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Sie kennt die dunkelsten Geheimnisse der Toten … aber kann sie auch das Rätsel ihrer eigenen Familie lösen? DIE GESICHTSLOSEN: Nach Jahren im Ausland tritt die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis ihren Dienst in München an. Schon der erste Fall, in den Carina verwickelt wird, fordert ihre ganze Aufmerksamkeit: der Leiche einer Frau wurde die Gesichtshaut abgezogen – das perverse Souvenir eines Serienkillers? Zur gleichen Zeit wird Carina auf einen Todesfall aufmerksam, der 20 Jahre zurückliegt … DIE VERSTUMMTEN: Fassungslos steht Carina an einem Tatort: Ein Ehepaar, drapiert in ihrer Hochzeitskleidung – kaltblütig ermordet. Von der Tochter fehlt jede Spur. Was ist hier passiert … und warum will der ermittelnde Kommissar, Carinas eigener Vater, sie von dem Fall fernhalten? Trotz seiner Warnungen verfolgt sie eine eigene Spur – und findet zu ihrem Entsetzen eine Verbindung zu ihrer eigenen Familie … DIE ZERRISSENEN: Als Carina die Leiche eines Strafgefangenen begutachtet, der sich angeblich selbst erhängt hat, erkennt sie Ungereimtheiten, die sie an ein düsteres Kapitel der deutschen Geschichte erinnern. Welche Verbindung gibt es zwischen dem Toten, der RAF … und ihrer eigenen Mutter? Noch nie war Carina so nah daran, die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Aber kann sie die diese auch ertragen? »Es ist ungemein spannend zu verfolgen, wie Stephanie Fey die einzelnen Fäden zusammenbringt, wie sich am Schluss das ganze Puzzle zu einem Bild fügt.« Süddeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 1278
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
DIE GESICHTSLOSEN: Nach Jahren im Ausland tritt die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis ihren Dienst in München an. Schon der erste Fall, in den Carina verwickelt wird, fordert ihre ganze Aufmerksamkeit: der Leiche einer Frau wurde die Gesichtshaut abgezogen – das perverse Souvenir eines Serienkillers? Zur gleichen Zeit wird Carina auf einen Todesfall aufmerksam, der 20 Jahre zurückliegt …
DIE VERSTUMMTEN: Fassungslos steht Carina an einem Tatort: Ein Ehepaar, drapiert in ihrer Hochzeitskleidung – kaltblütig ermordet. Von der Tochter fehlt jede Spur. Was ist hier passiert … und warum will der ermittelnde Kommissar, Carinas eigener Vater, sie von dem Fall fernhalten? Trotz seiner Warnungen verfolgt sie eine eigene Spur – und findet zu ihrem Entsetzen eine Verbindung zu ihrer eigenen Familie …
DIE ZERRISSENEN: Als Carina die Leiche eines Strafgefangenen begutachtet, der sich angeblich selbst erhängt hat, erkennt sie Ungereimtheiten, die sie an ein düsteres Kapitel der deutschen Geschichte erinnern. Welche Verbindung gibt es zwischen dem Toten, der RAF … und ihrer eigenen Mutter? Noch nie war Carina so nah daran, die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Aber kann sie die diese auch ertragen?
Über die Autorin:
Stephanie Fey ist das Pseudonym einer Bestsellerautorin, die unter diesem Namen eine fesselnde Thriller-Trilogie veröffentlich hat: Stephanie Schuster, geboren 1967, studierte Grafikdesign in München und hat viele Jahre lang die Bücher anderer Autorinnen und Autoren illustriert, bevor sie selbst zu schreiben begann – unter anderem die Bestsellerserie rund um »Die Wunderfrauen«. Stephanie Schuster lebt mit ihrer Familie am Starnberger See in Bayern.
Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website: www.stephanieschuster.de
Bei dotbooks veröffentlichte Stephanie Schuster unter dem Namen Stephanie Fey eine Thriller-Trilogie rund um die Rechtsmedizinerin und Gesichtsrekonstrukteurin Carina Kyreleis: »Die Gesichtslosen«, »Die Verstummten« und »Die Zerrissenen«
Die Serie ist auch als Sammelband erschienen.
Unter dem Pseudonym Ida Ding schrieb Stephanie Schuster außerdem die beiden humorvollen Oberbayern-Krimis »Hendlmord« und »Jungfernfahrt«, die ebenfalls bei dotbooks erschienen sind.
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Sammelband-Originalausgabe April 2025
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Copyright der Originalausgabe von »Die Gesichtslosen« © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Copyright der Originalausgabe von »Die Verstummten« © 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Copyright der Originalausgabe von »Die Zerrissenen« © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de unter Verwendung eines Motives von © Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98952-372-2
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Stephanie Fey
Angsttod
Drei Thriller in einem eBook
dotbooks.
Mit den präzisen Schnitten eines Skalpells … Nach Jahren im Ausland tritt die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis ihren Dienst in München an – der Stadt, die sie vor allem mit der Frage verbindet, wer ihre leibliche Mutter war und wieso niemand über sie sprechen will. Doch schon der erste Fall, in den Carina verwickelt wird, fordert ihre ganze Aufmerksamkeit: die Leiche einer Frau, der die Gesichtshaut abgezogen wurde – das perverse Souvenir eines Killers, der jederzeit wieder zuschlagen kann? Zur gleichen Zeit wird Carina auf einen rätselhaften Todesfall aufmerksam, der 20 Jahre zurückliegt. Und über all dem schwebt die Frage, welche Schatten womöglich auf ihrer eigenen Familiengeschichte lasten …
Die Knochen hatten lange genug gekocht. Sektionsnummer 225. An den Schnüren, die aus dem Topf hingen, suchte sie nach dem richtigen Schildchen, hob den Stoffsack wie einen großen Teebeutel heraus, öffnete ihn und tupfte behutsam letzte Wassertropfen von den Zähnchen. Ein Kinderschädel lag in ihrer Hand und verlangte sein Gesicht zurück.
Sehen.
In die knöchernen Höhlen setzte sie Glasaugen, klebte auf vierundzwanzig Stellen des Schädels genau abgemessene Gummistifte, die die Dicke des fehlenden Fleisches vorgaben. Langsam baute sie aus Knetmasse die Wangen, die Stirn und das Kinn auf. Dann formte sie winzige Augenlider und legte sie um die Glasaugen.
Riechen.
Aus einer Knetkugel drehte sie die Nasenspitze, stach zwei Löcher hinein, platzierte sie auf dem Nasenstachel, verstrich mit den Fingerspitzen die Nasenflügel zu den Wangen, bildete so die schmale Doppelfalte zwischen der Nase und den Lippen.
Hören.
Zwei winzige Ohrmuscheln entstanden in ihren Händen. Knorpel wie fein geschwungenes Garn liefen in den Ohrläppchen zusammen.
Sprechen.
Über den Milchzähnchen gestaltete sie den Mund, teilte die Lippen und glättete sie mit dem Modellierholz.
Fühlen.
Die Dreijährige hatte zu husten versucht, doch der Schnuller stülpte sich über ihren Kehldeckel und verschloss ihn. Sie war erstickt.
Tasten.
Carina Kyreleis zeigte den Eltern des vermissten Kindes die Rekonstruktion. Der Vater streckte die Hand aus, wollte das Gesicht berühren. Doch wie eine Schnecke ihre Fühler zog er die Finger zurück, als sie an das kalte, ölige Plastilin stießen.
Schweigen.
Ohne Ton hauchte er den Namen seiner Tochter. Vor einem Jahr hatte sich die Kleine im Kamin des Abbruchhauses versteckt. Dann zerschnitt der Vater die Stille mit seinem Geheul.
Er schloss die Augen, und ihr Gesicht verschwand. Er wusste, dass er sie mit jedem Tag mehr und mehr verlor. Je stärker er sich ihr Bild in Erinnerung rief, desto mehr verblasste es. Nur die Wärme ihrer Haut spürte er noch, das leichte Kribbeln in den Fingerspitzen, als er ihren langen, glatten Hals gestreichelt hatte, die feinen Härchen auf und ab. Die wohligen Geräusche, die sie von sich gegeben hatte, mehr Tier als Mensch, bis er ihr beide Hände um den Hals legte und zudrückte, bis das Leben aus ihr herausgepresst war.
Er musste sie sich zurückholen.
Nach Einbruch der Dunkelheit durfte hier niemand mehr sein. Niemand außer ihm. Bei Tag musste er sich den Garten mit allen Münchnern teilen, auch wenn es zum Jahresende ruhiger wurde. Doch kurz vor Morgengrauen gehörte er ihm ganz allein. Das warmgelbe licht der Laternen, seiner Laternen, erhellte das Pflaster. Die hohen Bäume, seine Bäume, reckten ihre kahlen Äste in den Nachthimmel, wiesen ihm wie mit Vogelkrallen den Weg.
Unter dem großen Spinnennetz grub er hastig, sank schon bald tiefer und tiefer. Nun war er froh, nicht das Labyrinth gewählt zu haben. Auch wenn es ein würdigerer Platz für sie gewesen wäre. Doch unter den Mulchwegen zwischen den verschlungenen hecken waren die Wurzeln so dicht, dass er die Buchen nie mehr unbeschädigt auf ihr Grab hätte zurückpflanzen können.
Je näher er zu ihr gelangte, desto heftiger pochte sein Herz. Es schlägt für uns beide, dachte er, hauchte in die klammen Finger und schaltete die Stirnlampe an. Er faltete die karierte Decke auseinander. Ihr Gesicht war platt und verzerrt. Vorsichtig schlitzte er mit dem Taschenmesser die knisternde Folie auf. Die Süße ihres Mädchenduftes strömte ihm entgegen. Er sog sie tief in sich ein und hielt dann inne. Etwas Fauliges hatte sich daruntergemischt. Und wer hatte ihr die Wimpern weiß getuscht? Er betrachtete sie genauer. Auch in den Nasenlöchern und Mundwinkeln hing etwas Weißes. Sandkörner? Hatte er sie nicht fest genug umwickelt? Er zupfte die Klümpchen weg, rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete den Strahl der Lampe darauf. Winzige längliche Eier waren es, die sich nur schwer zerdrücken ließen. Es musste doch längst zu kalt sein für diese Viecher; keinesfalls durften die schlüpfen und ihm die Liebste stehlen. Er musste sich beeilen. In Gedanken war es leichter gewesen, doch immerhin blutete nichts mehr. Es waren viele Einschnitte nötig, die haut löste sich nur in Stücken. Was sollte er mit diesen Fetzen bloß anfangen, sie etwa wie ein Puzzle zusammenfügen? Und wohin damit? Er hatte keine Tüte dabei, und die Folie war aufgebraucht. Besser wäre ein Buch gewesen, worin er ihr Gesicht hätte trocknen können wie eine Blüte.
Ein Schrei hallte durch die Stille. Sofort schaltete er die Stirnlampe aus. Für Hundebesitzer und Jogger war es noch zu früh. Im Sommer übernachteten Penner und Pärchen im Park, trotz des Verbots. Aber jetzt, Ende November? Er lauschte, verharrte im Loch, hörte nur den ewigen Verkehrslärm, ein fernes Hupen. Stimmen hinter einem der Fenster aus den Häusern ringsum. Vermutlich ein Familienstreit irgendwo. Hoch über ihm blinkte ein Flugzeug. Die Stadt schlief nie.
Vor Aufregung war seine Hand unter die Folie gekrochen, hatte nach den eisigen Fingerspitzen seiner Liebsten getastet und hielt sie nun. Sie fühlten sich glitschig an, zwei Fingernägel hatten sich bereits gelockert. Hastig begann er mit der Säge seines Taschenmessers zu schneiden, zerrte und drehte am Gelenk. Endlich, mit einem Knirschen, löste sich ihre Hand.
Er atmete auf. Wenigstens das war ihm gelungen. Beim nächsten Mal würde er das Gesicht konservieren, noch bevor seine Liebste starb.
Ich schaue den Leuten in die Seele, nicht ins Gesicht.
Paul Britton, britischer Kriminalpsychologe
Zweiundzwanzig Monate später
Vergeblich suchte Carina in der Ankunftshalle am Flughafen die Reihe der Wartenden ab. Ihre Schwester hatte versprochen sie abzuholen. Die Maschine aus Mexiko-Stadt mit Zwischenstopp in Frankfurt war mit einer halben Stunde Verspätung gelandet. Also musste Wanda längst da sein.
Sie stellte ihre Reisetasche ab und massierte sich den Nacken. Erst einmal durchatmen. In ihren Ohren rauschte es, wie immer, wenn sie sich längere Zeit fast unbeweglich in einem beengten Raum befunden hatte. Obwohl sie nur einen Meter siebzig groß war, war sie gebeugt durch die Schleusen vom Flugzeug bis zur Gepäckhalle gegangen. Nur ruhig, hatte sie sich zugeredet, wenn sie während des Fluges aus dem Schlaf aufschreckte, das hier ist kein Auto. Zum Glück schien sie nichts geträumt zu haben, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie wischte den letzten Rest mexikanischen Straßenstaubs mit dem Saum ihres Shirts von der Brille und setzte sie wieder auf. Bienvenida la urraca. La urraca, so wurde sie von den lateinamerikanischen Kollegen genannt: die Elster, der Totenvogel. Von der mexikanischen Regenzeit in den goldenen Münchner Herbst.
Ihr Handy vibrierte. Wahrscheinlich steckte Wanda im Stau fest. Doch die SMS war nicht von ihrer Schwester.
Bin auch wieder in Deutschl., wir müssen uns sehen, vermissen dich, Lars, stand auf dem Display. Bevor sie sich aufregen konnte, stürmte Wanda herbei und umarmte sie völlig außer Atem. Carina freute sich, sie zu sehen. Noch immer war ihre Schwester in viel zu enge, pastellfarbene Klamotten gepresst. Ihre Hochsteckfrisur mit Fliegenpilz-Haarspangen, die noch aus ihrer Kindheit stammten, hatte sich aufgelöst. Blonde Locken umkringelten ihr verschwitztes Gesicht.
Plötzlich sprang im Café nebenan eine Frau kreischend von einem Stuhl auf. In ihrer einen Stiefelette steckte der Arm eines kleinen Jungen. Wanda hastete hinüber und zerrte Sandro wie einen widerspenstigen Hund unter dem Tisch hervor. Kein Wort der Entschuldigung gegenüber der fremden Frau, die fassungslos über eine große Laufmasche in ihrer Strumpfhose strich.
»Deine Tante ist da«, rief Wanda stattdessen übertrieben laut. »Endlich kann sie mit dir mal was unternehmen.«
Carina bückte sich, um ihren Neffen zu begrüßen. Sandro gab ihr die linke Hand, mit der rechten umklammerte er den wiedergefundenen kleinen Hüpfball.
»Ich habe ihm extra noch die Haare geschnitten.« Wanda zupfte an dem sehr kurzen Pony ihres Sohnes herum.
Ach ja, dachte Carina, die abgebrochene Friseurlehre. Seitdem schnitt Wanda nicht nur ihrem Sohn, sondern auch ihrem Vater die Haare. Den berühmten Kriminalhauptkommissar Matthias Kyreleis erkannte man auf den Zeitungsfotos vor allem an seinem Topfschnitt.
»Hast du mir was von den Indianern mitgebracht?«, fragte Sandro.
Das hatte sie. Sorgenpüppchen, kleine mit Stoff umwickelte Stöckchen in einem Beutel. »Wenn du mal nicht einschlafen kannst, weil du was Blödes erlebt hast, kannst du deinen Kummer den Püppchen erzählen und steckst sie unters Kopfkissen. Dann übernehmen sie über Nacht das Grübeln, und du träumst was Schönes.«
Sandro maulte, er hätte lieber ein Kriegsbeil gehabt.
Im Kofferraum von Wandas altem Kombi fand Carina kaum Platz für ihre Reisetasche, so zugemüllt war das Auto. Es kostete sie einige Überwindung, überhaupt einzusteigen. Sie hatte gehofft, sie würden mit der S-Bahn in die Innenstadt fahren. Seit ihrem Unfall in Mexiko-Stadt mied sie Autos. Mit einem Regenschirm und einer Maxipackung Klopapier zwischen den Beinen zwängte sie sich auf den Beifahrersitz.
»Heute Nachmittag ist Flohmarkt in Riem, hast du Lust mitzukommen?«, fragte Wanda. »Unser Hausflohmarkt letzten Samstag hat überhaupt nichts gebracht, seitdem fahre ich auch noch die Sachen von meiner Nachbarin spazieren.«
»Ich weiß nicht.« Carina zögerte. »Ich will später erst mal in meine Wohnung. Es hat doch alles geklappt mit dem Unterschreiben?«
»Schon.« Wanda zögerte. »Der Vermieter hatte ja deine Daten, und ich habe mich als deine Schwester ausgewiesen. Aber …«
Carina ahnte, was jetzt kam. Sie hatte Wanda inständig gebeten, ihrem Vater nichts von der neuen Wohnung zu sagen. Als Leiter der Münchner Mordkommission fand er es ohnehin schnell genug heraus. »Papa weiß es, oder?«
»Natürlich nicht, was denkst du von mir«, rief Wanda entrüstet. »Ich hab dichtgehalten, war doch so ausgemacht. Er glaubt, du wohnst bei mir. Deshalb strengt er sich auch so an, über seine Polizeispezis oder andere Schleichwege die richtige Bleibe für dich zu finden.« Sie lachte auf. »Macht Spaß, den Starermittler auszutricksen. Dass seine Lieblingstochter in meiner Unordnung hausen muss, ist ein ziemlicher Ansporn für ihn.«
»Hör auf mit deiner Eifersucht.« Ihr ewiges Thema; bei nur einem Jahr Altersunterschied waren sie meist wie Zwillinge behandelt worden, aber manchmal hatte Carina die Vernünftigere zu sein und Wanda das Nesthäkchen, je nachdem wie es ihre Eltern gerade brauchten. Doch mit dreißig und einunddreißig musste endlich mal Schluss sein. »Hat der Vormieter nicht richtig gestrichen und geputzt, oder was?«
Wanda fädelte sich auf dem Mittleren Ring nach links ein, was der dunkle Van neben ihnen mit einem lautstarken Hupkonzert kommentierte. Ihr Fahrstil erinnerte Carina an Mexiko-Stadt. Keiner dort schien zu wissen, wozu die Ampeln aufgestellt waren.
»Jetzt sag schon«, drängte sie.
»Also dein Vormieter … Das war wirklich ein komischer Kauz.«
Als Carina vor zwei Monaten mit ihm telefoniert hatte, wirkte alles ganz unkompliziert. Sie hatte die Dachgeschosswohnung übers Internet gefunden. War das etwa ein Schwindel gewesen? Wanda hatte doch die Besichtigung übernommen und war ähnlich begeistert gewesen wie sie. Sogar einen Zwiebelturm-Erker sollte es geben.
»Dirigent ist der, glaube ich«, erklärte Wanda. »Zieht jetzt nach Spanien, weil dirigieren kann er überall, und …«
»Was ist denn mit der Wohnung? Der Schlüssel – ist der hier?«, unterbrach Carina und öffnete das Handschuhfach. Ein Fehler. Gebrauchte Taschentücher, Haargummis und Schminkutensilien fielen heraus.
»Na ja, also … ich finde ihn nicht mehr, ich habe schon mit Sandro zusammen gesucht.«
»Was?«
»Beruhig dich. Als ich die Sachen für den Flohmarkt gepackt habe, da muss er …«
Carina drehte sich um und spähte in den Kofferraum. »Du willst doch nicht behaupten, dass in einer der vielen Kisten da hinten mein Wohnungsschlüssel steckt. Wanda!«
»Eva« stand auf dem Klingelschild. Das konnte nur Glück und einen Neuanfang bedeuten. Diesmal war er besser vorbereitet, ein weiteres Mal würde ihm die Liebste nicht entkommen. Sogar an ein Buch hatte er gedacht. Sein Ägyptenbuch, das er seit seiner Kindheit, noch bevor er lesen konnte, besaß und das ihm bei seiner ersten Geliebten äußerst nützlich gewesen war. Im alten Ägypten gab es keine Frischhaltefolie, sie vergruben ihre Toten einfach im Sand. Erst später begannen sie sie zu salben. Gemäß der Beschreibung im Buch hatte er Maries abgetrennte Hand eingerieben und in Tücher gewickelt. Allerdings benutzte er kein Salböl, sondern Anti-Aging-Puder, der ihn von der Farbe her an Wüstensand erinnerte und von dem es bei ihm zu Hause genügend gab. Da konnte das Zeug beweisen, ob es was taugte. Wie ein glatt gelutschtes Hustenbonbon färbte sich die Haut nach ein paar Tagen hellgrün und schrumpfte zusammen. Nun konnte er Maries Hand bequem in der Hosentasche tragen und sich sogar damit streicheln, wenn ihm danach war.
Er lehnte sich zurück und spähte die Fassade hinauf. Evas Balkon musste der blumenüberwucherte auf halber Höhe sein. Das passte zu ihr – als er ihr begegnete, war sie selbst eine Knospe gewesen, der er helfen wollte, sich zu entfalten. Verdeckt zwischen den Büschen im Innenhof konnte er einfach hochklettern und sich auf sie fallen lassen, wenn sie dort oben lag und die Herbstsonne genoss. Sie würde überrascht den Mund aufreißen, ihn dann wiedererkennen und umfangen. Die Vorstellung erregte ihn. Er legte die Finger auf den Klingelknopf. Hart und kalt fühlte er sich an. Er klingelte und erschrak im nächsten Moment über sich selbst. Manchmal passierte es, dass seine Gedanken und sein Körper keine Einheit bildeten, dass er etwas tat, was er später bereute. Daran musste er noch arbeiten, das durfte nicht sein. Es hing mit der Forelle zusammen, die damals in seinem Kopf geschlüpft war, als Larve noch, die sich an ihm nährte und schnell gewachsen war. Sie hauste in ihm und schlug immer dann mit ihren Flossen gegen seine Schädelwände, wenn er nicht damit rechnete. Etwas in ihm verkrampfte sich dann und er musste seinen Kopf festhalten, bis die Forelle Ruhe gab und nur noch schwach nach Luft schnappte.
Oben schlug jetzt ein Hund an, mit ohrenbetäubendem Gebell. Er mochte Hunde, kalbsgroße ebenso wie Wadenbeißer; sie sprachen mit den Augen, genau wie er. Klar, so eine schöne Frau wie Eva brauchte einen Beschützer; warum nur hatte sie ihn neulich nicht dabeigehabt? Dann hätte er sie gleich um den Finger wickeln können. Er verstand was von Tieren, konnte sie ohne Worte zähmen.
Oder hatte er falsch geklingelt? Wenn Eva durch ein Fenster zu ihm hinunterrief, würde er sie sofort erkennen. Wie alle anderen Geräusche hatte er ihre Stimme in seinem Inneren verwahrt, konnte den Klang abrufen, sobald er die Augen schloss. Nur ihr Gesicht war einfach ein hautfarbener Fleck ohne Konturen. Anfangs dachte er, er müsste sich täuschen, so eine schöne Frau konnte unmöglich ihn meinen. Nicht jung wie Marie war sie, sondern älter, vielleicht doppelt so alt. Ihm war das sowieso lieber. Keine Hirngespinste und Tagträume mehr, die er zu erfüllen hatte. Zwei lange Jahre hatte er nun nach der Richtigen Ausschau gehalten. Viele, die von weitem einen klaren, offenen Blick hatten, kniffen von nahem die Augen zusammen, rümpften die Nasen oder sahen über ihn hinweg, als wäre er ein Straßenschild oder der Kartenabreißer im Kino. Evas Zeichen dagegen waren eindeutig gewesen. Vor zwei Wochen hatte sie wartend auf der ersten Stufe der ausgeschalteten Rolltreppe gestanden, so als müsste es gleich losgehen, als müsste sich die Treppe doch noch in Gang setzen. Er bedeutete ihr, dass er die Rolltreppe reparierte, dass sie kaputt sei. Da ergriff Eva seine fuchtelnde Hand, und ließ sich wie eine Prinzessin um das Geländer herum zur Steintreppe führen. Er begleitete sie hinauf. Oben bedankte sie sich und fragte ihn lachend, ob er das immer für sie tun würde. Als sie ihre Hand aus der seinen löste und davonstakste, folgte er ihr unauffällig bis zur Wohnung, merkte sich, welchen Briefkasten sie aufsperrte und prägte sich ihren Namen ein. Dann rannte er zur Arbeit zurück, überhörte das Gemecker des Vorarbeiters und wedelte vor seinem Hosenschlitz herum, als wäre er nur kurz auf dem Klo gewesen. In Gedanken war er schon bei den Vorbereitungen und sehnte sich nach dem Feierabend. Auf dem Heimweg malte er sich aus, was er mit Eva anstellen würde, wenn er sie endlich besaß. Ihm fiel der Behälter ein, den er Marie hatte schenken wollen und den sie abgelehnt hatte. Sie mache keine Musik mehr, sagte sie. Töne einfangen und schnell den Deckel zuschlagen, sie bewahren, für stille Zeiten, wie Gesichter. Damit er was zum Erinnern hatte. Marie war nicht zu überzeugen gewesen, hielt den Kasten für nutzlos. Seit zwei Jahren stand er nun leer herum.
Ein Stadtstreicher hatte damals seinen Fusel darin gelagert, bettelnd auf der Sonnenstraße gesessen und sich blind gestellt. Den Zehner, den er ihm bot, hielt der Alte gegen das Licht, schob das vielfach geflickte Teil so unter sich, dass er es zu zerquetschen drohte, und gab es erst für einen Zwanziger her.
Zu Hause entstaubte er den Kasten, verstärkte den morschen Griff mit zwei lederstücken, befestigte einen Riemen zum Umhängen an den Seiten und räumte seine Instrumente hinein. Sogar das Buch hatte darin Platz, und Maries Hand passte wunderbar in die samtüberzogene Klappe im Deckel.
Mit einem Blumenstrauß in der einen Hand und dem Instrumentenkasten über der Schulter stand er endlich vor Evas Haustür. Er presste sein Ohr an die Tür. Das Gebell schwoll an, ebbte ab, wenn der Hund Luft holte, hörte endlich ganz auf. Vielleicht beschwerte sich jemand über den Lärm, kam herunter und öffnete ihm. Aber wie sollte er dann in ihre Wohnung gelangen? Nein, er musste es einfach wagen und einen anderen Weg wählen. Er klemmte sich den Strauß in den Ausschnitt seines Hemds, schob den Kasten auf den Rücken und sah sich um. Hoffentlich beobachtete ihn niemand aus einem der Fenster ringsum. Schnell packte er den Ast einer Linde und zog sich hoch. Weiter oben im Baum, von den gelb verfärbten Blättern geschützt, konnte er über das Balkongeländer in die Wohnung spähen. Die Forelle schlug Salto in seinem Hirn. Eva lag nicht auf dem Balkon, sondern drinnen auf der Couch, lang ausgestreckt, und erwartete ihn. Was sollte er tun? Er wollte nicht einbrechen, hatte gehofft, sie würde ihm öffnen, wie eine Frau, die ihren Mann empfing. Aber sie hatte sein Klingeln ignoriert, wollte ihn offenbar auf diese Art hineinlocken. Das passte zu ihr. Auch er mochte Heimlichkeiten.
Zuerst warf er die Blumen übers Geländer, sprang dann selbst hinterher. Mit den Fingern bohrte er ein Loch in die Fliegengittertür, löste den Sturmhaken von innen und trat ein. Sie tat so, als bemerkte sie ihn immer noch nicht. Er keuchte, klopfte sich gegen die Stirn, als er das Blut sah, das aus Evas Handgelenk tropfte und zwischen den langen Fasern des Wollteppichs eine dunkle Pfütze bildete. Auch stürmte der Hund nicht auf ihn zu, obwohl er wieder zu bellen angefangen hatte. Er schnupperte. Duftkerzen, Gestecke, traurige Harlekine und Deckchen auf den Möbeln, überall roch es nach ihr. Er zupfte die Blumen in Form, fand eine Vase im Wohnzimmerschrank und wollte in der Küche Wasser holen. Doch da sprang der Hund von innen gegen die Glastür, seine riesigen Pranken schienen sie aufdrücken zu wollen. Eva hatte das Tier weggesperrt und den Schlüssel umgedreht. Nichts würde also ihre Zweisamkeit stören. Und natürlich konnte er einfach im Bad Wasser für die Blumen holen.
Zurück im Wohnzimmer schob er die Tabletten und die Rasierklinge vom Beistelltischchen und drehte Eva den Strauß so hin, dass ihr die Blütengesichter zugewandt waren. Seine Liebste, halb in eine Decke verkeilt, hielt immer noch still, als er sich zu ihr setzte. Sie trug ein Seidenhemd mit dünnen Trägern. Außer am Kopf hatte sie sonst nirgends Haare. Unter den Achseln nicht, an den Beinen nicht. Das war neu für ihn. Er beugte sich über sie und betrachtete sie genauer. An den Waden entdeckte er winzige Stoppeln. Marie, seine erste Geliebte, hatte sich nicht rasiert, war stattdessen stolz darauf gewesen, ihren Körper nicht zu verändern. Sie wollte dem ganzen Konsumwahn trotzen und mit der Natur leben. Auch die dunklen Härchen auf der Oberlippe rupfte sich Marie nicht aus und verzichtete zuletzt sogar auf Seife. Ihr Geschlecht hatte wie eine überreife exotische Frucht gerochen. Er hob Evas Nachthemd an. Ihre Scham leuchtete ihm wie eine Orchidee haarlos entgegen. Damit hatte er nicht gerechnet. Hastig bedeckte er sie wieder. Die Forelle in seinem Kopf schlug aus. Mit einem Klatscher gegen seine Schläfe brachte er sie zum Schweigen und wandte sich Evas Gesicht zu. Er prägte sich alle Fältchen und Formen ein. Der Bogen ihrer Brauen, der Schwung ihrer Nase, die Form ihrer Lippen. So weiß, fast durchsichtig war sie, ihre Adern schimmerten durch die Haut wie Flüsse unterm Eis. Seine Haut wirkte dagegen dunkel vom Arbeiten draußen. Gegensätze zogen sich eben an.
Das tropfende Blut aus der Schnittwunde an ihrem Handgelenk riss ihn aus seiner Andacht. Mit seinem Taschentuch tupfte er ein paar weiße Krümel aus ihren Mundwinkeln. Fing das schon wieder mit den Maden an? Nein, bloß Tablettenkrümel. Er legte ihr ein Ohr an die Brust und beruhigte sich. Noch war es nicht zu spät. Erleichtert atmete er durch, genoss den feierlichen Moment, formte stumme Liebesworte und sandte sie ihr zu wie Seifenblasen. Eva und Romeo. Ja, so würde er sich von nun an nennen. Schließlich hatte er sie über den Balkon erobert. Eigentlich gehörte so ein Ring an die rechte Hand, doch die war blutverschmiert, also steckte er ihr den Ring an die linke. Dieses Schmuckstück hatte auch seine erste Geliebte getragen, aber ihr war es zu groß geworden.
Aus seinem sorgfältig zusammengestellten Sortiment wählte er nun das Gemüsemesser mit der gespaltenen Spitze und stach ohne Zögern zwischen dem rechten Ohrläppchen und dem Kieferknochen ein. Es blutete heftig. Dabei hatte er gedacht, das meiste Blut hätte bereits der Teppich aufgesaugt. Eva rührte sich nicht. Er schnitt am Kinn entlang bis zum anderen Ohr, löste die Unterhaut vom Knochen und lockerte sie mit der gespaltenen Klinge. Dann packte er ihr Gesicht mit den Fingern und zog. Die Unterlippe löste sich wie Kaugummi, legte das Zahnfleisch frei. Kurz ragten ihre vorderen Zähne noch wie weiße Pfosten in der Brandung empor, dann wurden sie von Blut umflutet.
Auf einmal klopfte es an der Wohnungstür, er schrak zusammen, und die Gesichtshaut entglitt ihm.
»Frau Bretschneider?«, rief jemand. Der Hund fing wieder an zu bellen. Hastig packte Romeo sein Werkzeug zusammen.
»Sind Sie da? Ist alles in Ordnung? Frau Bretschneider?«
Eine aufdringliche Person war das.
»Ich ruf jetzt die Polizei.«
Bevor er über den Balkon zurück auf die Linde sprang, drehte er den Schlüssel der Küchentür und ließ den Hund heraus.
Als wäre Carina nie weg gewesen, herrschte noch immer das gleiche Ritual. Beruflich die ganze Woche in Bereitschaft, wollten ihre Eltern den Sonntag gemeinsam mit den Töchtern verbringen, einmal in der Woche wie eine ganz normale Familie sein. Als Kind hatte sie diesen Zwang gehasst und freute sich jedes Mal, wenn Mamas Pieper zu einer Geburt rief oder Papa ins Präsidium musste. Als Carina von Mexiko aus ihre Ankunft mitteilte, plante ihre Mutter gleich das kommende Sonntagsessen.
Nach zwanzig Minuten Parkplatzsuche wollten ihre Eltern sie offenbar die Verspätung spüren lassen, denn sie öffneten erst einmal nicht, obwohl Sandro den Finger nicht von der Klingel nahm. Carina war kurz davor zu gehen. Auf einmal wollte sie ihren Vater doch nicht mehr wiedersehen. Da ging die Haustür auf. Ihr Vater in karierten Filzpantoffeln entschuldigte sich. Der Summer sei kaputt.
Haschpapi, dachte Carina, und der Kloß in ihrem Hals löste sich in Tränen auf. So hatte sie ihn als Kind genannt, als er noch bei der Drogenfahndung gewesen war. Er breitete die Arme aus, Carina fiel hinein.
»Ich hab dich wieder«, flüsterte er und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Er schien kleiner geworden zu sein. Sein Topfschnitt glänzte silbern, und mit den Tränensäcken ähnelte er wirklich dem Hush-Puppies-Hund. Nachdem er vor zwei Jahren zu weit gegangen war und ihren Geliebten überprüft hatte, war sie ohne ein Wort abgehauen. Erst zu Lars nach Düsseldorf und dann mit ihm zusammen nach Mexiko-Stadt. Wanda, die als Einzige wusste, wo sie sich befand, aber eisern dichthielt, schrieb irgendwann eine SMS, dass ihr Vater kurz davor sei, Carina über Interpol suchen zu lassen. Erst dann meldete sie sich wieder bei ihren Eltern.
Keinesfalls wollte sie ihrem Vater die Genugtuung geben, mit Lars Recht gehabt zu haben. Einzig und allein die Stelle im Institut, bei der genau sie als Spezialistin angefordert wurde, war der Grund, dass sie nach München zurückgekehrt war. Das würde sie ihm alles mitteilen, später, wenn Haschpapi sie nicht mehr so traurig ansah. Sie biss sich auf die Lippen, schluckte und stieg hinter ihm die Treppe hinauf.
Im Flur stand ihre Mutter. Sie trug eine dicke Schicht zu helles Make-up um die Augen herum, als hätte sie den Sommer über eine große Sonnenbrille getragen. »Was bin ich froh. Dein Vater war kurz vor einem Nervenzusammenbruch.« Sie übertrieb maßlos. Matte Kyreleis drehte wegen gar nichts durch, er saß alles aus. Unter dem Einfluss seiner legendären Geduld wurde noch der abgebrühteste Täter weich wie Butter. Ihre Mutter drückte sie kurz, zuckte dann zusammen und schob sie weg. »Es blutet schon wieder, und irgendwas tobt da drinnen.« Sie hielt sich ein Taschentuch unter die Nase. »Der Schmerz zieht bis in die Zehen. Kannst du mal einen Blick darauf werfen, Carina?«
Sie schob ihre Mutter unter die Flurlampe, untersuchte die blau-rote Schwellung auf dem Nasenrücken. »Drückt das auch nach innen?«
»Autsch.«
Sie hatte Silvias Nase nur leicht berührt.
»Das rechte Nasenloch ist praktisch zu.« Nach einer Weile ließ die Blutung nach. Ihre Mutter atmete auf. »Deshalb hat man ja zwei Nasenlöcher!«
»Hast du Sehstörungen?«
»Eigentlich nicht. Meine Lesebrille ist immer noch dieselbe.« Carina tastete ihre Lymphknoten ab. Sie fühlten sich leicht vergrößert an. »Kannst du schlafen?«
»Wenn ich mal dazu komme.« Was für eine Frage, sie hatte ihre Mutter nie anders als müde erlebt. Als selbstständige Hebamme betrieb Silvia Kyreleis in München zusammen mit drei Kolleginnen ein Geburtshaus, versorgte ihre Schwangeren hingebungsvoll, wurde oft nachts zu Geburten gerufen. An sich selbst dachte sie zuletzt.
»Heißt das, du warst nicht beim Arzt, hast gewartet, bis ich komme?«
Silvia lächelte gequält. »Wir könnten übrigens noch eine Kinderärztin im Team gebrauchen«, nuschelte sie, das Taschentuch immer noch unter die Nase gepresst. »Du hast doch Kinder immer so gemocht.«
»Mama, ich bin keine Ärztin für Lebende.« Carina stöhnte. Das alte Lied. Wann ihre Mutter zum ersten Mal auf diese Idee gekommen war, wusste Carina nicht. Nur weil sie während des Studiums einmal als Babysitterin gearbeitet hatte. Aus ihrer Mutter wäre eine gute Kinderärztin geworden, das ja. Fremde Kinder waren ihr immer wichtiger gewesen als ihre eigenen Töchter.
»Kannst du nicht umsatteln? Es reicht, dass dein Vater mit Gewalt und Leichen zu tun hat, tagein, tagaus.« Silvia wand sich aus Carinas Händen. »Lasst uns endlich essen, sofern nicht sowieso schon alles verkocht ist.«
Carina half die Schüsseln ins Esszimmer tragen und stellte die angebrannten Rouladen und das Blaukraut auf den festlich gedeckten Tisch. Für sie hatte Silvia extra Sojawürstchen gebraten.
»Oder isst du wieder Fleisch?«, fragte Silvia in der Küche, schaltete den Ofen ab und bat Carina, auch noch eine Flasche Wasser mitzunehmen. Tote Tiere waren für Silvia anscheinend kein Problem. Carina brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie keinen optischen Wurstersatz brauchte; sie war froh, dass es noch keine Tofurouladen gab.
Es klirrte, und Wanda fing an zu schimpfen. Der Hüpfball sprang ihnen aus dem Esszimmer entgegen. Zwischen zerbrochenem Geschirr, unter der halb heruntergerissenen Tischdecke, hockte Sandro und schob das Blaukraut unter den Teppich.
Keiner fragte Carina bei Tisch nach ihren Erlebnissen in Mexiko. Vielleicht hatte ihr Vater endlich eingesehen, dass sie jetzt ihren eigenen Weg ging. Auf Schritt und Tritt hatte er sie überwacht, und jedes Mal, wenn sie ihm voller Freude oder Kummer etwas erzählte, war sie sich vorgekommen, als vernähme er sie. Jetzt fiel ihr auf, dass er sich kaum am Gespräch beteiligte und fortwährend zum Telefon auf dem Fensterbrett schielte. »Erwartest du einen Anruf?«
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Magst du hier übernachten? Wegen einer Wohnung, ich hab da …«
»Carina schläft bei mir«, unterbrach Wanda hastig. »Wir haben uns noch so viel zu erzählen. Stimmt’s?« Sie sprang auf, schnappte sich das Telefon und verschwand nach draußen, was ihr Vater mit einem Seufzer kommentierte.
Schon lange fragte sich Carina, welches Laster er hatte. Er rauchte nicht, trank nicht, außer mal ein Glas Wein oder Bier zum Essen. Was konnte ihn berauschen? Oder war es seine ganz große Leidenschaft, Kriminalhauptkommissar bei der Münchner Mordkommission zu sein, erfüllte ihn das? »Verrat mir dein Geheimnis, Papa, woher nimmst du deine Gelassenheit?«, fragte sie, als er sogar die Trüffelschokolade ablehnte, auf die sich alle anderen stürzten.
»Geheimnis?« Er verzog kaum die Mundwinkel, war in Gedanken ganz woanders. »Ach, ich musste gerade an einen alten Fall denken. Die aktuellen Ermittlungen versuche ich in der Arbeit zu lassen, sobald ich Feierabend habe. Das klappt auch meistens. Dafür holen mich zu Hause die ungelösten Fälle ein.«
Also das war seine Droge. »Erzähl«, bat sie.
»Ihr werdet doch heute nicht über Morde sprechen?« Mama war entsetzt. »Jetzt, wo es endlich ein bisschen ruhig ist.« Auf dem hellen Sofa schlief Sandro mit schokoladeverschmiertem Mund. Wanda telefonierte immer noch flüsternd und kichernd im Gang. Carina beschloss nach unten zu gehen und ihren Wohnungsschlüssel in Wandas Auto zu suchen.
»Komm, ich koche Kaffee«, schlug Papa vor und gähnte. »Bevor ich auch einschlafe. Wegen der Wohnung, ich hab da wirklich eine für dich gefunden, ganz in unserer Nähe. Von der Küche aus sieht man sie.« Carina folgte ihm und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das würde ihm gefallen: mit einem Fernrohr in ihre Zimmer spähen.
Die neue chromglänzende, vollautomatische Luxusmaschine, die ein Viertel der Arbeitsplatte besetzte, war ihr vorhin schon aufgefallen.
»Was willst du, Latte macchiato, Cappuccino, Espresso?«
»Sag bloß, du kannst damit umgehen?«, zog sie ihn auf.
Ihr Vater nahm normalerweise nie ein Haushaltsgerät in die Hand, außer dass er die Spülmaschine darauf überprüfte, ob nicht doch mehr hineinpasste, damit sie nur ja immer voll ausgelastet lief.
»Eigentlich war das ein Geschenk für Silvia zum Hochzeitstag.«
»Du hast an euren Hochzeitstag gedacht, Respekt.«
»Na ja, nicht ganz, ich habe gerade in langwierigen Vernehmungen gesteckt, und obwohl ich mehrmals das Datum ins Aufnahmegerät gesprochen habe, ist mir erst am nächsten Tag eingefallen, dass es unser Dreißigster war. Seitdem bestraft mich deine Mutter und gießt ihren Kaffee weiterhin mit dem Porzellanfilter auf.«
Ihre Eltern hatten erst geheiratet, als Carina schon auf der Welt war. Auf dem Hochzeitsbild sah man Silvia hochschwanger mit Wanda. Zwei Kinder ohne Trauschein hätte sich für einen Polizeioberkommissar – was er damals noch war – vermutlich nicht geschickt. »An welchen alten Fall denkst du?«
Er stellte zwei Tassen auf die Wärmeplatte, drückte auf den Startknopf und schloss Carina noch einmal in die Arme. Sollte das so was wie eine Entschuldigung für seine Spionage sein? »Schau.« Er deutete aus dem Fenster. »Dort drüben. Balkon, dritter Stock, zwei Zimmer, Küche, Bad. Was meinst du. Mein Kollege Meyer …«
Wanda polterte herein. »Krieg ich keinen Kaffee?« Sie hielt den Hörer in der Hand.
»Du telefonierst doch«, knurrte er und wischte sich mit dem Ärmel die Augen.
»Ist für dich.« Sie tauschte das Telefon gegen seine Tasse, und ihr Vater sprach mit jemandem.
Obwohl er noch keinen Schluck Kaffee getrunken hatte, wirkte er nach dem kurzen Telefonat hellwach. »Carina, komm, los. Eine Tote am Isartor.«
Wie selbstverständlich forderte er sie auf, ihn zu begleiten. Dabei gab es bestimmt tausend Gründe, nicht mitzukommen. Andererseits war ihr Vorsatz, Autos zu meiden, nach der Fahrt in Wandas Kombi, der mehr einer Spielzeugkiste glich, hinfällig. Vielleicht war es auch am besten, sie kehrte möglichst schnell in die Normalität zurück. Ihr Vater wusste nichts von ihrem Unfall, und sie hatte auch nicht vor, es ihm zu erzählen.
Trotzdem zögerte sie noch. Wie sollte sie erklären, dass sie Beklemmungen bekam, wenn sie in seinen Dienstwagen stieg? Außerdem begann ihre Arbeit in der Rechtsmedizin erst morgen, an einem Tatort hatte sie nichts verloren.
»Carina, wir wollten doch auf den Flohmarkt.« Wanda schmollte. »Wenn du dabei bist, können wir uns am Verkaufsstand abwechseln, und jede kann mal herumgehen und gucken.« Carina wusste, worauf das hinauslief. Den Nachmittag zwischen muffigen Kartons verbringen, um jeden Cent feilschen für Gerümpel, das auseinanderfiel, wenn man es berührte.
Sandro drehte sich im Schlaf, fiel vom Sofa und fing zu plärren an.
»Eure Couch ist ja lebensgefährlich«, schimpfte Wanda und verstrickte sich in eine Diskussion mit Silvia, anstatt ihren heulenden Sohn zu trösten.
In der Garage stupste Carina ihren Vater an. »Wie hast du’s nur geschafft, mich zum Mitkommen zu überreden?«
Am Thomas-Wimmer-Ring versperrten Mattes Kollegen die Zufahrt zu den Wohnblocks, winkten ihn jedoch durch, als sie ihn erkannten. Am Telefon hatte man ihm nicht sagen können, ob es sich um eine Straftat handelte. Aber eine leblose Person, die inmitten einer Blutlache gefunden wurde – das deutete auf ein Verbrechen hin. Er parkte neben dem Torbogen der Häuserzeile halb auf dem Bürgersteig. Eine Versammlung von Anwohnern, die nach einer Sonntagnachmittagssensation gierten, erschwerte ihnen das Durchkommen. Im Innenhof stand der Rettungswagen. Auf der offenen Ladefläche verband ein Sanitäter dem Notarzt das Bein.
»Was ist dir denn passiert, Karl?«, fragte Matte.
»In der Wohnung ist so ein Riesenvieh. Der Hausmeister hat uns aufgesperrt, und ich wollte zu der Frau, da hat der Hund mich gebissen. Wir haben das Veterinäramt angerufen, fast hätte Rüdiger den Köter abgeknallt.« Er deutete mit dem Kopf auf den korpulenten Polizisten mit Pferdeschwanz unter der Schirmmütze, der sie durch die Absperrung gelassen hatte.
»Das heißt, wegen dem Hund konntet ihr nicht zum Opfer? Habt ihr also noch gar nicht den Tod festgestellt?«
Ein Mann in grünem Kittel drängte sich durch die Leute und tippte Carina auf die Schulter. »Hast du mich gerufen?«
»Ich? Äh, nein.« Was stotterte sie herum wie ein Teenager? Prompt wurde sie rot. Er grinste; vermutlich hielt er sie für jünger, als sie war. Ein Lindenblatt hatte sich in seinen dichten Haaren verfangen. Sie schielte auf seinen Koffer, den er neben dem Baum abgestellt hatte. Abgegriffen und vielfach geflickt sah er aus, wie aus einem alten Kriminalfilm. Silvia hatte eine ähnlich alte Hebammentasche von ihrer Mutter, Carinas Oma, geerbt. War er etwa ein Kollege aus der Rechtsmedizin? Sie war irritiert.
»Ich bin der Tierarzt«, half er ihr auf die Sprünge.
»Ach so. Ich bin von der Rechtsmedizin, Carina Kyreleis.« Sie schob ihre Brille hoch. »Der Notarzt hat Sie, äh, dich verständigt. Da drin soll ein bissiger Hund sein.« Sie hoffte, dass ihr sachliches Geschwätz die Hitze aus ihrem Gesicht nahm.
»Na, dann los, gehen wir«, forderte er sie auf.
In was hatte sie sich da hineingeritten? Ohne Genehmigung des Staatsanwaltes hatte sie überhaupt keine Befugnisse. Carina hielt nach ihrem Vater Ausschau und stieß im Hausflur auf ihn, vor Eva Bretschneiders Wohnung, wie das Namensschild verkündete. Er war ganz in seinem Element, koordinierte die Ermittlungsschritte und sprach mit einem Kriminaltechniker im weißen Schutzanzug, der die Fingerabdrücke an der Tür sicherte. Dahinter hörte man einen Hund winseln und bellen. »Der Tierarzt ist hier.« Sie vermied es, Papa zu sagen.
»Ja, ja, Carina.« Matte winkte sie herbei. »Er soll das Tier möglichst an der Tür einfangen. Dann gehst du rein und schreib gleich den Totenschein.« Er reichte ihr ein Formular. »Rüdiger hat die Leiche durch den Türspalt gesehen. Ich kläre das mit der Staatsanwältin, sobald sie kommt.«
Der Kriminaltechniker gab ihr einen Kapuzenoverall, Handschuhe und Plastiküberzieher für die Schuhe.
Inzwischen hatte der Tierarzt seinen Koffer geöffnet, zog jetzt eine Stange mit einer Drahtschlaufe am Ende heraus und schraubte sie zusammen. Als er sich bückte, fiel das herzförmige Blatt aus seinen Haaren. Carina schnappte es sich, steckte es in die hintere Jeanstasche und schlüpfte in den Schutzanzug.
»Wie groß ist der Hund?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Der Notarzt wurde ins Bein gebissen, kaum dass er die Tür aufgemacht hat. Du bist doch der Fachmann.«
»Der Frequenz nach klingt es nach einem größeren Kaliber.«
Carina stellte sich neben die Tür und warf ihm einen Blick zu. Er nickte. Sie drückte die Klinke. Eine blutglänzende Hundeschnauze schob sich durch den Türspalt. Schon im nächsten Moment hatte der Tierarzt die Fangschlaufe um den Hundehals gelegt. Carina öffnete die Tür jetzt ganz. Es war ein kurzfelliger großer Hund mit hellen Schlappohren und einem schwarzen Fleck ums Auge. »Halb Terrier, halb Dogo Argentino. Ein Jagdhundmischling. Der hat in der Stadt eigentlich nichts verloren.« Er zerrte das Tier ins Treppenhaus, hielt es auf Abstand, bis es ruhiger war, klopfte ihm dann auf den Rücken. Sein Blick fixierte die Hundeaugen.
Alte Bekannte, dachte Carina. Als würde er ohne Worte mit ihm sprechen. »Das Blut an seinem Fell stammt nicht von dem Hund, nehme ich an«, murmelte sie, wie zu sich selbst. Dann betrat sie die Wohnung. Ein komisches Gefühl, als Unbefugte die Erste am Tatort zu sein. Vom Flur aus sah sie, was auch der Polizist Rüdiger bemerkt hatte: einen nackten, blutigen Frauenarm, der von der Couch herabhing. Blutspuren und Pfotenabdrücke überall. Die Frau lag im Wohnzimmer, zugedeckt bis zum Hals. Eigentlich ein friedlicher Anblick, hätte sie noch ein Gesicht gehabt.
Das Gelenk der herabhängenden Hand war aufgeschnitten, der Teppich wie die Couch blutgetränkt. Eine Deckenkuhle zu ihren Füßen war voller weißer kurzer Haare. Hier hatte vermutlich der Hund gelegen. Auch im rohen Fleisch des Gesichts konnte Carina diese Haare erkennen. Anders als bei einer Obduktion, bei der die Kopfhaut nach vorne geklappt wird, um über die Schädeldecke ans Gehirn zu gelangen, war der Frau die Haut vom Kinn über die Nase abgezogen worden. Ihre Augen waren vom Hautlappen verdeckt. Grobe Einstiche wie von einer dicken Nadel befanden sich an den Wundrändern – oder waren das die Hundezähne gewesen?
Auf einmal bildete sich eine kleine Blutblase zwischen den freiliegenden Zähnen. Atmete sie etwa noch? Hastig tastete Carina nach dem Puls. »Schnell«, schrie sie. »Sie lebt.«
München, September 1987
Mit ihrer Zungenspitze umkreiste sie die seine, wollte ihn zum Schweigen bringen, doch er redete weiter. Sie leckte ihm übers Kinn, den Hals hinab bis zum Schlüsselbein, zog ihm das Hemd aus und schmeckte die Kreide, mit der er seinen speckigen Hemdkragen weißte. Ihre Lippen glitten über die einzelnen Härchen auf der Schulter, die Brust hinab. Endlich tauschte er Worte gegen Seufzer und streichelte sie, hastig, als polierte er ein Auto. Nicht. Sie bremste ihn, zwang ihn, zärtlicher zu sein. Langsam fanden sie ineinander. Obwohl sie zum ersten Mal miteinander schliefen, war ihr sein Körper vertraut, so als hätte sie schon immer auf ihn gewartet, als wäre er der Mann, der alle anderen überflüssig machte. Eine Mischung aus Schweiß und dem Geruch eines billigen Duschgels umhüllten ihn. Nur die blasse Narbe, die mitten durch die rechte Brustwarze lief, überraschte sie, und sie sparte sie aus bei ihren Liebkosungen. Sie wollte, dass es nie aufhörte, vergaß das schäbige Hotelzimmer um sich herum, die verschlissene Couch vor dem Bett, auf der sie den Stoff gerade noch mehr abwetzten. Sie tauchte in ihr Inneres ab, ein Kieselstein, der in ein großes Becken geworfen wurde. Die Gestalt über ihr rieb, stieß und saugte, warm und weich zugleich, und hielt dann die Zeit an.
Noch lange spürte sie dem Pulsieren in ihrem Unterleib nach. Sie verschlang Arme und Beine in die seinen, wollte ihn nie mehr hergeben. Doch er wand sich aus ihrer Umarmung und schaltete den Fernseher ein. Wie konnte er jetzt nur Nachrichten sehen? Es gab nichts Wichtigeres auf der Welt als sie beide.
Sie griff nach der Fernbedienung. Er schlug ihre Hand weg. Maulend schmiegte sie sich an ihn wie ein beleidigtes Hündchen.
»Sei still«, zischte er und richtete sich auf, um jedes Wort der Meldung zu verstehen.
Der Nachrichtensprecher sagte irgendwas von Alfred Herrhausen, dem Manager der Deutschen Bank, der nach Mexiko gereist war. Dort erklärte ihm der mexikanische Präsident, dass sein Land an den Krediten der Weltbank, den Währungsfonds und der US-Regierung zu zerbrechen drohte. Herrhausen sprach von Schuldenerlass.
Rosa hörte nicht weiter zu.
Mexiko, da würde sie auch gerne hinfahren, die Indianerpyramiden besichtigen, oder wie die Dinger hießen. Endlich schaltete er den Kasten ab, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Rosa, die den Geruch hasste, vergrub sich in seinen Brusthaaren, strich sanft über die Narbe.
»Woher hast du die?«, fragte sie.
»Von einem Spyderco.« Er hustete.
Schmerzte die Narbe noch, oder kam der Husten vom Nikotin?
»Ein Klappmesser«, fuhr er fort und sog heftig am Glimmstängel. »Mit einem Loch in der Klinge, damit man es mit einer Hand öffnen kann. Amerikanisches Fabrikat.«
Plötzlich schien er weit weg zu sein. »Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, hab ich beschlossen, mein Leben zu ändern, und angefangen, in einem Friedensforschungsinstitut zu arbeiten. Du kannst auch mithelfen und Kundschafterin für mein Land werden.«
Sein Land, die DDR. Dass die was für den Frieden taten, war ihr neu. Aber vielleicht hatte sich das auch Honecker auf seine Fahnen geschrieben, als er in den vergangenen Tagen durch Westdeutschland gereist war.
»Das Ende des Kalten Krieges ist in Sicht, da ist jeder Einzelne gefragt.«
Diese Floskeln erinnerten sie an das Gelaber ihres Chefs. Dessen Reden konnte man auch auf ein paar Worte zusammenstreichen. »Und wenn Frieden ist, fährst du mit mir dann nach Mexiko?« Sie legte ihm die Hand zwischen die Schenkel. Er zuckte zusammen, Asche fiel auf seinen erschlafften Penis. Sie blies sie fort, küsste die verbrannte Stelle, nahm ihn ganz in den Mund. Später würde sie für ihren Liebsten spionieren, versprach sie, wenn er darauf bestand.
Vergeblich suchte Carina bis spät in die Nacht nach ihrem Wohnungsschlüssel. Wanda half ihr nur halbherzig dabei. War er ihr womöglich in der Arbeit aus der Tasche gefallen? Wanda sprach am Hauptbahnhof die Durchsagen, saß in dem grauen Kasten am Bahnsteig, kündigte die S-Bahnen an und wies die Fahrgäste zurecht, wenn sie zurückbleiben sollten oder nicht schnell genug einstiegen. Kurz nach Mitternacht, sie wühlte immer noch in den Flohmarktkisten, rief ihr Vater an. Typisch. Was, wenn sie bereits geschlafen hätte? Doch das schien ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein. Er teilte ihr mit, dass Eva Bretschneider dank Carinas Einsatz überleben würde. Die Ärzte hatten ihr eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Magen gepumpt, den Arm verbunden und das Gesicht wieder angenäht. Spurlos anwachsen würde es nicht mehr. Mehrere Operationen würden nötig sein, damit sie den Mund wieder bewegen konnte.
»Eine Bekannte von Eva Bretschneider sagt, dass sie manchmal von Selbstmord gesprochen hat. Nur wegen dem Hund hätte sie es noch nicht in die Tat umgesetzt. Und apropos, Carina, kann so was ein Hund anrichten?«
Carina schwieg. Für eine Telefondiagnose war sie zu müde. Zunächst hätte sie Eva Bretschneider untersuchen und die Verletzungen mit dem Hundegebiss vergleichen müssen. Der Tierarzt kam ihr in den Sinn. Sie konnte ihn fragen, ob er es für möglich hielt, dass der Hund der Täter war. So hätte sie einen Grund, um den Tierarzt wiederzusehen. Sofort ärgerte sie sich über diesen Gedanken. Kaum lag etwas Schorf auf ihren Liebeswunden aus der Beziehung mit Lars, schon hielt sie nach einem Neuen Ausschau. Sie wusste ja nicht einmal, wie er hieß. Erschöpft wünschte sie ihrem Vater eine gute Nacht, gab die Schlüsselsuche auf und nahm Wandas Angebot an, bei ihr zu übernachten.
Die Elster scharrte ein Loch, riss den Schlamm mit ihrem Schnabel überall auf und fand etwas Weißes. Es war ein Wirbel aus dem Rückgrat des Mannes, den brachte sie zu der jungen Frau zurück. Die Frau bedeckte den Wirbel mit ihrem Kleid und begann zu singen. Als sie das Kleid wegzog, atmete ihr Vater.
Aus den Mythen der Schwarzfuß-Indianer
Angesichts des rotbraunen Kalkstreifens in Wandas Badewanne und des Schimmels am Duschvorhang wusch sich Carina am nächsten Morgen nur kurz am Waschbecken. Manchmal hatte es in Mexiko-Stadt kein Wasser gegeben. La Patria, das Vaterland, wie die Mexikaner ihre Hauptstadt liebevoll nennen, einst von den Azteken auf trockengelegten Seen erbaut, sank ständig weiter ab. Einmal war Carina von einem Beben erwacht. Das Nachbarhaus war abgerutscht, weil ein unterirdisches Wasserrohr geplatzt war. Zurück in Deutschland, sehnte sie sich nach etwas Komfort, wenigstens an ihrem ersten Arbeitstag, und ekelte sich vor der Schludrigkeit ihrer Schwester. Vor dem mit Zahnpasta verschmierten Spiegel glättete sie ihre in alle Richtungen abstehenden Haare. Jemand musste ihr einen Stein unters Kissen geschoben haben, ihre Schulterblätter schmerzten. Vielleicht hatte sie auf Sandros Hüpfball gelegen? Wandas Sofa war zwar neu, aber zu kurz, um sich auszustrecken, und zu schmal, um sich zu drehen. Noch dazu hatte Carina es sich die ganze Nacht mit einem Kater geteilt, der nicht teilen wollte. Mit ausgefahrenen Krallen war ihr Thor auf den Kopf gesprungen, hatte ihr die Ohren geknetet und in die nackten Zehen gebissen. Erst mit der südamerikanischen Ohrenklappen-Mütze, die sie eigentlich Wanda mitgebracht hatte, und dicken Wollsocken konnte sie einschlafen. Der Kater rollte sich auf ihr zusammen und lag ihr die ganze Nacht wie ein Felsbrocken auf dem Bauch.
In der Küche fand sie kein frisches Glas auf der Ablage und trank den Orangensaft aus der Packung, deren Haltbarkeitsdatum seit Wochen abgelaufen war. Weil Wanda noch schlief, hatte sich Sandro selbst ein Müsli aus sauren Gurken und Schokoladenkeksen gemacht. Gerade bemalte er seine Gummistiefel mit Nagellack. Carina wünschte ihm einen guten Kindergartentag und versprach, bald einen Ausflug mit ihm zu machen.
Den Fahrstuhl im Rechtsmedizinischen Institut mied sie. Eng, wie es war, verlangte das altehrwürdige, niedrige Treppenhaus mit den steinernen Stufen genug Überwindung. Um zwanzig nach acht gab ihr die Putzfrau von der Nachtschicht die Klinke in die Hand, und sie betrat den Seziersaal. Auf vier von fünf Tischen lagen teils bekleidete, teils nackte Tote.
Ein paar der neuen Kollegen, die soeben mit den Obduktionen begannen und in die Diktiergeräte sprachen, kannte sie bereits. Die Toxikologin Dr. Susanne Schmetterer hatte mit Carina das praktische Jahr in der Uniklinik Düsseldorf absolviert. Danach war Susanne nach München und Carina nach Mexiko-Stadt gegangen. Sie und Rudi Nusser begrüßten Carina freundlich. Rudi wirkte mit seiner gedrungenen halslosen Gestalt, den überbreiten Schultern und den langen Armen wie der Quasimodo des Instituts. Er war hier schon Präparator und Sektionsassistent gewesen, als Carina ihr studentisches Praktikum machte. Jetzt trug er ein neckisches Kinnbärtchen, vielleicht, um von seinen über die hohe Stirn gekämmten Haarsträhnen abzulenken. Ihre neue Chefin, Frau Professor Paula Feininger, verdeckte mit ihrer massiven Statur fast die gesamte Längsseite eines Tisches. Welcher Schneider hatte ihr aus zwei grünen Kitteln einen zusammengefügt?
»Holen Sie sich gleich den Neuzugang von gestern Nacht, Frau Kyreleis.« Ohne Carinas »Guten Morgen« zu erwidern, zog sie ihren kurzen dicken Arm aus dem Brustkorb einer Leiche und wedelte Richtung Kühlfächer. »Ich hasse Unpünktlichkeit«, ergänzte sie, als Carina den Mund aufmachen wollte. »Also versuchen Sie gar nicht erst, sich zu rechtfertigen.«
Rudi schob sich einen Rest Schokoriegel in den Mund und half Carina in Kittel und Handschuhe.
Schnell spurtete sie zu den Kühlfächern hinüber. Vierundzwanzig fast quadratische, chromsilberne Türen, sechs Reihen, vier übereinander. Wie sollte sie den richtigen Toten finden, ohne alle Leichen herauszuziehen, die Tücher zurückzuklappen und die Körper zu untersuchen? Carina spürte die Blicke der anderen im Rücken. Merkwürdig still war es plötzlich im Seziersaal. Sogar die kreischende Kopfsäge schwieg. Wie ein Kind kam sie sich vor, auf der Suche nach dem richtigen Türchen im Adventskalender. Nur die Nummerierung fehlte. Die Halter für die Beschriftungen waren leer. In ihr keimte der Verdacht, dass die Schilder absichtlich entfernt worden waren. Als eine Art Bewährungsprobe für die Neue mit dem biblischen Namen. Gleich würde sie mit ihrer Blamage die ganze Belegschaft zum Lachen bringen. Sie schritt die Chromfächer entlang. Die Putzfrau fiel ihr ein, sicher hatte sie auch hier sorgfältig gewischt und poliert. Carina bückte sich, wippte vor und zurück, betrachtete die Türen von der Seite gegen das Licht. Auf der zweiten von unten links entdeckte sie Fingerabdrücke. Kurzentschlossen drehte sie den Hebel. Treffer. Rudi mit seiner Schokolade hatte Carina gerettet. Die neuen Kollegen johlten. Der Präparator pfiff anerkennend durch die Zähne, als sie den Leichnam in den Saal rollte.
»Weibliche Intuition oder Spürnase?«, fragte Paula Feininger.
Carina schwieg, deckte die Leiche auf. Der zerstückelte Torso ließ sie alles andere vergessen.
Der Kaiser hinter seinem Schreibtisch strahlte ihn an.
»In einem, spätestens zwei Monaten ist ein Platz in einer Wohngemeinschaft frei«, verkündete er und schabte sich den Schweiß mit einem Schnellhefter von der Stirn. Das kleine Fenster im Sozialamt war mit Akten verstellt. Der Miniventilator auf dem Computerbildschirm schaffte es nicht, die dicke, warme Luft in eine Brise zu verwandeln. Zögernd nahm Romeo den wellig gewordenen Hefter entgegen und überflog ihn. Viel Kleingeschriebenes ohne Bilder. Er seufzte, pickte sich die Überschriften heraus: Stärke, Kompetenz, Beeinträchtigung entzifferte er. Julius Kaiser, wie es auf seinem Brustschildchen stand, faselte weiter, ein wichtiger Schritt in die Unabhängigkeit sei das und seine Behinderung kein Grund, eine richtige Ausbildung zu beginnen. Er könne endlich den Absprung von zu Hause schaffen. »Sind Sie bereit?«
Romeo stellte sich vor, wie er auf einem Zehnmeterbrett stand. Unter ihm drehte sich die Welt wie eine Lottokugel, er brauchte nur zu springen. Würde er in den Ozean eintauchen und verschluckt werden? Wenn er nur an Wasser dachte, schnürte es ihm den Hals zu und die Forelle in ihm begann zu zappeln. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf, bis das Zittern aufhörte. Lieber auf Land aufschlagen, wenn auch mit gebrochenen Gliedern, dachte er und nickte zögernd.
»Pfundig.« Julius Kaiser klatschte sich selbst Beifall und deutete auf den Kasten, den Romeo neben sich abgestellt hatte. »Sie musizieren? Das wusste ich gar nicht.« Der Kaiser klickte im Computer herum, suchte in Romeos Profil, wo sein richtiger Name stand. Jedenfalls der, den ihm die Zehnmeterbrettschubser gegeben hatten.
»Ich trage es unter Interessen ein. Sehr schön, Musik ist die Sprache der Seele.«
Derselbe Effekt wie überall. Wegen des Kastens folgerte man, dass er Geige oder Bratsche spielte. Durch die vielen Flicken wirkte der Kasten wie ein kostbarer Foliant aus dem Mittelalter. Der Spieler, der das Instrument darin beherrschte, musste einfach ein Virtuose sein. Was in gewisser Weise auch stimmte. Romeo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Der Kaiser schnalzte mit der Zunge, er glaubte, die Freude gelte seinem Projekt. Mit Bekloppten unter Aufsicht Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, das fehlte Romeo noch. Er gab den Prospekt zurück, ließ den Kaiser weiter hoffen und betrachtete das gerahmte Foto neben der Kaffeetasse. Vermutlich die Kaiserin, ein Schnappschuss, leicht unscharf. Das Gesicht der Frau hatte den gelösten Ausdruck, den einzufangen nur einer vertrauten Person gelang. Ihr Anblick berührte etwas in ihm. Waren es die Augen, die ungezupften Augenbrauen, die wie Vogelschwingen zusammengewachsen waren, oder die langen Haare, die aus dem Rahmen zu fließen schienen? Er griff nach dem Bild und hielt es sich an die Wange, in Gedanken bei den verlorenen Gesichtern seiner Geliebten. Der Besitzer riss es ihm fort, polierte es am Knie seiner Bundfaltenhose, als hätte Romeo es beschmutzt, und legte es in eine Schreibtischschublade. Seufzend wandte er sich wieder dem Bildschirm zu, tippte in ein Formular. »Sind Sie Deutscher?«
No, italiano, hätte er am liebsten geantwortet, oder Engländer, wie dieser Schriftsteller, wie hieß der doch gleich, der, der Romeos Leben aufgeschrieben hatte? Es wollte ihm nicht einfallen. Er schlug sich gegen die Stirn. Aber auch die Forelle hatte keinen blassen Schimmer. Was sollte überhaupt die Frage? Er war hier geboren und aufgewachsen, genau wie seine Mutter. Über seinen Erzeuger wusste er nichts, und es interessierte ihn auch nicht. Selbst wenn es ein Foto von ihm gab – er hätte ihn sowieso nicht erkannt. Vielleicht hatte er auch nur seinen Samen verteilt, und ein Keim war zufällig in seiner Mutter aufgegangen.
»Vater unbekannt, Mutter verstorben, steht hier. Stimmt das?« Der Kaiser musterte ihn.
Romeo versuchte sich seine Eltern vorzustellen. Ein Paar auf einem Hochzeitsbild vor einem Brunnen. Aber wie mit der Lupe gebrannt, loderte anstelle ihrer Gesichter Schwärze auf.
»Wie wäre es mit einer Schreinerlehre?« Der Kaiser hatte wohl das Formular ausgewertet. »Wenn Sie ein Instrument spielen, sind Sie doch geschickt mit den Händen. Oder warten Sie – Konditor, wie wäre es damit?«
Romeo horchte auf. Filigrane Kunstwerke herstellen, Pralinen, Blumen aus Marzipan, das würde ihm gefallen. Noch lieber arbeitete er mit Tieren, die verstanden ihn auch ohne Worte.
»Sie würden Torten verzieren für Geburtstage und Hochzeiten, wie wäre das?« Gleich würde er ihm noch erklären, was eine Torte war. Denn jemand, der seine Stimmbänder nicht benutzte, aß wahrscheinlich Sandkuchen vom Spielplatz. Marie fiel ihm wieder ein. Er ließ die Verschlüsse des Kastens aufschnappen.
Julius Kaiser winkte ab. »Tut mir leid, ich würde nur zu gerne ein Ständchen hören, aber mich plagt ein Tinnitus.« Er klopfte sich aufs Ohr. »Vielleicht ein andermal.« Auf ein Kärtchen kritzelte er den Termin für das Vorstellungsgespräch in der Behindertenwerkstatt.
Als Romeo endlich aus dem Sozialamt trat, setzte er sich auf die kleine Mauer zur Straße und spähte zum Haus gegenüber. Im ersten Stock döste eine dreifarbige Katze am offenen Fenster. Die waren selten und brachten Glück. Und das brauchte er, um ein neues Gesicht zu finden. Die Wohnung ganz oben, mit der Zwiebelkuppel, schien leer zu sein. Keine Vorhänge oder Topfpflanzen wie an den übrigen Fenstern. Er stand auf und ging hinüber, um die Klingelschilder zu lesen.
Bis in den frühen Nachmittag arbeiteten sie an fünf Sektionstischen nebeneinander. Carina assistierte bei der S-Bahn-Leiche, prüfte, ob alle Leichenteile vorhanden waren. Der Kopf der dreiundvierzigjährigen Frau war von der S-Bahn abgetrennt worden, ihr Körper in viele Einzelteile zerlegt. Die Spurensicherung und die Feuerwehr hatten alles aufgesammelt. Carina untersuchte die inneren Organe, auch hier fehlte nichts. Vermutlich, weil sie sich nicht allzu ungeschickt anstellte, forderte Prof. Paula Feininger sie auf, die Ergebnisse für die Staatsanwältin zusammenfassen, die gerade eingetroffen war. Eindeutig Selbstmord. Gegen zwei Uhr nähte Rudi Nusser die Toten wieder zu, auch die Teile der lebensmüden Frau wurden aneinandergefügt, damit sie bestattet werden konnte. Alexander Herzog, ein kahlköpfiger Mittvierziger, der sich ihr als Pathologe und Rechtsmediziner vorgestellt hatte, holte die versteckten Karten mit den Namen und Nummern aus einer Schublade und schob sie in die Halter zurück. Nun hatten die Türchen wieder eine ordentliche Beschriftung. Carina erkundigte sich, ob derlei Tests als Einstand üblich waren.
»Nur bei Prominenz.« Herzog grinste und rieb sich über die Glatze. »Aber wir waren nicht drauf gefasst, dass es Ihnen gelingt. War das Zufall oder detektivische Feinarbeit à la Matte Kyreleis?«
Carina seufzte. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Man sah ihr genau auf die Finger, und nicht nur, weil sie neu war, sondern weil der Ruf ihres Vaters an ihr klebte. Aus diesem Grund hatte sie auch zunächst nicht auf das Stellenangebot reagiert, das sie irgendwann in Mexiko erreichte. Paula Feininger bot ihr die Mitarbeit in ihrem Team an. Carina hatte den Brief erst weggelegt und vergessen. Keinesfalls würde sie in München arbeiten, bloß um immer und überall mit ihrem Vater verglichen zu werden. Nun war sie doch zurückgekehrt, entschlossen, dem Druck standzuhalten und zu beweisen, dass sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Sie hatte schon immer Rechtsmedizinerin werden wollen. Auch wenn sie als Kind diese Berufsbezeichnung noch nicht kannte. Als sie klein war, nahm sie ihr Vater oft mit ins Präsidium, wo sie bald ihre eigene Spielecke in seinem Büro hatte. Das wichtigste Utensil waren die dicken Kopfhörer vom Schießstand. Die sollte sie aufsetzen, wenn ihr Vater Gespräche mit Zeugen führte, wie er es nannte. Dabei redete er kaum. Er konnte so lange schweigen, bis der auf der anderen Tischseite schrie. Als Silvia davon Wind bekam, geriet sie völlig außer sich, weil sie glaubte, er hätte seine Tochter bei Vernehmungen dabei.
Er verteidigte sich: Schließlich könne er nicht immer gleich wissen, was ihm einer erzählte, der in sein Büro kam.
Als er einmal über einer besonders schwierigen Ermittlung grübelte, hatte Carina ihn gefragt, wer sich um die toten Menschen kümmerte. Wer sprach für die, die nie mehr reden oder schreien konnten? Da erklärte er ihr, es gäbe Ärzte, die nur für die Toten zuständig seien. Anschließend quengelte sie so lange, bis er sie auch in die Rechtsmedizin mitnahm. Ausgerechnet ein Kind, ein Junge, genauso alt wie sie, lag auf dem Stahltisch. Er wirkte so hilflos. Die Ärzte zogen ihm die schmutzige Kleidung aus und entblößten einen von dutzenden Schlägen verfärbten Körper. Am liebsten hätte sie seine Hand gehalten, klammerte sich stattdessen aber an die Hand ihres Vaters und prägte sich alles genau ein.