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Marla hat Todesangst. Sie rennt durch die Nacht, die Schritte hinter ihr sind schon ganz nah. Gleich hat ihr Verfolger sie eingeholt. Sie stürzt, hinein in die Dunkelheit und … erwacht in ihrem Bett. Alles nur geträumt, oder? Doch wenn es wirklich nur ein Traum war, wieso fühlt die Bedrohung sich so echt an? Auch Marlas Verlobter und ihre Freunde wissen keinen Rat. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich schließlich an eine Psychotherapeutin, die zu einer neuronalen Traumanalyse rät. Aber die Bilder, die im Schlaflabor mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz erzeugt werden, sind alles andere als beruhigend. Denn sie schließen eine reale Bedrohung nicht aus. Marla muss sich fragen: Wer könnte ihr nach dem Leben trachten? Und wem kann sie jetzt noch trauen? Der nervenaufreibende Psychothriller »Angsttraum« von Carolin Hageböling ist als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks
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Über dieses Buch:
Marla hat Todesangst. Sie rennt durch die Nacht, die Schritte hinter ihr sind schon ganz nah. Gleich hat ihr Verfolger sie eingeholt. Sie stürzt, hinein in die Dunkelheit und … erwacht in ihrem Bett. Alles nur geträumt, oder? Doch wenn es wirklich nur ein Traum war, wieso fühlt die Bedrohung sich so echt an? Auch Marlas Verlobter und ihre Freunde wissen keinen Rat. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich schließlich an eine Psychotherapeutin, die zu einer neuronalen Traumanalyse rät. Aber die Bilder, die im Schlaflabor mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz erzeugt werden, sind alles andere als beruhigend. Denn sie schließen eine reale Bedrohung nicht aus. Marla muss sich fragen: Wer könnte ihr nach dem Leben trachten? Und wem kann sie jetzt noch trauen?
»Angsttraum« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Carolin Hagebölling, aufgewachsen im Ruhrgebiet, liebt abgründige Figuren und spannende Plottwists. 2017 erschien ihr erster Roman. Wenn Carolin gerade nicht schreibt, sammelt sie beim Sport und auf Reisen neuen Ideen.
Die Website der Autorin: https://www.carolinhageboelling.de/vita/
Die Autorin bei Facebook: CarolinHageboelling/
Die Autorin auf Instagram: carolin_hageboelling/
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eBook-Ausgabe November 2024
Copyright © der Originalausgabe 2024 Carolin Hagebölling und SAGA
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Runrun2, Rayraypach und AdobeStock/Blume
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-404-0
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Carolin Hagebölling
Angsttraum
Thriller
dotbooks.
Laufen. Ich muss laufen.
Die Schritte, die sich erbarmungslos in meinen Kopf hämmern.
Laufen. Ich muss laufen.
Der Luftzug, der mit Eisfingern nach mir greift.
Laufen. Ich muss laufen.
Der Atem, der geifernd nach meinem Nacken schnappt.
Laufen. Ich kann nicht laufen.
Wie im Leerlauf rotieren meine Beine über dem schlüpfrigen Untergrund. Je mehr ich mich bemühe, Halt zu finden, desto schneller scheint mir der Boden unter den Füßen zu entgleiten. Ich laufe, ich renne, ich rase – und komme dennoch nicht vom Fleck.
Ein Kichern fährt mir durch Mark und Bein. Boshaft, triumphierend, direkt hinter mir. Ich schreie, aber kein Laut dringt aus meinen zum Bersten gefüllten Lungen. Panik kriecht mir durch die Brust, schnürt die Kehle zu und malt blitzende Sterne auf die Netzhaut.
Ich will – muss hier weg! Und spüre zugleich, wie mein Geist erlahmt und meine Gliedmaßen erschlaffen. Ein schwarzes Nichts öffnet sich vor meinen Augen und saugt mich in die Dunkelheit.
Ich falle …
»Marla! Schatz!«
Seine Stimme an ihrem Ohr, seine Hand an ihrer Wange. Langsam kommt sie zu sich. Luft, endlich Luft! Das rasende Herz beruhigt sich, der bebende Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßiger. Feucht klebt der Pyjama an ihrem Körper. Sie wird ihn wieder wechseln müssen, wie fast jede Nacht. Wie immer nach diesem Traum. Kann er sie nicht in Frieden lassen? Er streicht ihr die Haarsträhne aus der Stirn. Das diffuse Licht der Straßenlaternen hinter den Bäumen im Garten dringt durch die Gardinen. Einatmen, ausatmen. Gleich wird es besser.
Ein paar Stunden später sitzen sie am Küchentisch. Die sonntägliche Melange aus Kaffee, gekochten Eiern und frisch gepresstem Orangensaft liegt in der Luft. Gedämpfte Jazzmusik dringt aus dem holzverkleideten Röhrenradio aus den Fünfzigern. Tinus liebt diese alten Schätzchen. Dazu zählt auch die italienische Vintage-Espressomaschine, die er jeden Morgen in einem hingebungsvollen Ritual mit frisch gemahlenem Kaffee befüllt, selbst wenn er es eilig hat.
Marla hat ihn deshalb von Tinus Dahlmann in Tinus Mahlmann umgetauft und zieht ihn manchmal damit auf. Ein Insider, den sonst niemand verstehen würde. Er nennt sie dafür häufig Sternchen – in Anlehnung an ihren Nachnamen Sternberg. Sie findet das furchtbar kitschig, hat es aber als spielerische Neckerei akzeptiert.
Auf Marla haben diese Dinge und Rituale eine beruhigende, manchmal geradezu komatöse Wirkung. Gerade nach einer Nacht wie dieser könnte sie sich nach dem Frühstücksei, dem Marmeladenbrötchen und dem Koffeinkick direkt wieder aufs Sofa kuscheln, zumal sie weiß, dass sie während eines Nickerchens am Tag von ihren nächtlichen Verfolgern verschont bleibt. Trotzdem versucht sie, sich ihre Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Denn sie ahnt, dass Tinus das Thema wieder ansprechen wird.
»Hast du mit Kirsten noch mal über deine Albträume gesprochen?«
»Ja, natürlich.«
»Und was sagt sie dazu?«
»Na ja, eigentlich ist es nur ein einziger, immer wiederkehrender Traum. Sie meint, es hat mit Stress zu tun. Dass ich mich vielleicht beruflich in einer verzwickten Lage befinde, aus der ich nicht entrinnen kann. Oder das Gefühl habe, einer Situation ausgeliefert zu sein.«
»Und, hast du das?«
»Klar habe ich ab und zu Stress. Wer hat das nicht? Aber ich arbeite jetzt seit fast zwölf Jahren in meinem Beruf und seit drei Jahren Teilzeit. So schlimm ist es nicht.«
»Du weißt, dass du gar nicht arbeiten müsstest.«
»Ach, Tinus, das Thema hatten wir doch schon. Du weißt, dass ich nicht der Typ dafür bin, zu Hause zu bleiben und Unterwäsche zu bügeln.«
»Du übertreibst. Was ist so schlimm daran, sich um sich selbst und die eigenen vier Wände zu kümmern? Care-Arbeit ist auch Arbeit, eine sehr wichtige sogar. Vielleicht solltest du dir eingestehen, dass du eine Pause brauchst. Es sagt ja niemand, dass du nicht wieder einsteigen könntest, wenn es dir besser geht.«
Sie seufzt. Es ist süß, wie er sich sorgt. Und überhaupt, wer würde sich keinen Partner wünschen, der so liebevoll ist? Manchmal wird ihr seine Beharrlichkeit zu viel. Sie umrundet den Frühstückstisch und setzt sich auf seinen Schoß. Mit den Fingern fährt sie ihm durch die frisch gewaschenen dunkelbraunen Haare. An den Schläfen sind sie bereits grau meliert, was ihn nicht weniger attraktiv erscheinen lässt. Sie streicht ihm über den Nacken und die sehnige Schulterpartie.
»Ich weiß ja, dass du es gut meinst, Tinus.«
»Hm.«
»Deshalb will ich dich ja auch heiraten.«
»Nur deshalb?«
»Lass mich überlegen … Vielleicht auch noch wegen der einen oder anderen Sache.«
»Soso.«
Tinus zieht sie näher an sich heran. Er riecht nach Kaffee und Aftershave. Marla lässt die Zungenspitze über seine Ohrmuschel gleiten und beißt ihm spielerisch ins Ohrläppchen. Sie spürt, wie sich sein Atem beschleunigt.
»Bist du etwa schon fertig mit dem Frühstück?«, flüstert sie ihm ins Ohr.
Statt einer Antwort hebt er sie hoch und trägt sie ins Schlafzimmer.
Marla springt am nächsten Morgen aus der U-Bahn und eilt zu den Rolltreppen. Im Gespräch mit ihrer Kollegin hat sie mal wieder die Zeit vergessen. Das passiert ihr neuerdings öfter, obwohl sie immer so stolz auf ihr Zeitmanagement war. Sie hastet an Gestalten vorbei, die sich mit lethargischen Gesichtsausdrücken nach oben transportieren lassen. Wahrscheinlich die Frühjahrsmüdigkeit. Wobei: Ist man nicht irgendwie immer müde?
Außer Atem öffnet sie die Praxistür. Dr. Kirsten Selinger, steht in dezenten Lettern an der Klingel. Fünf nach vier, also beinahe pünktlich. So gut Tinus und ihre Therapeutin auch befreundet sind, nach einer Stunde ist Schluss, denn Kirsten ist gut gebucht. Und da sie sich ihre Sitzungen – zu Recht – teuer bezahlen lässt, möchte Marla keine wertvollen Minuten verstreichen lassen.
»Tut mir leid, im Büro war viel los heute.«
»Kein Problem, mach’s dir bequem.«
Marla lässt sich auf den Sessel sinken, der sie in Empfang nimmt wie ein guter Freund. Die perfekte Mischung aus Unterstützung und Geborgenheit. Mit der Handfläche streicht sie über das weiche Nubukleder der Armlehne.
»Gibt’s den im freien Handel?«, fragt sie.
»Den Sessel? Ja. Allerdings dürfte es schwierig sein, ihn zu bekommen. Limitierte Spezialedition. Ich hatte das Glück, einen der letzten zu ergattern.«
Das wundert Marla nicht. Wie Tinus hat Kirsten einen Hang zu Dingen, die durch ein gezieltes Understatement auf ihren Wert hinweisen. Wie die fast unscheinbaren Radierungen, die ihr Behandlungszimmer zieren, oder die wahlweise cremefarbenen oder hellblauen Kaschmirpullover, die sie im Wechsel mit schlichten weißen Seidenblusen trägt. Old Money Style nennt man so was, hat Marla neulich in einem Artikel gelesen.
»Wie schläfst du zurzeit?«, kommt Kirsten ohne Umschweife zur Sache und streift sich eine dezent blondierte Haarsträhne ihres wie immer perfekt gestylten Bobs hinters Ohr.
»Ehrlich gesagt, unverändert. Mindestens dreimal pro Woche habe ich diesen Traum und wache danach schweißgebadet auf.«
»Hast du die Dinge ausprobiert, die wir beim letzten Mal besprochen haben?«
»Ja, alle. Jeden Tag. Ich habe vorm Einschlafen feste Rituale eingehalten, Entspannungsübungen gemacht und Schlafmeditationen versucht. Plus hochdosierten Baldrian, Melatonin et cetera. Und hier«, Marla kramt in ihrer Tasche und zieht ein Notizbuch hervor, »ist mein Schlaftagebuch. Ich habe jeden Morgen meine Träume notiert. Es war fast immer der gleiche.«
»An unterschiedlichen Tagen in der Woche?«
»Ja. Es scheinen keine bestimmten Tage betroffen zu sein. Der Albtraum kommt, wann er will.«
Kirsten nimmt das Tagebuch und blättert es kurz durch. »Hast du dir die neue Traumgeschichte, die wir zusammen entwickelt haben, regelmäßig vorgestellt?«
»Das auch. Ich spiele die neue Handlung jeden Tag mehrmals im Kopf durch und habe sie Tinus bis ins kleinste Detail erzählt. Den Albtraum beeinflusst das nicht im Geringsten.«
»Und die Übungen zum Wachträumen haben ebenfalls keinen Erfolg gebracht?«
»Leider nein.«
»Das tut mir leid. Nicht alle Menschen können sich das luzide Träumen antrainieren. Belastet der schlechte Schlaf deinen Alltag?«
»Extrem. Im Büro hält mich zwar meistens die Arbeit wach. Sobald ich zu Hause bin, falle ich regelrecht in ein Loch. Ich fühle mich ständig erschöpft und habe kaum noch Lust, etwas zu unternehmen. Das tut mir für Tinus leid. Ich möchte nicht, dass unsere Beziehung darunter leidet.«
»Darüber mach dir mal keine Gedanken. Er vergöttert dich.« Kirsten zwinkert ihr zu.
»Außerdem habe ich zunehmend Angst davor einzuschlafen. Das führt dazu, dass ich jetzt auch noch Einschlafprobleme kriege. Es ist wie ein Teufelskreis, aus dem ich nicht herauskomme.«
Beim letzten Satz versagt Marla die Stimme. Tränen rinnen ihr über die Wangen. Mit einem Schluchzen lässt sie ihrer Erschöpfung freien Lauf. Diese tiefe, manchmal geradezu erdrückende Erschöpfung.
Kirsten reicht ihr eine Packung Taschentücher. Marla nimmt sie dankbar an. Sie putzt sich die Nase und braucht eine Weile, bis sie sich beruhigt hat. Dann kann sie Kirsten wieder in die Augen schauen. Der Gefühlsausbruch ist ihr peinlich, obwohl sie weiß, dass er das nicht sein müsste.
Die Therapeutin wartet einen Moment, bevor sie weiterspricht. »Wie du bereits weißt, sind wiederkehrende intensive Albträume meist auf traumatische Erlebnisse, große Ängste oder besonders starke Belastungen zurückzuführen. Diese müssen den Betroffenen nicht einmal bewusst sein.«
»Ich wüsste tatsächlich nicht, welche das sein sollten. Auf der Arbeit fühle ich mich – abgesehen von der ein oder anderen stressigen Situation – wohl. Und meine Kindheit haben wir ja schon während der Anamnese zu Beginn durchgekaut. Bis auf die Trennung meiner Eltern kann ich mich an keine schlimme Erfahrung erinnern, zumal das Ganze ohne Rosenkrieg ablief. Ich habe zu beiden ein gutes Verhältnis.«
»Vielleicht lief es zu glatt?«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht hast du dich und deine Gefühle bewusst zurückgehalten, damit die Trennung für alle Beteiligten glimpflich verläuft. Kinder, die eine Scheidung miterleben, sitzen immer zwischen den Stühlen. Damit die Situation nicht noch schmerzhafter wird, neigen einige dazu, sich möglichst unauffällig zu verhalten.«
»Es allen recht zu machen, meinst du?«
»So könnte man es bezeichnen.«
Marla runzelt die Stirn. »Ich habe tatsächlich ein großes Harmoniebedürfnis. Eine Kollegin hat mir sogar mal gesagt, ich sei ein People Pleaser. Erst habe ich mich darüber geärgert, im Zweiten bin ich nachdenklich geworden. Vielleicht stelle ich meine eigenen Bedürfnisse manchmal wirklich zu sehr zurück.«
»Zum Beispiel in deiner Beziehung zu Tinus?«
»Hm, ich weiß nicht. Darüber müsste ich länger nachdenken.«
»Wie läuft es denn mit euch beiden?«
»Na, du kennst ihn ja. Er ist einfühlsam, bisweilen fast zu sensibel. Ständig sorgt er sich um mich.«
»Du weißt, warum?«
»Ja, ich kenne die Geschichte von seiner Ex-Frau. Gerade deshalb möchte ich ihn ja so ungern mit alldem hier belasten.«
Marla putzt sich noch einmal die Nase, während Kirsten einen Schluck Wasser trinkt. Als sie das Glas wieder abgesetzt hat, fährt sie fort.
»Hast du schon mal etwas von Traumdeutung gehört, Marla?«
»Freud und Jung und so? Klar, das hatten wir in der Schule. Ist ja nicht mal zwanzig Jahre her.« Sie versucht ein schiefes Lächeln.
»Traumdeutung wird oft in die Esoterikecke geschoben. Dazu tragen leider auch all die verschwurbelten Deutungsversuche selbst ernannter Heiler und Gurus bei. Zu Unrecht. Für bestimmte Therapien kann eine professionelle Analyse von großem Nutzen sein, vor allem wenn man mit anderen Mitteln nicht weiterkommt.«
»Wie bei mir?«
»Einen Versuch wäre es wert. Eine Traumdeutung könnte uns auf die Spur verdrängter Erlebnisse oder Ängste bringen, die den Albtraum hervorrufen. Haben wir den möglichen Auslöser erst einmal entdeckt, können wir an seiner Bewältigung arbeiten.«
»Bietest du so etwas an?«
»Dafür gibt es Spezialisten beziehungsweise eine Spezialistin, die ich dir besonders empfehlen würde. Sie führt eine sogenannte neuronale Traumanalyse durch. Dabei wird die betroffene Traumsequenz mit technologischer Unterstützung analysiert, die auf selbstlernender künstlicher Intelligenz beruht. Diese Szene gleicht die KI mit unzähligen weiteren Traumbildern ab, auf die sie Zugriff hat und mit denen sie trainiert wurde. Dadurch erkennt sie Muster, auf deren Basis eine erstaunlich präzise Deutung vorgenommen werden kann.«
»Das klingt ja spannend.«
»Ist es auch. Es mutet ein wenig wie Science-Fiction an, obwohl es schlicht auf neuesten technologischen Erkenntnissen beruht. Warum sollte man sich die wissenschaftlichen Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht auch in der Psychotherapie zunutze machen?«
»Muss ich mir dafür einen Chip einpflanzen lassen?«
»Ach komm, an den Quatsch glaubst du doch nicht. Soweit ich es verstanden habe, misst das Gerät deine neuronalen Strömungen und ist in der Lage, daraus Bilder zusammenzusetzen. Die genaue Funktionsweise wird dir die Spezialistin besser erläutern können. Ich erhalte nur die Analysen, nach denen ich eine Therapie erstelle. Die sind viel genauer als die meisten psychoanalytischen Deutungen. Der Erfolg spricht für sich.«
»Nenn mal ein konkretes Beispiel.«
»Die Methode hat bei einem meiner Patienten ein verdrängtes traumatisches Ereignis aus der Kindheit zum Vorschein gebracht. Daran konnten wir anschließend arbeiten.«
»Lass mich raten, es ging um die Unterdrückung frühkindlicher Triebe, die ein schweres Trauma ausgelöst haben.« Die Ironie in Marlas Stimme ist nicht zu überhören.
»Ah, der Schulunterricht hat Spuren hinterlassen. Freud lässt grüßen. Ich kann verstehen, dass du skeptisch bist. Ich war es anfangs auch. Allerdings konnten wir auf diese Weise innerhalb weniger Wochen Erfolge erzielen, die in den Monaten davor nicht möglich gewesen waren. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.«
»Traumdeutung 4.0 sozusagen.« Marla mustert ihre Therapeutin. Kirsten ist nicht der Typ, der sich auf Hokuspokus einlässt. Außerdem hat sie einen guten Ruf, der Terminkalender ihrer Praxis ist voll. Vielleicht sollte sie ihr einfach vertrauen.
»Wenn du möchtest, vereinbare ich für dich einen Termin bei der Spezialistin, und du schaust dir das Ganze erst mal in Ruhe an. Solltest du weiterhin Zweifel haben, können wir es mit einer konventionellen Traumdeutung versuchen.«
Marla zögert und nickt schließlich. Da wird Tinus Augen machen, wenn sie ihm das erzählt.
*
Nachdem sie Marla zur Tür begleitet hat, lässt sich Kirsten Selinger auf ihren Stuhl fallen. Das Gespräch hat sie viel mehr angestrengt, als es nach außen vermutlich gewirkt hat. Für einen Moment gestattet sie sich, die sorgsam gepflegte Fassade fallen zu lassen.
Distanz! Du musst die berufliche Distanz bewahren! So etwas wie damals darf dir nicht noch einmal passieren.
Sie schließt die Augen und atmet tief durch. Bilderfetzen schießen ihr durch den Kopf: eine tiefe Grube im Nebel, ein Sturz, ein lebloser Körper. Ist das ein Röcheln oder bloß ihr keuchender Atem? Beeil dich!
Es braucht eine Weile, bis die Bilder verfliegen und sich ihr Pulsschlag wieder beruhigt. Einatmen, ausatmen. Das hat sie gelernt, darin ist sie gut.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür, wahrscheinlich die Sprechstundenhilfe. Als Kirsten öffnet, ist ihr professionelles Lächeln längst zurückgekehrt.
Liz’ Tagebuch, 23. Juni 2012
Heute habe ich Chest kennengelernt. Wir haben uns über Bonnie und Clyde unterhalten. Ich meine, wer redet denn in unserem Alter über so was? Auf einer Studiparty? Er hat angefangen, und ich fand’s so schräg, dass ich eine ganze Stunde mit ihm auf dem Balkon stand. Unter den Rauchern, was ich eigentlich furchtbar finde. Aber er war so witzig, na ja, sagen wir mal, gewitzt. Zumindest dafür, dass er BWL-Student ist. Achtes Semester, nächstes Jahr will er seinen Master machen.
Danach haben wir getanzt. Und was soll ich sagen? Er hat sich geschickter angestellt als ich. Trotz meiner fünf Jahre Ballettunterricht, die ich als Kind genießen durfte. Okay, besonders viel Talent hatte ich nie. Er hat mir Discofox gezeigt, das war ein großer Spaß.
Und wie ich so bin, habe ich es natürlich gleich rausgehauen: Wir könnten ja mal zusammen einen Tanzkurs besuchen. Keine Ahnung, wie ich auf die Idee gekommen bin. Mit zwei linken Füßen. Da war mein Mund mal wieder schneller als mein Kopf. Er hat genauso schnell geantwortet: Klar, warum nicht? Dann hat er mich an den Hüften gepackt, hochgehoben und durch die Luft gewirbelt.
Bei jedem anderen hätte ich das als übergriffig empfunden. Bei Chest nicht. Ich weiß nicht, was genau er an sich hat. Irgendwie hat er das Talent, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen und zu tun. Soweit ich das jetzt schon beurteilen kann. Ich werde es herausfinden. Denn am Samstag haben wir ein Date. Ob ich mir schon mal Tanzschuhe kaufen soll?
»Eine KI-Technologie, die auf Traumdeutungen spezialisiert ist?«
Wie erwartet, reagiert Tinus genauso perplex wie Marla. Er trinkt einen Schluck Rotwein, von dem er sich jeden Abend ein Glas gönnt. Marla hatte es ihm eine Zeit lang gleichgetan, in der Hoffnung, besser schlafen zu können. Aber der Alkohol erreichte genau das Gegenteil. Nachdem sie angenehm benebelt eingenickt war, hatte sie der Traum umso heftiger aus dem Schlaf gerissen. Den Rest dieser Nächte hatte sie verschwitzt und aufgewühlt wach gelegen. Ähnlich war es ihr mit Tabletten ergangen, die Kirsten ihr probehalber verschrieben hatte. Mit der zusätzlichen Nebenwirkung, dass sie am folgenden Tag vollkommen neben sich stand und Herzrasen hatte.
»Klingt spooky, nicht wahr? Andererseits würde es nicht zu Kirsten passen, ihre Patientinnen und Patienten zu Versuchskaninchen zu machen. Ich denke, das Ganze muss Hand und Fuß haben.«
»Vielleicht bist du ein hoffnungsloser Fall. Nachdem alles andere nicht geholfen hat, wirst du jetzt ins Labor gesteckt.«
»Pass bloß auf!« Marla droht ihm mit dem Buttermesser, während Tinus lacht.
»Probier’s aus«, sagt er schließlich, »wenn du möchtest. Du kannst die Therapie jederzeit abbrechen. Oder gar nicht erst anfangen, sollte dir irgendetwas dubios erscheinen.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich kann mir die Gehirnwäsche ja mal genauer anschauen. Wobei … wer weiß, was die so alles zum Vorschein bringt?«
Am Abend darauf sind sie mit Jaron und Erik zum Klettern verabredet. Marla ist müde, sie hat trotzdem eingewilligt. Wenn sie jetzt auch noch ihre Hobbys und Freunde vernachlässigt, nimmt ihr die Schlaflosigkeit am Ende alles Wichtige. Außerdem hat die Atmosphäre in der Kletterhalle eine belebende Wirkung auf sie. Ein Blick nach oben, und die Energie kehrt zurück.
»Bist du dir sicher, dass du noch in deinen Gurt passt?« Tinus grinst Erik breit an. Der hat über die Osterfeiertage tatsächlich ordentlich zugelegt.
»Pass du mal besser auf, dass du mit deinen Spaghettiärmchen nicht von der Wand fällst«, kontert Erik.
Tinus lacht. Die Behauptung ist zwar maßlos übertrieben, aber er ist in der Tat ziemlich schlank, was nicht über seine Kraft hinwegtäuschen sollte. Marla ist immer wieder erstaunt, wie mühelos er selbst schwierigste Passagen überwindet.
Jaron drückt seinem Freund einen Kuss auf die Lippen. »Du bist nahezu perfekt, Schatz.«
»Was heißt denn hier nahezu?« Erik schnaubt entrüstet und zieht seinen Gurt noch etwas enger.
Jetzt muss auch Marla lachen.
»Möchtest du zuerst klettern?«, fragt Tinus.
»Von mir aus gern. Zu Höchstleistungen werde ich heute sowieso nicht auflaufen.«
»Du siehst müde aus«, bemerkt Jaron.
»Sie schläft seit einiger Zeit schlecht«, antwortet Tinus an Marlas Stelle.
Die mitfühlenden Blicke ihrer Freunde ignorierend, knotet sich Marla schnell ins Seil ein. »Los geht’s! Ich klettere als Erstes diese Route hier.«
Nach einem Partnercheck und einem flüchtigen Kuss auf den Mund steigt Marla in die Route ein. Es tut gut, die raue Oberfläche der Griffe unter den Fingern zu spüren. Sie schiebt sich Tritt für Tritt nach oben und genießt die Dehnung und Spannung ihres Körpers.
Da, die erste schwierige Stelle! Sie muss sich weit strecken und leicht abstoßen, um den nächsten Griff zu erreichen. Dabei lösen sich ihre Füße kurz von der Wand, und das Adrenalin schießt ihr durch die Adern. Das erste Mal an diesem Tag fühlt sie sich hellwach.
Als Tinus sie vor drei Jahren zum Klettern brachte, wusste sie gleich, dass sie ihren Sport gefunden hat. Mit fokussierter Beharrlichkeit wagte sie sich schnell an die komplizierteren Routen heran und klettert mittlerweile nur einen Schwierigkeitsgrad niedriger als Tinus. Eine Weile waren sie bis zu dreimal wöchentlich in der Halle. Dann fingen die Albträume an, und Marla fehlte immer öfter die Energie.
Mit einem Kraftakt erreicht sie den letzten Griff, gibt Tinus ein Zeichen und lässt sich erleichtert ins Seil fallen. Er lässt sie langsam ab. Auf dem Weg nach unten stößt sich Marla in gleichmäßigen Bewegungen von der Wand ab und lässt den Blick durch die Halle schweifen.
Sie mag die zugleich ge- und entspannte Stimmung, den Kreidegeruch in der Luft und das Klackern der Karabiner, wenn das Seil eingehängt wird. Fast alle hier haben ein »Projekt«, an dem sie arbeiten. Eine Route mit einer besonderen Schwierigkeit, die sie nach und nach zu meistern lernen. Wären doch alle Projekte im Leben so klar definiert wie eine Kletterroute.
Unten angekommen, ist Marla immer noch außer Atem. Trotzdem spürt sie bereits jetzt, wie ihr die altbekannte Müdigkeit zurück in die Glieder kriecht.
»Gut gemacht«, sagt Tinus und küsst sie. »Aber musstest du gleich die schwierige Route zum Einstieg wählen? Eigentlich hättest du dich erst mal warmklettern sollen.«
»Ja, ich weiß, Onkel Tinus.« Marla verdreht die Augen. »Dann darfst du mir jetzt gern zeigen, wie es richtig geht.«
Zweieinhalb Stunden später sitzen sie im Bistro der Kletterhalle. Marla fallen fast die Augen zu, während sie an einem Panino knabbert.
»Was ist mit euren Kletterplänen im Sommer?«, fragt Erik. »Habt ihr noch vor, die große Bergtour in den Alpen zu machen?«
»Hm, wir müssen schauen, wie es Marla geht.«
»Was soll das denn heißen?«, fährt Marla ihren Freund an und verschluckt sich fast an einem Stück Brot.
»Wenn du weiterhin so schlecht schläfst, wird dir die Kraft dafür fehlen.«
»Ich lass mir doch davon nicht unseren Urlaub verderben! Und überhaupt, können wir da erst mal drüber reden, bevor du es gleich aller Welt erzählst? Das geht mir total auf die Nerven.«
Betretenes Schweigen am Tisch. Erik räuspert sich und trinkt einen Schluck von seiner Apfelschorle.
»Okay, Entschuldigung, war nicht so gemeint.« Marla ärgert sich über ihre Impulsivität. Das passiert ihr in letzter Zeit öfter. Gereiztheit ist ein typisches Symptom von Schlafmangel, hat Kirsten ihr erklärt. »Ich weiß ja, dass du es gut meinst. Aber ich bin erwachsen und kann selbst Entscheidungen treffen.«
»Schon gut, wir reden später darüber«, erwidert Tinus. »Irgendjemand einen Muffin zum Nachtisch?«
Erik und Jaron schütteln die Köpfe, und Marla murmelt ein »Nein danke«.
Tinus steht auf, um sich selbst einen zu holen. Marla weicht den Blicken ihrer Freunde aus.
»Du musst ihn verstehen«, sagt Jaron. »Die Sache mit Yamira damals hat ihn total aus der Bahn geworfen. Er macht sich Sorgen.«
Marla nickt verlegen. Immer wieder diese Geschichte mit seiner Ex-Frau. Wie kommen bloß alle darauf, Yamira könnte etwas mit ihr zu tun haben? »Das ist deine Wahrnehmung«, hört sie Kirstens Stimme in ihrem Kopf. »Niemand vergleicht dich mit ihr.« Andererseits wäre das nicht verwunderlich bei dem Verhalten, das sie manchmal zeigt. Sie muss lernen, sich besser im Griff zu haben. Entschuldigend lächelt sie Tinus an, als er an den Tisch zurückkehrt.
»Ich werde mir die Therapie anschauen«, sagt Marla später im Auto zu ihm.
In dieser Nacht ist der Albtraum besonders schlimm.
Liz’ Tagebuch, 26. Juni 2012
Herrje, es ist passiert. Ich habe mich Hals über Kopf verliebt. Das letzte Mal habe ich mich mit sechzehn so gefühlt, als ich meinen ersten Freund hatte. Also einen ernst zu nehmenden. Auch Chest scheint es ernst zu meinen. Die meisten Kommilitonen wollen bloß ihren Spaß haben, was ja irgendwie verständlich ist. Wer will sich mit Anfang zwanzig schon festlegen, wenn einem die Welt offensteht?
Er hat mich zum Italiener eingeladen und mir dabei zugesehen, wie ich eine Vorspeise, eine riesige Pizza und ein Tiramisu verschlungen habe. Wenn ich nervös bin, esse ich viel, was soll ich machen? Er hat gegrinst und meinte, endlich mal jemand, dessen Reste er nicht am Ende verzehren müsste. Was immer er mir damit sagen wollte.
Er ist – wie würde meine Oma sagen? – charmant. Und so interessiert an allem, was ich tue. Mein Studium, meine Familie, mein Lieblingsessen … Ich hatte das Gefühl, dass er mich nach den zwei Stunden besser kennt als ich mich selbst. Über sich hat er nur geredet, wenn ich ihn danach gefragt habe. Mal eine angenehme Abwechslung, meistens ist es nämlich umgekehrt.
Dabei muss er sich nicht verstecken. Viel gereist, viel erlebt, sogar einen Job hat er schon in Aussicht. In der Firma, in der er gerade ein Praktikum absolviert. Und dann riecht er auch noch so gut! Ich wäre am liebsten um den Tisch herum in seinen Hemdausschnitt gekrochen.
Was ich zwei Stunden später auch mehr oder weniger tatsächlich getan habe. Natürlich bin ich mit zu ihm. Ich konnte gar nicht anders. Als ich sein übertrieben ordentliches Einzimmerapartment betreten habe, wusste ich zwar erst nicht so recht, ob das passen würde, aber es hat gepasst – und wie.
Rate, was er als Allererstes getan hat! Richtig, einen Verdauungstee. Hochromantisch, wie ich finde. Irgendwie lag mir die Pizza nämlich schwer im Magen. Danach hat er mich massiert, und dann kam eines zum anderen. Wir haben uns geküsst, berührt und schließlich miteinander geschlafen.
Es klingt so lapidar, wie ich das hier schreibe. Aber das war es ganz und gar nicht. Es war unglaublich zärtlich, sexy und erregend zugleich. Er schien genau zu wissen, was mir gefällt. Oder er hat sich bloß wahnsinnig geschickt angestellt. Ich weiß gar nicht, ob ich mich überhaupt schon mal so fallen lassen konnte wie bei ihm. Und das direkt beim ersten Date!
Natürlich habe ich ihm das nicht gesagt. Nicht dass er sich etwas darauf einbildet. Ich habe zwar ein gutes Gefühl, nur so gut kenne ich ihn ja nicht. Erst mal abwarten, wie das nächste Treffen wird. In zwei Tagen, obwohl er sich auf eine Klausur vorbereiten muss. Mensch, bin ich aufgeregt. Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal eine Pizza.
»Dr. Amal Jaziri, ich grüße Sie.« Die Leiterin des Traumforschungsinstituts streckt Marla die Hand entgegen. Ihr kurzer, fester Händedruck strahlt Ruhe aus, genauso wie ihr gesamtes Erscheinungsbild. Von weißem Kittel keine Spur, sie trägt Jeans und eine Bluse. Sie ist ungefähr so groß wie Marla und hat ihre glatten dunklen Haare zu einem unprätentiösen Pferdeschwanz zusammengebunden. Vielleicht ist es gerade das, was ihrem schmalen, markanten Gesicht einen besonderen Reiz verleiht. Mit ihrer Stupsnase und ihren kaum zu bändigenden Locken im undefinierbaren Rotbraunblondton kommt sich Marla regelrecht tollpatschig vor.
Sie begleitet die Wissenschaftlerin in einen Raum, der eher an ein Wohnzimmer erinnert als an eine medizinische Forschungseinrichtung. Wo sind die vielen Kabel, Scanner und Elektroden, die Marla erwartet hat?
Dr. Jaziri lächelt, als sie Marlas erstaunten Blick bemerkt. »Unsere Patient*innen sollen sich bei uns wohlfühlen. Wer möchte schon in einer Umgebung schlafen, die an eine Schaltzentrale erinnert?«
»Müsste hier denn nicht irgendwo ein Tomograf oder Ähnliches herumstehen? Ich hatte es mir futuristischer vorgestellt.«
Die Wissenschaftlerin lacht, wobei ein Grübchen auf ihrer Wange sichtbar wird. »Keine Sorge, technisch sind wir gut aufgestellt. Unsere kleine Raumstation werden wir erst später betreten. Zunächst sollten wir uns über Sie unterhalten.«
Sie deutet auf einen Sessel, in den sich Marla aufatmend niedersinken lässt. Sie fühlt sich an das bequeme Designerstück bei Kirsten erinnert. Ob sie in diesen Kreisen nicht nur Patientenakten, sondern auch Dekotipps tauschen?
Statt einer Akte zieht Dr. Jaziri ein Tablet aus ihrer Tasche und tippt darauf herum. War ja klar, dass hier niemand mehr analog unterwegs ist.
»Frau Selinger hat mir die wichtigsten Informationen über Ihren Therapieverlauf zur Verfügung gestellt. Ich fasse mal zusammen: Sie leiden seit rund fünf Monaten an chronischen Schlafstörungen und sind seit neun Wochen bei ihr in Behandlung. Auslöser ist ein wiederkehrender Albtraum, der Sie vier- bis fünfmal pro Woche aus dem Schlaf reißt und empfindlich in Ihrem Schlaf-Wach-Rhythmus stört. Konventionelle Therapieansätze inklusive einer medikamentösen Behandlung haben wenig bis keinen Erfolg gebracht. Ebenso wenig geholfen hat eine Imagery-Rehearsal-Therapie, also der Versuch, das Traumgeschehen mittels Imagination umzuschreiben. Die Folge sind Erschöpfung, Reizbarkeit und depressive Verstimmungen. Ist das so weit richtig?«
»Ja, das stimmt im Großen und Ganzen. In der vergangenen Nacht bin ich verschont geblieben, aber die Nacht davor war schlimm.«
»Können Sie bestimmte Trigger in Ihrem Alltag ausmachen, die den Albtraum auslösen könnten?«
»Das hat mich Frau Selinger auch gefragt. Der Traum kommt, wann er will. Manchmal nach stressigen Tagen, manchmal nach rundum schönen und entspannten. Selbst wenn ich mit einem sehr guten Gefühl einschlafe, ist das keine Garantie, dass ich auch so wieder aufwache. An einem Wellnesswochenende mit meinem Verlobten in einem traumhaften Berghotel hat es mich beispielsweise gleich drei Nächte hintereinander erwischt. Ohne erkennbaren Grund.«
»Verstehe. Schildern Sie doch bitte noch einmal in Ihren eigenen Worten, wie dieser Albtraum aussieht.«
Marla räuspert sich und knetet ihre Hände.
»Ich bin in einer dunklen Umgebung, es ist kalt und nass. Etwas verfolgt mich und nähert sich unaufhaltsam. Ich höre ein diabolisches Kichern und spüre einen eisigen Luftzug im Nacken. Ich will fliehen, komme aber nicht vom Fleck. Je schneller ich renne, desto weniger bewege ich mich vorwärts. Ich keuche und habe wahnsinnige Angst. Kurz bevor ich erschöpft aufgebe, öffnet sich vor mir ein schwarzes Loch. Ich stürze, nein, ich werde regelrecht hineingesogen. Einen winzigen Moment vor dem Aufprall wache ich auf. Schweißgebadet und mit Herzrasen. Oft schreie ich dabei so laut, dass mein Verlobter davon wach wird.« Sie schluckt und schiebt die Hände unter die Oberschenkel. Sie sind eiskalt.
»Verstehe«, sagt die Wissenschaftlerin, diesmal in einem deutlich sanfteren Tonfall. »Haben Sie eine Vorstellung, wer oder was Sie verfolgt?«
»Nein, ich kann den Verfolger nicht sehen und drehe mich auch nicht nach ihm um.«
»Berührt er Sie, oder fügt er Ihnen in anderer Weise Schmerz zu?«
»Nicht wirklich. Aber ich spüre, dass es jeden Augenblick so weit sein könnte. Die Angst schnürt mir förmlich die Kehle zu.«
»Danke für die Schilderung. Laufen und nicht vorwärtskommen ist ein Traumbild, das häufig auftritt. Oberflächlich interpretiert, kann es ein Zeichen dafür sein, dass man im wahren Leben Probleme hat, denen man sich ausgeliefert fühlt. Die Symbolik trifft es recht gut. Man versucht, vor der Situation zu fliehen, und kann sich ihr nicht entziehen.«
»Die Erklärung kenne ich. Doch ich weiß beim besten Willen nicht, worin diese Belastungen bestehen sollen. Klar habe ich wie alle anderen meine Alltagsproblemchen. Objektiv betrachtet, geht es mir sehr gut. Beruflich wie privat. Ich kann mit der Gesamtsituation mehr als zufrieden sein. Was will mir der Traum also sagen?«
»Genau deshalb sind Sie hier.« Dr. Jaziri legt das Tablet beiseite und steht auf. »Kommen Sie mit. Ich weihe Sie jetzt in die Geheimnisse der neuronalen Traumanalyse ein. Das ist besser, als nur in der Theorie darüber zu sprechen.«
Marla folgt ihr neugierig und etwas angespannt in den nächsten Raum. Er entspricht schon eher ihren Vorstellungen von einem wissenschaftlichen Institut, in dem Hirnaktivitäten gemessen werden. Trotzdem hat es nichts von der sterilen Atmosphäre des Labors, in dem sie vor Jahren mal ein MRT hatte, damals allerdings aus gänzlich anderen Gründen.
Abgesehen von ein paar technischen Apparaturen ist der Raum ähnlich eingerichtet wie ein Hotelzimmer. Es gibt einen Sessel, einen Tisch mit ein paar Zeitschriften, einen offenen Kleiderschrank und einen Flachbildschirm an der Wand.
Den größten Unterschied macht das Bett. Es ist schmal und besteht am Kopfende aus einer Miniaturröhre. Die unterscheidet sich stark von dem riesigen röhrenförmigen Gerät, in das sie für ihren MRT geschoben wurde.
»Ist das der Tomograf?«, fragt Marla.
»Die neueste Generation eines funktionellen, hochauflösenden Magnetresonanztomografen, richtig. Angepasst an die Anforderungen unseres Arbeits- und Forschungsfelds. Deshalb ist er deutlich kleiner als die MRTs, die Sie vielleicht kennen. Wir müssen eine möglichst natürliche Schlafatmosphäre schaffen. Die Patient*innen verbringen in diesem Gerät ja nicht nur ein paar Minuten, sondern eine ganze Nacht.«
»Ist das nicht schädlich?«
»Überhaupt nicht. Im Gegensatz zu einer Computertomografie oder Röntgenaufnahme ist der Körper bei einer Kernspin- beziehungsweise Magnetresonanztomografie keiner Strahlung ausgesetzt. Das bildgebende Verfahren funktioniert mithilfe eines starken Magnetfelds, das unbedenklich für die Gesundheit ist. Und da kein Kontrastmittel benötigt wird, fallen mögliche allergische Reaktionen komplett weg.«
»Was ist mit den lauten Klopfgeräuschen während der Untersuchung?«
»Ich merke, Sie sind gut informiert«, erwidert die Wissenschaftlerin. »Bei dieser Ausführung des fMRT sind die Geräusche auf ein Minimum reduziert. Außerdem erhalten Sie spezielle, kaum spürbare Ohrstöpsel, die sämtliche Störgeräusche herausfiltern. Und damit Sie sich wie im eigenen Bett fühlen, können Sie sich bewegen, drehen und herumwälzen, so viel, wie Sie wollen. Im Unterschied zum klassischen MRT kann dieser feine Zauberkasten auch bewegte Bilder analysieren.«
»Wahnsinn. Was ist, wenn ich hier besser schlafe als zu Hause und gar keine Albträume bekomme?«
Die Wissenschaftlerin lacht. »Dann brauchen Sie nur noch einen Tomografen für das heimische Schlafzimmer, und Ihre Probleme sind gelöst. Ich befürchte nur, dass das keine Kassenleistung ist.«
Marla lacht befreit auf. Bislang macht das alles hier einen seriösen, geradezu harmlosen Eindruck. Dieser unscheinbare Apparat soll tatsächlich in ihren Kopf schauen können?
»Das Prinzip eines MRTs habe ich einigermaßen verstanden. Aber wie kann es sein, dass er meine Träume beziehungsweise Gedanken erkennt?«
»Das ist die Frage aller Fragen, an der die Wissenschaft seit Jahrzehnten forscht. Bereits bei einem 2011 an der Berkeley University durchgeführten Experiment gelang es mithilfe eines hochauflösenden fMRT, eine Filmszene zu rekonstruieren, die sich die Versuchsperson gerade ansah. Damals steckte die Technologie noch in den Kinderschuhen. Der richtige Durchbruch gelang erst vor ein paar Jahren.«
»Wie?«
»Unter anderem mit künstlicher Intelligenz. Stark vereinfacht ausgedrückt, handelt es sich dabei um ein lernendes System, das sich selbst weiterentwickelt. Irgendwann wurde es so gut, dass wir es für medizinische Zwecke einsetzen konnten. Mittlerweile stellt die neuronale Traumdeutung einen Therapieansatz dar, der die Psychotherapie komplett umkrempeln wird. Ich würde von nicht weniger als einer technologischen Revolution in der Traum- und Schlafforschung sprechen.«
Dr. Jaziris Augen leuchten. Marla kann ihre Begeisterung spüren. Trotzdem hat sie immer noch ein großes Fragezeichen im Kopf.
»Wie funktioniert das genau?«, fragt sie. »Wie kann das Gerät Traumbilder erkennen, die selbst ich nur undeutlich wahrnehme?«
»Das Prinzip ist folgendermaßen: Die lernfähige Technologie – nennen wir sie der Einfachheit halber KI – verknüpft die Signale beziehungsweise dreidimensionalen Muster aus Ihrem Sehzentrum mit Bildern. Dafür greift sie auf einen riesigen Datenpool zu, der sorgfältig gepflegt und ständig erweitert wird. Die Bildsequenzen, die Ihrem Traum am ähnlichsten sind, werden ausgewählt. Jetzt – hier kommt die zweite herausragende Innovation – verbindet die KI diese Bilder mit Ursachen und Diagnosen, auf die sie ebenfalls in ihrer Datenbank zugreifen kann. Diese werden als Grundlage für den weiteren klassischen Therapieverlauf genutzt. Die Diagnose, die das Programm für wahrscheinlich hält, ist für Ihre Therapeutin ein wichtiger, wenn nicht sogar der zentrale Baustein für die folgende Behandlung.«
»Das Programm oder besser die KI kann also quasi zwei Dinge. Zum einen rekonstruiert sie die Traumbilder, die sich während des Schlafens in meinem Kopf abspielen. Zum anderen wertet sie diese auch noch aus. Sie kann also mit hoher Wahrscheinlichkeit beurteilen, wodurch der Albtraum hervorgerufen wird?«
»Stark vereinfacht, ja.«
»Wow.« Marla betrachtet den fMRT. »Wenn die KI wirklich so präzise Auswertungen und Diagnosen erstellt, wäre es dann nicht eine logische Konsequenz, dass sie auch Therapieansätze empfiehlt? Wofür braucht es den Menschen überhaupt noch?«
»Das ist eine interessante Frage.« Dr. Jaziri mustert Marla eine Weile.
Sie kann den Blick der Wissenschaftlerin nicht deuten und weicht ihm aus. Irgendetwas verunsichert sie an der Frau.
»Wenn Sie unser Angebot nutzen möchten, könnten wir schon jetzt einen Termin für Ihre erste Übernachtung vereinbaren«, erklärt Dr. Jaziri, nachdem sie wieder im Vorraum Platz genommen haben.
»Die erste? Würden denn noch viele weitere folgen?«
»Das hängt davon ab, wie lange es dauert, bis dem fMRT ausreichend Daten zur Verfügung stehen, die es auswerten kann.«
»Also abhängig davon, wann und wie intensiv der Albtraum eintritt.«
»Richtig. Da das ein sehr aufwendiges und teures Verfahren ist, übernimmt die Krankenkasse maximal fünf Sitzungen. In besonders schweren Fällen mehr. Bei chronischen Schlafstörungen mit wiederkehrenden Traummustern ist die Wahrscheinlichkeit aber hoch, dass Sie bereits in den ersten Nächten die gewohnten Symptome zeigen.«
»Was passiert, wenn ich nachts Panik bekomme?«
»Sie werden selbstverständlich lückenlos überwacht. Unauffällig, damit Sie ungestört schlafen. Sollten Komplikationen auftreten, ist sofort jemand von unseren Mitarbeitenden zur Stelle.«
»Wie eine Art Babyfon?«
»Mit Kamera sogar, ja. Allerdings ohne Ton.« Die Wissenschaftlerin lächelt. »Und, möchten Sie sich auf das Abenteuer einlassen? Oder sind Sie sich noch unsicher? Sie können sich das Ganze natürlich erst mal durch den Kopf gehen lassen. Ich würde Ihnen im Anschluss Informationsmaterial zu dem Verfahren mitgeben. Und Sie müssten uns eine Einverständniserklärung unterschreiben. Das können Sie auch beim nächsten Mal machen, wenn Sie sich die Sache überlegt haben.«
Marla zögert. »Ich bin tatsächlich noch ein wenig skeptisch. Wahrscheinlich muss ich mich erst mal daran gewöhnen, dass ein Computer in der Lage ist, meine Gedanken zu ›lesen‹.« Sie malt Gänsefüßchen in die Luft. »Irgendwie klingt das für mich immer noch wie Science-Fiction.«
»Das hören wir oft. Es ist eben ein sehr neues Verfahren, das noch nicht den Weg ins öffentliche Bewusstsein gefunden hat. Das liegt daran, dass sich Menschen gern an Vertrautes klammern und Veränderungen zunächst kritisch gegenüberstehen. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Medizin klar wird, welche faszinierenden Möglichkeiten ihr dieses mächtige Instrument eröffnet – und allen anderen auch.« Dr. Jaziri zieht ein paar Unterlagen aus einem Ordner. »Lesen Sie sich das zu Hause in Ruhe durch, und melden Sie sich, wenn Sie sich entschieden haben.«
»Danke. Ich denke darüber nach.«
»Gut.«