Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Haben Sie mal versucht, mit einer dickköpfigen Ziege in einem Mordfall zu ermitteln?
Die Privatermittlerin Lucia und ihr Seelentier, die Ziege Kitty, ziehen in der Erwartung eines entspannten Lebens in die niederländische Provinz. Eine fatale Fehleinschätzung, denn Lucia findet im Unterholz eine Leiche, die ermittelnde Polizistin ist ihr attraktives Tinder-Date und der mysteriöse Selbstmord einer Hexe sorgt für Aufruhr. Hinter dem Provinz-Idyll aus Gouda, Grachten und Großmüttern verbergen sich mörderische Absichten und menschliche Abgründe, die Lucia erst auf den zweiten Blick erkennt …
Ein fantastischer Krimi mit skurrilen Charakteren, trockenem Humor und magischen Mordfällen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 304
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lucia und Kitty ermitteln Cel Silen
Copyright © 2024 by
WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]
ANGELECKT IST HALB GELÖSTText © Cel Silen, 2024 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat : David Pawn (www.davidpawn.de) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke Satz & Layout: Vianchia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-033-5 Alle Rechte vorbehalten.
Für Nico. Den Liebsten und Kuscheligsten aller Hunde.
Als ich heute Morgen mit meiner Ziege spazieren ging, fand ich im Unterholz eine Leiche. Das brachte zwar meinen Zeitplan durcheinander, aber mich schnell mit der hiesigen Polizei bekannt zu machen, erschien mir auch kein schlechter Plan, also wählte ich die niederländische Notfallnummer.
Der Herr am Telefon hatte mir versprochen, dass jemand kommen würde. Vor drei Stunden.
Ich las einen Artikel über den wöchentlichen Käsemarkt von Gouda zu Ende und ließ das Handy in der Rocktasche verschwinden. Kitty, die sich neben die Bank gelegt hatte, meckerte.
»Ja, ich will auch nach Hause.«
Erneutes Meckern.
»Nein, wir können uns nicht wenigstens die Leiche genauer ansehen. Wenn wir eine Spur verwischen, bringt die Polizei uns um.«
Kitty schnaubte.
Wer auch immer dort zwischen den Bäumen lag, musste da schon länger als ein paar Tage liegen. Mich wunderte, dass die Leiche bisher nicht gefunden worden war. Wobei der zu sehende Arm, von dem ledrige Haut herabhing, farblich zur Umgebung passte.
Lag da ein Mordopfer? Hatte sich ein tragischer Unfall ereignet? Um wen handelte es sich? Ein Blick in die Vermisstenanzeigen dürfte für Klarheit sorgen. Automatisch griff ich nach dem Handy, ließ es aber in der Tasche. Das hier ging mich nichts weiter an.
Sonnenstrahlen glitzerten auf dem See vor mir und offenbarten den Dreck auf den am Steg vertäuten Schaluppen. Kein Mörder war so dämlich, eine Leiche in einem winzigen Waldabschnitt zu entsorgen, der direkt neben einem See und Wohnhäusern lag. Oder doch? Ich schloss die Augen. Vermutlich schon, aber das hier war verdammt nochmal nicht mein Fall und ich würde mich nicht aus Neugierde in die Polizeiarbeit einmischen.
»Soll ich nochmal anrufen?«
Kitty rappelte sich auf, schüttelte sich und stampfte davon. Ein klares Nein.
»Wir können hier nicht einfach eine Leiche liegen lassen.«
Nasse Erde. Rindengeruch. Blätterrascheln.
Ich seufzte und stand auf. »Kitty, lass das!« Ich strich meinen langen schwarzen Rock gerade, der nicht dafür geeignet war, durchs Gebüsch zu klettern.
Kittys Meckern entfernte sich weiter.
Der Umzug in die Niederlande war spannend gewesen, aber seit wir ohne Auftrag in Gouda wohnten, langweilte sie sich. Ich strich über das Korsett, das ich innerhalb von nur zwei Tagen fertig genäht hatte. Nicht nur Kitty brauchte Beschäftigung. Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen.
Warmes Blut. Nasser Hund. Bellen.
Aber nicht mitten rein in Polizeiarbeit! Ich lief Kitty hinterher.Sie stand bereits mit ausgestreckter Zunge vor der freiliegenden Hand. »Kitty! Jetzt reicht es aber. Nur weil dir langweilig ist, kannst du nicht einfach alle Regeln ignorieren.«
Kitty ruckte den Kopf zur Seite und stapfte in Richtung Weg davon, auf dem, Lilith sei Dank, endlich ein Auto vorfuhr. Ein gut in Schuss gehaltener alter Golf, mit dem blau-orangenen Zick-zack-Muster der niederländischen Polizei versehen.
Immer freundlich lächeln, offen und hilfsbereit wirken. Ich stellte mich an den Waldrand und winkte den Polizisten zu, die hoffentlich wegen des Leichenfunds hier waren. Sonst verlor ich die Geduld.
Aus dem Auto stiegen Ein Mann von vielleicht Ende vierzig und eine etwa halb so alte Frau. Kitty versteckte sich hinter meinen Beinen und starrte die Polizisten an. Die Frau kam mir bekannt vor. Kurze, wellige rote Haare, Sommersprossen, einen Kopf größer als ich. War ich ihr im Dorf schon begegnet? Nein. Sie kamen näher.
Oh, das Gesicht hatte ich mir schon oft angesehen, peinlich oft. Diese gerade Nase. Diese dünnen Augenbrauen. Auf dem Handy hatte ich die genauestens studiert. In einer Dating-App.
Ich hielt mir die Hände vor den Bauch und versuchte, meine Fingernägel nicht in den Stoff zu graben. Kitty sah zu mir hoch. Sie spürte meine Anspannung.
Die Polizistin stand vor mir und zeigte mir ihren Ausweis, den Blick auf Kitty gerichtet. »Guten Tag, ich bin Kommissarin Pia …« Sie sah zu mir, stockte, und ließ ihren Ausweis wieder sinken. »Lucia?«
Ich streckte ihr meine Hand hin und bemühte mich, das freundliche, offene Lächeln zu behalten und nicht nervös zu lachen. »Freut mich, dich persönlich zu treffen, obwohl ich erst heute Abend mit dir gerechnet hatte.«
»Äh, ja, freut mich natürlich auch.« Pia reichte mir die Hand. Gut, dass ich so schnell keine schweißfeuchten Hände bekam.
Ihr Kollege hob die Augenbrauen und strich sich eine Rastalocke über die Schulter. »Soll ich euch kurz alleine lassen? Ich kann mir schon mal ansehen, was ihr gefunden habt. Was ist es denn eigentlich? Ach, wie unhöflich von mir. Ich heiße Amissah Dya, Kommissar in der Abteilung Seelentierdelikte. Stets zu Diensten.« Sein breites Lächeln könnte es fast mit dem Glanz seiner Dienstmarke aufnehmen.
Kitty meckerte und stapfte zu einem Grasfleck. Hoffentlich nur für einen Snack.
»Freut mich. Hat man euch nichts von meinem Anruf erzählt?« Das klang nach beeindruckend schlechter Kommunikation.
Pia schüttelte energisch den Kopf, als wollte sie gleichzeitig wegschütteln, dass sie ihrem Date für heute Abend gegenüberstand. »Man hat uns nur gesagt, es läge etwas Verdächtiges im Unterholz und es hätte mit Seelentieren zu tun.« Nun, das war zumindest faktisch nicht falsch, ich hatte ihnen von Kitty erzählt, aber …
»Verstehe.« Ich zeigte in das Wäldchen. »Da vorne liegt eine Leiche. Ob die ein Seelentier hatte, kann ich aber nicht sagen. Gesehen habe ich außer meinem keins.«
Pia starrte mich an. »Bitte was?«
Amissah fuhr sich durch die Locken und pfiff. »Das ist dann wohl die berühmte Abwechslung der Polizeiarbeit in Aktion.«
Pia blinzelte ein paar Mal, wie um sich von der Nachricht zu erholen. »Habt ihr die Leiche angefasst? Habt ihr Spuren verwischt?«
Amissah legte Pia eine Hand auf die Schulter. »Was meine Kollegin fragen wollte, ist, ob es euch gut geht, oder ob ihr psychologische Betreuung benötigt.«
Pia schielte zu Amissah hoch. »Sie hat Anthropologie studiert. Das wird nicht ihre erste Leiche sein.«
»Na, dann wird sie auch wissen, dass sie keine Spuren verwischen darf.«
Aus dem Hintergrund erklang zustimmendes Meckern.
Ich nickte. »Wir waren zugegebenermaßen in der Nähe der Leiche, aber nur, weil sie unter Blättern versteckt ist und ich sie aus der Ferne nicht als solche erkannt habe.« Ich wollte hinterherschieben, dass ich durch Kittys Fähigkeiten Eindrücke eines Hundes gesehen hatte, aber da entfernte sich Amissah bereits in Richtung Wäldchen.
Pia räusperte sich. »Sorry, ich wollte euch nichts unterstellen. Uns kommen nur nicht oft solche schweren Fälle unter.« Mir schien, als rötete sich die Haut um ihre Sommersprossen ein wenig.
»Schon gut.« Ich schielte zu Kitty, um sicherzustellen, dass sie sich nicht doch nochmal die Leiche ansehen ging.
Pia öffnete den Mund, schloss ihn wieder und tippte dann mit dem Stift auf den Notizblock. »Bleib bitte hier, ich muss gleich noch deine Personalien aufnehmen.«
Ich atmete tief durch, während sie Amissah folgte. Die Vermischung von Liebesleben und Leichenfund war mir nicht ganz geheuer. Ich fasste mir, möglichst subtil, aber wer sollte mich schon beobachten, an die Wange. Hoffentlich war ich nicht auch rot geworden, bei meiner Haut sah mein Gegenüber so etwas viel zu leicht.
Kitty schielte zu mir hinauf. Sie kaute Gras, von dem ihr die Hälfte aus dem Maul hing. Ihr Blick sagte mehr als deutlich, was sie von der ganzen Situation hielt, nämlich nichts.
Ich seufzte und richtete meine Aufmerksamkeit lieber wieder auf die beiden Polizisten.
Weit waren sie nicht gekommen. Um sie zu belauschen, musste ich nur ein paar Schritte näher zu ihnen schleichen.
Pia stemmte die Hände in die Hüften und schloss die Augen. Sie sah aus, als würde sie innerlich bis zehn zählen. »Also kein Seelentierdelikt? Und dann auch noch eine echte Leiche? Was haben die sich dabei gedacht, erst uns zu schicken?«
»Na ja, wenigstens hat die Zeugin ein Seelentier. Das ist doch ein Fortschritt.« Amissah lächelte, aber sein Ausdruck blieb konzentriert. »Und vielleicht finden wir ja doch Hinweise.«
Pia seufzte und holte einen Notizblock aus der Jackentasche. »Ich schreibe nachher ein paar Mails. Wenn die uns noch mal so einen Fall andrehen, reißt mir der Geduldsfaden.«
Kitty scharrte mit den Hufen in der Erde und schnaubte.
»Ist ja gut.« Ich räusperte mich. »Da waren Blut und Hundebellen.«
Pia drehte sich um. »Was?«
»Meine Fähigkeit ist Eindrucksübertragung. Kitty hat in der Nähe der Leiche geleckt. Ich hab warmes Blut geschmeckt, Hundebellen gehört und nassen Hund gerochen. Vielleicht das Seelentier, nach dem ihr sucht.«
Pia hob die Augenbrauen, eindeutig nicht erfreut, dass ich mich von der Stelle bewegt hatte, kritzelte aber alles in einen Spiralblock von der Größe eines Handys. Das sah nicht so aus, als wäre es nachher noch lesbar, aber das war zum Glück nicht mein Problem.
Amissah entfernte sich ein Stück und telefonierte. Vermutlich rief er die Spurensicherung und informierte die hiesige Polizeistation. Wobei ich zugeben musste, dass ich über niederländische Polizeistrukturen noch nicht allzu genau informiert war und er genauso gut einen Leichenwagen oder eine Pizza bestellen könnte.
Pia schlug ein Blatt des Blockes um. »Habt ihr noch was bemerkt?«
»Nein. Sobald klar wurde, dass es sich um eine Leiche handelt, hab ich die Polizei gerufen und mich entfernt.« Ganz wie eine ordentliche Bürgerin.
Sie nickte und deutete mir, ihr zum Auto zu folgen.
Noch bevor sie sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, hielt ich ihr meinen Ausweis hin. Wir schwiegen, während sie die Daten in einen Laptop aus dem letzten Jahrhundert tippte. Sie presste die Lippen zu einer Linie und zog die Augenbrauen zusammen.
Der Wind frischte auf und schüttelte das noch nicht ganz aus dem Winterschlaf erwachte Wäldchen. Morgen dürfte der Fund in Gouda die Titelstory sein und ich konnte hoffen, über den Fall auf dem Laufenden zu bleiben.
Sobald ich einmal persönlich involviert war, ließ ein Fall mich einfach nicht mehr los. Eine meiner Stärken oder Schwächen je nachdem, wen man fragt.
»Hier.« Pia reichte mir meinen Ausweis und eine Visitenkarte dazu. »Ruf an, wenn dir noch was einfällt. Und wenn sonst was ist, hast du ja meine Nummer.« Sie rückte ihre Weste zurecht. »Na dann bis heute Abend.«
Kein Auftrag. Das erste Mal in drei Jahren. Hoffentlich halfen die neue Website und das Büro dabei, diesen Zustand zu ändern. Ich wollte wirklich nicht zurück nach Deutschland, jedenfalls nicht so schnell.
Herumsitzen konnte ich aber auch nicht. Also begann ich, die Vermisstenanzeigen der Gegend rauszusuchen. Ich druckte alle aus und heftete sie sorgfältig mit dem Vorsatz ab, die Daten aktuell zu halten. Am Ende füllte ich einen halben Ordner mit Vermisstenanzeigen, unaufgeklärten Fällen und verschiedenen Straftätern. Zwar kam ich als Privatdetektivin eher selten zu einem Fall, der mit vermissten Personen zu tun hatte, aber informiert zu sein, war das wichtigste Gut überhaupt in diesem Job.
Kitty kam aus der Küche ins Arbeitszimmer geschlendert und legte sich zu meinen Füßen. Fräße sie kein Heu, könnte man meinen, sie sei ein Hund.
Ich streckte mich und begann mit den Vermisstenanzeigen. Zuerst fiel mir die einer jungen Frau in die Hand, die auf dem Bild lächelnd im Segelboot einer Sportschule saß. Vor zwei Jahren verschwunden und damit eine unwahrscheinliche Kandidatin. Das nächste Foto ließ kaum erkennen, dass es sich um einen älteren Herrn handelte, den das Altenhaus seit drei Wochen vermisste. So wenig Informationen, wie mir zur Verfügung standen, kämen beide in Frage. Inzwischen wünschte ich mir, ich hätte Kitty an der Kleidung lecken lassen, dann hätten wir jetzt einen Anhaltspunkt. Aber der Fall ging mich nichts an. Gerade als ich das dachte, leckte Kitty den Teppich ab.
Spinnen von Wolle, Knacken eines Webstuhls, wirbelndes Wasser.
Ich atmete einmal ein und aus. Mein Großvater hatte mir den Teppich geschenkt, ein handgemachtes Exemplar aus einem ukrainischen Bergdorf.
Ich beugte mich unter den Tisch. Mein Blick traf Kittys. Sie meckerte mich an und leckte am Tischbein.
Schaben von Holz, Schweiß, Kratzen von Federn.
Der Tisch war alt, wirklich alt, und schon vor mir hier gewesen.
»Wenn dir langweilig ist, geh was essen.«
Kitty meckerte noch mal, legte aber den Kopf auf den Teppich und ließ mich in Ruhe arbeiten. Wenn man das arbeiten nennen konnte, was ich da tat. Niemand klingelte, niemand schrieb mir eine Mail oder rief an. Natürlich brauchte die Etablierung Zeit, aber damit sich die Existenz einer Privatdetektivin in Gouda herumsprechen konnte, brauchte ich einen ersten Auftrag.
Gouda war ein wirklich niedliches Städtchen, das sich durch die Touristen und vor allem mit dem Verkauf des gleichnamigen Käses und Tickets zum Käse- oder Waffelmuseum an eben diese Touristen auf der Karte der besuchenswerten Städte hielt. Seit ich einmal Urlaub in Gouda gemacht hatte, stand die Stadt auf meiner Liste für gute potenzielle Wohnorte. Auch wenn seitdem ein paar Jahre ins Land gegangen waren, nun war ich hier.
Kitty hatte keine Lust auf einen Spaziergang gehabt, also schlenderte ich allein durch die Straßen. Bei einem der zahlreichen Käseläden kaufte ich mir ein Stück violetten Lavendelkäse und ein paar Cracker und machte mich dann auf, die Umgebung zu erkunden.
Ich konnte nie wissen, wann ich etwas Interessantes aufschnappte, wie zum Beispiel das Pappschild in einem Fenster auf dem stand: »Hier Heiltränke zum halben Preis.«
Das Fenster gehörte zu einem Reihenhaus in einer Wohnsiedlung. Hin und wieder fuhr ein Fahrrad vorbei, Autos noch seltener. Auf der anderen Straßenseite plätscherte wie oft in der Provinz Holland eine Gracht, in der höchstens Kanus oder schmale Schaluppen fuhren. Ich setzte mich auf eine Bank, holte meinen Proviant aus der Kleidertasche und beobachtete das Haus.
Nichts passierte. Kein Kunde kam und auch keiner der Bewohner ließ sich blicken. Allzu viel vom Inneren konnte ich auch nicht erkennen. Im oberen Stockwerk waren die Gardinen vorgezogen und im Raum im Erdgeschoss, anscheinend dem Wohnzimmer, erblickte ich einen Raumteiler. Bemerkte ich überhaupt, wenn jemand das Zimmer betrat?
Nachdem ich aufgegessen hatte, klingelte ich laut Klingelschild bei Familie Pawlik. Ein Mann ungefähr in meinem Alter öffnete. Seine weite Hose und ein lockeres, schlicht grünes Oberteil unterstrichen die Marihuanawolke, die mir entgegenschlug. Er kniff die geröteten Augen zusammen und tastete nach einer Brille, die seine Sicht offensichtlich auch nicht verbesserte, nachdem er sie aufgesetzt hatte. »Kann ich dir helfen?«
Der Moment war gekommen. Meine erste richtige Unterhaltung auf Niederländisch, die nicht mit Pia oder an der Supermarktkasse stattfand.
»Guten Tag, ich habe dein Schild im Fenster gesehen und mich gefragt, was für Heiltränke du verkaufst.«
Bei dem Wort Heiltränke war ich mir absolut sicher, dass ich es richtig aussprach. Auf alle Wörter mit Magiebezug hatte ich beim Lernen besonderen Wert gelegt. Alles andere unterlag noch einer gewissen Fehleranfälligkeit.
Der Mann öffnete den Mund, schloss ihn wieder und kam zu mir nach draußen, um in seine eigene Wohnung zu gucken.
»Scheiße, du hast recht. Da steht echt ein Schild.« Er fuhr sich durch die Haare. »Kann nur einer gewesen sein. Tomek!«, brüllte er nach oben. Ich hätte ja eher in den Flur gebrüllt, aber ich hatte auch noch nie einen Joint geraucht.
Das Fenster über uns wurde geöffnet und heraus blickte ein weiterer Mann, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als der vor mir. Ich tippte auf Brüder. Er sah uns, schloss das Fenster sofort wieder und kurz darauf hörten wir Schritte im Flur.
Eindeutig Brüder. »Stojan, was soll das werden?« Tomek sagte noch etwas zu seinem älteren Bruder, das ich nicht verstand, da in … Polnisch? Tschechisch? Die beiden Sprachen konnte ich nicht gut auseinanderhalten.
Der Ältere wurde ins Haus geführt und Tomek lächelte nervös, als er wieder vor mir stand. Seine braunen Haare waren zu einem sorgfältigen Pferdeschwanz gebunden, was die schwarzen Kreuzohrringe zur Geltung brachte. Das Poloshirt allerdings wollte nicht so recht zur ausgeleierten Jogginghose passen.
»Tut mir leid. Hat er irgendwas Komisches gemacht?« Tomek schielte hinter sich in den Gang.
»Nein, er meinte nur, dass du für das Schild verantwortlich bist.«
»Die Heiltränke?« Er sah die Straße hoch und runter. »Hast du Interesse?«
»Das kommt ganz auf den Inhalt an.«
»Komm rein, dann zeige ich sie dir.« So schnell, wie er die Tür hinter uns schloss, fragte ich mich, ob ich mich ohne Kitty so weit hineinwagen sollte.
»Hier.« Er führte mich in die Küche, wo auf einem Regelbrett über dem Esstisch Fläschchen in allen Formen, Farben und Größen aufgereiht waren. Besonders ins Auge fielen mir eine alte braune Apothekerflasche mit einer stilisierten Lilie und eine große schwarze Weinflasche mit einem Totenkopf, die die Aufschrift Geluk trug, also Glück. Wie Glück und Totenköpfe zusammenpassten, wollte ich lieber nicht so genau wissen.
Ich hatte nicht damit gerechnet, aber anscheinend waren das echte Heiltränke. Normalerweise wiesen solche Schilder darauf hin, dass jemand einen Rosenquarz in Wasser eingelegt hatte und als Allheilmittel verkaufte. Aber das hier? Die Flaschen wirkten alt, mindestens fünfzig Jahre, aber sauber und die Etiketten noch gut zu lesen.
Hexenschuss. Nagelpilz. Hornhautentzündung. Gegen etliche Krankheiten standen hier Mixturen.
»Das ist der Restbestand meiner Großmutter. Sie ist vor einer Weile gestorben und niemand in der Familie möchte den Laden übernehmen.«
»Aber du hättest die Fähigkeiten dazu?«
Er wich meinem Blick aus. »Na ja, nein. Die Tränke haben durch ihr Seelentier erst ihre Wirkung bekommen. Seit sie gestorben ist, hat der Laden eigentlich keinen Sinn mehr.«
»Ich verstehe. Das ist natürlich schade.« Ich ließ meinen Blick erneut über die Sammlung streifen. »Ich hätte gerne ein Fläschchen.«
Er richtete sich auf und wirkte gleichzeitig etwas entspannter. »Äh, gerne, klar. Ein bestimmtes?«
Ich deutete auf einen Parfümflakon mit einer dunkelvioletten Flüssigkeit, die auf Lavendel und damit Spinnenabwehr hindeutete. Kitty besaß zwar ein Talent für das Beseitigen der Tiere, aber jedes Mal einen Eindruck davon zu bekommen, war mehr als unschön.
Tomek kletterte halb auf den Tisch, um das Fläschchen für mich vom Regal zu holen.
Ich bezahlte und gab ihm dabei gleich eine meiner Visitenkarten. »Ich bin übrigens Privatdetektivin. Wenn du ein Problem hast, ob magisch oder nicht, melde dich gerne bei mir.«
Er betrachtete die Visitenkarte, die eine stilisierte Illustration von Kitty schmückte. »Lucia und Kitty. Privatermittlungsservice. Sitz in Gouda.« Er drehte die Karte um. Dort standen Adresse, Telefonnummer und Mailadresse. »Cool.« Sein Blick traf kurz meinen, und ich glaubte, dass er mich etwas fragen wollte, aber er ließ das bleiben. »Wenn was ist, melde ich mich. Danke.«
Danach verabschiedete ich mich und trat den Rückweg durch Gouda an, währenddessen ich mich mit fragwürdigen Käsesorten eindeckte. Um eine echte Niederländerin zu werden, musste ich mich schließlich durchprobieren.
Wir gingen pünktlich los, um nicht in Stress zu geraten, falls eine der Bahnen nach Amsterdam ausfiel. Ich wollte zum ersten Date wirklich nicht zu spät kommen, und noch kannte ich mich in der Hauptstadt nicht gut genug aus, um zu Orten zu sprinten. Zwar war mir in den Niederlanden noch nie passiert, dass die Bahn mehr als fünf Minuten Verspätung hatte, aber ich hatte in Deutschland einfach zu viel mitgemacht, um irgendeiner Form von öffentlichem Nahverkehr noch vertrauen zu können.
Auf der Wachtelstraat herrschte zu dieser Zeit reges Treiben und ich musste aufpassen, dass Kitty nah bei mir blieb. Die Fahrradfahrer hier kannten keine Rücksicht.
Wir überquerten eine Brücke, bogen links ab und kamen an einem vertäuten Hausboot vorbei. So verwachsen wie die Taue mit den Gräsern der Wiese waren, lag das Schiff hier schon eine ganze Weile. Es sah aus, als hätte jemand einen alten Schuppen blau lackiert, Fenster eingebaut und auf ein Floß gesetzt. Das Boot war nicht besonders hübsch, aber es ruinierte auch nicht die schöne Landschaft.
»Klaas! Was hast du dir dabei gedacht, die selbst du benutzen? Das war die letzte Seife der Lieferung!«
»Wir hatten halt keine Seife mehr!«
»Frag mich nächstes Mal gefälligst vorher, sonst kannst du zusehen, wie du an eine eigene Wohnung kommst!«
Ob die Leute wussten, dass Fenster und dünne Wände nicht schalldicht waren?
Kitty und ich passierten gerade die Tür, als sie aufging. Eine Frau in geblümtem Beachkleid und schwarzer Liebeskind-Handtasche, vermutlich die Mutter dieses Klaas, der einfach nur seine Hände waschen wollte, stieg auf den Weg und stieß fast gegen mich.
Einen Moment lang starrte sie mich mit zusammengepressten Lippen an, dann glätteten sich ihre Gesichtszüge und sie versuchte sich sogar an einem Lächeln. »Guten Tag. Du kommst nicht von hier, oder? Du wärst mir bestimmt im Gedächtnis geblieben.«
Sie griff in ihre Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. Angel Soaps. Handgemachte Seifen aus Gouda. Roséfarbene Schrift zierte festes schwarzes Papier. Es fühlte sich rau und edel an. Die mussten teuer gewesen sein.
Im Inneren des Bootes wurde eine Tür zugeknallt. Die Frau warf einen wütenden Blick über die Schulter, drehte sich aber wieder lächelnd zu mir. »Ein tolles Geschenk. Oder auch für dich selbst.«
Kitty zog an meinem Rock. Sie hatte nicht weniger Vertrauensprobleme in die Bahn als ich, wir mussten weiter. Aber ich war hier noch nicht fertig.
Ich zog meine eigene Visitenkarte aus dem Rock und gab sie der Frau. »Wir sind tatsächlich gerade hergezogen. Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Fremde Menschen nicht zu siezen, fühlte sich noch immer komisch an, aber ich musste zugeben, dass dieses Du einen sofort näherbrachte. Keine schlechte Eigenschaft des Niederländischen.
Die Frau wendete die Visitenkarte hin und her. Ihr Blick wurde nachdenklich. »Eine Privatdetektivin, was?« Ihre Augen waren halb von einem dunkelblonden Pony verdeckt. »Warst du schon an der Mühle?«
Kitty hörte auf, an meinem Rock zu ziehen und positionierte sich mit aufgestellten Ohren neben mir.
»Nein, noch nicht.«
»Falls du mal Langeweile hast. Da soll es spuken. Ich bin da selbst schon gewesen und glaub mir, da drinnen ist es ziemlich unheimlich.« Die Frau sah die Straße rauf und runter. »Da soll sogar jemand verstorben sein.«
Endlich! Zwar noch kein Fall, aber ein Hinweis, dem ich morgen nachgehen konnte.
»Vielen Dank.«
Ich fragte sie noch nach der Adresse. Die Mühle lag ganz in der Nähe. Perfekt. Wir verabschiedeten uns und verpassten den Zug in die Stadt, der tatsächlich pünktlich gekommen war.
Das Museum für Magiegeschichte lag auf halbem Weg zwischen dem Foltermuseum und dem Vondelpark. Das Foltermuseum wäre meine erste Wahl gewesen, aber aus Erfahrung wusste ich, dass nicht jede beim ersten Date etwas über Hexenverbrennungen lernen wollte. Ich schlenderte also an der Statue des Sensenmannes vorbei und folgte der Straße bis zum Leidesplein.
Kitty schmiegte sich an mein Bein und beäugte jeden, der uns entgegenkam, mit einer übertriebenen Portion Skepsis. Aber darüber sollte ich mich nicht beschweren, wenigstens lief sie nicht wild durch die Gegend wie der aufgedrehte Hamster vor uns. Sein Partner hetzte ihm kreischend hinterher.
Kitty sah zu mir hoch und meckerte.
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat er was Leckeres gerochen.« Der Hamster könnte aber auch vor dem Uhu fliehen, der gerade dicht über meinem Kopf hinwegflog.
Wie die beiden ihre Stadtscheine bekommen hatten, war mir ein Rätsel. Kitty meckerte missbilligend. Zu beweisen, dass wir keine Gefahr darstellten und ich Kitty unter Kontrolle hatte, war uns leichtgefallen. Vögel verband oft ein loseres Band zu ihren Partnern und Hamster besaßen mehr Fressfeinde, als man an den Fingern zählen konnte.
Eine junge Frau in Croptop und kurzem Rock kämpfte sich durch die Menge, sie pfiff immer wieder in eine Vogelpfeife.
»Ramses! Komm sofort wieder her! Ich weiß, dass du mich hörst!«
Der Hamster samt Partner war verschwunden, vermutlich geflüchtet in eines der Restaurants. Der Uhu drehte demonstrativ noch eine Runde über dem Platz, bevor er auf dem Arm seiner Partnerin landete und sofort festgeschnallt wurde. Die Frau sah sich um, erkannte, dass sie von allen Seiten angestarrt wurde, und rannte davon.
Um dem Klischee treu zu bleiben, dass die Leute, die am nächsten am Treffpunkt wohnten, später ankamen als alle anderen, trat Pia um 18:06 Uhr aus der Straßenbahn. Ihr grün-kariertes Hemd fiel locker über die Jeans und sie trug lässig eine Bauchtasche über der Schulter.
Ich hob meine Hand, um zu winken, aber Pia hatte mich bereits entdeckt und kam auf uns zu.
Während ich noch überlegte, welche Begrüßung am angemessensten war, umarmte sie mich schon. Sie roch nach Orangen und ihre Haare kitzelten mich an der Wange.
»Sorry, dass ich spät dran bin. Die Bahn stand zwanzig Minuten irgendwo im Nichts rum.« Nun gut, vielleicht war auch die niederländische Bahn nicht perfekt.
Kitty meckerte und schielte skeptisch zu Pia hoch.
»Lass dich von ihr nicht stören«, sagte ich. »Ich hoffe, wir haben euren Tagesplan mit unserem Fund heute Morgen nicht durcheinandergebracht.« Wir liefen los in Richtung Museum. Unsere Schultern berührten sich immer dann, wenn wir jemandem ausweichen mussten.
»Ich hoffe eher, die Leiche hat dich nicht so verschreckt, dass du das Land verlässt. Aber da du noch hier bist, nehme ich das Mal als gutes Zeichen.«
»Keine Sorge, von sowas lasse ich mich nicht aus der Fassung bringen.«
Vor dem Museum hatte sich eine kurze Schlange gebildet. Wie es sich für ein erstes Date gehörte, unterhielten wir uns über unsere Familienangehörigen. Meine zwei Schwestern kamen auf Gleichstand mit Pias Brüdern und Kitty konkurrierte mit dem Fuchs ihres Bruders.
Eine Glaskuppel, durch die die Besucher die vorbeiziehenden, weiß-grau-gefleckten Wolken beobachten konnten, bildete die Decke der Eingangshalle des Magiemuseums. Der Raum wirkte hell und modern, das Gegenteil von dem, was ich angesichts der alten Hausfront erwartet hatte.
»Zwei Erwachsene, ein Seelentier«, sagte Pia und bezahlte, bevor ich reagieren konnte.
Die Kassiererin schielte über den Tresen zu Kitty, die neben mir stand und zu ihr hochblinzelte. »Stadtschein?«
Ich hielt ihr die Karte hin. Seit ich sie in Deutschland einmal vergessen hatte und zur Kontrolle aufs Revier musste, verstaute ich sie immer griffbereit. Die Kassiererin tippte etwas in ihren Computer und aus dem Gerät neben ihr kamen drei Karten, die sie Pia reichte. »Für den Rundgang einfach den Pfeilen folgen.«
Vor der Karte des Museums hielten wir inne. Sie zeigte drei Stockwerke mit jeweils mehreren Räumen. Hier konnten Besucher sich problemlos den ganzen Tag aufhalten. Ich wollte einen Seitenschritt machen, um direkt neben Pia zu stehen, aber Kitty drängelte sich dazwischen. Ich atmete tief ein, um ein Seufzen zu unterdrücken.
»Was schulde ich dir?«, fragte ich.
Pia lächelte. »Nichts.«
Sie hielt mir die Hand hin und ich ergriff sie. Ich spürte meine Wangen rot werden und war froh, dass ich gerade nichts gegessen hatte, denn mein Magen vollführte einen Salto.
Pias bestimmter Griff gefiel mir, und dass sie mich um einige Zentimeter überragte ebenfalls. Ich spürte Kittys Blicke auf mir, aber damit musste sie jetzt leben. Das hier war schließlich mein erstes Date seit Anne.
Wir folgten dem Rundgang-Pfeil und betraten den ersten Raum – eine Reise in die Antike. In der Mitte stand eine Säule, die auch im Kolosseum nicht fehl am Platz gewirkt hätte. Statuen schmückten die Wände und die Kästen mit den ausgestellten Gegenständen, als wären wir im alten Rom. Auch die Beleuchtung und sogar die Hintergrundgeräusche passten zur Kulisse. Menschen riefen in Griechisch, Pferde schnaubten, Stein wurde gemeißelt.
»Antike, was?« Pia hatte die erste Infotafel durchgelesen, während ich mich noch versicherte, dass Kitty nicht einfach abhaute. Doch sie beschäftigte sich mit den Ausstellungsstücken nahe am Boden: Statuen und Geruchsproben für die Seelentiere.
»Sieht so aus«, sagte ich und wandte mich wieder Pia und den Exponaten zu.
Die Seelentiere, von denen der Raum erzählte, waren hauptsächlich Pferde, Ochsen, gelegentlich Vögel und die wilden Vorgänger moderner Hunde.
»Nicht schlecht.« Pia deutete auf die Statue eines Ochsen zusammen mit seinem Seelenpartner. »Die beiden konnten das Wetter vorhersagen, wenn der Ochse lange genug in den Himmel gestarrt hat.«
»Bestimmt nützlich für damals.«
Wir gingen in den nächsten Raum, in dessen Mitte ein Scheiterhaufen stand. Im Hintergrund knisterte Feuer, an den Wänden flimmerte ein wütender Mob.
Also kamen wir doch noch zu den Hexenverbrennungen. Damals hatte jeder schon Haustiere als Seelentiere gemieden wie die Pest. Wer eine Verbindung mit einem Nutztier einging, war dem Tod geweiht. In dieser Zeit hatte Holly gelebt, die heute jedes Kind kannte. Holly, die eine Verbindung mit einer Schneeeule eingegangen war. Akademiker betrachteten die Geschichte allerdings eher wie einen Mythos, und damit als genauso real wie Adam und Eva.
Wir umrundeten den Scheiterhaufen und kamen zu der Inquisition und ihren Foltermethoden, über die ich mich schon ausführlich im Foltermuseum informiert hatte. »Wusstest du, dass es damals den Glauben gab, dass Hexen alle möglichen Haushaltsgeräte mit einer Flugsalbe einrieben, um sie zum Fliegen zu bringen?«
Pia löste ihren Blick von der grausigen Malerei einer gefolterten Frau an der Wand. Ich wartete auf den Blick, der mir sagte, dass eigenartiges Wissen mir keine Pluspunkte einbrachte, aber sie hob nur die Augenbrauen. »Flugsalbe?«
»Um zum Hexensabbat zu kommen.« Ich deutete auf den Scheiterhaufen und wollte gerade ausführen, dass jemand im Mittelalter eigentlich schon tot war, sobald er in die Folterkammer geführt wurde. Aber ein Schrei unterbrach mich. Er kam aus dem nächsten Raum.
Pia ließ meine Hand los und rannte hin.
»Eindeutig Polizistin.« Ich seufzte und Kitty meckerte.
Die Menschen um uns herum erstarrten für einen Moment, sahen einander an, beobachteten das Geschehen und überlegten anscheinend, ob sie dem Schrei folgen oder lieber in die andere Richtung flüchten sollten.
Ich folgte Pia in den nächsten Raum, in dessen Mitte sich ein Schiff befand. Amsterdam in seiner Anfangszeit, zu erkennen an den historischen Häuserfronten, die an der Wand entlang nachgestellt waren.
Inmitten einer Ansammlung von Menschen standen sich eine Schlange und der Hamster von vorhin gegenüber wie in einem Pokémon-Kampf.
Pia versuchte, den völlig aufgelösten Hamster-Partner zu beruhigen, während sie die Seelentiere im Auge behielt.
Kitty machte einen Schritt nach vorn. Ich wusste, dass sie keine Nerven für Kleintiergezicke hatte, aber manche Magie war unberechenbar. Und der Hamster hüpfte umher, als hätte er ein Ass im Ärmel. Daher hielt ich eine Hand nach unten. Kitty hielt inne.
Die Schlange war eine Äskulapnatter. Eine Würgeschlange, ungiftig, circa ein Meter sechzig lang, graubraune Färbung. Der Feldhamster hatte einen braun gefärbten Rücken und einen schwarzen Bauch mit weißen Punkten an der Seite. Er führte sich auf wie auf Ecstasy, hüpfte herum und umrundete die Schlange. Die beobachtete ihn nur und wackelte mit der Zunge.
Wo war der Partner der Schlange? Kurz wünschte ich mich wieder in mein Heimatdorf zurück, wo ein Kampf zwischen zwei Seelentieren als Ereignis des Jahrzehnts in die Geschichtsbücher einging. In der Stadt handelte es sich dabei anscheinend um etwas Alltägliches.
Die Schlange schoss nach vorn und schnappte nach dem Hamster. Der riss das Maul auf und – sein Schrei übertönte alles. So laut wie Sirenen und so durchdringend wie das Kratzen auf einer Tafel. Ich hielt mir die Ohren zu und konnte nur zusehen, wie die Schlange sich aufbäumte und paralysiert zur Seite kippte.
Ich musste mich zwingen, meine Beine zu bewegen. Der Schrei des Hamsters musste verdammt stark sein, wenn er sogar auf Menschen Auswirkungen hatte. Und das bei einem so kleinen Seelentier … Da fielen mir einige realisierbare Schauerszenarien ein, nicht zuletzt Kidnapping oder Terrorattacken. Gerade vor allem sehr schlecht für die Schlange. Sie lag da wie ein Stock, den jemand vergessen hatte. Kurz machte ich mir Sorgen, dass sie den Anschlag nicht überlebt hatte, doch dann bewegte sich ihre Zunge und sie zischelte verärgert.
Der Hamster wackelte mit dem Hinterteil und rannte im Kreis herum, als vollführte er einen wilden Siegestanz.
Pia erholte sich als Erste von dem Schrei und schnappte nach dem Hamster, aber er war zu schnell und entwischte zwischen den Beinen der Umstehenden hindurch in den nächsten Raum. Pia blickte ihm kurz nach, doch dann kniete sie sich zu der Schlange. »Zu wem gehört dieses Tier?« Ihre Stimme füllte den Raum aus, doch niemand reagierte.
Kitty dagegen lief los, ich hinterher. Der Hamster sauste schneller davon, als ich erwartet hatte. Dass das Museum voll war, half auch nicht, aber Kitty störte das nicht. Wer ihr nicht schnell genug aus dem Weg hüpfte, hatte Pech und später einen blauen Fleck am Bein.
Der Hamster versuchte gerade, auf die Statue eines Löwen zu klettern, rutschte aber an der glatten Oberfläche ab. Er drehte sich um, sah uns und öffnete schon den winzigen Mund.
Kitty rammte ihn mit dem Kopf, der Hamster drehte ein paar Purzelbäume in der Luft, bevor er landete und ich mich vor ihm auf den Boden werfen konnte. Ich packte ihn, hielt ihn fest und versuchte seine Zähne von meinen Fingern fernzuhalten. Mit mäßigem Erfolg.
»Shit.« Kurz überlegte ich, ob man Hamster wie Katzen am Nacken packen konnte, da hielt Pia mir schon einen Hamsterkäfig hin und ich schmiss das Tier förmlich rein.
»Wo hast du den denn so schnell aufgetrieben?« Ich stand auf und begutachtete die Bisswunde an den Fingern. Gut, dass ich vor meinem Umzug alle Impfungen aufgefrischt hatte.
»Vom Partner.« Durch die Locken, die ihr ins Gesicht fielen, betrachtete sie den randalierenden Hamster.
Besagter Partner kam herangeschlurft. Er war blass und völlig durcheinander. »Vielen Dank.« Er nahm den Käfig entgegen und starrte ihn an, als wäre darin der Geist seiner Vorfahren eingeschlossen. Vielleicht spielten da wirklich ein paar illegale Substanzen mit rein. Aber das ging mich zum Glück nichts an. Dachte ich jedenfalls, bis mein Date den Zwischenfall zu ihrem Problem machte.
Pia griff den Mann am Arm und zog ihn weg von der starrenden Menge, die danach ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete. Ich war starrende Menschen gewöhnt, also stellte ich mich einfach an die Seite, holte mein Mini-Erste-Hilfe-Set aus dem Rucksack und verarztete die Bisse. Kitty stupste mir mit dem Kopf ans Bein. Ich wusste, was sie mir sagen wollte. Hätte ich sie gleich eingreifen lassen, wäre ich nicht verletzt worden.
»Du weißt, dass das zu gefährlich gewesen wäre.«
Sie meckerte und schmiegte sich an mein Bein.
»Wäre der Sicherheitsdienst zur Stelle gewesen, hätte ich gar nicht einzugreifen brauchen. Aber ich seh keinen.« Während ich darüber nachdachte, fand ich das ziemlich ungewöhnlich. Vielleicht war er in einem anderen Teil des Museums beschäftigt.
Jedenfalls saß ich ohne Date da. Ich seufzte. »Das lief ja super.«
Kitty meckerte zufrieden.
»Du kennst sie doch noch gar nicht, wie kannst du sie denn jetzt schon nicht mögen?«
Ich wartete noch eine Weile, dann erkundete ich allein den Rest des Museums. Kitty und ich verbrachten ein paar informative Stunden dort.
Ich begutachtete gerade am Ende des Rundgangs eine Tafel voller moderner Seelentiere mit deren Partnern, da vibrierte mein Handy. Eine Nachricht von Pia.
Tut mir leid, dass ich so plötzlich verschwunden bin. Ich musste mich um die beiden Tiere kümmern und selbst aussagen. Es tut mir echt leid, können wir uns nochmal treffen? Nächstes Mal mische ich mich auch nicht in Kämpfe ein, versprochen!
Kitty meckerte.
»Jetzt gib ihr doch mal ‘ne Chance.« Ich atmete einmal tief durch. Das erste Treffen neben einer Leiche, das zweite endete in einem Seelentier-Kampf. Das schienen mir keine guten Zeichen für eine erfolgreiche Beziehung. Oder – genau die richtigen. Außerdem hatte Pia mich bisher nicht ein einziges Mal komisch angesehen oder abwertende Bemerkungen über meinen Stil gemacht. Und ich konnte nicht leugnen, dass ich Pia durchaus attraktiv fand.
Ich tippte: Kein Problem. Lass uns das nächste Mal vielleicht alleine an einem ruhigen Ort treffen ;)
Die Tulpen blühten weiß, orange, rot und rosa nebeneinander, die Blütenpracht füllte die breite Fläche zwischen Kanal und Mühle aus.
»Hier bleiben.«
Kitty meckerte, kam aber aus dem Tulpenbeet, in dem sie schon halb stand, und lief die nächsten zehn Meter brav neben mir her, bevor sie wieder vom Weg abwich.
Ich machte ein paar Fotos – von Kitty, den Tulpen, und der Mühle. Alles sah so hübsch aus, und ich wirkte auf diese Weise wie eine waschechte Touristin und konnte so lange in der Umgebung herumstarren, wie ich wollte.
Bisher kam mir hier in der Nähe der Mühle nichts ungewöhnlich vor. Auf dem Kanal schipperte eine kleine Yacht, deren Insassen sich an Deck drängten und Fotos schossen. Zwei Fahrradfahrer fuhren an uns vorbei, ein Stück vor uns ging ein Pärchen mit seinem Dackel spazieren, und gerade überholte uns eine joggende Frau mit Kinderwagen.
Die Mühle thronte in der Ferne, als bewachte sie das Feld. Der obere Teil bestand aus dunkelblau gestrichenem Holz, der untere aus grauem Stein. Das Ganze wirkte etwas zu modern, um schon verflucht zu sein, aber vielleicht war das auch ein Neubau auf einer alten Mühle.
Wir schlenderten an den pinken Tulpen vorbei, und ich stoppte für Fotos, weil die Farbe so schön mit Kittys schwarzem Fell harmonierte.
An der Mühle hing keine Infotafel, wie ich gehofft hatte, denn das Internet hatte nichts hergegeben. Zwar war sie online verzeichnet, aber da hörten die Informationen auf. Kein Name, kein Baudatum, nicht mal, um welche Art von Mühle es sich handelte. Ich erkannte zumindest, dass sie ein Galerieholländer war. Die Galerie in der Mitte bot sicher einen tollen Ausblick.