Angewandte Kognitionspsychologie - Jan Rummel - E-Book

Angewandte Kognitionspsychologie E-Book

Jan Rummel

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Beschreibung

Das Lehrbuch widmet sich klassischen und neueren Anwendungsfeldern der Kognitionspsychologie und beleuchtet diese aus einer grundlagenwissenschaftlichen Perspektive. Behandelte Themen sind u. a. optimales Lernen, Augenzeugengedächtnis, Multitasking im Alltag, Kompatibilitätsphänomene beim Werkzeuggebrauch, Umgang mit Falschinformationen und Trainierbarkeit von kognitiven Fähigkeiten. Ziel des Buches ist es, eine Brücke zwischen Grundlagen und Anwendung zu schlagen, indem aufgezeigt wird, wie vielfältig die Erkenntnisse aus der kognitiven Grundlagenforschung bereits heute in der Praxis genutzt werden und in welchen Bereichen diesbezüglich noch Potential zu vermuten ist.

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Inhalt

Cover

Titelei

1 Einleitung

1.1 Was ist »Angewandte Kognitionspsychologie«?

1.1.1 Das (vermeintliche) Spannungsfeld von Grundlagen- und Anwendungsforschung

1.1.2 Was ist Angewandte Kognitionspsychologie (nicht)

1.1.3 Zielsetzungen des vorliegenden Buches

1.2 Methodische Vorüberlegungen

1.2.1 Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen

1.2.2 Experimentelle Versuchspläne und deren statistische Auswertung

1.2.3 Die Frage nach der Validität der empirischen Untersuchung

1.2.4 Die Frage nach der Repräsentativität der Stichprobe

1.3 Überblick über die Inhalte des Buches

2 Lernen und Gedächtnis

2.1 Relevante Grundlagen

2.1.1 Gedächtnistheorien und -systeme

2.1.2 Messung von Gedächtnisleistung

2.2 Beispiele anwendungsorientierter Forschung

2.2.1 Gedächtnisleistung in Lehr-Lern-Kontexten

2.2.2 Autobiographisches Gedächtnis

2.2.3 Prospektives Gedächtnis

2.2.4 Augenzeugengedächtnis

2.2.5 Gedächtnisstörungen und Gedächtnistraining

2.3 Abschließende Bemerkungen

3 Aufmerksamkeit und Handeln

3.1 Relevante Grundlagen

3.1.1 Handlungsauswahl, Ideomotorik und Kompatibilitätseffekte

3.1.2 Wahrnehmung, selektive Aufmerksamkeit und visuelle Suche

3.1.3 Geteilte Aufmerksamkeit und Multitasking

3.2 Beispiele anwendungsorientierter Forschung

3.2.1 Kompatibilitätseffekte in Anwendungsfeldern

3.2.2 Radiologie und Gepäckkontrollen als Anwendungsbeispiele visueller Suche

3.2.3 Multitasking in angewandten Kontexten

3.3 Abschließende Bemerkungen

4 Schlussfolgern, Urteilen und Entscheiden

4.1 Relevante Grundlagen

4.1.1 Rationalität und logisches Schließen

4.1.2 Denkfehler und Heuristiken

4.2 Beispiele anwendungsorientierter Forschung

4.2.1 Schlussfolgern im Alltag: Fehlinformationen und Selbsttäuschung

4.2.2 Umgang mit Fehlinformationen

4.2.3 Irrglaube

4.2.4 Urteilen und Entscheiden in Alltag und Beruf: Beispiele aus der juristischen und medizinischen Praxis

4.3 Abschließende Bemerkungen

5 Abschließende Überlegungen

5.1 Angewandte Kognitionspsychologie: Ein Fach mit zwei Forschungsperspektiven?

5.2 Kognitionspsychologie im öffentlichen Interesse

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Die Autoren

Prof. Dr. Jan Rummel, Arbeitsgruppe Allgemeine Psychologie und Kognitive Selbstregulation an der Universität Heidelberg. Jan Rummel ist seit 2019 Professor für Allgemeine Psychologie und Kognitive Selbstregulation an der Universität Heidelberg. Davor forschte und lehrte er an der Universität Marburg, der Furman University, Greenville, South Carolina (USA) und der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Grundlagenbereichen Aufmerksamkeitskontrolle, Langzeitgedächtnis und zukunftsgerichtete Kognition. Zudem beschäftigt er sich mit angewandten Fragestellungen in diesen Bereichen, wie etwa den psychologischen Faktoren des erfolgreichen Textverständnisses oder des Pro-Klima-Handelns.

Prof. Dr. Markus Janczyk, Arbeitsgruppe Psychologische Forschungsmethoden und Kognitive Psychologie an der Universität Bremen. Markus Janczyk studierte Psychologie an der Universität Halle-Wittenberg und der University of Nevada at Reno (USA). Nach weiteren Stationen in Dortmund, Würzburg und dem schönen Tübingen, ist er derzeit Professor für Psychologische Forschungsmethoden und Kognitive Psychologie an der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Handlungssteuerung, Multitasking und Sprachverstehen sowie Methoden der mathematischen Modellierung kognitiver Prozesse.

Jan RummelMarkus Janczyk

Angewandte Kognitionspsychologie

Ein Lehrbuch

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-42015-1

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-42016-8epub: ISBN 978-3-17-42017-5

1 Einleitung

1.1 Was ist »Angewandte Kognitionspsychologie«?

Für viele Psychologiestudierende und auch für diejenigen, die es einmal waren oder vielleicht werden wollen, stehen die Begriffe »Anwendung« und »Kognitionspsychologie« scheinbar in einem direkten Widerspruch zueinander. Dies mag mit dem traditionellen Selbstverständnis von Forscherinnen und Forschern in den Grundlagenfächern zu tun haben, welches historisch über die letzten 70 Jahre primär durch die Vorstellung geprägt wurde, dass sich die Wissenschaft frei und unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Interessen entfalten können sollte, also auch frei von jedem Anspruch auf Anwendbarkeit sein kann. Was zählt, ist der Erkenntnisfortschritt. Als Grundlagenforscher vertreten auch wir diese Auffassung und sind der Meinung, dass grundlagenorientierte Forschung, in unserem Fall im Bereich der Kognitionspsychologie, als solche ihre Berechtigung hat und einen wichtigen Bestandteil der Wissenschaftsdisziplin Psychologie darstellt. Wir wollen mit diesem Buch aber nichtsdestotrotz aufzeigen, dass Grundlagenforschung und deren Anwendung weniger als Widerspruch, sondern vielmehr als komplementäre Aspekte des wissenschaftlichen Fortschritts aufgefasst werden können.

In Kapitel 1 werden wir zunächst das (vermeintliche) Spannungsfeld zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung kurz historisch aufarbeiten und dann einige methodische Grundlagen der Kognitionspsychologie dahingehend beleuchten, inwieweit sie für eine Angewandte Kognitionspsychologie von besonderer Bedeutung sein könnten. Wir hoffen, dass wir unsere Leserinnen und Leser dabei davon überzeugen können, dass Erkenntnisse der kognitionspsychologischen Grundlagenforschung auch aus einer Anwendungsperspektive interessant und informativ sein können.

1.1.1 Das (vermeintliche) Spannungsfeld von Grundlagen- und Anwendungsforschung

Traditionell standen (und stehen für einige Personen auch heute noch) grundlagenorientierte und angewandte Forschung in vielen Teilen der wissenschaftlichen Welt in einer Art Spannungsverhältnis zueinander. Historisch geht diese Trennung stark auf Vannevar Bush, einen ehemaligen Direktor des amerikanischen Ministeriums für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, zurück. Dieser wurde nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs vom damaligen amerikanischen Präsidenten aufgefordert ein Konzept zu entwickeln, das die Rolle der Wissenschaft für die Gesellschaft in Friedenszeiten definiert. In seinem Bericht grenzte Bush den wissenschaftlichen Fortschritt klar vom technologischen Fortschritt ab, indem er betonte, dass Grundlagenforschung ohne Gedanken an ihre praktische Nutzbarkeit betrieben werden müsse (Bush & Holt, 1945). Bushs Ziel war es, eine Forschungslandschaft nach dem Humboldt'schen Ideal der Freiheit für Forschung in den USA zu etablieren und zu institutionalisieren. Inspiriert durch Bushs Bericht wurde 1950 die National Science Foundation (NSF) gegründet, die bis heute das primäre Ziel hat, exzellente Grundlagenforschung zu identifizieren und finanziell zu fördern, ohne dabei die mögliche Verwertbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Blick zu nehmen.

Mehr als 50 Jahre nach Erscheinen des Berichts von Bush und Holt (1945), nahm das Frascati-Handbuch der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der die meisten europäischen Länder, aber auch Australien, Chile, Costa Rica, Großbritannien, Israel, Kanada, Mexiko, Neuseeland, Japan, Südkorea, die USA und mehrere weitere Länder, angehören, eine ähnliche Abgrenzung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung vor (OECD, 2002). Nach Vorstellung der OECD ziele die Grundlagenforschung auf ein besseres beziehungsweise tieferes Verständnis weltlicher Phänomene ab. Die Forschungsinhalte seien oft abstrakt und die Forschung selbst sei motiviert durch die Neugierde der forschenden Personen. Die Grundlagenforschung baue inkrementell auf bestehendem Wissen auf. Ein erfolgreiches grundlagenwissenschaftliches Forschungsprogramm zeichne sich entsprechend dadurch aus, dass es ein besseres Verständnis bestimmter weltlicher Phänomene bewirkt habe. Die angewandte Forschung hingegen ziele auf die praktische Nutzbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse ab. Die Forschungsinhalte seien konkret und die Forschung selbst sei motiviert durch aktuelle gesellschaftliche Probleme, die es zu lösen gelte. Die angewandte Forschung baue auf dem aktuellen technologischen Stand auf. Erfolgreiche Anwendungsforschung zeichne sich entsprechend dadurch aus, dass sie technische Neuerungen oder gesellschaftliche Verbesserungen bewirke (siehe auch Falk, 1973).

Auch in der deutschen Forschungslandschaft hat die Kontrastierung der Grundlagen- und Anwendungsforschung eine lange Tradition. Gerade in der Nachkriegszeit wurde die grundlagenwissenschaftliche Forschung vor allem in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland nach dem Humboldt'schen Bildungsideal als »frei« idealisiert und von der Anwendungsforschung abgegrenzt, die oft mit wirtschaftlicher oder industrieller Auftragsforschung gleichgesetzt wurde (vgl. Lax, 2015). Diese »Aufwertung« der Grundlagen- gegenüber der Anwendungsforschung prägte lange Zeit das Selbstverständnis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland, die sich häufig als Grundlagenforscherinnen und -forscher verstanden wissen wollten. Auch die Wissenschaftspolitik und die wissenschaftliche Förderlandschaft in Deutschland wurden durch die traditionelle Trennung von Grundlagen- und Anwendungsforschung geprägt. Ein substantieller Anteil des Förderetats deutscher Steuergelder, der jährlich für Grundlagenforschung bereitgestellt wird, wird seit 1951 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) verwaltet, die als gemeinnütziger Verein auf Basis eines Peer-Review-Verfahrens auch entscheidet, welche Forschungsvorhaben gefördert werden und welche nicht. Die DFG fördert aktuell, laut ihrer Satzung vom April 2023, explizit »Forschung von höchster Qualität. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Förderung von aus der Wissenschaft selbst entwickelten Vorhaben im Bereich der erkenntnisgeleiteten Forschung« (DFG, 2023, §1‍(1)), also im Bereich der Grundlagenforschung.

Es gibt jedoch auch zur strikten Trennung von Grundlagen- und Anwendungsforschung alternative Sichtweisen. So schlug Stokes (1997) vor, Grundlagen- und Anwendungsforschung nicht als zwei Pole eines Kontinuums zu betrachten, sondern vielmehr als zwei orthogonale Dimensionen (▸ Abb. 1.1). Nach Stokes gibt es entsprechend nicht eine einzelne Dimension, auf der Forschungsprogramme sich verorten lassen, sondern es resultieren vier Quadranten aus der Kombination zweier Dimensionen. Um die Verortung vorzunehmen, lassen sich unabhängig voneinander zwei Fragen an ein Forschungsprogramm stellen, die jeweils mit ja oder mit nein beantwortet werden können. Diese lauten:

(1)

Hat die Forschung direkte Relevanz für Anwendung?

(2)

Hat die Forschung Relevanz für Fortschritt im Grundlagenwissen?

Abb. 1.1:Die vier Quadranten zur Charakterisierung von Forschungsprogrammen nach der Konzeptualisierung von Stokes (1997).

Forschung, die in den linken oberen Quadranten fällt, ist laut Stokes (1997) reine Grundlagenforschung. Stokes bezeichnet diesen Quadranten als den »Bohr-Quadranten«, da für den Physiker Niels Bohr, zum Beispiel bei der Entwicklung seines Atommodells (vgl. Bohr, 1921), der reine Erkenntnisgewinn im Mittelpunkt stand und er sich (soweit sich das historisch rekonstruieren lässt) keinerlei Gedanken über die praktische Nutzbarkeit seiner Erkenntnisse machte. Dies illustriert aber auch, dass ein rein grundlagenwissenschaftlicher Forschungsansatz nicht ausschließt, dass andere Forscherinnen und Forscher die Erkenntnisse der zunächst rein grundlagenwissenschaftlichen Forschung später in verschiedenster Weise für die praktische Anwendung nutzbar machen können.

Forschung, die in den rechten unteren Quadranten fällt, ist reine Anwendungsforschung. In Anlehnung an den Erfinder der Glühlampe, Thomas Edison, bezeichnet Stokes diesen Quadranten als den »Edison-Quadranten«. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen arbeitete Edison in dem ersten von der Industrie finanzierten Forschungslabor in Menlo Park, New Jersey (USA), an der Forschungsfrage, wie man amerikanische Haushalte wirtschaftlich profitabel mit elektrischem Licht versorgen könnte. Bei der Patentierung der Glühlampe im Jahr 1883, beschrieben Edison und sein Team den sogenannten glühelektrischen Effekt, das Phänomen, dass der Draht in der Glühlampe um den positiven Pol herum blau leuchtet und um den negativen Pol herum schwarz anläuft. Dieses Phänomen war durch die damals vorherrschenden physikalischen Theorien nicht erklärbar, was Edison aber angeblich nicht weiter interessierte. Erst mehrere Jahre später, im Jahre 1897, konnte der Physiker J. J. Thomson diesen Effekt erklären, indem er die Existenz subatomarer Teilchen, der sogenannten Elektronen, postulierte (vgl. Smith, 1997). Auch an diesem Beispiel sieht man, dass die reine Anwendungsforschung durchaus in einem wechselseitigen Verhältnis zur Grundlagenforschung steht, also zum einen auf deren Erkenntnissen aufbaut, aber auch neue Phänomene hervorbringen kann, die eventuell zur Modifikation von bestehendem Grundlagenwissen führen können.

Es resultiert aber nach Stokes (1997) noch ein weiterer wichtiger Quadrant, nämlich derjenige, der oben rechts in Abbildung 1.1 zu finden ist. Stokes bezeichnet diesen Quadranten als den »Pasteur-Quadranten«, da Louis Pasteur laut den entsprechenden historischen Berichten in seiner Forschung stets ein tieferes Verständnis weltlicher Phänomene zum Ziel hatte, ohne dabei die praktische Nutzbarkeit seiner Erkenntnisse außer Acht zu lassen. Für Forschung, die in diesen Quadranten fällt, gilt: Phänomene und Probleme, die aus »Anwendungsfällen« resultieren beziehungsweise dort erkannt werden, werden vor dem Hintergrund von Grundlagenerkenntnissen behandelt und mit Methoden der Grundlagenforschung analysiert und im Idealfall gelöst. Man könnte hier von anwendungsorientierter Grundlagenforschung (engl. use-inspired basic research) sprechen.

Schließlich zeichnet sich Forschung, die in den Quadranten links unten fallen würde, dadurch aus, dass sie weder einen grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisbeitrag leistet noch eine technische oder gesellschaftliche Innovation darstellt. Sie kann eventuell neue Fragen aufwerfen, beantwortet aber keine Fragen und liefert auch keine Lösungen für bekannte Probleme. Stokes (1997) bezeichnet diesen Quadranten daher als den Quadranten der naiven Neugierde. Jeremy Wolfe, der Gründungsherausgeber der Zeitschrift Cognitive Research: Principles & Implications, bezeichnete diesen Quadranten mit einem Augenzwinkern als »the sad place« oder auch »the place you do not want to be« (Wolfe, 2023).

Nach dem Quadrantenkonzept sind also primär die Forschungsziele, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre eigene Forschung definieren, verantwortlich dafür, in welchem Quadranten ein Forschungsprogramm zu verorten wäre. Laut Stokes (1997) hat aber die Akzeptanz eines Quadranten für anwendungsorientierte Grundlagenforschung auch direkte gesellschaftliche Implikationen:

Die Abgrenzung der Grundlagenforschung von Bemühungen um gesellschaftlichen Fortschritt muss überwunden werden.

Anwendungsorientierte Grundlagenforschung kann eine wichtige Rolle im Dialog zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Politikerinnen und Politikern einnehmen.

Anwendungsorientierte Grundlagenforschungsprogramme können dann entstehen, wenn ein wissenschaftliches Streben nach neuen/besseren Erkenntnissen in einem bestimmten Forschungsbereich mit einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Neuerung zusammentrifft.

Auch wenn Stokes (1997) Auffassung große Beachtung fand, erscheint aktuell die eindimensionale Sichtweise, mit Grundlagen- und Anwendungsforschung als Extrempole, nach wie vor vorherrschend. Sie wird aber durchaus auch an der einen oder anderen Stelle langsam aufgeweicht. So ist in der aktuellen Auflage des Frascati-Handbuchs der OECD (2015), das auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt, zwar die Trennung von Grundlagen- und Anwendungsforschung weiterhin klar zu erkennen. Die beiden Konzepte werden dort aber durch ein drittes Konzept, die sogenannte experimentelle Entwicklung, komplementiert, die man als praktisch nutzbare Grundlagenforschung verstehen könnte:

»Der Begriff FuE [Forschung und Entwicklung] umfasst drei Tätigkeitsbereiche: Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung. Bei der Grundlagenforschung handelt es sich um experimentelle oder theoretische Arbeiten, die primär der Erlangung neuen Wissens über die grundlegenden Ursachen von Phänomenen und beobachtbaren Fakten dienen, ohne dabei eine bestimmte Anwendung oder Nutzung im Blick zu haben. Bei der angewandten Forschung handelt es sich um originäre Arbeiten, die zur Aneignung neuen Wissens durchgeführt werden, aber primär auf ein spezifisches praktisches Ziel oder Ergebnis ausgerichtet sind. Bei der experimentellen Entwicklung handelt es sich um systematische, auf vorhandenen Kenntnissen aus Forschung und praktischer Erfahrung aufbauende und ihrerseits zusätzliches Wissen erzeugende Arbeiten, die auf die Herstellung neuer Produkte oder Verfahren bzw. die Verbesserung existierender Produkte oder Verfahren abzielen.« (OECD, 2018, Seite 29).

Auch wenn das Konzept der experimentellen Entwicklung sich wiederum primär auf eine Grundlagenforschung bezieht, die gleichzeitig technologische Innovationen zum Ziel hat und nicht unbedingt Anwendungsforschung im Allgemeinen, ist hier doch erkennbar, dass die strikte Trennung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung aufgegeben wurde.

Auch die National Academy of Sciences, die die US-Regierung bei wissenschaftlichen Fragen berät, hat in ihrem jüngsten, gemeinsam mit der Academy of Engineering und der Academy of Medicine verfassten Bericht darauf hingewiesen, dass neben der Forderung nach der unbedingten Freiheit der Forschenden bei der Wahl ihres Forschungsgegenstands auch ein sozialer Vertrag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft dahingehend bestünde, dass die Wissenschaft im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung bemüht sein sollte, gesellschaftlichen, ökonomischen oder medizinischen Nutzen zu generieren (National Academies of Sciences, 2020).

Im Sinne von Stokes (1997) wäre es wünschenswert, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich auch zu gesellschaftlichen Fragen und Problemen äußern, sofern sie etwas Substantielles zum Sachverhalt beitragen können. In Deutschland berät der Wissenschaftsrat als feste Institution die Regierung in wissenschaftspolitischen Fragen. Die Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) wiederum bearbeitet unabhängig von Politik und Wirtschaft gesellschaftliche Fragen aus einer wissenschaftlichen Sicht und vermittelt ihre Ergebnisse an die Politik und die Öffentlichkeit. Verschiedene wissenschaftliche Interessensgemeinschaften wie etwa die Helmholtz-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft, die nach ihrem Selbstverständnis primär exzellente Grundlagenforschung vorantreibt, verfassen regelmäßig Stellungnahmen, in denen das wissenschaftliche Selbstverständnis dargelegt wird. Zudem fungieren verschiedene Interessensverbände (für die Psychologie etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychologie; DGPs) als Ansprechpartner für die Politik und vermitteln zum Beispiel Expertinnen und Experten für die Erstellung von Gutachten an politische Entscheidungsgremien. Eine wissenschaftliche Beratung der Politik im Umgang mit gesellschaftlichen Fragen ist jedoch in Deutschland immer noch deutlich weniger fest institutionalisiert als in anderen Ländern. In Großbritannien gibt es etwa klare Bestrebungen, die Beratung der Politik durch die Wissenschaft zu institutionalisieren, wie am Beispiel der während der Corona-Pandemie eingerichteten Scientific Advisory Group of Emergencies (SAGE) deutlich wird.

Ein übergeordnetes Ziel des vorliegenden Buches ist es aufzuzeigen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen Theorien und Methoden der (grundlagenorientierten) Kognitionspsychologie aktuell genutzt werden oder zukünftig genutzt werden können, um »realen« Phänomenen näher zu kommen, sie zu erklären oder Lösungen für gesamtgesellschaftliche Probleme anzubieten.

1.1.2 Was ist Angewandte Kognitionspsychologie (nicht)

Mit der sogenannten Kognitiven Wende, die sich innerhalb der Psychologie langsam ab zirka dem Jahre 1950 vollzog, fand in der experimentellen Psychologie ein Umdenken statt (Miller, 2003). Viele Forscherinnen und Forscher beschränkten sich in ihrer experimentellen Forschung nicht mehr auf die reine Verhaltensbeobachtung, sondern versuchten, mit experimentellen Methoden Rückschlüsse auf die hinter dem beobachtbaren Verhalten liegenden Kognitionen zu ziehen. Ab diesem Zeitpunkt ist die Kognitionspsychologie und das ihr zugrundeliegende Wissen stetig weiter angewachsen. Das kognitionspsychologische Wissen ist heute so umfangreich, dass Forscherinnen und Forscher in einem bestimmten Inhaltsbereich eine Expertise entwickeln und oftmals in ihrer Forschung mit anderen Inhaltsbereichen kaum mehr in Berührung kommen. Entsprechend gibt es auch Lehrbücher, die sich ausschließlich einem bestimmten Unterbereich der Kognitionspsychologie (z. B. Lernen und Gedächtnis) widmen.

Im vorliegenden Lehrbuch wird ein anderes Vorgehen gewählt. Es werden mehrere verschiedene Inhaltsbereiche berücksichtigt. Dies hat jedoch zur Folge, dass jeder Inhaltsbereich nicht in seiner vollen Breite abgedeckt werden kann. Konkret werden unter dem Begriff Angewandte Kognitionspsychologie, der titelgebend für das vorliegende Buch ist, in den folgenden Kapiteln verschiedene klassische Inhaltsbereiche der (grundlagenorientierten) Kognitionspsychologie dahingehend beleuchtet, inwieweit die jeweilige Grundlagenforschung einen Beitrag zur Lösung von realen Problemen und zur Beantwortung gesellschaftlicher Fragen verschiedenster Art liefern kann. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf anwendungsorientierte Grundlagenforschung gelegt, also auf Grundlagenforschung, die einen Anwendungsbezug erkennen lässt. Demzufolge fällt Angewandte Kognitionspsychologie unseres Erachtens nach der Stoke'schen (1997) Terminologie in den Pasteur-Quadranten (▸ Abb. 1.1). Es sei an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen, dass Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches keine Zusammenstellung kognitiver Anwendungsforschung erwarten mögen. Forschung, die primär in den Edison-Quadranten fallen würde, wird in diesem Buch nicht berücksichtigt. Vielmehr versuchen wir, die Zusammenhänge zwischen grundlagenorientierter Kognitionspsychologie und einzelnen Anwendungsbereichen – und damit auch die Bedeutung von Grundlagenforschung – hervorzuheben. Entsprechend wird in den drei folgenden Kapiteln 2 – 4 zunächst immer der aktuelle grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisstand gewürdigt, bevor auf Anwendungsaspekte des jeweiligen Inhaltsbereichs vertieft eingegangen wird. Eine ganz ähnliche inhaltliche Struktur hat im Übrigen auch eines der ersten einschlägigen Bücher mit dem Titel Applied experimental psychology. Human factors in engineering designs von Chapanis, Garner und Morgan (1949): Beispielsweise folgen dort dem Kapitel 4 How we see einige Kapitel über Displaygestaltung, Tabellen, Abbildungen oder Warnleuchten und dem Kapitel 10 How we make movements folgen Kapitel, die sich unter anderem mit Kontrollinstrumenten beschäftigen. Die Vorstellung, die Kognitionspsychologie aus einer anwendungsorientierten Perspektive zu betrachten, ist auch für den deutschen Sprachraum keinesfalls neu. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren basierte zum Beispiel Winfried Hacker sein Forschungsprogramm in der Arbeitspsychologie klar auf allgemeinpsychologischer Grundlagenforschung (Hacker, 1979). Eine bereichsübergreifende Zusammenstellung anwendungsorientierter kognitionspsychologischer Forschung gibt es jedoch nach unserem besten Wissen noch nicht.

Auch wenn wir bei der Zusammenstellung der Themen für das vorliegende Buch bemüht waren, eine Themenvielfalt zu gewährleisten, werden die Leserinnen und Leser sicherlich den einen oder anderen Themenbereich vermissen. Die Auswahl der final in diesem Buch berücksichtigten Themen erfolgte sicherlich ein Stück weit subjektiv und geleitet von unseren eigenen inhaltlichen Interessen. Wir orientierten uns zudem bei der Auswahl stark an jüngeren Publikationen, die in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind, die für die anwendungsorientierte Kognitionspsychologie als am einschlägigsten gelten. Dies waren primär die Zeitschrift Applied Cognitive Psychology, die von der Psychonomic Society herausgegebene Zeitschrift Cognitive Research: Principles & Implications sowie die von der American Psychological Association herausgegebenen Zeitschriften Journal of Experimental Psychology: Applied und Journal of Applied Research in Memory and Cognition.

1.1.3 Zielsetzungen des vorliegenden Buches

Eines unserer Hauptziele beim Verfassen des vorliegenden Buches war es herauszuarbeiten, dass die Kognitionspsychologie – die zumindest unter einigen der Studierenden an den verschiedenen deutschen Universitäten, an denen wir bereits tätig waren, als trocken und alltagsfern aufgefasst wird – Antworten auf wichtige gesellschaftliche Fragen liefern kann und Phänomene und Probleme aus angewandten Kontexten vor dem Hintergrund kognitionspsychologischer Theorien besser verstanden und behoben werden können. Eventuell fühlt sich die eine Studentin oder der andere Student durch die Lektüre des Buches ja sogar inspiriert, sich vertiefter mit entsprechender Literatur zur Angewandten Kognitionspsychologie und deren Grundlagen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus erleb‍(t)‌en wir immer wieder den Wunsch »nach mehr Anwendungsbezug« in der Lehre und glauben mitunter eine allgemeine Tendenz »weg von den Grundlagen« zu erkennen. Wir halten eine derartige Tendenz für nicht zielführend und glauben vielmehr, wie bereits in diesem Kapitel angeklungen ist, dass gute angewandte Forschung nicht ohne solide und gesicherte Kenntnisse aus der Grundlagenforschung auskommen kann. Insofern muss die Grundlagenforschung in der Psychologie immer ein zentraler Bestandteil der Forschung und der Lehre in psychologischen Studiengängen bleiben und kann nicht zugunsten genuin angewandter Fächer dezimiert werden. Dabei muss gute Grundlagenforschung nicht im Widerspruch zur Anwendung stehen, sondern kann auch (wie der Pasteur-Quadrant deutlich macht) anwendungsorientiert erfolgen; die Grenze zwischen den beiden Bereichen ist dann auch nicht eindeutig zu ziehen, wenngleich klar ist, dass die Erforschung und Lösung anwendungsorientierter Probleme die Theorien und Methoden der Grundlagenforschung benötigt. Dabei ist die Trennung zwischen Grundlagen und Anwendung gar nicht immer so klar zu ziehen und scheint zudem auch einem gewissen Zeitgeist unterworfen zu sein. So hieß die vom britischen Medical Research Council eingerichtete Sektion für Kognitionsforschung Cognition and Brain Sciences Unit ursprünglich Applied Psychology Unit. Ihre Mitglieder (unter anderem die weltweit bekannten Psychologen Frederic Bartlett, Donald Broadbent und Alan Baddeley) haben aber über die Jahre unabhängig vom Namen der Sektion wegweisende Grundlagenforschung betrieben.

Ein weiteres Ziel des vorliegenden Buches ist es, eine möglichst kompakte Übersicht über den aktuellen Forschungsstand zu gesellschaftlich relevanten Anwendungsbereichen der Kognitionspsychologie zu liefern. Hintergrund hierbei ist, dass in den letzten Jahren vermehrt die Verbreitung nicht-wissenschaftlicher Aussagen als sogenannte alternative Fakten in der breiten Öffentlichkeit zu beobachten war und ist. Zum Teil werden in der Öffentlichkeit und den Medien Aussagen getätigt, für die es (noch) nicht genügend belastbare empirische Evidenz gibt, als dass man sie als empirisch bewährt ansehen könnte. Werden diese Aussagen als vermeintliche wissenschaftliche Fakten kommuniziert, spricht man von pseudowissenschaftlichen Aussagen. Ein jüngeres Beispiel für eine pseudowissenschaftliche Aussage ist die in den Medien verbreitete Hypothese, dass das Aluminium in Antitranspirant-Sprays Alzheimer verursacht; eine Hypothese, für die es nach heutigem Stand keine belastbare empirische Evidenz gibt (Alzheimerforschung, 2019). Während sich pseudowissenschaftliche Aussagen später eventuell noch empirisch bewähren könnten (aber dies oft genug nicht tun), gibt es daneben auch noch die unwissenschaftlichen Aussagen, die in direktem Widerspruch zum aktuellen Forschungsstand stehen. Ein Beispiel hierfür wäre etwa, wenn ein Präsident der Vereinigten Staaten vorschlägt, sich Desinfektionsmittel injizieren zu lassen, um ein Virus abzutöten (BBC, 2020). Dieser Vorschlag steht mit etabliertem medizinischem Wissen in direktem Widerspruch, dass Desinfektionsmittel innerhalb des Körpers nicht wirkt, sondern stattdessen die Organe schädigen kann.

Lilienfeld, Lynn und Lohr (2015) weisen auf drei negative Konsequenzen (Kosten) hin, die die Verbreitung pseudowissenschaftlicher Aussagen mit sich bringt. Die Überlegungen und Beispiele von Lilienfeld et al. beziehen sich primär auf den Bereich der Klinischen Psychologie, lassen sich aber auch auf die Angewandte Kognitionspsychologie übertragen. Zum einen kann es zu direkten Kosten kommen, zum Beispiel wenn eine Maßnahme, die auf Basis pseudowissenschaftlicher Annahmen umgesetzt wird, unerwünschte Nebeneffekte hat. Ein Beispiel wäre ein Medikament, das sich bei gesunden Personen, laut pseudowissenschaftlicher Aussage, zur Steigerung der Konzentrationsleistung einsetzen lässt, aber auch Nebenwirkungen hat (z. B. Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen). Nimmt eine Person dieses Medikament ein, dann ist der eigentlich gewünschte Effekt unwahrscheinlich, aber es ist wahrscheinlich‍(er), dass Nebenwirkungen bei ihr auftreten. Sie hat also direkte negative Konsequenzen dadurch, dass sie sich auf die pseudowissenschaftliche Aussage verlassen hat. Häufiger als zu solchen direkten Kosten kommt es im Bereich der Angewandten Kognitionspsychologie vermutlich zu sogenannten Opportunitätskosten. Damit ist gemeint, dass Menschen, die sich auf eine pseudowissenschaftliche Aussage verlassen und daraus bestimmte Maßnahmen ableiten und umsetzen, die tatsächlich als wirksam erwiesenen Maßnahmen nicht umsetzen. Ein Beispiel wäre eine Person, die davon gehört hat, es gäbe verschiedene Lerntypen und die in einem Onlinetest als »auditiver« Lerntyp identifiziert wurde. Diese Person bereitet sich nun eventuell überwiegend durch Zuhören auf ihre Prüfungen vor, im Glauben daran, die Existenz unterschiedlicher Lerntypen wäre wissenschaftlich erwiesen (was nicht der Fall ist, wie wir in Kapitel 2 erfahren werden). Dadurch entstehen ihr Opportunitätskosten, da sie in der begrenzten Lernzeit bis zur Klausur, im Vertrauen auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Lerntyp-Diagnose, erwiesenermaßen wirksame Maßnahmen, wie etwa sich selbst zu testen, nicht umsetzt. Letztendlich wird diese Person dann vermutlich ein schlechteres Ergebnis erzielen, als es ihr möglich gewesen wäre. Schließlich kann durch die Verbreitung pseudowissenschaftlicher Aussagen, wenn diese sich später tatsächlich als nicht haltbar herausstellen, die Glaubwürdigkeit einer ganzen Wissenschaftsdisziplin als solche leiden. Die (experimentelle) Psychologie hat dies als sogenannte Replikationskrise schmerzhaft erlebt, als sich zeigte, dass eine Reihe der in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichen Ergebnisse nicht replizierbar waren (Open Science Collaboration, 2015). Eine gut nachvollziehbare und leicht verständliche Aufarbeitung der Replikationskrise und ihrer Folgen liefert Chambers (2017). Rückblickend kann man festhalten, dass die experimentelle Psychologie sich, angestoßen durch die Replikationskrise, intensiv mit der eigenen vorherrschenden Forschungspraxis auseinandergesetzt und diese auch durch verschiedene Maßnahmen verbessert hat (vgl. das Sonderheft »Open Science in Psychology« in der Zeitschrift für Psychologie, das von Renkewitz & Heene, 2019, herausgegeben wurde). Zeitungsartikel mit Überschriften wie etwa »Wissenschaftliche Irrtümer in Serie« (Wagner, 2020) und auch weitere Medienberichte, in denen die fehlende Replizierbarkeit experimentalpsychologischer Befunde regelmäßig thematisch aufgegriffen wird, sind für das öffentliche Ansehen des Fachs sicher nicht förderlich. Wir hoffen daher, dass das vorliegende Buch dazu beiträgt, alle drei Kostenarten für die Kognitionspsychologie, die uns sehr am Herzen liegt, möglichst gering zu halten.

Probleme bei der Replikation bereits publizierter empirischer Befunde, die übrigens nicht nur in der Psychologie, sondern auch in einer Reihe weiterer Fächer wie etwa der Biologie, der Medizin und den Wirtschaftswissenschaften berichtet werden (Baker, 2016; Begley & Ellis, 2012; Camerer et al., 2016), können viele Ursachen haben, da Forschung nie unabhängig vom Kontext ist, in dem sie durchgeführt wird (Van Bavel et al., 2016). Zum einen darf nicht vergessen werden, dass aufgrund der verwendeten Methoden statistischer Inferenz (▸ Kap. 1.2.2) die Nicht-Replizierbarkeit mancher Studien ganz einfach eine notwendige Folge und daher erwartbar ist (siehe z. B. Ulrich & Miller, 2020). Zum anderen könnte aber ein Teil der in Fachzeitschriften publizierten und nicht replizierbaren Befunde den höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen (Starbuck, 2016). Daher sollten die Leserinnen und Leser solcher Artikel auch in der Lage sein, die wissenschaftliche Güte der jeweiligen Forschungsarbeiten selbst kritisch zu hinterfragen. Zu diesem Zweck werden im Folgenden einige methodische Vorüberlegungen angestellt, die den Leserinnen und Lesern dabei helfen sollen, die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten zu bewerten. Natürlich können wir im Rahmen des vorliegenden Buches keine vollumfassende Darstellung kognitionspsychologischer Forschungsmethoden und der statistischen Analyse bieten, sondern lediglich Teilaspekte herausgreifen, die bei der Bewertung der Güte wissenschaftlicher Arbeiten helfen können. Als vertiefende Lektüre seien an dieser Stelle daher die einschlägigen Lehrbücher empfohlen (z. B. Bröder, 2011; Huber, 2019; Westermann, 2017; Whitley & Kite, 2018).

1.2 Methodische Vorüberlegungen

1.2.1 Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen

Die Kognitionspsychologie versteht sich selbst als eine empirische Wissenschaft. Dies bedeutet, dass Erkenntnisfortschritte üblicherweise dadurch erzielt werden, dass empirische Studien mit Untersuchungssubjekten (Menschen oder auch Tieren) durchgeführt werden, um Hypothesen über die Funktionsweise menschlicher Kognition zu testen. Im vorliegenden Buch berücksichtigen wir ausschließlich Studien, in denen Menschen untersucht wurden, daher werden wir die Untersuchungssubjekte im Folgenden als Versuchspersonen bezeichnen.

In der Idealvorstellung der meisten Forscherinnen und Forscher wird bei der empirischen Hypothesentestung falsifizierend im Sinne der Forschungslogik des sogenannten Kritischen Rationalismus nach Popper (1959) vorgegangen. Entsprechend sollte aus einer bereits existierenden kognitionspsychologischen Theorie zunächst eine inhaltswissenschaftliche Hypothese abgeleitet werden, die dann empirisch »an der Realität« überprüft wird. Eine wissenschaftliche Hypothese muss nach Popper vier Kriterien genügen:

Die Hypothese muss sich auf reale Sachverhalte beziehen, die empirisch untersuchbar sind.

Die Hypothese muss allgemeingültig sein, also eine über den Einzelfall oder singuläre Ereignisse hinausgehende Behauptung darstellen (ein sog. All-Satz).

Die Hypothese muss die Formalstruktur eines sinnvollen Konditionalsatzes aufweisen (»Wenn-Dann-Satz« bzw. »Je-desto-Satz«).

Der Konditionalsatz muss potentiell falsifizierbar sein.

In Lehrbüchern wird häufig zwischen drei verschiedenen Arten wissenschaftlicher Hypothesen unterschieden: Zusammenhangshypothesen postulieren einen Zusammenhang zwischen zwei Variablen (z. B.: »Die Konzentrationsleistung hängt mit der Schlafqualität zusammen.«). Unterschiedshypothesen postulieren einen Unterschied in der Ausprägung einer Variablen als Funktion der Ausprägung einer anderen Variablen (z. B.: »Blonde Männer sind besser in visuellen Suchaufgaben als dunkelhaarige Männer.«). Veränderungshypothesen postulieren eine Veränderung über die Zeit (z. B.: »Die Gedächtnisleistung nimmt mit zunehmendem Lebensalter ab.«). Wie bereits an diesen Beispielen erkennbar, ist die Unterscheidung in diese drei Hypothesenarten recht arbiträr. Letztendlich werden durch alle drei Arten von Hypothesen Annahmen über den Zusammenhang zweier Variablen ausgedrückt, etwa zwischen Schlafqualität und Konzentrationsleistung, Haarfarbe und visueller Suchleistung oder Lebensalter und Gedächtnisleistung. Somit könnten die letzteren beiden Hypothesenarten eigentlich auch als Sonderfälle einer Zusammenhangshypothese gesehen werden. Es hat jedoch technische Gründe, warum diese klassische Unterscheidung der Hypothesenarten trotzdem sinnvoll sein kann. Man kann dadurch nämlich anschaulich die verschiedenen Versuchspläne abgrenzen, die in der psychologischen Forschungspraxis realisiert werden. Will jemand untersuchen, ob zwischen zwei Variablen, die gemessen wurden, ein Zusammenhang besteht, spricht man von einem korrelativen Versuchsplan. Will jemand untersuchen, ob sich verschiedene Gruppen von Versuchspersonen in ihrer Ausprägung auf einer gemessenen Variablen unterscheiden, spricht man von einem quasi-experimentellen oder experimentellen Versuchsplan. Die Variable, nach der gruppiert wird, bezeichnet man dabei als unabhängige Variable und die gemessene Variable bezeichnet man als abhängige Variable.1 Experimentell wird der Versuchsplan dadurch, dass die Abstufungen der unabhängigen Variablen (also die verschiedenen Bedingungen) künstlich hergestellt (manipuliert) und die Versuchspersonen dann zufällig den entstandenen Bedingungen zugeteilt werden. Ist dies nicht möglich (wie im Falle der Haarfarbe, die genetisch festgelegt ist und sich daher in der entsprechenden Untersuchung nicht zufällig zuweisen lässt), ist der Versuchsplan lediglich quasi-experimentell. Ist man an der Veränderung einer gemessenen Variablen über die Zeit interessiert, dann müssen diese Variablen an denselben Versuchspersonen wiederholt gemessen werden. Man spricht in diesem Fall von einem längsschnittlichen Versuchsplan.

Im Rahmen aller drei Versuchspläne gilt es bei der statistischen Hypothesentestung wiederum, zwischen der (statistischen) Nullhypothese und der Alternativhypothese zu unterscheiden. Die Nullhypothese besagt, es gäbe keinen Unterschied beziehungsweise keinen Zusammenhang zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen, während die Alternativhypothese einen Unterschied oder Zusammenhang postuliert. Diese Unterscheidung wird später noch einmal wichtig werden.

Allen Hypothesen gemeinsam ist, dass sie über sogenannte Populationsparameter formuliert sind. Etwas vereinfacht meint dies Folgendes: In empirischen Studien wird mit Stichproben gearbeitet, die aus einer Population gezogen werden. Die Stichprobe umfasst dabei eine begrenzte Menge an Versuchspersonen, von denen die entsprechenden Daten erhoben wurden. Wenngleich wir für diese Stichprobe dann zum Beispiel die Mittelwerte berechnen, sind wir weniger daran interessiert, ob sich die Mittelwerte der Stichproben unterscheiden. Viel interessanter ist, ob sich die Mittelwerte der Populationen unterscheiden, aus denen die Stichproben stammen.

Der experimentelle Versuchsplan nimmt für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn einen besonderen Stellenwert ein, da er geeignet ist, Kausalhypothesen zu testen. Die Kovariation der unabhängigen und der abhängigen Variablen (also die Tatsache, dass eine Veränderung in der einen Variablen systematisch mit einer Veränderung in der anderen Variablen einhergeht) ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Kausalbeziehung bestehen kann. Eine zweite notwendige Voraussetzung ist, dass das Auftreten der Veränderungen der unabhängigen Variablen dem Auftreten der Veränderung auf der abhängigen Variablen zeitlich vorausgeht. Die wichtigste Voraussetzung ist jedoch, dass die Veränderung auf der abhängigen Variablenausschließlich durch die Veränderung der unabhängigen Variablen erklärt werden kann (siehe auch Shadish, Cook & Campbell, 2002). Diese lässt sich prinzipiell nur mit einem experimentellen Versuchsplan überprüfen. Aufgrund dieser besonderen Rolle, die der experimentelle Versuchsplan für die psychologische Forschung einnimmt, werden wir auf diesen im Folgenden noch einmal genauer eingehen.

1.2.2 Experimentelle Versuchspläne und deren statistische Auswertung

Das Experiment ist, wie gesagt, die Methode zur Prüfung kausaler Zusammenhänge. Grundvoraussetzung eines Experiments ist es, dass unterschiedliche experimentelle Bedingungen von den Forscherinnen und Forschern hergestellt (d. h. manipuliert) werden können und dann prinzipiell jede mögliche Versuchsperson unter diesen Bedingungen getestet werden kann. Darüber hinaus gibt es aber weitere wichtige Konzepte und Begriffe im Kontext eines experimentellen Versuchsplans und dessen statistischer Auswertung, auf die wir in diesem Abschnitt kurz (und umfangsbedingt zuweilen auch oberflächlich) eingehen werden. Ein gewisses Grundverständnis ist aber zur Bewertung (und natürlich auch zur Durchführung) empirischer Forschung unabdingbar; wir legen den interessierten Leserinnen und Lesern aber nahe, sich ausgiebiger mit diesen Themen zu befassen.

Wird ein experimenteller Versuchsplan verwendet, dann kann die Manipulation der experimentellen Bedingungen zwischen Versuchspersonen (engl. between-subjects) oder innerhalb der Versuchspersonen (engl. within-subjects) realisiert werden (▸ Abb. 1.2). Im ersten Fall wird jede Versuchsperson in genau einer der Bedingungen getestet, während sie im letzteren Fall in jeder der Bedingungen getestet wird. Oft, aber nicht immer, können Fragestellungen mit beiden Versuchsplanvarianten untersucht werden. Dies illustrieren wir an einem Beispiel: Stellen wir uns dazu vor, es würde in einem Auto eine Standardanordnung von Warnsignalen geben, die der Fahrerin oder dem Fahrer mitteilen, dass Gefahr besteht und ein Ausweichen in eine bestimmte Richtung erforderlich ist. Eine psychologische Theorie besagt aber nun, dass eine andere Anordnung effektiver dafür wäre (wir werden in Kapitel 3.2.1 einen ähnlichen Fall kennenlernen). In einer entsprechenden Studie könnte man nun beide Anordnungen als unterschiedliche experimentelle Bedingungen implementieren und als abhängige Variable beispielsweise die Reaktionszeit (engl. reaction time; RT) des Ausweichens auf eine Gefahr messen. Bei einer Manipulation zwischen Versuchspersonen würde dann für jede Versuchsperson zufällig entschieden werden, ob sie mit der Standardanordnung oder der neuen Anordnung getestet wird. Die Zuteilung erfolgt also randomisiert und es resultieren zwei Bedingungen, wobei die erste Bedingung auch als Kontroll- und die zweite Bedingung auch als Experimentalbedingung bezeichnet wird. Von jeder Versuchsperson liegt am Ende eine RT als abhängige Variable vor. Man spricht in diesem Fall auch von unabhängigen Stichproben oder Gruppen, da die RTs in den beiden experimentellen Bedingungen von unterschiedlichen Personengruppen stammen. Eine andere Möglichkeit wäre es, die Versuchspersonen zunächst mit der Standardanordnung zu testen und im Anschluss daran mit der neuen Anordnung. Dies wäre eine Manipulation innerhalb der Versuchspersonen, da von jeder Versuchsperson am Ende zwei RTs als abhängige Variable vorliegen (eine pro Bedingung).2 Man spricht in diesem Fall auch von abhängigen Stichproben.

Abb. 1.2:Illustration einfacher Versuchspläne mit zwei Bedingungen. Versuchspläne mit zwei unabhängigen Stichproben arbeiten mit zwei Gruppen und die Versuchspersonen werden randomisiert den Gruppen zugeordnet. Bei Versuchsplänen mit abhängigen Stichproben wird hingegen nur eine Stichprobe gezogen, allerdings werden die Daten von jeder Versuchsperson in beiden Bedingungen erhoben.

Derartige Versuchspläne mit zwei Bedingungen sind die einfachsten Fälle, die auf zweierlei Arten erweitert werden können. Zum einen können mehr als zwei Bedingungen realisiert werden, zum Beispiel, wenn es noch eine weitere konkurrierende Theorie gäbe, nach der eine noch andere Anordnung das Ausweichen noch effektiver machen würde. Der Versuchsplan zur Testung dieser Theorien würde entweder drei Gruppen umfassen müssen oder jede Versuchsperson würde in allen drei Bedingungen getestet werden müssen. Zum anderen können aber auch komplexere Versuchspläne realisiert werden, indem weitere unabhängige Variablen aufgenommen werden. Zum Beispiel könnte eine Theorie vorhersagen, dass die neue Anordnung der Warnsignale vorrangig bei Dunkelheit effektiv ist, nicht aber tagsüber. Zur Testung müsste eine weitere unabhängige Variable mit den Bedingungen »hell« versus »dunkel« in den Versuchsplan integriert werden. Auch die Bedingungen dieser (zusätzlichen) unabhängigen Variablen können wieder zwischen oder innerhalb der Versuchspersonen implementiert werden. Die Besonderheit bei der Einführung einer weiteren unabhängigen Variablen ist, dass sie sich in der Regel orthogonal zu den bereits im Versuchsplan enthaltenen unabhängigen Variablen verhält. Das heißt im konkreten Beispiel, dass vier experimentelle Bedingungen entstehen würden (Anordnung 1 – hell vs. Anordnung 1 – dunkel vs. Anordnung 2 – hell vs. Anordnung 2 – dunkel). Mit der Hinzunahme jeder weiteren unabhängigen Variablen potenziert sich die Anzahl der Bedingungen entsprechend.

Unter der Nullhypothese waren wir davon ausgegangen, es gäbe keinen Unterschied zwischen den experimentellen Bedingungen. Stellen wir uns nun vor, es würde eine bestimmte Alternativhypothese gelten, die einen Unterschied zwischen den Bedingungen von spezifischer Größe postuliert (für mehr Details zu sog. Effektgrößen im hier betrachteten Fall, siehe z. B. Goulet-Pelletier & Cousineau, 2018). In diesem Fall wären die resultierenden t-Werte nicht mehr zentral, sondern nonzentral t-verteilt (▸ Abb. 1.3b): Das Maximum ist nun von Null verschieden und die Form der Verteilung ist auch nicht mehr um das Maximum herum symmetrisch. Der kritische t-Wert trennt aber auch hier wieder zwei Flächenanteile voneinander ab: Der rechts liegende (grau gefärbte) Teil ist die Menge aller t-Werte, bei denen wir uns bei Gültigkeit dieser bestimmten Alternativhypothese auch zugunsten ihrer entschieden hätten. Diese Fläche entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der wir uns tatsächlich für die Alternativhypothese entscheiden, wenn der untersuchte Effekt mit der angenommenen Größe tatsächlich existiert. Diese Wahrscheinlichkeit wird als Teststärke (engl. Power) bezeichnet und mit 1-β beschrieben (vgl. Cohen, 1988).4 Der komplementäre Flächenanteil β spiegelt diejenigen t-Werte wider, bei denen wir uns, trotz (angenommener) Gültigkeit einer Alternativhypothese, für die Beibehaltung der Nullhypothese entschieden hätten.

Diese Entscheidungslogik hat zur Folge, dass eine Entscheidung zur Beibehaltung der Nullhypothese oder zugunsten der Alternativhypothese im Einzelfall nicht immer richtig sein muss. Gilt tatsächlich die Nullhypothese, sind dennoch t-Werte möglich, die zu einer Entscheidung für die Alternativhypothese führen (t-Werte im grau gefärbten Bereich in Abbildung 1.3a). Dies wird als Fehler 1. Art oder als α-Fehler bezeichnet. Gilt allerdings die Alternativhypothese, so erhalten wir dennoch auch t-Werte, aufgrund derer wir uns entscheiden, weiterhin an die Nullhypothese zu glauben (t