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"Meine beste Elisa.Es ist so weit! Die Vorkehrungen sind getroffen, alles Nötige ist gepackt und meine Mutter sogar endlich zufrieden mit der Auswahl meiner Garderobe. Am Mittwoch in einer Woche werde ich nach London zurückkehren."Eine Sammlung von Kurzgeschichten, Briefen, Notizen und die Entstehungsgeschichte rund um das Buch Animant Crumbs STAUBCHRONIK.
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Seitenzahl: 201
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Copyright © 2019 by
Lektorat: Stephan R.Bellem
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Marie Graßhoff
Bildmaterial: Shutterstock bis auf
Illustrationen: Lin Rina (Briefe & S. 13/40/60/118/119/144)
Charakterillustrationen: Judith Kowalczuk
Druck: Booksfactory
ISBN 978-3-95991-813-8
Alle Rechte vorbehalten
Für
Jule, Jazz & Nona
1. Brief an Elisa
2. Animant Crumb
3. Brief an Animant
4. Thomas Reed
5. ›Inside Mr Reed‹
6. Ein historischer Roman
7. Gedicht an meine Liebste
8. Henry Crumb
9. Rachel Cohan
10. Von Kleinigkeiten, die die Welt verändern
11. Rezept für Miss Sophies Teegebäck
12. Facts and Fiction
13. Brief an Animant
14. Winston Boyle
15. Wieso es Staubchronik heißt
16. Brief an Jane
17. Elisa Hemmilton
18. Tauschgeschäfte
19. Brief an Lillian
20. Charles und Charlotte Crumb
21. Leseplan November
22. Brief an Mr Reed
23. Alfred und Lillian Crumb
24. Facts and Fiction
25. Weihnachten 1891
19. Mai 1891
Meine beste Elisa.
Es ist so weit! Die Vorkehrungen sind getroffen, alles Nötige ist gepackt und meine Mutter sogar endlich zufrieden mit der Auswahl meiner Garderobe. Am Mittwoch in einer Woche werde ich nach London zurückkehren.
Ich bin im Freudentaumel. Wer hätte gedacht, dass ich diese lärmende, stinkende Stadt so sehr vermissen könnte. Es kribbelt mir in den Fingern, wenn ich an die engen Gassen, die Teehäuser und sogar die Menschenmassen denke, die mich dort erwarten.
Lass uns unbedingt jede noch so kleine Buchhandlung ausfindig machen und die unsinnigen abendlichen Pflichtveranstaltungen mit stumpfsinnigen Herrschaften gemeinsam durchstehen. Ach, was fehlt mir dein Scharfsinn und dein beißender Witz.
Noch einen Ball muss ich ohne dich überleben, am Freitag, dann kann ich endlich meine Gedanken nach London vorauseilen lassen.
Natürlich werde ich bis zur Hochzeit bei meinem Onkel wohnen. Egal wie schlüpfrig deine Fantasie auch sein mag, in der Realität ist es unmöglich, wieder ins Personalgebäude zurückzukehren, liebe Elisa. Tür an Tür mit meinem Verlobten. Das wäre ein hausgemachter Skandal.
Apropos Skandal, meine Mutter hat einen halben Herzanfall bekommen und ein ganzes Glas Punsch in einem Zug geleert, als sie hörte, dass ich wieder in der Bibliothek anfangen möchte. Dass eine junge Frau mit Vermögen arbeitet, erschien ihr damals zwar schon skurril, aber die Aussicht, dass ich in London einen Mann treffen könnte, der meinen Ansprüchen genügt, hatte sie überzeugt. Doch dass eine verlobte Frau – oder gar eine verheiratete – einem Beruf nachgeht, ist ihr so unerklärlich wie die Tatsache, dass ich mich für einen mürrischen Bibliothekar als Gemahl entschieden habe.
Sie hätte sich jemand Gesprächigeren gewünscht, glaube ich, denn sie versucht den bedauernswerten Thomas Reed immer wieder in Diskussionen über die abstrusesten Themen zu verwickeln. Als er uns vor zwei Wochen besuchte, fragte sie ihn, was er von roter Seide halte.
Oh Elisa, ich lache schon wieder, wenn ich an seine Antwort und das Gesicht meiner Mutter denke.
Er sagte lediglich, dass er es für besser halte, sie zu tragen, als nackt zu sein und Mutter schwappte vor Schreck der Tee aus der Tasse. Danach fragte sie ihn nichts mehr und ließ den armen Kerl für einen Abend mit seinem Buch allein.
Die Verlobungsfeier hingegen war ein voller Erfolg. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, angesichts so vieler geheuchelter Glückwünsche und irritierter Blicke nicht aus der Haut zu fahren. Doch ich bin sehr stolz darauf, dass er kein einziges Mal die Nerven verlor, und sogar ab und an gelächelt hat. Ich fürchte, er ist wirklich in mich verliebt, denn er rügte mich nicht einmal, als ich mir das Lachen über ihn nicht mehr verkneifen konnte.
Als der offizielle Teil vorüber war, haben Thomas und ich uns auf eine Bank im Garten gesetzt und dort versteckt. Ich las ihm aus Grimms Märchen vor, die Onkel Alfred uns als Geschenk schickte, bis uns das Sonnenlicht ausging.
Dafür, dass mein Onkel der Verlobung mit solcher Skepsis begegnet, war sein Geschenk doch sehr passend und das einzige, mit dem wir beide etwas anzufangen wissen.
Schade, dass du nicht kommen konntest. Ich hoffe jedoch, dass deine Prüfungen gut überstanden sind und du auf der Matinee der freien Künste, von der du mir schriebst, auch wirklich die Kontakte knüpfen konntest, die du dir gewünscht hast. Dass du in die Politik gehen willst, um die Rechte der Frauen zu verteidigen, finde ich einen großartigen Entschluss und ich werde dich in dieser Sache sehr gern unterstützen, wo ich auch kann.
Ich freue mich darauf, wieder in die Bibliothek zurückzukehren, auf die Bücher und die Atmosphäre, auf Oscar und Cody. Darauf, mich nützlich zu fühlen.
Doch mir geht der Gedanke von einer Buchhandlung nicht mehr aus dem Kopf. Lass uns fantastische, der Realität völlig ferne Ideen erspinnen, wenn wir uns sehen.
In innigster Freundschaft
Animant
Auf der Suche nach meinen anfänglichen Animant-Entwürfen habe ich festgestellt, dass es die Grundidee zu diesem Buch schon viel länger gibt, als ich zuerst dachte.
Meine ersten Zeichnungen von Ani stammen aus dem Jahr 2003. Damals war sie noch die mit Elfenohren ausgestatte liebliche Assistentin eines mürrischen, magischen Archivars namens Maurice. Ihr Name war Hanna Thomson, die den Spitznamen Anny bekam.
Als ich eines Abends im Bett darüber nachdachte, fragte ich mich, ob man aus Anny nicht einen originelleren Namen machen könnte. Also reihte ich, während ich langsam einschlief, wahllos Silben aneinander, die mit »Ani« begannen.
Am nächsten Morgen war nur ein Name in meinem Kopf hängen geblieben: Animant.
Mein erster Gedankenentwurf von ihr war ein liebliches, ruhiges Mädchen mit dunkelbraunem Haar, rosigen Wangen und romantisch verträumt blickenden Augen.
Doch dann kam diese eine schicksalhafte Nacht, in der ich nicht schlafen konnte und mir diese Geschichte immer und immer wieder durch den Kopf gehen ließ. Die Gedanken wollten sich nicht abstellen lassen und ich schnappte mir kurzerhand meinen Laptop, um die ersten Worte auf Papier zu bringen.
So entstand zwischen zwei und drei Uhr morgens der Prolog, der alles auf den Kopf stellte. Denn hier war Animant auf einmal kein liebliches Mädchen mehr, das in romantischen Romanen schmökerte und von der großen Liebe fantasierte. Sie war spitzfindig, sarkastisch, zeitweilig sogar hochnäsig.
Etwa zur gleichen Zeit entdeckte ich eine Fotografie im Internet, die meine Vorstellung von Ani vervollständigte. Ein blondes Mädchen mit einem Buch vor dem Gesicht und schalkhaften Augen. Ich änderte also Animants Haarfarbe, ihre Ziele und Wünsche, und startete so in meinen ersten historischen Roman, ohne zu wissen, was mich erwarten würde.
Er zog die Augenbrauen überrascht nach oben
und zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, hob sich sein Blick über den Brillenrand
und er sah mich direkt an.
Seine Augen waren dunkelbraun wie Kastanien.
»Der Sarkasmus steht Ihnen«, meinte er,
und das leichte Schmunzeln in seinem Mundwinkel
verriet mir, dass es sich bei dieser Aussage
um ein Kompliment handelte.
»Danke.«
20. Mai 1891
Allerliebste Animant,
nun bin ich schon seit drei Wochen wieder in London und es ist gefühlt überhaupt nichts passiert. Ich weiß, Liebende schreiben sich romantische Zeilen, doch ich habe keine Idee, was ich dir mitteilen soll.
Der Bibliotheksbetrieb läuft wie immer. Oscar und Cody sind überraschenderweise froh, mich zurückzuhaben. Sie fragen ständig nach dir. Vor allem Cody.
Die Nachricht unserer Verlobung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bei Gott, wie kann es sein, dass es etwas gibt, über das ich mit niemandem gesprochen habe und das trotzdem jeder erfährt. Ich verstehe die Tratschwütigkeit der Menschen nicht.
Sogar Mrs Christy weiß es schon und lässt grüßen.
Irgendwas muss passiert sein. Sonst hat sie immer verschreckt Reißaus genommen, sobald ich das Haus betrat. Und nun scheint sie sich berechtigt zu fühlen, mich mit minutenlangen Monologen zu beehren. Als hätte ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen.
Die Welt spielt verrückt.
Zum Glück kommst du in einer Woche zurück nach London. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben. Allein weiß ich nicht damit umzugehen, außer zu sagen, sie sollten sich an dich wenden.
Deine Freundin Elisa Hemmilton hat mich vor ein paar Tagen in der Bibliothek aufgesucht, um eine Nachricht von Miss Brandon-Welderson zu überbringen. Wieso hast du nie erwähnt, dass Miss Hemmilton ihr Schützling ist? Oder habe ich es nur vergessen?
Zumindest ist es eine angenehme Abwechslung, per Brief zu kommunizieren, anstatt dass sie hier persönlich auftaucht. Vor allem, weil ich den freien Platz im Schrank mit Büchern vollgestellt habe.
Miss Hemmilton hat sich zudem persönlich bei mir entschuldigt wegen des Piratenkomplotts, das ihr beide euch erdacht hattet. Sie ist wirklich ein vorlautes Ding, das man nur in edle Kleidung gesteckt hat, um den Anschein von Schicklichkeit zu erwecken.
Ich kann nicht umhin, dich für die Wahl deiner Vertrauten zu beglückwünschen. Es schmeichelt mir sehr, dass du dich mit Menschen umgibst, die ich mögen kann.
Außerdem hat dein Onkel mich beehrt. Ich weiß allerdings nicht, wie ich sein Verhalten deuten soll. Eine brenzlige Mischung aus unterdrücktem Ärger und dem Zwang, mich nun als Teil der Familie akzeptieren zu müssen. Ich hätte laut über ihn gelacht, hätte ich nicht fürchten müssen, er würde mir dann den Kopf abbeißen.
Wirklich. Die Welt spielt verrückt. Komm schnell zurück, bevor ich am Ende ebenfalls dem Wahnsinn anheimfalle.
Was wäre das denn, wenn ein Mann mit meinen Charakterschwächen beginnen würde, sich mit anderen Menschen über unsere Verlobung auszutauschen. Nicht auszudenken, welch einen Schaden ich anrichten könnte.
Bring mir bitte den Roman über Jackson Throug’s Reise nach Indien und zurück mit. Den konnte ich bei euch nicht beenden.
In aller Liebe, die meinem Herzen zu Verfügung steht
dein Thomas
Ich habe eine Schwäche für mürrische Männer. Die stillen, die man erst knacken muss. Mit denen man viel Zeit verbringt, ehe man versteht, wie sie denken und fühlen, weil sie nicht leicht zu lesen sind.
Sogar wenn man sie selbst erfindet.
Thomas Reed war nicht nur eine Herausforderung für Animant, sondern auch für mich. Wie schreibt man eine Person, die erst unsympathisch wirken muss, obwohl man sie von vornherein liebt?
Animant lernt ihn zu Anfang als unhöflichen und arroganten Mann kennen, der auf sie herabsieht und mit Arbeit überschüttet, um sie schnellstmöglich wieder loszuwerden. Doch mit jeder neuen Facette, die sie von ihm kennenlernt, wandelt sich das Bild, das sie sich von ihm gemacht hat.
Mir war immer ganz wichtig, dass sich Mr Reeds Charakter nicht verändert. Ich wollte keine Geschichte, wo er am Anfang der böse Schuft ist und seine schlechten Eigenschaften mit den wachsenden Gefühlen für sie ablegt. Ich wollte einen beständigen Charakter.
Er ist anfangs unhöflich und am Ende immer noch, er wird es nie schaffen, Ordnung zu halten, und schaffte es, Animant gleichzeitig zu beleidigen und ihr ein Kompliment zu machen.
Was sich verändert, ist Animants Perspektive. Sie versteht, wie er es meint, worauf er Wert legt und was ihn ausmacht.
Außerdem bekommt sie durch ihn auch ihre eigenen Fehler vorgehalten, wie bei einem Spiegel, selbst wenn sie das in den ersten Kapiteln von Staubchronik nicht so sieht.
Das sorgt für einiges Konfliktpotenzial.
Am liebsten schreibe ich Gefühlsregungen und hitzige Diskussionen oder Streit. Bei Animant und ihrem Bibliothekar war mir das eine besondere Freude, ihre Dickköpfe aufeinander krachen zu lassen.
oder was zwischen dem letzten und dem
wirklich letzten Kapitel passierte
Nur irgendeine Frau, hatte er gedacht, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Wie sie an der Seite ihres Onkels in die Bibliothek hereinspaziert kam, den Kopf hoch erhoben, die Haltung einer reichen Lady, die glaubte, die Welt schuldete ihr etwas, hatte er nur daran denken können, sie schnellstmöglich wieder aus seinen heiligen Hallen zu vertreiben.
Wie hätte er damit rechnen können, dass ihre Augen nicht so glänzten, weil der Wind draußen schneidend kalt gewesen war, sondern weil sie genauso empfand wie er, als er die Bibliothek das erste Mal betrat. Die Flut an Büchern, die das Herz höherschlagen ließ, und das prickelnde Locken von Wissen.
Er hatte gedacht, sie wieder loszuwerden wäre ein Leichtes. Ein verwöhntes Mädchen an den Rand der Verzweiflung zu treiben, müsste für ihn ein Kinderspiel sein.
Doch mit Kinderspielereien hatte das, was er gerade empfand, nichts mehr zu tun.
Draußen schneite es unermüdlich und die klirrende Kälte drückte gegen die Fensterscheiben. Verbissen wickelte sich Thomas Reed enger in seinen Mantel, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, im Nebenraum den Kamin anzuheizen, und verbot sich den Gedanken daran, dass sie es gemacht hätte, wäre sie jetzt hier.
Denn sie war nicht hier. Und es war besser so.
Zumindest redete er sich das weiterhin ein, klammerte sich daran wie an einen Rettungsring auf hoher See.
Angestrengt lenkte er seine Aufmerksamkeit zurück auf den Brief, den er zu schreiben hatte, und seufzte genervt auf, als er bemerkte, dass er mit seinem Füllfederhalter schon wieder Tintenklekse auf das Papier gemacht hatte, während seine Gedanken abgeschweift waren.
Verdammt, was war denn heute los mit ihm? Sollte das mit den Wochen nicht besser, anstatt schlimmer werden? Hieß es nicht, dass Zeit alle Wunden heilte?
Er legte das Schreibwerkzeug irgendwo in dem heillosen Chaos auf seinem Tisch ab und verschob das Schreiben des Briefes auf später. Zu wenig Konzentration.
Dafür hätte er mehr schlafen müssen. Doch der Schlaf war ihm ferngeblieben, nachdem er gestern die Kiste mit den letzten Büchern aus Übersee ausgepackt hatte, die nach dem Debakel mit dem Überseekoffer ersetzt werden mussten.
Das hatte ihn aus seiner stoischen Ruhe gerissen und wieder den Finger in die Wunde gelegt, die sein zerstörtes Herz war. Er hatte sich an den Morgen zurückversetzt gefühlt, als ihn Regen, Scherben und zerstörte Bücher hier erwartet hatten. Sie war zu spät gekommen, durch den starken Wind aufgehalten, und er hatte befürchtet, dass sie gerade an diesem Tag schlussendlich doch noch die Nase voll gehabt hatte von seinen Spitzen.
Er wusste, sie hatte Kampfgeist, das bewies sie ihm jeden Tag, den sie sich durchbiss und Haltung bewahrte. Erstaunlich zu beobachten, und doch war die Frage geblieben: Wieso? Wieso stellte sich ein reiches Mädchen in eine Bibliothek und arbeitete sich die Finger wund?
Doch als sie die Treppe zu ihm hinaufgerannt kam und die Zerstörung der Bücher gesehen hatte, wurde ihm schlagartig bewusst, was den Grund für all das darstellte. Tränen standen in ihren bewölkt blauen Augen, das weiche Gesicht im völligen Entsetzen verzerrt, als habe sich ein Mord vor ihren Augen abgespielt.
Sie war hier wegen der Bücher.
Vielleicht auch aus Trotz oder Stolz oder sonst irgendwas. Aber tief in ihrem Herzen waren es die Bücher.
Wie hätte er ein Mädchen hinausekeln können, das hier hergekommen war wie er vor all den Jahren, als er noch ein Metzgersjunge gewesen war und mit seinen schmutzigen Fingern ehrfürchtig über die Buchrücken gestrichen hatte.
Konventionen und Gesellschaftsstände hatte er überwunden, um Bibliothekar zu werden. Und sie war dabei, das Gleiche zu tun.
Animant Crumb.
Er musste ihren Namen nur denken und es wärmte seine Seele im gleichen Maße, wie es sie in Stücke zerriss. Ihr ironischer Blick, das immer höfliche Lächeln auf den Lippen, welches bloß ihre wahren Gedanken verschleierte; die Art, wie sie über seine mürrischen Anwandlungen spottete.
Ein Klopfen an der Tür holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Herein«, rief er unwirsch, obwohl er lieber allein geblieben wäre. Doch es half nichts, sie alle auszuschließen. Er hatte nun mal eine Bibliothek zu leiten. Auch ohne sie.
»Mr Reed«, sprach Oscar ihn höflich an und räusperte sich, den Blick gesenkt, die Haltung sprungbereit, um Thomas Reeds Launen zu entgehen, sollten sie ihn wieder dazu bringen, Briefbeschwerer nach seinen Gehilfen zu werfen.
»Was gibt es, Oscar?«, fragte er, bemüht, seine schlechte Laune nicht so zur Schau zu stellen wie in den vergangenen sechs Wochen.
Sechs Wochen. Er konnte es kaum glauben, dass er schon so lange ohne sie überlebte.
Er hielt sich eher schlecht als recht. Früher hatte er seinen Status als Sonderling immer genossen, weil er niemandem etwas hatte vorspielen müssen. Bis sie sich in sein Herz geschlichen hatte.
Es war jener Tag gewesen, an dem der Unfall passierte.
Gerade hatte er einen Antrag fertig gemacht und war erstaunt darüber gewesen, wie schnell es sich arbeiten ließ, wenn in seinem Büro Ordnung herrschte. Natürlich hätte er das Animant gegenüber niemals zugegeben und war, trotz ehrlicher Bemühungen, auch nicht imstande, diese Ordnung aufrechtzuerhalten.
Das laute Krachen von Metall auf Metall hatte ihn auffahren lassen. Im Gegensatz zum stetigen Klackern der Suchmaschine, das in seinem Büro deutlich zu hören war, klang es nicht nach einem natürlichen Geräusch.
Sofort sprang er von seinem Stuhl auf und eilte hinüber, in der Angst, etwas an der Mechanik wäre zersprungen und würde demnächst die ganze Maschinerie lahmlegen. Denn das hätte sich keiner von ihnen leisten können.
Doch die Tür stand offen und weiter hinten erblickte er die Kiste mit den schmalen Karten, auf die Animant Crumb Schlagwörter graviert hatte.
Ein Schreck zog durch seinen Körper, sehr viel heftiger als erwartet. Er rief ihren Namen, bekam eine Antwort, so kläglich, dass er auf der Stelle zu ihr stürmen wollte.
Seine starke Kämpferin gebrochen, zitternd und weinend in seinen Armen aus der Maschine zu tragen, hatte seine Seele bewegt, ihn in einen Abgrund gerissen, der ihren Namen trug.
Und der Blick, als sie zu ihm aufsah und ihm dankte, sie gerettet zu haben, Augen, die ihn zu ihrem Ritter erhoben, besiegelte sein Schicksal.
Und auch wenn er es sich bis zu diesem Walzer im Kerzenlicht eines Balles nicht hatte eingestehen wollen, sehnte er sich danach, diesen Blick wieder auf sich zu spüren, ihr Retter zu sein und sie wie an jenem schicksalhaften Tag auf seinen Armen zu tragen, wohin sie ihre Reise auch leiten würde.
Doch das ging nicht beides. Es hatte sich herausgestellt, dass er sie entweder auf Händen tragen oder ihr Retter sein konnte.
Hätte er ihr erlaubt zu bleiben, hätte er sie ins Unglück gestürzt. Da war er sich ganz sicher. Auch wenn er sich des Nachts, wenn er sich auf der Suche nach Schlaf hin und her wälzte, erträumte, dass er für sie genug hätte sein können.
»Einer der Studenten benötigt Beratung«, teilte Oscar ihm mit und Thomas Reed schnaubte.
»Wo ist denn Mr Chamberly?«, wollte er mürrisch wissen und konnte sich schon denken, was aus dem einfältigen Tropf geworden war.
»Der hat gestern gekündigt, Sir«, bestätigte es ihm Oscar und er nickte. Noch ein Assistent, der ihr nicht das Wasser hatte reichen können. Wie auch, sie war perfekt gewesen.
Der Gedanke, sich jetzt mit der Unzulänglichkeit mancher Studenten auseinanderzusetzen, die es nicht einmal schafften, das Alphabet rückwärts durchzugehen und daher ihre Bücher nicht fanden, war nicht gerade das, was ihm als Ablenkung für seine Gedanken vorschwebte. Doch er würde nehmen, was er kriegen konnte.
»Er wartet bei den Rechtswissenschaften«, erklärte Oscar schnell, als der Bibliothekar die Lesebrille von der Nase nahm und sich an die Weste steckte.
»Ich kümmere mich darum. Danke, Oscar«, brachte er heraus und begegnete dem verwunderten Blick seines Angestellten. Oscar nahm schnell Reißaus und verschwand lautlos aus dem Büro.
Thomas Reed schüttelte den Kopf und wusste gleichzeitig, dass es seine eigene Schuld war. Oscar und Cody gingen ihm aus dem Weg. Jeder, wenn nur möglich, ging ihm aus dem Weg.
Hätte es die Wahl gehabt, er wäre sich selbst aus dem Weg gegangen.
Doch er musste mit sich leben. Mit der schlechten Laune und den selbstsüchtigen Träumen, in denen das Mädchen wieder in seiner Wohnung saß und ihre Finger die Seiten eines Buches umblätterten. Den Blick auf das Geschriebene gerichtet, in Gedanken versunken zwischen den Zeilen, bis er zu ihr trat und sie den Kopf hob. In seinen Träumen tat er dann das, was er sich im wirklichen Leben so streng verboten hatte; er küsste sie.
Hätte er sie bloß geküsst.
Thomas Reed zog seine Weste zurecht, nahm sich zusammen und verließ das Büro auf den Rundgang. Grau hingen die Wolken am Himmel und zogen schnell über die Glaskuppel hinweg, durch die das spärliche Licht des neuen Jahres hereinfiel.
Nein, besser so, dass er sie nicht geküsst hatte. Sonst gäbe es nur noch etwas, was er vermisste. Noch eine Erinnerung, die ihn heimsuchte, wenn er die altbekannten Orte betrat, die Bibliothek, seine Wohnung. Am schlimmsten das kleine Zimmer, in dem sie gewohnt und das er wieder mit Büchern vollgestellt hatte.
Er hätte nie zulassen dürfen, dass sie dort einzog, so direkt neben ihm. Als er ihr das Zimmer zeigte, war er fest davon ausgegangen, dass sie es ablehnen würde, da sie sich sicher vor dem unkomfortablen Leben scheute. Doch das hatte sie nicht.
Unbehagen hatte ihn befallen bei dem Gedanken, eine Frau neben sich einziehen zu lassen, vor allem, nachdem sich der Moment, als er sie auf den Armen aus der Maschine getragen hatte, immer tiefer in sein Herz fraß.
Den Schlüssel für die Durchgangstür händigte er ihr auf der Stelle aus, auch wenn er ihn für gewöhnlich selbst behielt, weil er den Trotteln, die das Zimmer in der Vergangenheit bewohnten, nicht die Gelegenheit geben wollte, in seine Wohnung einbrechen zu können.
Doch damals traute er Animants strengem und geradlinigem Gemüt mehr Stärke zu als sich selbst und hatte sich selbst die Versuchung genommen, in dem Wissen, das Zimmer nicht betreten zu können.
Und dann war sie zu ihm gekommen. Als er sich im Fieber mit seiner Verliebtheit gequält hatte, der er nach dem Ball so sehr verfallen war, dass er im Regen nach Hause lief, um seine unruhige Seele wieder zu beruhigen.
Seine starrköpfige und wundervolle Animant.
Wie viele schlaflose Nächte hatte es ihm bereitet, sie nur wenige Zimmer weiter zu wissen. Und wie viele jetzt, wo sie nicht mehr dort war.
Noch während er die Stufen nach unten stieg, kehrten seine Gedanken ins Hier und Jetzt zurück und er ging die wenigen Schritte zu einem der paar Studenten, die sich so kurz nach Neujahr schon wieder ihrem Universitätslehrstoff widmeten. Dieser hob sofort den Blick, war Thomas Reed jedoch unbekannt und mit so einfältigen Fragen bewaffnet, dass er ihn am liebsten davongejagt hätte. Er hielt sich nur mit Mühe im Zaum, dem Schwachsinnigen nicht sofort an den Kopf zu werfen, dass er mit einer so geringen Auffassungsgabe nie zum Abschluss eines Studiums der Rechtswissenschaften gelangen würde.
Als jedoch ein anderer Student zu ihnen trat, um zielgerichtet eines der Bücher aus dem Regal zu fischen, verpuffte all der Ärger in der Lunge des Bibliothekars und hinterließ bloße Atemlosigkeit. Der junge Mann war hochgewachsen, murmelte leise vor sich hin, während er nach einem zweiten Buch suchte, und war seiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten.
Thomas Reeds Herzschlag beschleunigte sich und Nervosität kroch ihm in die Finger. Dabei war es nur ihr Bruder, Henry. Doch er war eine direkte Verbindung zu dem Mädchen, das er so brennend vermisste.
Wie ging es ihr? War sie immer noch in ihrem Elternhaus, weit draußen, irgendwo in der Nähe von Bath? Was tat sie mit ihrer Zeit? Was las sie gerade? Dachte sie ab und zu an ihn?
Die Fragen versengten ihm die Zunge, als er sie mühsam in sich behielt, sie nicht hinausbrüllte.
Henry Crumb hob den Kopf, als hätte er gespürt, dass jemand ihn ansah, und nickte Thomas Reed freundlich zu, als sich ihre Blicke trafen.
»Mr Reed«, grüßte er ihn sogar und der Bibliothekar trat auf ihn zu, den anderen Studenten völlig vergessen.
»Mr Crumb. Gut, Sie zu sehen«, entgegnete er dem jungen Mann und konnte die verräterische Anspannung aus seinen eigenen Worten heraushören.
»Wirklich?« Henry Crumb schien überrascht, als wüsste er sofort, dass Thomas Reeds Aussage nur aus eigennützigen Hintergedanken bestand.
Angestrengt versuchte dieser Unschuld zu heucheln, war aber viel zu überspannt, um dieses Kunststück zu vollbringen. Aus seinem Mund kam lediglich Schroffheit.
»Wie geht es Ihrer Schwester? Haben Sie sie gesprochen?«, brachte er mühsam heraus, da ihm die Worte auf der Zunge klebten.
Henry Crumb nickte, schien seinen unfreundlichen Ton zu überhören und lächelte sogar. »Ja, zu Weihnachten war ich zu Hause. Ich denke, sie vermisst London sehr«, behauptete er und bedachte Thomas Reed mit einem prüfenden Blick, der den Bibliothekar innerlich zusammenzucken ließ.
Wusste er womöglich alles und spielte seine höfliche Freundlichkeit so brillant, wie es Animant zu tun vermochte?