zähfließenden Verkehr. Der schmucke Gentleman auf der Tafel, den Mund zu einem runden O beständigen Erstaunens gespitzt, war der Vorbote des Frühlings auf dem Broadway. Ein paar Tage zuvor hatten in Gerüsten hängende Malerteams den dunklen, winterlichen Homburg des Rauchers in einen Panamahut verwandelt; es war nicht so poetisch wie die Zugschwalben aus Capistrano, aber es brachte das Gefühl rüber.
Mein Haus war vor der Jahrhundertwende erbaut worden; ein vierstöckiger Backsteinkasten, der von Ruß und Taubendreck zusammengehalten wurde. Auf dem Dach prangten Reklameschilder, die Flüge nach Miami und verschiedene Biermarken anpriesen. An der Ecke gab es einen Zigarrenladen, einen Spielsalon, zwei Hotdog-Stände, und in der Mitte das Rialto Theater. Der Eingang war eingezwängt zwischen einen Pornobuchladen und einen Ramschladen, dessen Schaufenster mit Quietschkissen und Gipshunden vollgestopft waren.
Mein Büro lag zwei Treppen hoch, in einer Reihe mit Olgas Elektrolyse, Augentropfen Import GmbH und Ira Kipnis, Diplomwirtschaftsprüfer. Die acht Zoll hohen Goldlettern hoben mich gegenüber den anderen hervor: CROSSROADS DETEKTIV AGENTUR, ein Name, den ich zusammen mit dem Geschäft von Ernie Cavalero kaufte, der mich damals als Zuträger eingestellt hatte, als ich während des Krieges neu in die Stadt gekommen war.
Ich wollte gerade auf einen Kaffee gehen, als das Telefon klingelte. »Mr. Harry Angel?«, zirpte entfernt eine Sekretärin. »Hier spricht Herman Winesap von McIntosh, Winesap und Spy.«
Ich murmelte etwas Freundliches, und sie verband mich weiter. Herman Winesaps Stimme war so glatt wie die schmierigen Schwindelpräparate, vor denen einen die Haarölfirmen warnen. Er stellte sich als zugelassener Verteidiger vor. Das bedeutete, dass seine Gebühren hoch waren. Ein Typ, der sich selbst nur als Anwalt bezeichnet, kostet immer etliches weniger. Winesap klang so gut, dass ich ihm den Hauptteil des Gesprächs überließ.
»Der Grund, weshalb ich anrufe, Mr. Angel, ist, mich zu versichern, ob Sie im Moment für einen Auftrag zur Verfügung stehen.«
»Wäre das für Ihre Firma?«
»Nein. Ich handle im Auftrag eines unserer Klienten. Kann man Sie engagieren?«
»Hängt ganz von dem Job ab. Sie müssten mir schon ein paar Einzelheiten nennen.«
»Mein Klient würde es vorziehen, dies mit Ihnen persönlich zu besprechen. Er schlug vor, dass Sie heute mit ihm essen sollten. Punkt ein Uhr im Six.«
»Vielleicht könnten Sie mir den Namen dieses Klienten sagen, oder muss ich bloß nach einem Typen Ausschau halten, der eine rote Nelke trägt?«
»Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand? Ich buchstabiere den Namen für Sie.«
Ich schrieb den Namen LOUIS CYPHRE auf meinen Block und fragte, wie man ihn ausspricht.
Herman Winesap machte seine Sache großartig, er rollte seine R wie ein Lehrer vom Berlitz Institut. Ich fragte ihn, ob sein Klient ein Ausländer sei.
»Mr. Cyphre ist im Besitz eines französischen Passes. Über seine tatsächliche Nationalität bin ich mir nicht sicher. Sollten Sie weitere Fragen haben, wird er Sie Ihnen gerne beim Essen beantworten. Darf ich ihm sagen, dass er mit Ihnen rechnen kann?«
»Ich werde Punkt eins dort sein.«
Verteidiger Herman Winesap machte abschließend noch ein paar ölige Bemerkungen, bevor er sich verabschiedete. Ich legte auf und zündete zur Feier des Tages eine meiner Weihnachts-Montecristos an.
Die Fifth Avenue war eine unglückliche Mischung zwischen dem Internationalen Stil und dem, was man bei uns unter stromlinienförmig versteht. Vor zwei Jahren war es zwischen der 52. und 53. Straße losgegangen: Zigtausend Quadratmeter Büroräume, ummantelt von getriebenen Aluminiumplatten. Es sah aus wie ein 40stöckiger Käseschuber. Der Wasserfall in der Eingangshalle konnte daran auch nichts ändern.
Ich nahm einen Expresslift ins oberste Stockwerk, bekam eine Nummer von dem Garderobengirl und bewunderte die Aussicht, während mich der Geschäftsführer mit einem durchdringenden Blick prüfte, wie ein staatlicher Fleischbeschauer eine Rinderhälfte. Die Tatsache, dass der Geschäftsführer Cyphres Name unter den Reservierungen fand, machte uns auch nicht zu Freunden. Begleitet von dem höflichen Gemurmel der Angestellten, folgte ich ihm nach hinten zu einem kleinen Tisch am Fenster.
Dort saß in einem maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug, eine blutrote Rosenknospe im Knopfloch, ein Mann, der jedes Alter zwischen 45 und 60 hätte haben können. Sein Haar, aus der hohen Stirn streng zurückgekämmt, war dunkel und voll, aber sein viereckig getrimmter Kinnbart und sein Schnurrbart waren weiß wie ein Hermelin. Er war gebräunt und elegant; seine Augen besaßen etwa die Farbe von Ätherblau. Auf seiner kastanienbraunen Seidenkrawatte leuchtete ein winziger Stern.
»Ich bin Harry Angel«, sagte ich, während der Ober meinen Stuhl zurechtrückte. »Ein Anwalt namens Winesap sagte, dass Sie mich in einer bestimmten Angelegenheit sprechen wollen.«
»Ich mag pünktliche Leute«, sagte er. »Einen Drink?«
Ich bestellte einen doppelten Manhattan, unverdünnt; Cyphre klopfte mit einem manikürten Finger an sein Glas und sagte, dass er das gleiche noch mal wolle. Es war nicht schwer, sich diese fetten Hände mit einer Peitsche vorzustellen. Nero musste solche Hände gehabt haben. Und Jack the Ripper. Es waren die Hände eines Kaisers und eines Mörders. Schlaff, aber todbringend: perfekte Instrumente des Bösen.
Nachdem der Kellner gegangen war, beugte sich Cyphre vor und fixierte mich mit einem verschwörerischen Grinsen: »Ich möchte Sie nicht mit Nebensächlichkeiten belästigen, aber vielleicht könnten Sie sich irgendwie ausweisen, bevor wir anfangen.«
Ich zog meine Brieftasche raus und zeigte ihm meine Lizenz und meinen Faschingsbullenorden. »Da sind auch Waffen- und Führerschein drin.«
Flüchtig blätterte er die Zelluloidhüllen durch, und als er mir meine Brieftasche zurückgab, war sein Lächeln um zehn Grad freundlicher. »Normalerweise genügt mir das Wort eines Mannes, aber meine Rechtsberater bestanden auf dieser Formalität.«
»Es zahlt sich gewöhnlich aus, wenn man vorsichtig ist.«
»Aber, Mr. Angel, ich hätte gedacht, Sie wären ein Draufgänger.«
»Nur wenn es sein muss.« Ich bemühte mich, die Spur irgendeines Akzents herauszuhören, aber seine Stimme klang glatt wie Metall, geschmeidig und rein, als wäre sie schon vom Tag seiner Geburt an durch Banknoten abgefedert. »Ich denke, wir sollten übers Geschäft reden«, sagte ich. »Ich bin kein guter Plauderer.«
»Ein weiterer angenehmer Zug an Ihnen.« Cyphre zog aus der Brusttasche seines Jacketts ein gold verziertes Zigarrenetui, öffnete es und wählte eine schlanke, grünfarbene Panatela. »Möchten Sie rauchen?« Ich lehnte ab und beobachtete, wie Cyphre mit einem silbernen Taschenmesser das Ende seiner Zigarre Zuschnitt.
»Sagt Ihnen zufällig der Name Johnny Favorite etwas«, fragte er, während er die schlanke Panatela in der Flamme seines Gasfeuerzeugs an wärmte.
Ich dachte nach. »War das nicht so ein Schnulzensänger mit einer Swingkapelle vor dem Krieg?«
»Genau den meine ich. Ein Senkrechtstarter, wie die Presseagenten sagen würden. Er sang mit dem Spider Simpson Orchester 1940. Ich persönlich hasse Swing-Musik und erinnere mich nicht an die Titel seiner Hits; es waren aber auf jeden Fall einige. Zwei Jahre bevor irgendjemand etwas von Sinatra gehört hatte, löste er im Paramount Theater begeisterte Tumulte aus. Sie müssten sich doch daran erinnern, das Paramount liegt in Ihrem Stadtteil.«
»Johnny Favorite war vor meiner Zeit. 1940 kam ich gerade von der High School und war ein kleiner Bulle in Madison, Wisconsin.«
»Sie stammen aus dem Mittelwesten? Ich hätte Sie für einen geborenen New Yorker gehalten.«
»Solche Exemplare gibt's doch gar nicht, außer im innersten Teil von Manhattan.«
»Ganz richtig.« Cyphres Züge waren in blaue Rauchwolken gehüllt, während er seine Zigarre paffte. Es roch nach ausgezeichnetem Tabak, und ich bedauerte, dass ich keine genommen hatte, als ich die Chance dazu hatte. »Das ist eine Stadt von Außenseitern«, sagte er. »Ich bin selbst einer.«
»Wo kommen Sie her?«, fragte ich.
»Sagen wir, ich bin ein Reisender.« Cyphre wischte eine Rauchwolke seiner Zigarre weg, wobei ein Smaragd aufblitzte, den der Papst höchstpersönlich geküsst hätte.
»Mir soll's recht sein. Warum fragten Sie nach Johnny Favorite?« Der Kellner stellte unsere Drinks auf den Tisch, unauffälliger als ein vorbeiziehender Schatten.
»Alles in allem, eine angenehme Stimme.« Cyphre hob sein Glas in Augenhöhe zu einer Art stummem europäischem Toast. »Wie ich schon sagte, ich konnte Swing-Music noch nie ausstehen; zu laut und nervös für meinen Geschmack. Aber Johnny klang so süß wie ein Chorknabe, wenn er es wollte. Ich nahm ihn unter meine Fittiche, als er anfing. Er war ein frecher, dürrer Junge aus der Bronx. Vater und Mutter tot. Sein wirklicher Name war nicht Favorite, sondern Jonathan Liebling. Er änderte ihn aus Karrieregründen. Liebling hätte in Leuchtschrift nicht annähernd so gut ausgesehen. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«
Ich sagte, dass ich keine Ahnung hätte.
»Er wurde im Januar '43 eingezogen. Wegen seiner Begabung wurde er dem Unterhaltungssektor der militärischen Betreuung zugewiesen, und im März nahm er an einer Truppenschau in Tunesien teil. Über die exakten Einzelheiten bin ich mir nicht sicher; eines Nachmittags kam es während einer Vorstellung zu einem Luftangriff. Die deutsche Luftwaffe bombardierte die Bühne. Die meisten Mitglieder der Band wurden getötet. Johnny kam wie durch ein Wunder mit Gesichts- und Kopfverletzungen davon. Davonkommen ist allerdings das falsche Wort. Er wurde nie mehr der alte. Ich bin kein Mediziner, deshalb kann ich über seinen Zustand nichts Genaues sagen. Eine Form von Kriegsneurose, nehme ich an.«
Ich sagte, dass ich persönlich auch einiges über Kriegsneurosen wisse.
»Wirklich? Waren Sie im Krieg, Mr. Angel?«
»Ein paar Monate gleich zu Anfang. Ich bin einer von denen, die davongekommen sind.«
»Nun, Johnny Favorite hatte da weniger Glück. Er wurde nach Hause verfrachtet, ein totales Wrack.«
»Das tut mir leid«, sagte ich, »aber was habe ich damit zu tun? Was genau soll ich für Sie tun?«
Cyphre drückte seine Zigarre im Aschenbecher aus und spielte mit einer altersgelb gewordenen Elfenbeinspitze. Sie war in Form einer gewundenen Schlange geschnitzt und hatte den Kopf eines krähenden Hahns. »Seien Sie geduldig mit mir, Mr. Angel. Ich komme schon zur Sache, wenn auch etwas umständlich. Ich half Johnny ein wenig am Anfang seiner Karriere. Ich war nie sein Agent, aber ich konnte meinen Einfluss für ihn einsetzen. Als Anerkennung meiner Hilfe, die beträchtlich war, hatten wir einen Vertrag. Er enthielt gewisse Sicherheiten, die im Falle seines Todes verfallen sollten. Es tut mir leid, dass ich nicht deutlicher werden kann, aber die Bedingungen unserer Abmachung legten fest, dass die Einzelheiten vertraulich bleiben sollten.
Auf jeden Fall, Johnnys Zustand war hoffnungslos. Er wurde in ein Veteranenhospital in New Hamsphire gebracht, und es sieht ganz so aus, als würde er den Rest seines Lebens in einer Krankenstation verbringen. Eben eines der unglücklichen Abfallprodukte des Krieges. Aber Johnny hatte Freunde und Geld, eine ganze Menge Geld. Obwohl er von Natur aus verschwenderisch war, waren seine Einkünfte in den zwei Jahren vor seiner Einweisung beträchtlich gewesen. Mehr als irgendein Mensch zum Fenster rauswerfen konnte. Ein Teil des Geldes war von Johnnys Agenten, die rechtlich dazu befugt waren, angelegt worden.«
»Die Geschichte beginnt kompliziert zu werden«, sagte ich.
»So ist es, Mr. Angel.« Abwesend klopfte Cyphre mit seiner Elfenbeinspitze gegen den Rand seines leeren Glases, und das Kristall tönte wie ferner Glockenklang. »Freunde von Johnny ließen ihn in eine Privatklinik in der Provinz verlegen. Dort wurde eine Radikalkur versucht. Der typische Psychiatrie-Hokuspokus, nehme ich an. Das Resultat war das gleiche; Johnny blieb ein Zombie. Nur, dass das Geld anstelle aus seiner Tasche aus der des Staates floss.«
»Kennen Sie die Namen der Freunde?«
»Nein, ich hoffe nur, Sie betrachten mich nicht als total gewinnsüchtig, wenn ich Ihnen sage, dass mein anhaltendes Interesse an Jonathan Liebling ausschließlich unsere vertraglichen Vereinbarungen betrifft. Ich habe Johnny nie mehr wiedergesehen, nachdem er in den Krieg gegangen war. Das einzige, was zählte, war, ob er noch lebte oder nicht mehr. Ein oder zweimal pro Jahr kontaktieren meine Anwälte die Klinik und erhalten eine eidesstattliche Erklärung mit dem Inhalt, dass er immer noch unter den Lebenden weilt. Die Situation hatte sich bis zum letzten Wochenende nicht geändert.«
»Was ist dann passiert?«
»Etwas sehr Merkwürdiges. Johnnys Klinik ist außerhalb von Poughkeepsie. Ich hatte geschäftlich in der Nähe zu tun und beschloss ganz kurzfristig, meinem alten Bekannten einen Besuch abzustatten. Vielleicht wollte ich sehen, was sechzehn Jahre Bettlägerigkeit aus einem Menschen machen. In der Klinik sagte man mir, dass unter der Woche nur nachmittags Besuchszeit sei. Ich ließ mich nicht abweisen, und der diensthabende Arzt erschien. Er informierte mich, dass sich Johnny gerade in einer Spezialtherapie befinde und bis zum folgenden Montag nicht gestört werden dürfe.«
Ich sagte: »Klingt beinahe so, als ob Sie jemand an der Nase herumführen würde.«
»Tatsächlich. Da war etwas an dem Burschen, was mir nicht gefiel.« Cyphre steckte die Zigarrenspitze in seine Westentasche und faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich blieb in Poughkeepsie bis zum Montag und ging dann noch mal zur Klinik, genau während der vorgeschriebenen Besuchszeiten. Ich traf den Doktor nicht wieder an, aber als ich nach Johnny fragte, wollte das Mädchen an der Rezeption wissen, ob ich ein Verwandter sei. Natürlich sagte ich nein. Sie behauptete, nur Familienmitglieder hätten das Recht, die Patienten zu besuchen.«
»Das hatte vorher keiner erwähnt?«
»Mit keinem Wort. Ich wurde ziemlich ungehalten. Ich glaube, dass ich einen ziemlichen Aufstand machte. Das war ein Fehler. Die Empfangsdame drohte mit der Polizei, wenn ich nicht sofort ginge.«
»Was haben Sie getan?«
»Ich bin gegangen, was hätte ich sonst tun sollen. Es ist eine Privatklinik. Ich wollte keine Schwierigkeiten bekommen. Deshalb benötige ich Ihre Dienste.«
»Sie wollen, dass ich dorthin fahre und alles für Sie herausfinde?«
»Genau.« Cyphre machte eine ausladende Geste, wobei er seine Handflächen nach außen kehrte, wie ein Mann, der zeigen will, dass er nichts zu verbergen hat.
»Als erstes muss ich wissen, ob Johnny Favorite überhaupt noch lebt; das ist das Wesentliche. Wenn ja, möchte ich wissen, wo.«
Ich griff in meine Tasche und holte ein dünnes Notizbuch aus Leder heraus und etwas zum Schreiben. »Das ist kein Problem. Wie sind der Name und die Adresse der Klinik?«
»Sie heißt Emma Dodd Harvest Memorial Clinic; sie liegt östlich von der Stadt auf der Pleasant Valley Road.«
Ich notierte es mir und fragte nach dem Namen des Arztes, der Cyphre reingelegt hatte.
»Fowler. Ich glaube der Vorname war entweder Albert oder Alfred.«
Ich schrieb es auf. »Ist Favorite unter seinem wirklichen Namen eingetragen?«
»Ja, Jonathan Liebling.«
»Das sollte ausreichen.« Ich steckte mein Notizbuch ein und stand auf. »Wie kann ich Sie erreichen?«
»Am besten über meinen Anwalt.« Cyphre glättete mit den Fingerspitzen seinen Bart. »Sie wollten doch nicht etwa gehen? Ich dachte, wir essen zusammen?«
»Ich schlage ungern eine Einladung aus, aber wenn ich mich gleich auf den Weg mache, kann ich in Poughkeepsie sein, bevor die Klinik schließt.«
»Kliniken haben keine Geschäftszeiten.«
»Die Büroangestellten schon. Und von denen hängt alles ab. Es kostet Ihr Geld, wenn ich bis Montag warten muss. Ich bekomme 50 Dollar am Tag - plus Spesen.«
»Das klingt preiswert für eine gute Arbeit.«
»Es wird in Ordnung gehen. Zufriedenheit wird garantiert. Ich werde Winesap anrufen, sobald ich etwas weiß.«
»Ausgezeichnet. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. Angel.«
Der Geschäftsführer lächelte immer noch höhnisch, als ich auf dem Hinausweg meinen Mantel und meine Aktentasche abholte.
Meinen sechs Jahre alten Chevy hatte ich in der Hippodrom-Garage in der 44. Straße, nahe der Sixt Avenue, geparkt. Nur der Name erinnerte noch an den Ort des legendären Theaters. Die Pavlowa hatte im Hippodrom getanzt. John Philip Sousa war der Orchesterchef gewesen. Jetzt stank es nach Autoabgasen, und die einzige Musik, unterbrochen von den Satzfetzen eines puertoricanischen Ansagers, kam aus einem tragbaren Radio, das im Büro stand.
Gegen zwei Uhr war ich auf dem West Side Highway auf dem Weg nach Norden. Der Wochenendexodus hatte noch nicht begonnen, und der Verkehr entlang des Saw Mill River Parkway war flüssig. Ich hielt in Yonkers an und kaufte eine Flasche Bourbon, um Gesellschaft zu haben. Als Peekshill hinter mir lag, war sie halb leer, und ich verstaute sie im Handschuhfach für die Rückfahrt.
Ich fuhr in heiterer Stille durch die schneebedeckte Landschaft. Es war ein schöner Nachmittag, viel zu schön, um ihn durch die verblödeten Hitparaden aus dem Autoradio zu verderben. Nach dem gelben Matsch in der Stadt sah hier alles weiß und sauber aus, wie eine von Grandma Moses gemalte Szenerie.
Ich erreichte die Außenbezirke von Poughkeepsie kurz nach drei und fand die Pleasant Valley Road, ohne auch nur ein einziges Girl vom Vassar College zu erspähen. Fünf Meilen außerhalb der Stadt kam ich zu einem ummauerten Anwesen, mit einem geschwungenen, schmiedeeisernen Tor; auf dem Mauerwerk stand in großen Bronzelettern: EMMA DODD HARVEST MEMORIAL CLINIC. Ich bog auf einen Kiesweg ein und schlängelte mich ungefähr eine halbe Meile durch dichtes Gebüsch, als plötzlich vor mir ein rotes, sechsstöckiges Backsteingebäude auftauchte, das mehr an ein Studentenwohnheim als an ein Krankenhaus erinnerte.
Drinnen sah allerdings alles nach Krankenhaus aus. Die Wände in einem blassen Grün, und der graue Linoleumboden war sauber genug, um darauf zu operieren. Der verglaste Empfangsraum befand sich zurückgesetzt in einem Alkoven an der einen Wand. Gegenüber hing ein großes Ölgemälde, das eine bulldoggengesichtige Witwe zeigte, von der ich annahm, dass es sich um Emma Dodd Harvest handelte. Dazu brauchte ich die kleine Plakette, die an den vergoldeten Rahmen geschraubt war, nicht erst zu lesen. Weiter vom konnte ich einen glänzenden Flur sehen, auf dem ein Weißgekleideter einen leeren Rollstuhl entlangschob. Er bog um eine Ecke und war verschwunden.
Ich habe Hospitäler immer gehasst. Während des Krieges hatte ich zu viele Monate darin verbringen müssen. Die effiziente Sterilität dieser Orte hatte etwas Deprimierendes an sich. Dieses geräuschlose Huschen von Gummisohlen auf lysolgeschwängerten, hellen Korridoren. Gesichtsloses Personal in gestärkten, weißen Uniformen. Die Monotonie der Routine gab sogar dem Wechseln einer Bettpfanne den Stellenwert eines Rituals. Die Erinnerung an die Krankenstation stieg wie ein würgender Horror in mir auf. Krankenhäuser und Gefängnisse sehen von innen immer gleich aus.
Das Mädchen am Empfang war jung und reizlos. Sie war weiß gekleidet und trug ein kleines schwarzes Namensschild, das sie als R. FLEECE auswies. Hinter der Rezeption öffnete sich ein Büro voller Aktenständer. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Miss Fleece mit engelsüßer Stimme. Auf ihrer dicken, randlosen Brille schimmerten funkelnde Lichter.
»Ich denke doch«, sagte ich. »Mein Name ist Andrew Conroy; ich mache eine Studie für die nationale Gesundheitsbehörde.« Ich stellte meinen kalbsledernen Diplomatenkoffer auf den Empfangsschalter und zeigte ihr irgendeinen gefälschten Ausweis aus meiner Extrabrieftasche für Extra-Identitäten. Im Fahrstuhl von Nr. 666, Fifth Avenue, hatte ich sie neu arrangiert. Die oberste Karte steckte jetzt in der Sichtblende.
Miss Fleece beobachtete mich misstrauisch, ihre trüben, wässrigen Augen schwammen hinter den dicken Brillengläsern wie tropische Fische in einem Aquarium. Ich konnte mir vorstellen, dass ihr mein zerknitterter Anzug oder die Suppenflecken auf meiner Krawatte nicht gefielen, aber der Diplomatenkoffer riss alles raus. »Möchten Sie mit jemand Bestimmtem sprechen, Mr. Conroy?«, fragte sie und versuchte ein schwaches Lächeln.
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen.« Ich steckte meine gefälschten Papiere in meine Brusttasche zurück und lehnte mich gegen den Empfangsschalter. »Die Klinik verfügt über eine Aufstellung irreparabler Verletzungsfälle. Meine Aufgabe besteht darin, Informationen über die überlebenden Opfer zu sammeln, die in privaten Kliniken untergebracht sind. Soviel ich weiß, haben Sie einen Patienten, auf den diese Beschreibung zutrifft.«
»Wie ist der Name des Patienten, bitte?«
»Jonathan Liebling. Jede Information, die Sie mir geben, wird streng vertraulich behandelt. Tatsächlich werden in der Untersuchung überhaupt keine Namen erwähnt werden. «
»Einen Moment bitte.« Die reizlose Empfangsdame mit der himmlischen Stimme zog sich in das hintere Büro zurück und zog aus einem Aktenschrank eine der unteren Schubladen heraus. Sie brauchte nicht lange, um zu finden, wonach sie suchte. Sie kehrte mit einem offenen Aktendeckel zurück und schob ihn mir durch den Schlitz der Verglasung rüber. »Wir hatten einmal einen solchen Patienten, wie Sie sehen können, aber er wurde schon vor Jahren in das Veteranenhospital in Albany verlegt. Hier ist seine Akte. Alles, was wir über ihn haben, müsste dort drinstehen.«
Die Überweisung war ordnungsgemäß auf dem Formular bestätigt, auch das Datum: 5.12.45. Ich zog mein Notizbuch heraus und kritzelte ein paar Zahlen hinein. »Wissen Sie, wer der behandelnde Arzt war?«
Sie griff rüber und drehte den Ordner so, dass sie es lesen konnte. »Es war Dr. Fowler.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Namen.
»Arbeitet er noch in der Klinik?«
»Natürlich. Er hat gerade Dienst. Möchten Sie mit ihm sprechen?«
»Wenn es keine Umstände macht.«
Sie versuchte wieder ein Lächeln. »Ich rufe an und werde sehen, ob er Zeit hat.« Sie ging zur Telefonanlage rüber und sprach leise in ein kleines Mikrofon. Über den Lautsprecher hallte ihre Stimme durch einen entfernten Flur. »Dr. Fowler, zum Empfang bitte... Dr. Fowler, zum Empfang bitte.«
»Haben Sie letztes Wochenende gearbeitet«, fragte ich, während wir warteten.
»Nein, ich war für ein paar Tage weg. Meine Schwester hat geheiratet.«
»Haben Sie den Brautstrauß aufgefangen?«
»So viel Glück habe ich nicht.«
Plötzlich war Dr. Fowler aus dem Nichts aufgetaucht. Er bewegte sich geräuschlos wie eine Katze auf seinen Kreppsohlen. Er ging leicht gebeugt, was ihm fast das Aussehen eines Buckligen vermittelte. Er trug einen unordentlichen braunen Fischgrätanzug, der ein paar Nummern zu groß war. Ich schätzte ihn ungefähr auf siebzig. Das wenige verbliebene Haar war grau wie Zinn.
Miss Fleece stellte mich als Mr. Conroy vor. Ich erzählte wieder mein Märchen von der Gesundheitsbehörde und fügte hinzu: »Wenn Sie mir irgendetwas sagen könnten, das Jonathan Liebling betrifft, würde mich das sehr interessieren.«
Dr. Fowler nahm den Aktendeckel. Dass seine Hand zitterte, konnte von einem Schlaganfall herrühren, aber ich hatte da meine Zweifel.
»Das ist so lange her«, sagte er. »Er war im Showbusiness vor dem Krieg. Ein trauriger Fall. Es gab keinen medizinischen Beweis für einen Gehirnschaden; trotzdem hat er auf keine Behandlung angesprochen. Daher gab es keinen Grund, ihn länger hierzubehalten, allein schon wegen der Kosten, und wir überwiesen ihn nach Albany. Er war ein Veteran und hat für den Rest seines Lebens Anspruch auf ein Krankenbett.«
»Und dort kann ich ihn finden, in Albany?«
»Ich denke schon. Vorausgesetzt, er lebt noch.«
»Nun, Doktor, ich möchte Sie nicht länger aufhalten.«
»Keine Ursache. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen konnte.«
»Ich bitte Sie, Sie waren eine große Hilfe.« Das war er tatsächlich. Ein einziger Blick in seine Augen genügte, und man wusste Bescheid.
Ich fuhr nach Poughkeepsie zurück und hielt an der ersten Grillbar, die ich fand. Zuerst rief ich das Veteranenhospital in Albany an. Es dauerte eine Zeitlang, aber sie bestätigten, was ich bereits wusste: Es hatte nie eine Einweisung des Patienten Jonathan Liebling gegeben. Weder 1945 noch sonst wann. Ich dankte ihnen und hängte nicht auf, während ich Dr. Fowlers Nummer heraussuchte. Ich schrieb die Nummer und Adresse in mein Notizbuch und rief den guten Doktor an. Keine Antwort. Ich ließ es ein dutzendmal klingeln, bevor ich auflegte.
Ich nahm einen schnellen Drink und ließ mir von dem Barmann den Weg zur South Kittridge Street 419 erklären. Er zeichnete eine rohe Skizze auf eine Serviette und bemerkte mit ausgesuchter Zurückhaltung, dass es sich dabei um einen noblen Teil der Stadt handelte. Die Wegbeschreibung des Barmanns war ihr Geld wert. Ich bekam dafür sogar ein paar Girls vom Vassar College zu Gesicht.
South Kittridge war eine hübsche, baumbestandene Straße, nur ein paar Blocks vom Universitätsgelände entfernt. Das Haus des Doktors war ein neugotischer Bau mit einem runden Turm an der Ecke. Von den Dachrändern hing jede Menge feinstes Schnitzwerk herunter; es sah aus wie der Spitzenkragen einer alten Lady. Ringsum ging eine breite Veranda mit dorischen Säulen, und hohe Fliederbüsche schützten den Hof gegen alle benachbarten Häuser.
Ich fuhr langsam vorbei, schaute mir alles genau an und parkte den Chevy um die Ecke von einer Kirche aus grauem Bruchstein. Ein Schild kündigte die Sonntagspredigt an: DIE RETTUNG LIEGT IN DIR. Ich ging zu Nummer 419 zurück, meinen Diplomatenkoffer hatte ich dabei. Ich sah aus wie ein ganz normaler Versicherungsvertreter, der auf einen Abschluss aus ist.
In die Vordertür war ein Glas-Oval eingelassen, das einen Blick in eine dämmrige, getäfelte Halle gestattete, von der aus eine teppichbelegte Treppe nach oben führte. Ich läutete zweimal und wartete. Kein Mensch kam. Ich läutete nochmals und versuchte die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Das Schloss war mindestens vierzig Jahre alt, und ich hatte nichts Passendes dabei.
Ich ging um die Veranda herum und probierte jedes Fenster, ohne Erfolg. Hinten befand sich eine Kellertür. Sie war mit einem Vorhängeschloss verschlossen, aber der farblose Holzrahmen war weich und alt. Ich nahm ein Brecheisen aus meinem Diplomatenkoffer und brach das Schloss weg.
Die Stufen waren dunkel und von Spinnweben überzogen. Meine Taschenlampe bewahrte mich davor, mir den Hals zu brechen. Die alte Kohlenheizungsanlage stand in der Mitte des Kellers wie ein heidnischer Götze. Ich fand die Treppe und ging rauf. Die obere Tür war unverschlossen, und ich trat in eine Küche, die während der 30er Jahre als ein technisches Wunder gegolten hätte. Da standen ein Gasofen mit hohen, gebogenen Beinen und ein Kühlschrank, dessen runder Motor obenauf saß wie eine Hutschachtel. Falls der Doktor allein lebte, war er ein ordentlicher Mann. Das Frühstücksgeschirr war abgewaschen und steckte im Ablaufgitter. Der Linoleumboden war gewachst. Ich ließ meine Aktentasche auf dem Küchentisch stehen und untersuchte den Rest des Hauses.
Das Esszimmer und der vordere Wohnraum schienen noch nie benutzt worden zu sein. Staubbedeckt, dunkel und wuchtig standen die Möbel wie fürs Schaufenster arrangiert da. Oben waren drei Schlafzimmer. Die Schränke in zweien waren leer. Im kleinsten Zimmer, mit einem schmalen Eisenbett und einer einfachen Eichenkommode, lebte Dr. Fowler.
Ich warf einen Blick in die Kommode, fand aber nichts außer der üblichen Anzahl von Hemden, Taschentüchern und Baumwollunterwäsche. Im Wandschrank hingen neben einem Schuhbord ein paar modrige Anzüge aus Wolle. Ich durchsuchte ziellos die Taschen und fand nichts. In seinem Nachtschränkchen lag ein .45er Webley-Revolver neben einer schmalen ledergebundenen Bibel. Es war ein besonderes Modell; es wurde während des Ersten Weltkrieges an britische Offiziere abgegeben. Die Wahl der Bibeln war freigestellt gewesen. Ich untersuchte die Waffe, aber sie war nicht geladen.
Im Badezimmer hatte ich Glück. Ein Sterilisator dampfte auf einem Gestell. Er enthielt ein halbes Dutzend Nadeln und drei Spritzen. Die Hausapotheke erhielt nichts, abgesehen von der Standardausrüstung an Aspirin, Hustensäften, Zahnpastatuben und Augentropfen. Ich prüfte mehrere Fläschchen, die rezeptpflichtige Pillen enthielten, aber alles schien einwandfrei. Keine Narkotika weit und breit.
Ich wusste, dass es irgendwo sein musste, deshalb ging ich runter und schaute in den altmodischen Kühlschrank. Es lag im gleichen Fach wie die Milch und die Eier: Morphium. Grob gezählt mindestens fünfzig Fläschchen. Genug, um ein Dutzend Junkies einen Monat lang bei Laune zu halten.
Es wurde langsam dunkel draußen. Die kahlen Bäume zeichneten sich als Silhouetten gegen den kobaltblauen Himmel ab, bis sie schließlich ganz im Dunkel verschwanden. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und füllte den alten Aschenbecher randvoll mit Kippen. Ein paar Minuten vor sieben tauchten die Scheinwerfer eines Autos in der Einfahrt auf und gingen aus. Ich lauschte auf die Schritte des Doktors auf der Veranda, aber ich hörte nichts, bis sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Er schaltete eine Deckenbeleuchtung an; ein Teil des Lichts drang in das dunkle Wohnzimmer und beleuchtete meine ausgestreckten Beine bis zu den Knien. Ich gab keinen Mucks von mir, aber ich erwartete, dass er den Rauch riechen würde. Ich hatte mich getäuscht. Er hängte seinen Mantel an die Garderobe und schlurfte in Richtung Küche. Als er das Licht andrehte, ging ich durch das Esszimmer zurück.
Doktor Fowler schien meinen Diplomatenkoffer auf dem Küchentisch nicht zu bemerken. Er hatte die Kühlschranktür geöffnet; vorgebeugt fummelte er im Kühlschrank herum. Ich lehnte an der bogenförmigen Esszimmertür und beobachtete ihn.
»Wohl Zeit für den Abendfix?«, sagte ich.
Er schnellte herum und hielt dabei einen Milchkarton mit beiden Händen fest. »Wie sind Sie hier reingekommen?«
»Durch den Postschlitz. Warum setzen Sie sich nicht und trinken Ihre Milch, und wir unterhalten uns ein bisschen?«
»Sie sind nicht von der Gesundheitsbehörde. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Angel. Ich bin ein Privatdetektiv aus New York.« Ich zog einen Küchenstuhl vor, und er ließ sich erschöpft darauf nieder; dabei hielt er seine Milch fest, als wäre sie das einzige in der Welt, das ihm geblieben war.
»Einbruch und unbefugtes Betreten fremder Häuser ist ein schweres Verbrechen«, sagte er. »Ich nehme an, dass Sie ihre Lizenz verlieren, wenn ich die Polizei anrufe.«
Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich rittlings drauf und verschränkte die Arme über der Lehne. »Wir wissen beide, dass Sie nicht nach dem Arm des Gesetzes rufen werden. Es wäre zu peinlich, wenn das Opium im Kühlfach entdeckt werden würde.«
»Ich bin Mediziner. Ich habe durchaus die Befugnis, pharmazeutische Produkte zu Hause zu lagern.«
»Ach lassen Sie das doch, Doc, ich habe ihr Besteck im Badezimmer kochen sehen. Seit wann sind Sie süchtig?«
»Ich bin kein... Süchtiger! Ich protestiere gegen derartige Schlussfolgerungen. Ich leide an schwerer rheumatischer Arthritis. Wenn die Schmerzen manchmal zu unerträglich werden, nehme ich ein mildes Schmerzmittel. Und nun schlage ich vor, dass Sie gehen, sonst hole ich wirklich die Polizei.«
»Nur zu«, sagte ich, »ich wähle sogar die Nummer für Sie. Die werden sich freuen, wenn die Ihren Bluttest zu Gesicht bekommen.«
Dr. Fowler sackte in den Falten seines übergroßen Anzugs zusammen. Er schien vor meinen Augen geradezu zu schrumpfen. »Was wollen Sie von mir?« Er schob den Milchkarton zur Seite und stützte den Kopf in seine Hände.
»Immer noch das gleiche wie in der Klinik«, sagte ich. »Informationen über Jonathan Liebling.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich wusste.«
»Doc, lassen Sie uns nicht rumalbern. Liebling wurde nie an irgendein Veteranenhospital überwiesen. Ich weiß das, weil ich in Albany angerufen und das ganze überprüft habe. Es ist nicht besonders schlau, sich so eine windige Geschichte auszudenken.« Ich holte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie in den Mund, zündete sie aber nicht an. »Der zweite Fehler war, dass Sie bei der Fälschung des Formulars einen Kugelschreiber benutzten. 1945 gab es nämlich praktisch keine.«
Dr. Fowler stöhnte und wiegte den Kopf in seinen Armen. »Ich wusste, dass alles vorbei war, als der erste Besucher auftauchte. In nahezu fünfzehn Jahren kamen nie Besucher, nicht einer.«
»Scheint ja ein beliebter Junge zu sein«, sagte ich und zündete meine Zigarette an. »Wo ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht.« Dr. Fowler richtete sich auf, was ihn die letzte Kraft zu kosten schien. »Ich habe ihn seit der Zeit, als er während des Krieges mein Patient war, nicht mehr gesehen.«
»Er muss doch irgendwo abgeblieben sein, Doktor.«
»Ich habe keine Ahnung, wo. Vor langer Zeit kamen eines Nachts ein paar Leute. Er stieg in ein Auto und fuhr mit ihnen weg. Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.«
»In ein Auto? Ich dachte, er war ein hilfloses Wrack?«
Der Doktor rieb sich die Augen und blinzelte. »Als er zu uns kam, war er im Koma. Aber er sprach gut auf die Behandlung an, und innerhalb eines Monats war er wieder auf den Beinen. Nachmittags haben wir immer Tischtennis gespielt.«
»Dann war er gesund, als er wegging?«
»Gesund? Was für ein abscheuliches Wort. Es hat überhaupt keine Bedeutung.« Dr. Fowlers nervös trommelnde Finger ballten sich zu Fäusten auf dem verblichenen Wachstuch. An seiner linken Hand trug er einen goldenen Siegelring, in den ein fünfzackiger Stern eingraviert war. »Um Ihre Frage zu beantworten, Liebling war nicht so wie Sie und ich. Nachdem er seine Sinne wiedergewonnen hatte, seine Sprache, das Sehen, den Gebrauch der Gliedmaßen, und so weiter, litt er weiterhin an akuter Amnesie.«
»Sie meinen, er hatte sein Gedächtnis verloren?«
»Vollkommen. Er hatte keine Ahnung, wer er war oder woher er kam. Nicht einmal sein Name sagte ihm etwas. Er bestand darauf, jemand anderer zu sein; seine Erinnerung würde schon irgendwann zurückkehren. Ich sagte, dass er mit Freunden weggegangen sei; dafür habe ich nur deren Wort. Jonathan Liebling hat sie nicht erkannt. Für ihn waren sie Fremde.«
»Erzählen Sie mir mehr über diese Freunde. Wer waren sie? Wie hießen sie?«
Der Doktor schloss die Augen und presste seine zitternden Finger gegen die Schläfen. »Es ist so lange her. Endlose Jahre. Ich habe alles getan, um es zu vergessen.«
»Berufen Sie sich nicht auf Amnesie, Doc.«
»Es waren zwei«, sagte er. Er sprach langsam; die Worte wurden einer fernen Vergangenheit entrissen, aus den schweren Schichten des Kummers herausgefiltert. »Ein Mann und eine Frau. Über die Frau kann ich nichts sagen. Es war dunkel, und sie blieb im Wagen. Jedenfalls hatte ich sie vorher noch nie gesehen. Der Mann war mir bekannt. Ich hatte ihn mehrmals getroffen. Er hat alles arrangiert.«
»Wie hieß er?«
»Er sagte, er hieße Edward Kelley. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmte oder nicht.«
Ich notierte mir den Namen. »Was waren das für Arrangements, die Sie eben erwähnten? Was war der springende Punkt dabei?«
»Geld.« Der Doktor spuckte das Wort aus, wie einen Bissen verdorbenes Fleisch. »Hat nicht jeder Mensch seinen Preis? Ich jedenfalls hatte meinen. Kelley besuchte mich eines Tages und bot mir Geld an...«
»Wieviel Geld?«
»Fünfundzwanzigtausend Dollar. Vielleicht erscheint das heute nicht viel, aber während des Krieges war es mehr, als ich mir jemals erträumt hatte.«
»Davon würde mancher auch heute noch träumen«, sagte ich. »Was wollte Kelley für das Geld?«
»Was Sie wahrscheinlich schon vermutet haben. Die Entlassung von Jonathan Liebling, ohne Aufbewahrung der Krankengeschichte. Jeder Hinweis auf seine gesundheitliche Wiederherstellung sollte vernichtet werden. Am wichtigsten war, dass ich weiterhin vorgeben sollte, dass er noch immer ein Patient des Emma Harvest war.«
»Und das haben Sie getan.«
»Es war nicht sehr schwierig. Abgesehen von Kelley und Lieblings Agent oder Manager, hatte er nie Besuch.«
»Wie war der Name des Agenten?«
»Ich glaube Wagner. An den Vornamen erinnere ich mich nicht.«
»Hatte er teil an den Vereinbarungen mit Kelley?«
»Soviel ich weiß, nicht. Ich sah die beiden nie zusammen, und er schien nicht zu wissen, wo Liebling war. Er rief während eines Jahres alle paar Monate an und fragte, ob eine Besserung eingetreten sei, aber er kam nie zu Besuch. Nach einer Weile rief er nicht mehr an.«
»Und die Klinik? Bemerkte die Verwaltung nicht, dass ein Patient fehlte?«
»Warum sollte sie? Ich hielt seine Akte auf dem neuesten Stand, Woche für Woche; und jeden Monat kam ein Scheck von Lieblings Vermögensverwaltung, der die Kosten deckte. Solange die Rechnungen bezahlt werden, stellt kein Mensch Fragen. Ich erfand ein paar Geschichten, um die Schwestern ruhig zu stellen, aber die hatten andere Patienten, um die sie sich kümmern mussten. Es war nicht schwierig, wirklich. Wie gesagt, er hatte nie Besuch. Nach einer Weile musste ich bloß die eidesstattliche Erklärung ausfüllen, die regelmäßig alle sechs Monate von einer Anwaltskanzlei aus New York kam.«
»McIntosh, Winesap und Spy?«
»Richtig.« Dr. Fowler blickte gequält von der Tischplatte auf, und unsere Blicke trafen sich.
»Das Geld war nicht für mich. Ich möchte, dass Sie das wissen. Damals lebte meine Frau Alice noch. Sie hatte Krebs und brauchte eine Operation, die wir uns nicht leisten konnten. Das Geld reichte dafür und für eine Reise auf die Bahamas, aber sie starb trotzdem. Es dauerte kein Jahr. Den Schmerz kann einem niemand abkaufen. Nicht für alles Geld der Welt.«
»Erzählen Sie mir von Jonathan Liebling.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles. Kleinigkeiten. Gewohnheiten, Hobbys, wie er seine Eier am liebsten hatte. Was für eine Farbe hatten seine Augen?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Erzählen Sie, was Sie wissen. Beginnen Sie mit der Beschreibung seiner Erscheinung.«
»Das ist unmöglich. Ich habe keine Ahnung mehr, wie er aussah.«
»Spielen Sie mit mir nicht rum, Doc.« Ich lehnte mich vor und blies ihm eine Rauchwolke in die wässrigen Augen.
»Ich sage die Wahrheit«, hustete der Doktor. »Der junge Liebling kam zu uns nach einer Gesichtsoperation.«
»Plastische Chirurgie?«
»Ja. Sein Kopf war während seines gesamten Aufenthalts verbunden. Ich habe die Verbände nicht gewechselt und deshalb auch nie sein Gesicht gesehen.«
»Ich weiß, was sie Plastische Chirurgie nennen«, sagte ich und befühlte meine Nase, die sich wie eine gekochte Tomate anfühlte.
Der Doktor warf einen professionellen Blick auf meine Züge. »Wachs?«
»Ein Souvenir aus dem Krieg. Ein paar Jahre sah es gut aus. Der Typ, für den ich arbeitete, hatte ein Sommerhaus am Strand von Jersey. Eines Tages bin ich im August in der Sonne eingeschlafen, und als ich aufwachte, war innen alles geschmolzen.«
»Heute verwendet man kein Wachs mehr zu diesem Zweck.«
»Das habe ich auch gehört.« Ich stand auf und lehnte mich an den Tisch.
»Erzählen Sie mir alles über Edward Kelley.«
»Es ist lange her«, sagte der Doktor, »und die Leute verändern sich.«
»Wie lange, Doc? Wann verließ Liebling die Klinik?«
»Es war 1943 oder '44. Während des Krieges. Ich kann mich nicht genauer erinnern.«
»Haben Sie schon wieder einen Amnesie-Anfall?«
»Es ist über fünfzehn Jahre her. Was erwarten Sie da?«
»Die Wahrheit, Doc.« Ich begann, ungeduldig zu werden mit dem alten Mann.
»Ich sage die Wahrheit, so gut ich kann.«
»Wie sah dieser Edward Kelley aus?« knurrte ich ihn an.
»Er war ein junger Mann damals, Mitte Dreißig, würde ich sagen. Heute ist er jedenfalls über fünfzig.«
»Doc, Sie halten mich hin.«
»Ich traf den Mann nur dreimal.«
»Doc.« Ich langte runter, packte ihn beim Krawattenknoten und drückte zu. Nicht allzu stark, aber als ich ihn zu mir hochzog, gab er nach wie ein leerer Sack. »Ersparen Sie sich den Ärger. Oder soll ich die Wahrheit aus Ihnen rausquetschen.«
»Ich habe alles gesagt, was ich weiß.«
»Warum schützen Sie Kelley?«
»Das tue ich nicht. Ich kenne ihn kaum. Ich...«