KHAOS - Lin Rina - E-Book

KHAOS E-Book

Lin Rina

2,0

Beschreibung

Daya lebt auf einem vergessenen Gefängnisplaneten unter skrupellosen Verbrechern. Nur ihre Gabe, in den Seelen anderer zu lesen und ihre Gefühle zu erspüren, sichert ihr das Überleben. Als eine Gruppe genetisch veränderter Menschen aus dem Kryoschlaf erwacht, gerät Daya plötzlich zwischen die Fronten von Macht und Gewalt. Doch was ist richtig? Den Soldaten und ihrem Anführer Khaos zu helfen, den Planeten zu verlassen, oder das Leben ihrer Leute zu erhalten? Denn Khaos ist nicht irgendein Soldat. Seine Seele ist für Daya unwiderstehlich. Aber sich in einen Mann zu verlieben, der nicht zum Lieben geschaffen wurde, ist ein gefährliches Spiel.

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Khaos

Touching Soul

Lin Rina

Copyright © 2018 by

Astrid Behrendt

Rheinstraße 60

51371 Leverkusen

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Illustrationen: Lin Rina

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-420-8

Alle Rechte vorbehalten

Having a soft heart

in a cruel world

is courage,

not weakness.

Katherine Henson

Inhalt

1. Seelen

2. Keine Liebe

3. Blut

4. 40 ml

5. Ideenreichtum

6. Gefühle

7. Erwachen

8. Pläne

9. Täuschungen

10. Herzschlag

11. Neunzehn Kapseln

12. In der Falle

13. Das Spiel beginnt

14. Machtverhältnisse

15. Müdigkeit

16. Einschätzungen

17. Übernahme

18. Ängste

19. Lesen und Schreiben

20. Durchsetzungsvermögen

21. Entblößt

22. Veränderung

23. Nähe

24. Gespräche

25. Gedanken

26. Einsicht

27. Konsequenz

28. Nefrot

29. Erpressung

30. Freundlichkeit

31. Schwarzes Wasser

32. Funken

33. Beben

34. Sender

35. Endgültig

36. Morpheus

37. Fehlende Teile

38. Unendlichkeit

39. Verletzte Seele

40. Exit

Danke

Bücher von Lin Rina

1

Seelen

Gerade hatte ich mich in meinen Schlafplatz verkrochen, als ich es plötzlich wie ein dumpfes Pochen in meinem Hinterkopf spürte. Nur dass mir diesmal keine Kopfschmerzen bevorstanden, sondern Schmerzen ganz anderer Art.

In Windeseile schnappte ich mir meine Tasche und kletterte aus dem winzigen Loch in der halb zerfallenen Wand, durch das immer nur ich gepasst und das mir schon so oft Schutz geboten hatte.

Der kleine Hohlraum im Schutt, der eigentlich nur der Überrest eines zerfallenen Nebenzimmers war, stellte so etwas wie meinen Wohnort dar, mein Zimmerchen, mein Bett.

Meine Zuflucht.

Hier drin hatten sie mich nicht erreichen können, weder mit ihren großen, starken Armen noch mit ihren Waffen. Hier drin versteckte ich mich und schlief, ohne die Angst, bestohlen oder gepackt zu werden.

Doch heute war der Tag gekommen, an dem dieses Loch nicht mehr ausreichte.

Der Grund dafür war Krung, eine Abart von einem Schakalianer, eine humanoide Spezies vom Rande der bekannten Welten. Sagte man mir zumindest. Er war groß und protzig, ungehobelt und bösartig. Und zu meinem Glück viel zu dumm für seine Rasse.

Ich eilte durch den großen Raum der Krankenstation, die meinen Arbeitsbereich darstellte, und horchte einen winzigen Moment in mich hinein, um festzustellen, wie viel Zeit ich noch hatte und ob ich noch mehr einpacken konnte.

Doch Krungs Wut, die wie Nadeln in meinen Hinterkopf stach, brodelte wie ein Vulkan und näherte sich mir mit riesigen Schritten.

Keine Zeit!

Ich zog mir den Träger meiner Tasche über den Kopf und rannte zur Tür. Ich musste raus und den Gang hinunter, bevor Krung am anderen Ende um die Ecke fegte.

Ich hatte keine Ahnung, was ihn jetzt wieder so in Rage versetzt hatte. Aber eigentlich war es egal, denn den größten Frust hatte er sowieso meinetwegen und so würde er seinen Ärger auch an mir auslassen wollen.

Ich war auch selbst schuld, hätte besser aufpassen müssen.

Dabei tat ich schon alles dafür, den Schein zu wahren. Ich trug meine Locken kurz und zottelig, zog mir extra weite Sachen an und bemühte mich um eine burschikose Haltung. Alles, damit man mich immer noch als Kind sah und nicht als Frau.

Leider hatte ich mich in den letzten vier Jahren unweigerlich verändert, dabei war ich noch ziemlich spät dran. Meine schmale, schlaksige Gestalt hatte sich gewandelt, war kurviger geworden, und auch mein Gesicht wurde von Tag zu Tag erwachsener, jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel blickte.

Ich hatte Angst davor. Ich wusste, wie Frauen behandelt wurden. Das hier war ein Gefängnisplanet.

Obwohl alle Offiziellen bereits niedergemetzelt worden waren und der Rest der vereinigten Systeme uns wahrscheinlich vergessen hatte, waren wir hier ohne ein Raumschiff immer noch gefangen.

Und die aktuelle Bevölkerung dieses Planeten bestand ausschließlich aus Schwerverbrechern und ihrer verderbten Nachkommenschaft.

Frauen waren spärliches Gut und man konnte sich vorstellen, was mit einem passierte, wenn man mit einem Haufen einsamer, unmoralischer und gewaltbereiter Männer zusammenlebte, unter denen nur das Gesetz des Stärkeren regierte.

Ich atmete schwer, als ich durch die Tür hechtete und auf schlitternden Sohlen am Ende des Flures um die Ecke rannte.

Zu meinem Glück waren mir derartige Übergriffe bisher erspart geblieben, und ich hatte so etwas auch noch nicht mit ansehen müssen.

Doch ganz konnte ich meine Gedanken nie davon lösen, da ich selbst das Produkt einer dieser abstoßenden Handlungsweise war.

Meine Mutter hatte es mich allerdings nie spüren lassen. Sie war liebevoll und geduldig gewesen und hatte mir immer wieder gesagt, dass ich das Einzige wäre, das ihr Leben lebenswert gemacht hatte.

Sie hatte mich viel zu schnell verlassen.

Ich packte die Leiter an den Seiten und rutschte daran hinunter. Die Sprossen einzeln zu nehmen, hätte zu viel Zeit gekostet.

Eilig rannte ich weiter nach unten, immer die abschüssigen Wege entlang, und kam nach einer schieren Unendlichkeit an dem Spalt an, durch den ich mich in den unteren Teil der zerfallenen Station zwängte.

Mein Herz raste, meine Lunge brannte entsetzlich und mir schmerzte jeder einzelne Muskel so sehr, dass ich fürchtete zusammenzubrechen.

Ich krabbelte durch das Geröll, spürte, wie sich die scharfen Kanten in meine Handflächen drückten, rutschte mit der Hand weg und fiel das letzte Stück in den sich dahinter befindenen Gang.

Sicherheit. Zitternd blieb ich liegen und schloss für einen Moment die Augen.

Krung hatte mich in den Waschräumen gesehen.

Für gewöhnlich duschte ich nur nachts, wenn alle schliefen und die abgestellte Patrouille draußen unterwegs war, um nach verfeindeten Clanmitgliedern Ausschau zu halten. Dann, wenn mich niemand dabei beobachten konnte, wie ich meine Kleider ablegte, den Quetschverband von meinen Brüsten wickelte und den erdwarmen Wasserstrahl auf meiner Haut genoss.

Doch an jenem Tag hatte ich operiert. Alex war auf Patrouille von einer Veko-Spinne angegriffen worden und sein Bein hatte so stark geblutet, dass er mir beinahe weggestorben wäre. Ich war von oben bis unten mit dem Blut eines anderen beschmiert gewesen. Meine Haare hatten mir verkrustet vom Kopf abgestanden und in jeder Hautfalte hatte es begonnen zu jucken. Die Vorsicht war mir egal gewesen, da der Ekel alles überschattet hatte.

Jetzt bereute ich es. Denn Krung hatte mich gesehen, wie ich war. Eine Frau, alt genug für alle seine widerwärtigen Fantasien. Und jetzt wollte er mich haben!

Bisher hatte ich mich immer gut herausgewunden. Er hatte seine Entdeckung über mich natürlich nicht öffentlich gemacht. Wer teilte schon gerne? Und so sorgte ich immer dafür, dass einer oder mehrere anwesend waren, wenn ich Krung begegnen musste. Doch das letzte Mal, als sein Frust zu groß geworden war, hatte er die Verriegelung an der Tür meiner Krankenstation zerschlagen und ich war nur um Haaresbreite in mein Loch entkommen. Er hatte getobt, hatte mich auf seiner und meiner Sprache beschimpft, mir gedroht, mich auszuräuchern, wenn ich mich das nächste Mal wieder so vor ihm verstecken sollte. Er würde mich kriegen, hatte er geschrien und dass ich auch nur ein Stück Fleisch war, das sich nicht einbilden sollte, etwas Besonderes zu sein.

Aber damit hatte er nur zur Hälfte recht, denn ich war etwas Besonderes. In mehrerer Hinsicht.

Mit zitternden Fingern tastete ich in meiner Tasche, bis ich das metallene Kästchen zu fassen bekam und es erleichtert herauszog. Ich öffnete es und entnahm ihm drei kleine gräuliche Tabletten, die ich zwischen die Lippen schob und ohne Wasser schluckte.

Jetzt musste ich nur noch warten und hoffen, dass meine Krankheit mich nicht dahinraffte, bevor die Tabletten zu wirken begannen.

Ich durfte gar nicht rennen. Ich durfte nicht springen, nicht hetzen und am besten regte ich mich auch nicht auf. Jede Art von Stress konnte mich umbringen, und es kam einem Wunder gleich, dass das noch nicht passiert war. Nur ein Muskelkrampf, eine Spur zu viel Adrenalin in meinem Blut und mir würde das Herz versagen, die Lunge würde kollabieren und schlussendlich würde mein Körper alle Funktionen einstellen.

Aber ich lebte schon eine ganze Weile damit und auch wenn die ständigen Muskelschmerzen mir das Leben nicht gerade einfacher machten, half mir meine Position als Laienärztin dabei, leicht an Tabletten ranzukommen, die mich zumindest vor dem Schlimmsten bewahrten.

Meine Mutter war Ärztin gewesen, eine studierte. Zumindest bevor sie einen Mann erstochen und dann zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden war. Sie hatte mir schon früh beigebracht, was ich wissen musste, um für meinen Clan wertvoll genug zu sein, damit sie mich nicht kochten und auffraßen.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich ihren Platz am Behandlungstisch eingenommen und schlug mich bisher ganz gut. Mein Drang nach Wissen hatte mir vieles einfacher gemacht.

Doch den größten Vorteil hatte mir immer meine Gabe verschafft.

Außer meiner Mutter hatte ich nie jemandem davon erzählt. Und die hatte sich auch nicht wirklich erklären können, wie so etwas überhaupt möglich war.

»Vielleicht liegt es an deinem Vater«, hatte sie einmal gesagt, auch wenn es ein sehr schwammiges Argument war. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wer mein Vater gewesen war.

Wir hatten die Gabe in Seelen lesen genannt. Anders konnte man es kaum beschreiben. Es war wie ein weiterer Sinn. Sehen mit dem Geist. Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, dann spürte ich all die Seelen, die sich im Umkreis befanden. Je mehr Anstrengung ich hineinsteckte, desto weiter konnte ich sehen.

Alle fühlenden Wesen waren für mich sichtbar und jedes war so einzigartig wie das Gesicht, das dazugehörte. Wenn ich die Personen kannte, dann wusste ich auch anhand der Seelen, wer sie waren. Und umso mehr ich mich mit ihnen auseinandersetzte, desto tiefer konnte ich blicken. Wohlbefinden, Wallungen, Gefühle, selten sogar Gedankenfetzen und aufblitzende Bilder.

Im Laufe der Jahre war ich gut darin geworden, die Empfindungen anderer zu deuten und auf die dazugehörigen Gedanken zu schließen, zu ahnen, wie die daraus folgenden Handlungen aussehen würden. Das sicherte mir das Überleben.

Langsam begann der Wirkstoff in den Tabletten seine Pflicht zu erfüllen und das Atmen fiel mir leichter. Erschöpft holte ich tiefer Luft, genoss den Sauerstoff in der Lunge und setzte mich nach ein paar Minuten sogar auf.

Ich kauerte in einem Gang, der am einen Ende verschüttet war und nur einen schmalen Spalt auf die andere Seite freigab. Als Kind hatte ich dort spielend hindurchgepasst, doch mittlerweile musste ich aufpassen, nicht mit den Hüften stecken zu bleiben. Soweit ich wusste, war ich die Einzige, die sich hier durchzwängen konnte, um an den verlassenen Teil dahinter zu gelangen.

Dies war einmal der eigentliche Teil des Gefängnisses gewesen. Nicht weit von hier befand sich ein Tor, das auf den Ring hinausführte, an dem entlang sich die Zellen befanden. Von einem hüfthohen Geländer aus überblickte man einen runden Platz. Vor langer Zeit hatten dort Tische und Bänke gestanden, an denen sich die Insassen treffen konnten, um zu essen, Karten zu spielen und sich gegenseitig zu massakrieren.

Jetzt war hier nur noch ein großer See, der durch ein Leck im Wasseraufbereitungstank gefüllt wurde. Das Wasser, das immer wieder wie leichter Regen von der Decke rieselte, tropfte in den See, wühlte die Oberfläche auf und versickerte weiter unten in kleinen Rissen im Boden.

Als Kind war ich hier oft schwimmen gewesen.

Eine Menge Kreaturen tummelten sich in dem schwarzen Wasser und ich konnte ihre Seelen unter mir spüren, wie sie in stetigen, ruhigen Bewegungen ihr Leben fristeten.

Wenn ich meinen Sinn ausweitete und die unterm Sand verborgenen Sümpfe streifte, fand ich dort ähnliche Seelen.

Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie sie hier reingekommen waren. Doch sie waren da, und obwohl ich wusste, dass sie gefährlich sein mussten, ließen sie mich in Ruhe.

Das taten eigentlich alle Tiere. Selbst die biestigen Veko-Spinnen, die draußen in ihren Löchern im Wüstensand hausten und nur darauf warteten, einem ihre messerscharfen Fangzähne ins Fleisch zu rammen.

Möglicherweise lag es an meiner Gabe. Sicher war ich mir aber nicht.

Ich rappelte mich auf und ließ meinen Geist hinauf in die oberen Stockwerke steigen, dort wo Krung gerade tobte und meine halbe Kranken­station verwüstete. Sein Zorn hatte einen noch höheren Level erreicht, und ich war furchtbar erleichtert, jetzt nicht in der Nähe zu sein.

Andere eilten gerade zu ihm, packten ihn und zogen ihn aus dem Raum. Es waren Alex und Cobal. Sie würden ihn schon wieder zur Vernunft bringen. Für dieses Mal zumindest.

Ich ließ den See zu meiner Linken liegen und trat durch ein anderes Tor, in dem einmal automatische Türen den Zugang versperrt hatten. Doch die Verwüstung, die hier unten herrschte, hatte sie aus den Schienen gerissen und ich stieg über das verbogene Metall hinweg, durch die zerstörte Schleuse und den Flur, in das unentdeckte Labyrinth von dahinterliegenden Gängen.

Viele von ihnen hatte ich bereits beschritten. Doch hier unten zu sein, hatte in mir immer ein mulmiges Gefühl hinterlassen und so war ich bisher nicht exzessiv auf Erkundungstour gegangen.

Ein paar Räume hatte ich durchsucht und nichts Wertvolles entdeckt, was nicht schon vor dem Einsturz von den anderen geplündert worden war. Doch es gab noch etliche Türen, die ich noch nicht durchschritten hatte und die vor den Beben noch verschlossen gewesen waren.

Begonnen hatte es mit einem Meteoritensturm, der in die Oberfläche des Planeten eingeschlagen war. Durch ihn war es zu heftigen Erdbeben und Sandstürmen gekommen, die nach und nach die halbe Station zerstört und es den Insassen des Gefängnisses ermöglicht hatten, die Herrschaft über diesen Planeten an sich zu reißen.

Eine Menge Türen waren aus den Verankerungen gesprungen, als das gesamte Gefängnis in der Mitte durchgebrochen war und die eine Seite sich einige Grad abgesenkt hatte.

Ich spazierte ein Stück den leicht abschüssigen Flur nach unten. Graue Wände, angelaufenes Metall und roter Sand in jeder Ritze. Ohne wirkliches Ziel bog ich wieder rechts ab, in einen Komplex, den ich noch nie betreten hatte, da der durch die ständige Wärme mumifizierte Leichnam eines Offiziellen mitten im Raum an einer Kette baumelte. Ein Haken war durch seine Rippen gejagt worden.

Doch der Körper war bereits so verdörrt, dass er mir keine so große Angst mehr machte wie früher, als überall noch Blut und der Gestank des Todes gewesen waren.

Schnellen Schrittes ging ich an dem Toten vorbei und ignorierte das schmerzhafte Ziehen in meinen Knien, als ich mich unter einem zerquetschten Türstock hindurch bückte und auf der anderen Seite eine schmale Treppe nach unten stieg. Die spärliche Notbeleuchtung, die alle Teile der Station erhellte, flackerte an einigen Stellen und ich biss mir auf die Unterlippe. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt.

Ich war ein schwaches Gemüt. Auch wenn man behaupten könnte, dass ich nach all der Zeit unter Verbrechern und Mördern, nach all den Fleischwunden und gebrochenen Knochen, die ich behandelt hatte, langsam mal ein bisschen abgehärtet sein müsste, war ich es nicht. Ich war klein, mit hochgezogenen Schultern, einem schüchternen Blick und erschreckte mich sogar häufig vor meinem eigenen Schatten.

Im dämmrigen Schein der Notbeleuchtung machte ich eine farblose Metalltür aus, die sich nur schwach von den Wänden des Ganges abhob. Sie war zwar unverschlossen, doch die Schienenführungen waren verrostet und verbogen, und sie quietschte herzzerreißend, als ich sie öffnete, wie ein Schmerzensschrei in der sonst vollkommenen Stille.

Vorsichtig betrat ich den Bereich, der sich dahinter befand. Meine Schritte wirbelten Staub und Sand auf, der mir in der Nase kitzelte.

Vor mir lag eine Art Lagerraum. Kisten in verschiedenen Größen standen herum, aus Holz, Metall – sogar Pappe. Ich öffnete eine davon, lugte hinein und fand zu meiner Überraschung einige Konservendosen, die ich mit spitzen Fingern herauszog.

Obwohl ich mich über meinen Fund freute, fühlte ich mich unwohl. Irgendwas war hier nicht richtig. Ich konnte es spüren. Als ob etwas im Hinterhalt lauerte, das ich nicht ausmachen konnte.

Über mir war ein leichtes Pochen zu hören und ich schreckte zusammen. Ich stieß mit dem Arm an die Kiste voller Konserven und sie rutschte auf dem gewölbten Untergrund nach hinten. Schnell versuchte ich sie noch zu erwischen, doch sie hatte bereits Überhang bekommen und fiel mit lautem Scheppern zu Boden.

Mein Herz schlug mir hart gegen die Rippen, stach mich bei jedem neuen Pumpen und ich fragte mich, warum ich mich heute unbedingt selbst umbringen wollte.

Ich lehnte mich an die seltsame längliche Metalltruhe mit dem gewölbten Deckel und atmete tief die staubige, abgestandene Luft ein. Dann schloss ich für einen kleinen Moment die Augen und lauschte auf meinen zusätzlichen Sinn. Es dauerte keine Sekunde, da tauchten zwei Personen direkt über mir auf. Es waren starke Seelen, die beide sehr markant waren.

Tigris und Vento, zwei Männer, ein ZentralMensch und ein Tolaner, die man besser fürchtete. Sie ließen sich gegenseitig nur in Ruhe, weil sie noch nicht auf die Idee gekommen waren, den anderen als Gefahr zu betrachten.

Aus Furcht vor unserem Clanchef hielten sie ihm die Treue. Doch sollte sie jemals jemand drauf aufmerksam machen, dass sie selbst die Stärke besaßen, es mit Boz aufzunehmen, würden sie erst ihn umbringen und sich dann gegenseitig in Stücke reißen.

Das Gefüge der Machtverhältnisse war zu diesen Zeiten sehr wackelig, da es uns an einem gemeinsamen Feindbild mangelte. Die Clans im Norden hatten sich immer weiter zurückgezogen oder waren den Veko-Spinnen zum Opfer gefallen. Wir besaßen die einzige bewohnbare Station auf dem ganzen Planeten und niemand traute sich mehr an uns ran, weil Boz ein brutaler Mann ohne Gewissen und ohne Gnade war.

Es beruhigte mich ein bisschen, zu wissen, woher das Klopfen gekommen war und ich hoffte, dass sie ihrerseits das Krachen der Konserven nicht gehört hatten. Auf keinen Fall wollte ich meinen letzten sicheren Ort hier unten verlieren. Denn zumindest von Vento wusste ich, dass seine Blicke schon mehr als einmal an mir hängen geblieben waren.

Er war nicht dumm. Schlauer als Krung zumindest. Er konnte sich ausrechnen, dass ich keine zehn oder elf mehr war.

Ich konzentrierte mich, versuchte die Feinheiten der Seelen zu erspüren, um festzustellen, ob sie mich gehört hatten, als plötzlich am Rande meiner Aufmerksamkeit eine ganze Armee winziger Seelenfunken aufblitzte.

Erschrocken öffnete ich die Augen und fuhr herum. Doch da war niemand. Kein Mensch und auch kein Tier. Zumindest keines, das groß genug für eine Seele wäre.

Hatte ich mir das Flimmern nur eingebildet? Fast widerwillig schloss ich die Augen erneut und sah absolut nichts. Kein Schimmer, kein Glimmen. Vielleicht hatten mir meine Sinne einen Streich gespielt. Es war sicher einfach zu viel Aufregung für mich gewesen.

Ich horchte in mich hinein, beruhigte meinen Atem, konzentrierte mich auf meine Umgebung. Über mir waren die Männer zu spüren, keine fünfhundert Meter von hier tummelten sich die Wasserwesen im See, und dann war da plötzlich wieder dieses Glimmen.

Diesmal erschrak ich nur halb so stark und klammerte mich an meine Konzentration. Ich blendete die Tiere im See aus, ebenso wie die beiden Männer über mir, und blieb mit meinem Bewusstsein nur in diesem Raum voller Kisten.

Das Glimmen wurde stärker, als ich es zu fassen bekam, und verwandelte sich in sicher zwei Dutzend Seelen. Sie waren so schwach, dass ich nicht ausmachen konnte, was sie waren. Menschen, Spezies anderer Planeten, Tiere? Es waren keine Gefühle darin, keine Gedanken, keine Wellen im stetigen Bestehen.

Langsam ging ich von einer zur anderen und zog abrupt die Hände weg, als ich eine direkt vor mir bemerkte. Ich öffnete die Augen und starrte auf die längliche Truhe, die plötzlich große Ähnlichkeit mit einem Sarg aufwies. Ein ungutes Gefühl rieselte mir die Wirbelsäule nach unten und brachte mich dazu, mich zu schütteln.

Ich kämpfte mit mir, knetete meine rissige Unterlippe mit den Fingern und gab mir schlussendlich einen Ruck. Es waren nur wenige Schritte ans andere Ende der Truhe und ich hob einen weiteren Pappkarton, der darauf abgestellt war, zur Seite. Darunter kam ein schmales Fenster zum Vorschein, blind von Staub.

Etwas umständlich kletterte ich auf die Truhe, zog mir den Ärmel über den Handballen und wischte in einer beherzten Bewegung über das Glas.

Mein Puls war beschleunigt, ich redete mir selbst gut zu und gruselte mich trotzdem vor dem, was ich wohl zu sehen bekommen würde. Meine Fantasie spielte verrückt, erschuf Monster und Wesen, die das Glas sprengen und mich zerfleischen würden.

Doch noch während ich meine Ängste niederkämpfte, erhaschte ich einen Blick in das Innere der Truhe und blieb an den Zügen eines Gesichtes hängen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Beinahe ehrfürchtig beugte ich mich über das Fenster, das mir Einblick gewährte, und sah in das Gesicht eines Mannes.

Ich hatte schon viele Männer gesehen, von den verschiedensten Spezies. Die meisten waren grob und vernarbt und weckten allesamt Abscheu in mir.

Aber dieser hier war anders. Sein Gesicht war ebenmäßig, die Haut blass wie Kalk. Die hohen Wangenknochen traten scharf hervor und verliehen seinem Gesicht einen gewissen Stolz. Die Augen, wenn auch geschlossen, zeigten katzenhafte Schlauheit, die Nase war gerade und die Lippen so markant, als hätte man sie gezeichnet. Eine dunkle Locke lag erstarrt auf seiner hohen Stirn.

Zuerst hielt ich ihn für tot, eine Leiche. Doch ich erinnerte mich selbst daran, seine Seele gesehen zu haben, und da wurde mir auch schon klar, was das alles bedeutete.

Dieser Mann war eingefroren worden.

Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick von seinem Gesicht lösen und sah mich nach weiteren Truhen um, von denen ich jetzt wusste, dass es sich dabei um Kryokapseln handelte. Ich zählte auf Anhieb etwa sieben, die allesamt mit Kisten zugestellt waren, und wandte mich dann wieder dem Mann unter mir zu.

Mit der Zunge fuhr ich mir über die trockenen Lippen und beugte mich weiter nach vorne, bis ich bäuchlings auf dem Deckel lag, die Unterarme vor dem Glas abgestützt.

Ich konnte nicht umhin, zuzugeben, dass ich in meinem ganzen Leben noch niemals einen so schönen Mann gesehen hatte.

2

Keine Liebe

Verträumt starrte ich das Einmachglas in meinen Händen an, beobachtete die Organismen, die sich darin langsam in ihrem eigenen Takt hin und her wiegten. Ich züchtete sie in den Gläsern, um aus ihren Ablagerungen Medikamente herzustellen.

Doch obwohl ich meinen Protokollblock neben mir auf dem Tisch liegen hatte und den Stift zwischen den Fingern drehte, waren meine Gedanken ganz woanders.

Sie waren bei diesem Gesicht. Bei dem Mann, dessen Gesicht ich über Stunden hinweg fasziniert betrachtet hatte. Jede Vertiefung, die Wimpern, die Wangenknochen, das starke Kinn, die Ansätze des Halses, an dem sich die Sehnen unter der makellosen Haut spannten. Es fiel mir einfach schwer zu glauben, dass so ein Gesicht existieren konnte.

Der Ausschnitt des Fensters hatte mir den Rest seiner Gestalt nicht offenbart, egal, aus welchem Winkel ich in die Kapsel geblickt hatte.

Doch es war sowieso nicht wichtig. Sagte ich mir zumindest.

Das Beste für mich wäre, einfach zu vergessen, was ich gesehen hatte, die Konservendosen zu holen und dann nie wieder dorthin zurückzukehren.

Es hatte ohnehin keinen Sinn. Die Kryokapseln waren alt und nicht mit einer eigenen Weckfunktion ausgestattet. Allerdings hatte ich in meiner kleinen Krankenstation auch keine Hitzedruckkammer, um den Mann unbeschadet zurück unter die Lebenden zu holen.

Und dann waren da noch so viele andere gewesen. Mit geschlossenen Augen hatte ich fast zwei Dutzend Seelen gezählt, die zum Teil im hinteren Teil des Raumes verschüttet gewesen waren. Dreiundzwanzig Menschen, die man eingefroren hatte und im Lagerraum eines Gefängnisses aufbewahrte.

Aber zu welchem Zweck?

Wieso musste man jemanden einfrieren, wenn er sowieso auf einen Gefängnisplaneten gebracht wurde? Wie eine Art doppeltes Gefängnis.

Vielleicht waren sie gefährlicher als die restlichen Gefangenen, sodass man sie lieber stillgelegt hatte, um kein Risiko einzugehen.

Wäre es dann aber nicht einfacher gewesen, sie zu töten? Wozu der ganze Aufwand?

Doch umso öfter ich mir das Gesicht des Mannes in Erinnerung rief, desto weniger gefährlich wirkte er auf mich.

Er war so schön gewesen, und die Männer, die ich kannte, waren grausam. Ich konnte mir keinen Menschen vorstellen, der noch schlimmer sein sollte als diese.

»Wo hast du dich rumgetrieben, lil’Pid?«, sprach mich jemand an, dass mir vor Schreck das Einmachglas aus der Hand fiel.

Pidja war der Name meine Mutter gewesen und mich nannte man schon damals kleine Pidja.

Das war mir eigentlich ganz recht. Solange sie mich für ein kleines Kind hielten, hatte ich weniger Ärger. Ich musste mich eher fürchten, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen ansprach.

Eine große, schuppige Hand fing das Glas noch im Fall auf und stellte es lässig auf den Tisch neben mir.

Es war Cobal, der mich mit seinen gelben Echsenaugen eingehend musterte. Ich versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Wenn es sich vermeiden ließ, dann wollte ich nicht, dass er mir ansah, dass sich etwas verändert hatte.

»Ich bin rumspaziert«, behauptete ich leise und schob das Glas zurück zwischen die anderen ins Regal.

Es war das einzige Möbelstück in diesem Raum, das Krung komplett verschont hatte: Der Arzneimittelschrank. Das restliche Zimmer war vollständig verwüstet. Die Liegen waren umgerissen, Lampen waren zertrümmert, von meinen Arbeitstischen war der eine zerbeult und der andere in der Mitte durchgebrochen. Chirurgisches Besteck lag auf dem Boden verteilt herum. Die Kiste mit dem Verbandszeug war beim Aufprall gegen die Wand aufgesprungen und weiße Stoffstreifen waren in alle Richtungen davongerollt.

»Klar doch. Weil das ja so gut für deine Muskulatur ist«, spottete Cobal und seine Stimme triefte vor Ironie.

Eigentlich wusste von meiner Krankheit kaum einer. Meine Mutter hatte sie bei mir diagnostiziert und mir gezeigt, wie ich sie handzuhaben hatte. Unser Clanchef Boz wusste es, weil ich so keine zusätzlichen Dienste ableisten musste.

Und eben Cobal.

Ich hatte es ihm nicht gesagt, doch er war irgendwann von allein draufgekommen. Er behauptete, er könne es riechen, und da ich mit der Physiologie der Echsoiden nicht besonders gut vertraut war, musste ich es ihm einfach glauben.

»Ich habe mich vor Krung versteckt«, gab ich zu und nahm das nächste Glas aus der Reihe, um wenigstens vorzugeben, etwas zu arbeiten.

Cobal schnaubte durch die großen Nüstern und drehte den echsen­haften Kopf, auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit.

Leider hatte Krung meinen einzigen Stuhl in mehrere Teile zerhackt und so zog sich Cobal eine Metallkiste heran und setzte sich, ohne Rücksicht auf den sich verbiegenden Deckel zu nehmen.

Wenn ich die je wieder aufkriegen wollte, dann würde ich Hilfe brauchen.

»Wieso war er so wütend?«, wollte Cobal wissen und ich seufzte laut.

»Weil ich nicht hier war«, wich ich der Frage aus und drehte das Einmachglas zwischen den Fingern. Wollte ich dieses Gespräch wirklich führen? Und das mit einem Echsoiden?

Na ja, vielleicht war er noch das kleinste Übel. Bei ihm musste ich wenigstens keine Angst haben, dass er meines Körpers habhaft werden wollte.

Cobal starrte mich weiter an und ich verwünschte seine Eigenart, selten blinzeln zu müssen. Er saß die Stille zwischen uns einfach aus, wartete, dass ich mich erklärte – und ich wusste, dass ich am Ende nachgab, nur damit er endlich aufhörte, mich anzustarren.

»Er … er wollte … dass ich ihm gefügig bin«, wisperte ich und ich war mir nicht sicher, ob Cobal mich gegen Ende überhaupt gehört hatte.

Doch wie zur Bestätigung blinzelte er endlich und legte den Kopf schief. »Er wollte sich mit dir paaren?«, stellte er überrascht fest und ich schüttelte den Kopf.

»Paarung könnte man es nur nennen, wenn es zur Fortpflanzung dient und im gegenseitigen Einverständnis geschehen würde. In allen anderen Fällen heißt es Vergewaltigung!«, sagte ich beinahe pampig und schlang mir die Arme um den Oberkörper, um das Zittern zu unterdrücken, das dieses Wort in mir auslöste.

»Verstehe«, behauptete Cobal, doch ich bezweifelte, dass er es wirklich verstanden hatte.

Wenn ich es benennen müsste, dann wäre der Echsoide wohl die Person, die einem Freund am nächsten käme. Er fragte mich nach meinem Befinden, bot sogar dann und wann seine Hilfe an und für mich ging keine akute Gefahr von ihm aus, auch wenn sein Aussehen eher abschreckend wirkte.

Doch wenn ich erwarten würde, dass er mir alle Männer vom Hals hielt, die mir an die Wäsche wollten, wäre das wohl zu viel verlangt. Schon allein, weil Cobal nie richtig begreifen würde, wo eigentlich genau das Problem lag.

Vielleicht war seine Rasse da einfach anders. Ich wusste es nicht. Ich kannte niemand anderen, der so war wie er und Cobal redete nicht viel über sich.

»Soll ich …«, begann Cobal und ich wusste schon jetzt, dass das Angebot, das er mir machen wollte, völliger Blödsinn wäre.

»Bist du aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen oder war dir nur langweilig?«, unterbrach ich ihn beiläufig und lächelte schüchtern.

Cobal schnaubte. Er hatte meinen Trick natürlich sofort durchschaut, sagte aber nichts weiter dazu. »Ich hab da was am Bein.«

Ich blinzelte überrascht; hatte nicht damit gerechnet, dass es wirklich einen Grund gab, bei mir aufzutauchen.

»Oh, okay! Dann zeig mal her«, wies ich ihn an und stemmte mich von dem umgedrehten Eimer hoch, ohne eine Miene zu verziehen. Meine Beine taten furchtbar weh und mein Rücken war eine einzige große Verspannung. Aber ich war geübt darin, es keinen sehen zu lassen. Ich musste nicht noch schwächer wirken als ohnehin schon.

Es war eigentlich nur ein harmloser Ausschlag zwischen zwei Panzerplatten, an dem Cobal sicher mit seinen Krallen herumgekratzt hatte, wodurch sich die Haut entzünden konnte. Ich mischte ihm eine Salbe aus dem Bauchfett eines zotteligen Gulgur und ein paar antiseptischen Mineralien und wies ihn an, sie dreimal am Tag auf die betroffene Stelle aufzutragen. Sie war eher dazu gedacht, den Juckreiz zu lindern und Cobal daran zu hindern, weiter daran herumzukratzen, als dass sie wirklich etwas an dem Ausschlag ändern konnte.

Ich musste hoffen, dass es sich von allein besserte. Denn so versiert ich auch im Umgang mit Verletzungen und Krankheiten humanoider Spezies war, so wenig wusste ich über die der anderen. Und große Eidechsen gehörten definitiv zu dem, was ich nicht wusste.

Cobal ging dankbar und ich konnte wieder in meine Stille zurück. Kurz überlegte ich, wieder zu meinen Einmachgläsern zurückzukehren oder damit zu beginnen, das Chaos zu beseitigen, das Krung hinterlassen hatte.

Doch ich fühlte mich schwach und müde, also zog ich mich einfach nur in mein Loch in der Wand zurück.

Als mein Kopf das Kissen berührte und meine Nackenmuskeln sich ein wenig entspannten, seufzte ich laut auf. Der immerwährende Schmerz in meinen Muskeln machte mich fertig.

Ich blinzelte nach oben und betrachtete die Dinge, die über mir von der niedrigen Decke baumelten. Es waren allerlei Gegenstände, die ich irgendwo gefunden hatte und deren Zweck, auch wenn ich sie sehr schön anzusehen fand, sich mir einfach nicht offenbarte.

Für einen Moment schloss ich die Augen, horchte in die Station hinein und versuchte, all die Leute ausfindig zu machen, mit denen ich schon so viele Jahre hier zusammenhockte. Etwas, das sich auch niemals ändern würde.

Obwohl Boz da natürlich andere Pläne hatte. In seiner Vorstellung würde er erst die anderen Clans vollständig auslöschen und dann aus den Schätzen, die sie seiner Überzeugung nach horteten, ein Schiff bauen, das uns hier wegbrachte.

Ich bezweifelte, dass er recht behielt. Wenn die anderen Clans wirklich Maschinen hätten, aus denen sich ein Raumschiff bauen ließe, dann hätten sie es schon längst getan und würden nicht halb verdurstet unter einem Felsen hausen und sich von den Veko-Spinnen beißen lassen.

Vielleicht wusste Boz das sogar selbst und erzählte es nur, um die Truppe bei Laune zu halten. Es herrschte ein immerwährender Machtkampf unter den Männern, das Gesetz des Stärkeren, und es war sicher nicht leicht, die Oberhand zu behalten.

Ich ging all die Männer durch, bewertete ihre Stimmung und versuchte einzuschätzen, ob es bald wieder zu Kämpfen kommen würde. Denn das beeinflusste meine Entscheidung, ob ich zum Essen nach unten ging oder eine Konservendose öffnete, die ich hier unter meiner Matratze versteckte.

Die paar Frauen unter uns überging ich, wie immer. Sie waren allesamt traurige Gestalten, die sich ihrem Schicksal gefügt hatten und sogar eigene Stammgäste hatten, welche sie im Gegenzug vor den anderen Männern beschützten.

Krung hatte das Pech, auf keiner dieser Gästelisten zu stehen und zu feige zu sein, sich mit denen anzulegen, die ihre Huren verteidigten.

Ihn fand ich weit unten in seinem Quartier, grollend.

Cobal hatte erwähnt, dass er unter Arrest stand, weil er die Krankenstation verwüstet hatte und somit das Leben der Männer gefährdete.

Mir konnte das nur recht sein.

Es dauerte nicht lange, da schweifte ich noch weiter ab und meine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Lagerraum, in dem ich vor einigen Stunden noch gewesen war.

Jetzt wo ich wusste, wonach ich suchte, fand ich die glimmenden Lichter schneller und konnte mir kaum vorstellen, sie in der Vergangenheit immer übersehen zu haben.

Leider war die Distanz zu groß, um sie näher zu betrachten, und es kostete mich auf Dauer zu viel Kraft, so weit hinunterzusehen.

Ich blinzelte die Seelen weg und drehte mich auf die Seite. Ohne es zu sehen, starrte ich gegen das graue Metall der Wand und drückte mir das klumpige Kissen zurecht.

Das Leben war eine trostlose Aneinanderreihung von belanglosen Ereignissen, die nur dem einen Ziel dienten: überleben. Es war ermüdend und anstrengend und ich vermutete, dass mein Leben nicht mehr lange andauern würde.

Etwa achtzehn zentrale Standardjahre war ich nun auf dieser Welt und hatte noch nichts gesehen. Hier drinnen gab es nur rostigen Stahl, schmutzige Kleidung und boshafte Männer. Und vor unseren Türen existierten nur rotgoldener Sand und Hitze und Veko-Spinnen.

Meine Mutter hatte mir früher immer von ihrer Heimat erzählt. Von Bäumen, von grünen Parks und der Schönheit eines türkisblauen Meeres. Sie berichtete von Freizeitaktivitäten, Spaß und Freundschaft.

Und dann gab es da noch die Märchen, von denen ich als Kind niemals genug bekommen konnte.

Mein Liebstes hieß Die Schöne und das Biest und handelte von einem verwunschenen Prinzen und einem einfachen Mädchen, das sich in ihn verliebte, obwohl er wie ein Monster aussah, und ihn so von seinem Fluch befreite.

Meine Mutter musste mir diese Geschichte immer und immer wieder erzählen, und ich hatte sie verträumt angesehen und gefragt, ob ich mich wohl auch einmal verlieben würde.

Doch sie hatte mich nur traurig angeschaut. »Früher hätte ich auf jeden Fall Ja gesagt. Aber ich will dich nicht belügen, Daya«, hatte sie gemeint und mich an sich gezogen. »Auf diesem Planeten gibt es keine Liebe.«

3

Blut

Ich erwachte mitten in der Nacht und wusste nicht wovon. Es war alles still und die Dunkelheit wurde nur von ein paar Stand-by-Lämpchen erhellt, die an den medizinischen Geräten in der Krankenstation matt leuchteten.

Ich starrte aus meinem Loch und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.

Doch das ungute Gefühl, geweckt worden zu sein, ließ sich nicht abschütteln und ich schlüpfte trotz Müdigkeit mit einem Schnauben in meine ausgetretenen Stiefel. Ich zog gerade die Schnürsenkel fest, da traf mich die Erkenntnis wie ein Stich in den Rücken.

Seelen waren unterwegs. Eine ganze Menge. Sie schlichen durch die Gänge, und was mich am meisten beunruhigte, war, dass sie nicht hierhergehörten.

Ich kletterte so schnell ich konnte aus meinem Loch, ließ mich geräuschlos auf den glatten Boden der Krankenstation herunter und ging rasch zur Tür.

Konzentriert behielt ich die Seelen im Blick und huschte in den Gang hinaus. Sie befanden sich ein Stockwerk unter mir, auf der Ebene der Tore. Ich hatte keine Ahnung, wie sie reingekommen waren, aber sicher war, dass sie nichts Gutes im Schilde führten.

Ich lief den Flur nach unten und zur Leiter, nur um sofort wieder kehrtzumachen. Die Eindringlinge bogen gleich um die Ecke und hatten dann freies Sichtfeld auf das untere Ende der Leiter.

Also musste ich wohl außenrum.

Ich atmete tief durch, versuchte, meinen Puls niedrig zu halten und eilte wieder zurück. Bemüht, keinen Krach zu machen, setzte ich die Füße ganz sachte auf und verfluchte mich selbst, weil ich doch tatsächlich meine Tasche mit den Medikamenten vergessen hatte.

Nur ein Krampf und ich wäre so gut wie tot. Doch um sie zu holen, blieb einfach keine Zeit. Die Eindringlinge würden bald die Schlafkammern der anderen erreichen. Und dann würde es hässlich werden.

Wo verdammt waren die Wachposten?

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich die Treppe runter, erst auf dem letzten Absatz stockte ich. Ich spürte ihre Seelen, sah das Glimmen ihrer Gefühle, ein hässliches Aufblitzen in einem Meer aus Dunkelheit.

Sie waren schon hier. Ich war zu langsam gewesen.

Die einzige Möglichkeit, die mir jetzt also noch blieb, um die anderen zu warnen, bevor sie einfach im Schlaf massakriert wurden, war, sie alle zu wecken. Doch dafür musste ich leider die Aufmerksamkeit auf mich lenken.

Ich atmete wieder tief durch, sammelte meine Kräfte, nahm all meinen Mut zusammen und presste die Hände zu Fäusten gegen meinen Brustkorb. Dann öffnete ich den Mund und schrie. Schrie, so laut ich konnte, so schrill, dass niemand auf diesem stillen Planeten es überhören würde.

Die Eindringlinge hielten sofort inne, ihre Aufmerksamkeit wanderte in meine Richtung. Doch es war für sie zu spät, mich jetzt noch unschädlich zu machen. Die Schlafenden regten sich. Die Seelen schnellten aus dem dämmrigen Nebel ihrer Träume hinauf an die Oberfläche und dringliche Alarmbereitschaft war das vorrangige Gefühl. Ich hatte es geschafft.

Ein verstohlenes Lächeln legte sich auf meine Lippen, bis ich den Mann sah, der mich entdeckt hatte und überrascht das Gewehr sinken ließ.

Mir fuhr der Schock in alle Glieder, das Brennen in meiner Lunge trat mir deutlicher ins Bewusstsein und mir war klar, dass es nicht lange dauern würde, bis dieser Typ auch mich als Gefahr erachten würde. Oder schlimmeres.

Ich nahm die Beine in die Hand, dachte nicht groß nach und rannte die Treppe wieder hinauf.

»Das ist ein Mädchen«, hörte ich den Mann zu seinem Kameraden sagen, dann erklang auch schon eiliges Stampfen von festen Stiefeln auf den Stufen. Wut keimte hinter mir auf und donnerte mir hinterher wie eine dunkle Wolke.

Doch hinter der Wut verbargen sich wesentlich dunklere Emotionen.

»Die krieg ich!«, brüllte eine andere Stimme und jagte mir instinktiv einen eiskalten Schauer über den Rücken, als ich das düstere Aufflammen erkannte, das in meine Richtung waberte und mit seinen widerwärtigen Klauen nach mir schnappte.

Oh nein! Männer waren alle gleich. Alle hirnlose, triebgesteuerte Ungeheuer.

»Nicht, wenn ich sie zuerst kriege«, lachte der Erste dreckig und ließ mich wünschen, ich wäre einfach in meinem Loch geblieben, anstatt mich dem Ganzen so unbedacht zu stellen.

Doch was hatte ich schon für eine Wahl gehabt?

Ich rannte so schnell mich meine Füße trugen, was leider nicht besonders schnell war. Ein Arm haschte nach mir, riss mich nach hinten und mein Kopf wurde heftig nach vorne geworfen. Ich verlor für einen Augenblick die Orientierung, versuchte, um mich zu schlagen, als Hände mich nach unten drückten.

Mein Atem ging keuchend vor Anstrengung und mein Brustkorb zog sich immer enger zusammen. »Nein«, brachte ich kläglich hervor, ich bekam viel zu wenig Luft, als ich von dem Gewicht eines Mannes zu Boden gepresst wurde.

Panik machte mich blind und taub und ich konnte den Krampf um mein Herz bereits fühlen.

Es würde mit mir zu Ende gehen. Einfach so. Ohne dass ich jemals etwas gesehen oder erlebt hatte. Zerquetscht von einem Vergewaltiger, der erst merken würde, dass ich tot war, wenn er mit mir fertig wäre.

Er roch unangenehm nach Schweiß und Fäulnis, sodass ich den Kopf drehte, um seinen hektischen Atem nicht in die Nase zu bekommen.

»Ich hab sie zuerst gesehen!«, schrie der andere Mann, der zu uns aufgeschlossen hatte, und stieß meinen Angreifer von mir runter.

Ein bisschen mehr Sauerstoff strömte in meine Lunge und schenkte mir die Geistesgegenwart, mich von den Kämpfenden wegzubewegen. Stolpernd kam ich auf die Füße, ignorierte die stechenden Schmerzen in meiner Brust, das Brennen meiner Muskeln, das Hämmern in meinen Schläfen.

Doch ich würde kämpfen, zumindest noch ein bisschen. Ich war noch nicht bereit zu sterben! Nicht hier in diesem Gang. Nicht, bevor ich nicht noch einmal dieses Gesicht gesehen hatte. Egal, wie unsinnig das vielleicht war.

Ich erreichte die Leiter, die wieder nach unten führte, achtete kaum auf meine Umgebung und landete direkt im Zentrum der Schlacht um unsere Station.

Vento zog sein Messer aus dem Bauch eines Angreifers, während Tigris neben ihm einem anderen den Schädel mit einer Eisenstange zerschmetterte. Die Clans gingen aufeinander los wie die wilden Tiere, die sie nun mal waren.

Blut. Überall war Blut. In verschiedenen Farben, je nach Lebensform, bedeckte es den Boden und die Wände wie ein skurriles Kunstwerk.

Wäre ich durch den Sauerstoffmangel nicht so benebelt gewesen, es hätte mich so sehr erschreckt, dass ich nicht fähig gewesen wäre, es zu verarbeiten.

Doch der Krampf um mein Herz verschlimmerte sich und ließ nur einen fassbaren Gedanken in meinem Kopf zurück. Wenn mein Ende bevorstand und der Tod mich bald in seinen Armen halten würde, dann musste ich den Mann im Eisschlaf noch einmal sehen.

Es war völliger Irrsinn, mich durch das Getümmel zu schlagen, für das Gesicht eines schlafenden Mannes. Aber er war das Einzige, das in meinem Leben nicht das Gefühl von völliger Trostlosigkeit hinterlassen hatte.

Heißes bläuliches Blut spritzte mir ins Gesicht und ich taumelte an der Wand entlang. Jemand brüllte meinen Namen, ein anderer griff nach meiner Jacke, aus der ich mich mühsam herauswand. Wie in Trance tanzte ich vorwärts, immer mein Ziel vor Augen, während um mich herum Seelen erloschen und jede einzelne mir einen schmerzhaften Stich im Kopf versetzte.

Es fühlte sich an, als würde die Zeit langsamer werden, als versuchte sie mich daran zu hindern, mein Ziel jemals zu erreichen.

Der Schmerz in meinem Innern wurde unerträglich.

Ich griff im abrupt endenden Korridor nach den rissigen Rändern des Spalts vor mir. Mühevoll zog ich mich in den Schutt, während mein Geist langsam im Nebel versank. Wie schon heute Morgen rutschte ich auf der anderen Seite das Geröll hinunter und blieb auf dem Rücken liegen, als die Geräusche verklangen und die Welt in Schwärze versank.

4

40 ml

Lautes Dröhnen drang an meine Ohren. Es war so intensiv, dass mein ganzer Körper vibrierte.

Ich dämmerte dahin, nicht wach und nicht schlafend. Stimmengewirr beherrschte die Luft. Worte, die in meinen Kopf schlichen und wieder verpufften, ohne verstanden worden zu sein.

»Ist sie verletzt?«

»Sie ist krank!«, antwortete Boz. Seine grausame Stimme bohrte sich in meinen Schädel.

»Was?«

Dann erstarb das Dröhnen. Metall schabte über Metall und der Schutt unter mir rutschte ein Stück ab.

Ich wollte die Augen öffnen, doch jedes Mal, wenn ich es versuchte, stach mich helles Licht. Da war so wenig Luft. Alles brannte, alles tat weh.

Mein Körper bewegte sich ohne mein Zutun. Ich wurde hochgehoben, mein Kopf fiel in meinen Nacken und baumelte achtlos herunter.

»Was wollte sie da drüben?«

»Das werden wir gleich nachsehen. Erst mal muss sie auf die Kranken­station. Und dann wacht sie hoffentlich wieder auf, bevor Erikson verblutet ist. Unnützes Kind!«, schimpfte Boz und spuckte aus.

Mir stieg der metallische Geruch von Blut in die Nase, während sich die Stimmen langsam entfernten.

»Dummes Kind«, drang Cobals Stimme nahe an mein Ohr. Panzerschuppen stachen mir in die Wirbelsäule.

Eine Tür quietschte, etwas klackerte weit entfernt. Ich konnte kaum noch atmen.

»Daya«, hörte ich meinen Namen wie durch einen Nebel und wusste, dass er schon ein paarmal gesagt worden war. Ich bemühte mich, die Augen zu öffnen, meine Lider flackerten und doch brachte ich nicht die nötige Kraft auf. Mein Atem ging flach, kleine Atemzüge mit zu wenig Luft in meinen verkrampften Lungen.

»Wo sind deine Medikamente? Daya!«, ermahnte Cobal mich, und ich versuchte, meine Lippen zu überreden, sich zu bewegen. Wo waren meine Medikamente? Wusste ich es? Würde es mir rechtzeitig wieder einfallen?

In meinem Innern formte sich ein Bild. Eine Flasche mit gelber Flüssigkeit. Ich befahl meiner Stimme zu sprechen, brauchte drei, sogar vier Atemzüge, bis ich genug Luft für Töne zusammenhatte. »Regal … gelbe Flasche«, hauchte ich und schnappte erstickt nach Luft. »D34F … 40 ml.«

Mir wurde wieder schwummrig, mein Bewusstsein driftete ins Nichts ab und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt aufhalten wollte. Die Gleichgültigkeit nahm von meinem Geist Besitz, redete mir ein, wie sinnlos alles war und wie gut ich daran tun würde, es einfach hier und jetzt enden zu lassen.

Ich verlor den Mut, den Willen zu leben, und war bereit, mich endgültig zu lösen, als der Funke einer Seele in mir auftauchte. Nur dieser eine, weit unter mir, allein und gleichmütig. Ich wusste sofort, dass Er es war.

»Daya!«, drang lautes Brüllen an mein Ohr, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, sondern nur noch zischenden Lauten glich. »Was mach ich damit?« Jemand schüttelte mich, riss mich vom Abgrund weg, über dem ich geschwebt und in den ich hinabgeblickt hatte.

Wieder zwei Atemzüge. »Haupt … Schlag … Ader«, glitten die Worte über meine Lippen und zerfielen in Partikel aus Bedeutungslosigkeit.

»Scheiße! Du … ach scheiße!«, fluchte Cobal. »Nimm da eine Spritze und tu in das Ding 40 ml rein!«

»Wie macht man das?«, beschwerte sich eine andere Stimme, aber bevor ich sie richtig zuordnen konnte, dämmerte ich weg. Weg von allem, weg von diesem Ort, der nicht mehr für mich hatte als Leid und Einsamkeit. Einfach weg.

Erst der Pikser in meinen Unterarm und das gurgelnde Brausen in meinem Körper holten mich zurück ins Bewusstsein. Erschrocken riss ich die Augen auf.

Die Muskelrelaxantien lösten meine Verspannungen wie Blitze in der Nacht, meine Lunge weitete sich so sehr, dass ich fürchtete, sie könnte meinen Brustkorb sprengen, und mein Herz setzte zu einem holprigen Galopp an, bevor es seinen Rhythmus wiederfand.

Cobal stand direkt neben mir, verhinderte, dass ich durch mein plötzliches Zusammenzucken von der Behandlungsliege fiel und beobachtete mich mit seinen gelben Echsenaugen.

Nefrot zog die Nadel aus meinem Arm und sah ein wenig erschrocken aus.

Nefrot war noch jung, das Leben hatte ihn noch nicht vollkommen abgehärtet. Ich mochte ihn eigentlich, auch wenn ich seine Sucht nach Anerkennung bei den Großen unseres Clans armselig und abstoßend fand.

»Daya?«, sprach Cobal mich wiederholt an, und ich blinzelte verstört. Ich wandte ihm den Kopf zu und spürte jeden Muskel, jede Sehne, die sich bei dieser Bewegung spannte, bis hinunter zu den Ellenbogen.

Verdammt, so schlecht hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

»Wir brauchen dich!«, beschwor der Echsoide mich und trat zur Seite, sodass ich zur anderen Liege sehen konnte, die keine zwei Meter von mir entfernt stand.

Zum Glück hatte ich bereits gestern damit begonnen, meine Kranken­station von Krungs Verwüstung zu befreien.

Es war Erikson, der dort lag, ein armlanges Rohr in der Seite steckend. Er rührte sich nicht und auch sein Brustkorb hob und senkte sich kaum noch.

Doch seine Seele war noch da, wenn auch nur noch schwach. Das Leben sickerte aus ihm heraus und mir würden höchstens Minuten bleiben, um etwas zu unternehmen, das ihn möglicherweise retten konnte.

»Hilf mir auf«, bat ich Cobal und er reagierte sofort. Er zog mich hoch, half mir, die Beine über den Rand der Liege zu schieben, und hob mich dann runter auf den Boden.

Ich versuchte Halt zu finden, doch meine Füße gehorchten mir kaum und meine Knie knickten immer wieder ein.

Nefrot eilte an meine andere Seite und schob mir seinen starken Arm um die Taille. Es war mir unangenehm, von ihm berührt zu werden, doch ich hatte im Moment keine Wahl, wenn ich vorhatte, Erikson zu retten.

Sie halfen mir hinüber und stützten mich, während ich mir eine Schere reichen ließ und begann, seine Kleider um die Wunde herum aufzuschneiden.

Das Rohr musste raus. Doch damit würde er nur noch mehr Blut verlieren und das bedeutete in diesem Stadium ganz sicher seinen Tod.

Verzweifelt kniff ich die Augenlider zusammen, ignorierte den Schmerz meiner Knochen, meiner Muskeln. Schmerz, der meine Gedanken zähflüssig machte, auch wenn die Medikamente in meinem Blut meinen Zustand von Sekunde zu Sekunde verbesserten.

Blut war das Problem und die Lösung.

»Er ist Avecianer«, sagte ich zu mir selbst, damit mein Kopf es auch begriff. Die riesigen wellenförmigen Ohren und die bei ihm besonders ausgeprägte Knochenerhebung in der Stirn waren Hinweis genug.

Er war allerdings der Einzige seiner Spezies, den wir hier auf dem Planeten hatten, also brauchte ich einen anderen, dessen Blut mit dem seinen kompatibel war.

Angestrengt dachte ich nach, doch meine Gedanken waren klebrig wie Gelee. Eriksons Blut hatte eine gräulich-grüne Färbung. Wessen Blut hatte die gleichen Bestandteile?

»Schakalianer«, kam es mir endlich in den Sinn und eine unangenehme Gänsehaut zog sich über meine Haut. »Ich brauche Krung!«, sagte ich lauter und Cobal sah mich mit großen Augen an. Keine Ahnung, was er im Moment dachte, aber ich wollte es besser nicht wissen. »Ich brauche ihn als Blutspender! Hol ihn her, bevor Erikson tot ist!«

Cobal ließ mich los, um eilig den Raum zu verlassen.

Schwach kippte ich gegen Nefrot, der seinen zweiten Arm um mich schlang, sodass ich an seine Brust gepresst wurde.

Nefrot räusperte sich verlegen und half mir dabei, mich wieder auf die Liege zu setzen, während er betreten überall hinsah, nur nicht zu mir.

Seine Seele war aufgewühlt, seine Lenden machten sich bemerkbar und ich konnte die hormongetränkten Emotionen in seiner Seele beobachten, die für einen Mann so normal zu sein schienen wie Essen und der Gang aufs Klo.

Und das, obwohl Erikson gerade im Sterben lag. Doch der Tod lauerte hier sowieso an jeder Ecke. Warum wunderte ich mich eigentlich noch über die Gleichgültigkeit der Leute.

»Wie alt bist du eigentlich, Daya?«, fragte er mich plötzlich und immer noch ohne mich anzusehen.

Erstaunt konnte ich in seinem Innern dabei zusehen, wie er fast schon ehrenhaft die körperliche Anziehung, die er zu mir empfand, niederzukämpfen versuchte und den Aufruhr seiner Seele mit Gewalt unterdrückte.

Ich ging trotzdem nicht auf seine Frage ein. Bisher hatte er mich immer lil’Pid genannt, wie die anderen auch, und es gefiel mir nicht, dass sich das geändert hatte.

»Hol die Flasche mit dem Desinfektionsmittel dort vorne vom Schrank. Die Kiste mit dem Verbandszeug und die Schublade mit dem chirurgischen Besteck.« Ich zeigte in die jeweilige Richtung und Nefrot beeilte sich, meiner Aufforderung nachzukommen.

Krung betrat den Raum mit einem so breiten Grinsen auf dem Gesicht, dass mir ganz schlecht wurde bei seinem Anblick.

»Du brauchst mein Blut?«, wollte er von mir wissen und verschlang mich mit seinen Augen. Er fühlte sich mächtig, weil er etwas hatte, das ich brauchte, und weil er dachte, er könnte einen Handel für sich rausschlagen.

Aber so würde es sicher nicht laufen!

»Erikson braucht es. Krempel deinen Ärmel hoch«, sagte ich ohne jegliche Emotion und schob Krung den Eimer hin, damit er sich setzte.

»Du weißt, was ich dafür haben will?«, deutete er an und Nefrot schienen beinahe die Augen aus den Höhlen zu fallen. Ich drehte beiden den Rücken zu und kramte eine Braunüle und ein Stück Gummischlauch aus der Kiste mit Verbandszeug, die ich noch nicht geschafft hatte, wieder in Ordnung zu bringen.

Mittlerweile stand ich wieder von allein auf meinen Füßen und musste lediglich mit übereilten Bewegungen aufpassen, damit der Schmerz nicht zu stark wurde oder ich ins Wanken geriet.

»Ewige Dankbarkeit von Erikson und einen warmen Schulterklopfer von Boz. Und jetzt setz dich!«, befahl ich leise, aber in scharfem Ton.

Krungs Lächeln erstarb. Er setzte sich und schlug sogar seinen Ärmel hoch, als Cobal ihm einen düsteren Blick zuwarf. Zum Glück war der Echsenmann geblieben.

»Ich krieg dich, du Schlampe. Und dann werde ich deinen jungfräulichen Körper zu dem meinen machen!«, knurrte mir der Schakalianer verbissen ins Ohr, als ich mich ihm näherte, den Gummischlauch um seinen Oberarm festzog und dann mit einem sterilen Tuch den Unterarm desinfizierte. Nicht besonders sanft stieß ich ihm die Nadel ins Fleisch und klebte dann grob ein Pflaster darüber.

Mein Körper begann leicht zu zittern unter der schrecklichen Vorstellung, die meine Fantasie produzierte, aber ich riss mich zusammen.

Wenn mich eine Situation lehrte, dass ich doch am längeren Hebel saß, dann doch wohl diese. Ich hielt mich oft für so klein und schwach. Aber mir fehlte nur ein wenig Selbstbewusstsein und ein Funke Erkenntnis. Denn da rammte einem einer ein Eisenrohr zwischen die Rippen und ich wurde zu einem Menschen, der über Leben und Tod entschied. Ohne mich wäre Erikson so gut wie tot. Und viele der anderen Männer auch.

Vielleicht hatte man mich bisher gar nicht unbehelligt gelassen, weil man mich für zu jung hielt, sondern weil ich die mit dem Skalpell war.

Ein ganz neuer Gedanke, doch eingängig und gut zu handhaben. Und einer, der mir neue Kraft gab.

»Wirst du nicht«, behauptete ich daher geradeheraus und zog einen der Schläuche, die aus dem Blutreinigungsgerät ragten, zu mir heran, um ihn an der Nadel festzumachen. Ich nahm die Kappe von der Braunüle und steckte den Schlauch an.

»Ach ja, da …« begann Krung etwas lauter, doch ich schnitt ihm sofort das Wort ab, indem ich das Gerät einschaltete und es Blut aus seinen Adern zu ziehen begann, was ihn nach Luft schnappen ließ.

»Ja. Denn früher oder später wirst du hier auf dieser Liege liegen. Und dann wirst du dir wünschen, dass du dich gut mit mir gestellt hättest«, flüsterte ich, während ich die Werte auf der Anzeige kontrollierte, bevor ich das Blut freigab, damit es in Eriksons Venen fließen konnte. Das Gerät spülte das Blut durch, passte es minimal an, damit es keine Komplikationen mit dem Rhesusfaktor gab, dann drückte ich einen weiteren Knopf.

Ich konnte nur hoffen, dass das tatsächlich so funktionierte, wie ich mir das vorstellte.

Krung hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengekniffen und hielt still. Wenigstens ein kleiner Erfolg.

Ich desinfizierte mir die Hände erneut, griff nach meinem Wagen mit dem Nähzeug und dem anderen Wundbehandlungsbesteck und machte mich bereit.

Alles war hergerichtet. Cobal mein Aufpasser, Nefrot mein Laufbursche. Und ich packte das Rohr mit beiden Händen.

5

Ideenreichtum

Gerade wusch ich mir die Hände und hängte meine OP-Schürze an einen Haken an der Wand, da wurde die Tür aufgeschoben. Zwei Männer kamen herein, die eine längliche Metallkiste zwischen sich trugen.

Ich erkannte sie sofort. Es war eine der Kryokapseln aus dem Lagerraum hinter dem verschütteten Gang. Der Schock fuhr mir in die Glieder und ich stockte beim Versuch, mich über den Lärm zu beschweren.

Die Entfernung des Rohres war mittelmäßig gut verlaufen, aber ich konnte zumindest vorweisen, dass Erikson noch am Leben war.

Krung hatte ich bereits weggeschickt und Cobal und Nefrot waren gerade gegangen, um Eriksons Zimmer für seine Genesung herzurichten.

Doch der Gedanke an das schöne Gesicht, den Mann im Eis, ließ mich alles andere vergessen. Wie konnten sie die Kapseln bloß entdeckt haben?

Boz trat mit stolzgeschwellter Brust ein und freute sich diebisch über seinen Fund.

Sie hatten bei dem Versuch, mich zu retten, wohl die Wände durchbrochen und sich so einen Zugang in die unteren Ebenen geschaffen. Ich allein war also schuld an ihrer Entdeckung. Was hatte ich mir auch dabei gedacht, durch eine Schlacht zu rennen und in einem Spalt in der Wand zu verschwinden?

Zwei andere von Boz’ Männern kamen mit einer weiteren Kapsel herein und meine Gabe bestätigte mir nur noch einmal, was ich bereits befürchtet hatte: Sie hatten sie alle gefunden und schafften sie jetzt hoch.

»Boz?«, sprach ich ihn etwas verwirrt an und trat langsam auf ihn zu. »Was tust du?«, erkundigte ich mich vorsichtig und wusste gleich, dass ich sicher besser daran tat, die Ahnungslose zu spielen. Wenn er wüsste, dass ich von diesen Kapseln gewusst hatte, ebenso wie von all den anderen Schätzen im unteren Teil des Gefängnisses, dann würde ich mir sicher nur Ärger einhandeln.

»Hast du eine Ahnung, was das ist?«, schmetterte er heraus und schmiss sich dramatisch in Pose.

Ich ging näher ran, wobei ich so tat, als sähe ich die Kapseln zum ersten Mal, und beugte mich über das verstaubte Glas. Flüchtig wischte ich es sauber und war beinahe enttäuscht, als ich dahinter nicht Ihn zu Gesicht bekam.

Es war zwar ebenfalls ein Mann, doch seine Züge waren im Vergleich eher grob, auch wenn die Ebenmäßigkeit mich zum wiederholten Male erstaunte.

»Tiefgefrorene Menschen?«, versuchte ich es mit dem Offensichtlichsten, was mir im Moment einfiel.

Boz lachte auf. »Ja! Tiefgefrorene Menschen. Aber nicht irgendwelche«, prahlte er und ich wurde hellhörig. Boz wusste also etwas über diese Leute, das ich noch nicht wusste, und ich war begierig, es zu erfahren.

»Das hier sind Beta-Humanoide! Genetisch gezüchtete Kampfmaschinen aus der Zeit vor den Abkommens-Kriegen. Übermenschen, wenn man es so will«, begann er zu erzählen und seine Stimme wurde dabei immer lauter.

Für ihn waren diese Kryokapseln der Jahrhundertfund und ich spürte arglistige Freude von ihm ausgehen, auch wenn ich nicht einmal wirklich hinsah.

»Sie waren so gefährlich, dass man sie kaum kontrollieren konnte. Irgendwann hat man sie alle umgebracht und die Genlabore geschlossen«, berichtete er weiter.

Ich versuchte mir das alles vorzustellen. Schaffte es aber nicht. Ich wusste weder etwas über die Abkommens-Kriege noch hatte mir jemals jemand von Genlaboren erzählt.

»Wenn man sie alle umgebracht hat, warum leben die hier dann noch?«, fragte ich ganz leise und sprach eigentlich eher mit mir selbst, als dass ich eine Antwort von Boz darauf erwartete.

Mir schwirrte jedenfalls der Kopf. Die Vorstellung, dass es gezüchtete Menschen waren, verstörte mich und machte mir im nächsten Moment klar, warum ihr Aussehen beinahe Perfektion erreicht hatte.

»Wer weiß. Aber das Schicksal tut uns damit einen großen Gefallen. Diese Soldaten sind unsere Chance und du wirst sie für mich auftauen!«

Ich blinzelte mich verwirrt aus meinen Gedanken. »Was? Ich kann sie nicht auftauen!«, rief ich erschrocken und wich von der Kryokapsel zurück, nur um mit dem Rücken gegen eine weitere zu stoßen, die man hereingetragen hatte.

Und durch die Tür kamen noch mehr.

»Ich hab die Geräte dafür gar nicht und …«, versuchte ich abzuwehren und konnte mir selbst nicht erklären, warum ich solche Angst davor hatte, den Mann mit dem perfekten Gesicht zurück ins Leben zu holen.

Doch Boz schnitt mir sofort das Wort ab. »Dann lass dir was einfallen! Ich will diese Soldaten für meine neue Armee und dann werden wir diese Pest von Wüsten-Clans ein für alle Mal erledigen und uns ihr Zeug unter den Nagel reißen!«, brüllte er seinen Kampfschrei hinaus und seine Männer, die noch mehr Kapseln brachten, johlten ihm zu. »Das war ein Schlag zu viel, Männer! Sie haben sich hier reingetraut und wir haben ihnen den Garaus gemacht. Doch wir lassen sie für diese Unverschämtheit büßen!«

Weiteres Gejohle.

Erikson stöhnte auf seiner Liege.

Ich löste meinen Blick von den Kryokapseln und versuchte, zu ihm zu gelangen, was bei all den Kisten nicht so einfach war. Ich prüfte seinen Puls, maß Fieber und beobachtete für ein paar Momente seine schimmernde Seele, die sich von dem kritischen Zustand noch nicht erholt hatte. Es lenkte mich von meinen Gedanken an die Kriegermenschen ab und brachte mir gleichzeitig neue Sorgen.

Ich musste Erikson hier rausschaffen, wenn Boz vorhatte, in meiner Krankenstation eine ganze Versammlung zu veranstalten.

Es gelang mir, Timothy und Jet auf mich aufmerksam zu machen und sie zu bitten, Erikson nach unten in sein Zimmer zu tragen. Dann folgte ich ihnen und entfloh so dem ganzen Tumult, der sich in meinem Reich immer mehr verdichtete.

Cobal und Nefrot waren beinahe so weit mit den Vorbereitungen, um die ich sie gebeten hatte, und Nefrot erklärte sich dazu bereit, bei Erikson zu bleiben. Ich dankte ihm, gab weitere Anweisungen zu den Schmerzmitteln, die ich ihm überließ, und sagte ihm, er solle mich holen, wenn sich Eriksons Zustand verschlechterte. Ich würde morgen wieder nach ihm sehen.

Denn es gab jetzt größere Probleme, denen ich mich stellen musste.

Boz stand immer noch in der Krankenstation, ein überlegenes Grinsen auf den Lippen, während weiterhin Kisten reingetragen wurden, die sie hinten an der Wand stapelten.

Boz war groß, größer als seine Kumpane und hatte ein Kreuz so breit wie ein ganzer Sternengleiter. So kam es mir zumindest vor. Sein Gesicht war markant, sein eckiges Kinn ragte weit nach vorne und mehrere Narben verunstalteten seine Haut und schnitten Schneisen in seinen Bart. Es war beinahe erstaunlich, dass ein Mensch eine solche Brutalität ausstrahlen konnte und so seine Männer unter Kontrolle brachte. Es war kein Respekt, wegen dem sie ihm folgten, sondern Furcht. Zwar hatte er sich mir gegenüber nie gemein oder angsteinflößend verhalten, aber ich wusste, was getuschelt wurde. Und nicht wenige Knochenbrüche, die ich behandelt hatte, waren durch die bloßen Hände unseres Clanchefs verursacht worden.

Ich persönlich war keine Bedrohung für Boz und hatte mich auch nie als eine gegeben, weshalb er mich für gewöhnlich in Ruhe ließ.

Doch heute bekam ich Angst vor ihm. Er verlangte, dass ich die Leute in den Kapseln aufweckte, und ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie ich das anstellen sollte.