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Tiefe Besorgnis macht sich unter den Kölnern breit, als eine stark verweste Frauenleiche aus dem Fühlinger See geborgen wird. Kurz darauf verschwindet der Polizeichef des KK11 unter mysteriösen Umständen. Handelt es sich nur um einen Zufall? Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz bezweifelt das und begibt sich auf die Suche nach seinem Chef. Kurzerhand folgt er seiner Spur und stößt dabei auf eine 12 Jahre alte Ermittlungsakte zum Vermisstenfall Emily Voss. Die junge Frau war als Rucksacktouristin unterwegs und verbrachte ein paar Tage in einem abgelegenen Ferienhaus im niederländischen Giethoorn. Dort verschwand sie spurlos. Bis zum heutigen Tag bleibt ihr Schicksal ungeklärt. Was passierte damals wirklich? Und aus welchem Grund interessierte sich der Kölner Polizeichef für Emilys Akte, wenn doch die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen schon vor Jahren eingestellt wurden? Animus ist – laut dem Psychoanalytiker C.G. Jung – die männliche Erscheinung und der männliche Funktionsbereich in der Seele einer Frau. Endlich da: der spannungsgeladene Nachfolger des Kriminalromans "Uterus – Ein Köln Krimi"
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Seitenzahl: 365
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eISBN 978-3-947612-73-4
Copyright © 2020 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Gerd FischerCovergestaltung: Lukas Hüttner
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Astrid Schwikardi
Ein Köln-Krimi
Die Autorin
Das Buch
Prolog
Kapitel 1 Samstag, 11. November
Kapitel 2
Kapitel 3 Dienstag, 21. November
Kapitel 4
Kapitel 5 Mittwoch, 22. November
Kapitel 6 Donnerstag, 23. November
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13 Freitag, 24. November
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20 Samstag, 25. November
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38 Sonntag, 26. November
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58 Montag, 27. November
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63 Dienstag, 28. November
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67 Samstag, 02. Dezember
Kapitel 68
Kapitel 69 Freitag, 15. Dezember
Epilog
Danke
Die Autorin
Astrid Schwikardi, geboren 1974 in einer Kleinstadt, in der Nähe von Wuppertal. Hauptberuflich arbeitet sie derzeit als Führungskraft in einem Versicherungsunternehmen. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit besucht sie entweder laute Musikevents, entspannt im Kino bei einem Actionfilm oder verbringt ihre Freizeit mit Freunden, sofern sie nicht gerade spannende Kriminal- und Kurzgeschichten schreibt.
Sowohl unter ihrem realen Namen als auch unter ihrem Pseudonym V.J. Courtier sind bereits einige ihrer Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht worden.
Mehr über die Autorin unter www.astridschwikardi.de
Das Buch
Eine stark verweste Frauenleiche wird am Blackfoot Beach aus dem See geborgen. Doch eine klassische Wasserleiche ist die Tote nicht. Schnell steht für den Rechtsmediziner fest, dass die Frau ermordet und im See entsorgt wurde.
Kurz darauf verschwindet der Polizeichef des KK11 unter mysteriösen Umständen. Beim Kölner Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz rührt sich bald der Verdacht, dass die Geschehnisse zusammenhängen könnten. Kurzerhand folgt er der Spur des Polizeichefs und stößt auf eine zwölf Jahre alte Ermittlungsakte zum ‚Vermisstenfall Emily Voss‘.
Die junge Frau war als Rucksacktouristin unterwegs und verbrachte einige Tage in einem abgelegenen Ferienhaus im niederländischen Giethoorn. Dort verschwand sie spurlos. Bis zum heutigen Tag bleibt ihr Schicksal ungeklärt.
Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, bis plötzlich eine weitere Frau ermordet aufgefunden wird …
„Animus“ ist der zweite Teil der Krimireihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz. Der erste Band „Uterus“ erschien im Frühjahr 2019 ebenfalls bei mainbook.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
einige Jahre zuvor …
Schon als er die Schlafkammer des alten Fachwerkhauses betrat, fühlte er, dass sich etwas verändert hatte. Er trat vor das Himmelbett und ließ seinen Blick schweifen. Minutenlang stand er da und inhalierte den süßlichen Geruch, der sich im Laufe der letzten Jahre in das Mauerwerk gefressen hatte.
Er betätigte den CD-Player, und Sekunden darauf füllten Klänge von Streichinstrumenten den Raum. Seine Hand strich über die gehäkelte Tagesdecke, zeitgleich fing er an, zum Rhythmus der Musik zu tanzen. Mit ausladenden Hüftschwüngen drehte er sich um seine eigene Achse und bewegte die Arme wie eine zu Boden stürzende Schwalbe. Abrupt hielt er inne, als die sanfte Melodie endete und eine Abfolge staccatoartiger Töne folgte. Er zog die Decke von dem darunterliegenden nackten Frauenkörper. Dabei fiel sein Blick auf ihren Schoß, wanderte hinauf zu ihren Brüsten und blieb an ihrem Gesicht hängen. Er versank in den Tiefen ihrer Augen, sog den Duft ihrer Haut ein und streichelte über ihren Bauch. Seine Atemzüge wurden kürzer. Seine Erregung wuchs und überflutete seinen Unterleib mit einer Lust, die ihm fast den Verstand raubte.
Er stieg zu ihr ins Bett, schmiegte sich an ihren weiblichen Rundungen und betrachtete ihre bleiche Haut. Doch je länger er sie ansah, desto stärker wurde seine Befürchtung. Sie hatte sich verändert, und mit jeder weiteren Stunde, die er mit ihr verbrachte, würde sie sich mehr verwandeln. Eine unaufhaltsame Metamorphose durchlaufen, bis nur noch ein vergammeltes Stück Fleisch übrig wäre. Verzweifelt starrte er in ihre einst leuchtend blauen Augen, vor denen sich schon vor Tagen ein milchiger Vorhang geschoben hatte. Ihre rosigen Wangen. Ihre samtweiche Haut. All das war verschwunden und hatte Platz für ein schwarzes Geflecht gemacht, das unter der grünlich-weißen Hülle hindurchschimmerte. Warum war es wieder so schnell gegangen? Wieso hatte Gott ihnen nicht mehr Zeit gelassen?
Sein Finger umwickelte eine Haarlocke, glitt über ihre Wange und strich über ihren Mund.
Zum letzten Mal würde er sich mit ihr vereinen. Sie spüren, riechen und schmecken. Sie mit all seiner Leidenschaft lieben, bevor er ihren Körper der Erde zurückgab.
Die Karnevalisten drängten auf Höhe des Wallraf Museums durch die enge Gasse in Richtung Heumarkt. Seit dem Vormittag herrschte in Köln alljährlicher Ausnahmezustand. Gesperrte Straßen. Laute Musik und munteres Geschunkel. Alkohol floss in Strömen. Um exakt elf Minuten nach elf war nach dem Countdown die fünfte Jahreszeit begrüßt worden, doch so lange feierte der als Spiderman verkleidete Mann noch nicht mit. Er stand etwas abseits vom Geschehen und beobachtete drei junge Frauen in Bundeswehruniform. Eine von ihnen kannte er: Tatjana. Er hatte sie vor einigen Tagen in einem Supermarkt kennengelernt. Rein zufällig, so dachte zumindest Tatjana.
Im Moment feierte sie ausgelassen mit ihren Freundinnen, doch schon bald würde sie sich auf den Heimweg machen, um rechtzeitig zur Geburtstagsfeier ihrer Großmutter zu Hause zu sein. Jedenfalls hatte sie ihm das am Telefon erzählt, nachdem er sie nach einem Date gefragt hatte.
Auf der Showbühne gab der Sänger der Kölner Mundart-Band Brings alles und heizte seinem Publikum mit dem Lied ‚Mir sin all nur Minsche’ ordentlich ein. In den vorderen Reihen hoben die Jecken ihre Arme und jubelten der Band zu.
Keine zehn Minuten darauf mischten sich die Soldatinnen unters Fußvolk und ließen sich vom Menschenstrom mitreißen. Kurz vor dem Rheinufer lösten sie sich aus der Menge. Er folgte ihnen durch die schmale Gasse und beobachtete sie aus sicherer Entfernung. Tatjana war stehen geblieben und zog ein Haargummi aus ihren Haaren. Eine rotblonde Löwenmähne kam zum Vorschein, die sie zuvor als Pferdeschwanz unter ihrer Schirmmütze getragen hatte. Fasziniert hielt er seinen Blick auf sie gerichtet. Ihre Bewegungen waren anmutig. Ihre natürliche Erscheinung war mehr als anziehend. Mit ihrer Schönheit übertrumpfte sie alle weiblichen Geschöpfe, die er jemals vor ihr gesehen hatte. Alles an ihr wirkte so lebendig, so rein. Von der ersten Sekunde an hatte er gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren.
Er schaute zur Deutzer Brücke, unter der gerade ein beladenes Containerschiff durchfuhr. Durch das nasskalte Novemberwetter war seine Maske mittlerweile durchgeweicht. Ein eisiger Nordostwind ließ ihn frösteln. Sein Blick wanderte über die Rheinpromenade, die nach wie vor mit Menschen überfüllt war. Suchend sah er sich um, als er bemerkte, dass er Tatjana aus den Augen verloren hatte. Für einen kurzen Augenblick erkannte er in der vorangeschrittenen Abenddämmerung noch ihre Silhouette, bis sie hinter einer Absperrung verschwand. Er setzte sich in Bewegung, eilte die Promenade entlang und rempelte Piraten, Marienkäfer und grinsende Clowns an. Innerhalb kürzester Zeit hatte er die Frauen wieder eingeholt. Vorsorglich hielt er Abstand und blieb einige Meter hinter ihnen. Minutenlang verfolgte er sie durch die Innenstadt, bis sie plötzlich ihre Schritte beschleunigten und zu einer Haltestelle liefen, an der bereits die Buslinie 132 wartete, allerdings stieg nur Tatjana ein. Er lief über die Straße, ohne nach links und rechts zu sehen, rannte über den Bürgersteig und stieß auf halber Strecke gegen einen betrunkenen Matrosen, der ins Taumeln geriet und zu Fall kam. Gerade noch rechtzeitig erreichte er den Bus und zwängte sich durch den Spalt der zugehenden Schwenktüren.
In den hinteren Sitzreihen entdeckte er Tatjana. Sie saß neben einem Geschäftsmann, doch er schien keinerlei Notiz von ihr zu nehmen, da er nicht aufsah und weiterhin konzentriert auf sein iPad starrte.
Er kämpfte sich durch den überfüllten Bus, drängelte sich an den Fahrgästen vorbei und blieb neben einem sitzenden Rentner mitten im Gang stehen. Von dort aus konnte er zumindest Tatjanas Haaransatz sehen. Unbemerkt sah er zu ihr hinüber, als der Bus losfuhr.
Kurz vor der Haltestelle ‚Marienburg Arnoldshöhe’ stand Tatjana auf. Die Anzeigetafel kündigte die nächste Haltestation an. Der Busfahrer verlangsamte die Geschwindigkeit, während sich Insassen von ihren Sitzplätzen erhoben und sich den Ausgängen näherten. Leise Musik drang aus dem iPhone eines Mädchens an sein Ohr, als der Bus in der Haltebucht zum Stehen kam. Nacheinander stiegen die Fahrgäste aus. Unter ihnen Tatjana, die hastig ihre Schirmmütze aufsetzte und sie tief ins Gesicht zog. Im Gegensatz zu den anderen Insassen wählte sie als Einzige den Weg durch die Wohnsiedlung ‚Heidekaul’.
Er folgte ihr unauffällig im Schutz der Bäume. Auf Höhe der Tennisplätze, auf denen zu dieser Jahreszeit niemand mehr spielte, drehte sie sich plötzlich um. Eilig versteckte er sich hinter einem Baum und wartete, bis sie in eine Nebenstraße abbog. Sofort rannte er los, schlug den Weg über eine Parallelstraße ein und näherte sich einem Spazierweg, der durch ein angrenzendes Waldgebiet führte. Als Kind war er mit dem Fahrrad oft solche Wege gefahren, doch nach einem schweren Sturz, war ihm der Spaß am Fahrradfahren vergangen. Mehr Glück als Verstand hatte er gehabt, denn wäre er nur wenige Zentimeter vorher zu Fall gekommen, hätte eine Eisenstange seine Kehle durchbohrt. So aber war es nur sein Schultergelenk gewesen. Seitdem hatte er nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen. Ein letztes Mal sah er sich um und vergewisserte sich, dass kein Fußgänger in der Nähe war. Doch die Sicht war durch die einsetzende Dunkelheit schlecht.
Zwei Lastwagen fuhren mit überhöhter Geschwindigkeit über die B51 in Richtung Innenstadt, während er querfeldein über die Wiese lief. Spätestens an der Gabelung kreuzten sich ihre Wege. Genau dort würde er zuschlagen.
Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz fuhr sich gähnend durch seine blonden zerzausten Haare, verschränkte seine durchtrainierten Unterarme und ließ den Blick über die feiernde Hochzeitsgesellschaft schweifen. Er saß im hinteren Bereich des Festsaals an einem Tisch, der mit Efeu, cremefarbenen Rosen und Sisal geschmückt war. Gelangweilt zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und checkte die News des 1. FC Köln. Mit dem dunkelgrauen Anzug und dem weißen Hemd hätte Mark ohne Bedenken als Bräutigam durchgehen können. Doch der kauerte am Nachbartisch und ließ das Abfüllritual seiner Freunde widerstandslos über sich ergehen. Tim Albrecht, der Bräutigam, war ein alter Studienkollege. Sie hatten sich während ihres Studiums an der Hochschule der Landespolizei kennengelernt. Nach erfolgreichem Abschluss hatte es Tim nach Frankfurt verschlagen, während Mark in Köln geblieben war.
Tim wurde erneut ein Ouzo vorgesetzt, den er mit einem Schluck die Kehle hinunterschüttete.
Mark richtete seine Aufmerksamkeit auf die Tanzfläche. Wenige Minuten zuvor hatte sich Tims frisch angetraute Gattin Elaia unter die tanzenden Gäste gemischt und legte gerade mit ihren Brüdern und Cousins einen schweißtreibenden Sirtaki aufs Parkett. Mark verstaute sein Handy in seinem Jackett, lehnte sich zurück und starrte in sein volles Weinglas. Sein Magen war durch das viele Essen kurz vorm Platzen. Gebackenes Lammkarree. Dazu unzählige mit einem Speckmantel umwickelte Prinzessbohnen. Keine Viertelstunde danach hatte sich ein quälender Druck in seinem Magen ausgebreitet, der im Minutentakt stärker wurde. Er sah auf die Armbanduhr und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass es erst kurz nach neun war.
Neugierig drehte er sich um, als es am Nachbartisch lauter wurde. Der Bräutigam war aufgestanden und hielt sich schwankend am Tisch fest, dabei drifteten seine Augäpfel unkontrolliert in alle Himmelsrichtungen. Gleichzeitig verzog er den Mund, als wenn er Essig pur getrunken hätte.
Der übergibt sich gleich, und ich mich auch, dachte Mark und sah Tim hinterher, der mit der Hand vor dem Mund zur Terrassentür torkelte. Von den Magenschmerzen konnte Mark das allerdings nicht ablenken, denn die zentnerschweren Steine in seinem Bauch wurden langsam unerträglich. Kurzerhand erhob er sich vom Stuhl und näherte sich Elaia, die gerade mit tosendem Beifall vom Parkett komplimentiert wurde. Die bildhübsche Griechin strahlte übers ganze Gesicht, als Mark neben sie trat und ihr auf die Schulter tippte.
„Nehmt es mir nicht übel, aber ich hau ab.“
Ihre Mundwinkel sackten hinunter. „Das ist nicht dein Ernst. Ausgerechnet jetzt? Oder liegt es daran, dass du niemanden kennst?“
„Nein. Ich habe mich nur vollkommen überfressen. Das Lamm war aber auch eine Wucht.“
Sie lächelte und küsste ihn auf die Wange. „Dann sieh zu, dass du schnell wieder fit wirst und bestell Stefan liebe Grüße von mir. Schade, dass er nicht kommen konnte.“
Mark nickte. „Und richte deinem Göttergatten aus, dass ich mich bei ihm melde.“
„Wieso sagst du es ihm nicht selbst?“
Er deutete zur Terrassentür. „Weil ich glaube, dass ihm im Moment ganz andere Dinge durch den Kopf gehen.“
Elaias Augen weiteten sich. Ohne ein weiteres Wort eilte sie fort und ließ ihn stehen. Er nutze die Gunst der Stunde und stahl sich davon. Erleichtert atmete er auf, als er den menschenleeren Korridor des Burghotels erreichte und kurz darauf an die frische Luft trat. Seine Schmerzen hatten nachgelassen, und für den Bruchteil einer Sekunde spielte er mit dem Gedanken zurückzukehren.
Andererseits kannte er niemanden. Vom Brautpaar einmal abgesehen, wobei von Tim nicht mehr viel zu erwarten war. Er grinste, als er sich die bevorstehende Hochzeitsnacht der beiden ausmalte.
Ein gepflasterter Weg führte zum hoteleigenen Parkplatz, auf dem er seinen schwarzen BMW abgestellt hatte. Nach der kirchlichen Trauung waren sie Kolonne gefahren, hinauf bis zum Burghotel. Er schlenderte zu seinem Wagen und kramte den Autoschlüssel hervor, als er das Vibrieren seines Handys bemerkte. Im Display leuchtete die Nummer seines Kollegen Stefan Rauhaus auf. Erstaunt nahm er das Telefonat an.
„Stefan was gibt‘s?“
„Ich sterbe.“
„Übertreibst du nicht ein bisschen?“
„Werde du erst mal so krank wie ich“, erwiderte Stefan am anderen Ende der Leitung und setzte hinterher: „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du dich auf dieser stinklangweiligen Hochzeit auch prächtig amüsierst.“
Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Auf eine Stunde hättest du ruhig mal vorbeikommen können.“
„Du weißt doch: Hochzeiten sind nichts für mich. Da werde ich immer so sentimental“, sagte er lachend und hustete danach lautstark. Seit vier Tagen lag sein Kollege und gleichzeitig ältester Freund Stefan Rauhaus mit einem grippalen Infekt im Bett. Doch nachdem Stefan den Abend zuvor von einem gemeinsamen Bekannten mit einer blonden Frau im Cinedom gesichtet worden war, zweifelte Mark mittlerweile daran, dass es ihm immer noch schlecht ging.
Er erzählte Stefan von der kirchlichen Trauung und dem anschließenden Fotoshooting, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass ihn etwas beschäftigte.
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Klar.“
„Los, raus mit der Sprache. Weshalb hast du angerufen? Bestimmt nicht wegen der Hochzeit.“
Er vernahm Stefans Seufzen. „Du hast recht. Mich interessiert deine Meinung zu einer Sache.“
„Inwiefern?“
„Vielleicht hältst du mich für bescheuert, aber mit unserem Chef stimmt etwas nicht.“
„Mit Dahlmann? Wieso?“
„Ich glaube, er verheimlicht uns etwas.“
Mark schnaubte belustigt. „Wie kommst du darauf? Und selbst wenn: Das ist sein gutes Recht.“
„Nicht wenn es um berufliche Belange geht. Oder findest du es nicht merkwürdig, dass er sich in letzter Zeit kaum blicken lässt und uns den ganzen Mist allein machen lässt?“
„Schon, wobei das auch seine Vorteile hat. Immerhin geht er uns dann nicht auf die Nerven.“
„Ich glaube er ist an irgendetwas dran und will nicht, dass wir davon Wind bekommen.“
Mark kratzte sich am Kopf und überlegte. „Das musst du mir genauer erklären.“
„Ich habe ihn zweimal erwischt, wie er etwas vor mir versteckt hat. Das erste Mal habe ich mir noch nichts dabei gedacht, aber als ich wenige Tage später in sein Büro kam, und er erneut eine Akte rasch in einer Schublade verschwinden ließ, kam mir das schon spanisch vor. Und dann noch das Telefonat …“
„Was für ein Telefonat?“, fragte Mark irritiert.
„Ich habe gestern ein Gespräch mitbekommen. Zwar habe ich keine Ahnung, mit wem er telefoniert hat, und alles verstanden habe ich auch nicht, aber das, was ich gehört habe, finde ich mehr als beunruhigend.“
„Was hat er gesagt?“
„Dass er glaubt, dass ihn jemand beobachtet und dass die Person seine Kollegen informieren sollte, falls ihm etwas zustoßen würde.“
Mark holte tief Luft. „Das ist starker Tobak. Das muss ich erst mal sacken lassen. Pass auf, ich fahr jetzt los und melde mich, sobald ich auf der Bahn bin.“
„In Ordnung. Bis gleich.“
Mark drückte das Gespräch weg, stieg in seinen Dienstwagen und sah nachdenklich auf die Uhr. Wenn er sich beeilte und gut durchkäme, wäre er gegen kurz nach dreiundzwanzig Uhr in Köln. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen, als ihm einfiel, dass er Tim und Elaia versprochen hatte, sich an den Aufräumarbeiten zu beteiligen. Er fuhr sich durch die ungekämmten Haare, kratzte sich über den Drei-Tage-Bart und überlegte sich eine Ausrede, mit der er sie am wenigsten verärgern würde. Angesichts seiner Magenprobleme wäre ein Magendarminfekt durchaus denkbar. Er wägte seine Überlegung ab, und je länger er das tat, desto mehr war er davon überzeugt, dass ihn in absehbarer Zeit ein heimtückischer Norovirus außer Gefecht setzen würde.
Zehn Minuten später fuhr er auf die A3 in Richtung Köln. Noch lange dachte er über das Telefonat mit seinem Kollegen Stefan Rauhaus nach, bis er ihn schließlich zurückrief. Erst kurz vor Köln kamen sie zu einem Ergebnis und einigten sich darauf, Dahlmann in den nächsten Tagen verstärkt zu beobachten und ihn erst anzusprechen, sofern sich eine passende Gelegenheit ergab.
Mark saß an diesem nasskalten Nachmittag mit seinem Kollegen Peter Eiser im Büro und blickte verwundert über den Rand seiner Hornbrille, als Peter zum wiederholten Mal aufstand und zum Fenster schlenderte. Seit nunmehr fünf Jahren arbeiteten die beiden Männer zusammen, und es hatte sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft entwickelt, die sie ihrer gemeinsamen Leidenschaft, dem 1. FC Köln, zu verdanken hatten. Die zwei Polizisten standen sich in nichts nach und schafften es immer auf wundersame Art und Weise die Heimspiele ihres Lieblingsvereins zu sehen, selbst wenn sie an diesen Spieltagen für den Dienst eingeteilt waren.
Er nahm die Brille ab und musterte seinen Kollegen, der sich seit einigen Wochen einen Bart wachsen ließ. Peter war dreißig, noch Single und lebte bei seiner Mutter. Dazu sah er mit seinem Milchbubigesicht jünger aus, als er in Wirklichkeit war. Böse Zungen im Kollegenkreis behaupteten, Peter hätte sich den Kinnwildwuchs herangezüchtet, damit die Türsteher vor der Diskothek nicht mehr nach seinem Ausweis fragten und um endlich eine Frau abzuschleppen.
„Ist was?“
„Was soll sein?“, mimte Peter den Ahnungslosen.
„Mit dir stimmt doch was nicht. Alle paar Minuten springst du auf und gehst zum Fenster.“
Peter verzog das Gesicht und schien zu überlegen. „Na schön. Aber wehe du lachst.“
Mark lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und nickte ihm zu. „Raus damit.“
„Es ist so … In ein paar Wochen haben wir Abinachtreffen.“
Mark pfiff anerkennend. „So alt bist du schon?“
„Sehr witzig. Ich lach mich tot“, blaffte Peter.
„Schon gut. Erzähl, was ist los?“
Peter ging zurück zum Schreibtisch und setzte sich. „Ich überlege die ganze Zeit, ob ich hingehen soll.“
„Interessiert dich denn nicht, was aus den Leuten geworden ist?“
„Natürlich, aber manchmal geht man nicht im Guten auseinander.“
Mark nickte. „Verstehe.“
„Es ist nicht so, dass …“ Peter stockte mitten im Satz und schien nach den passenden Worten zu suchen. Danach setzte er ein zweites Mal an: „Es geht nicht um irgendwelche Typen, auf die ich nicht kann.“
Mark schaute seinen Kollegen eindringlich an und grinste. „Es geht also um eine Frau.“
„Um die Frau“, ergänzte Peter.
„Ihr habt euch gestritten?“
„Nicht direkt.“
„Sondern?“
Peter rümpfte seine Nase und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich sag dir eins, krieg ich raus, dass du irgendjemandem etwas erzählst, dann verbrenn ich dich eigenhändig im Krematorium.“
„Jetzt erzähl schon.“
Mit einem drohenden Gesichtsausdruck sah Peter ihn an und fing an zu erzählen. „Kathleen kam in der zwölf zu uns. Oh Mann, ich habe mich sofort in ihre langen roten Haare verknallt. In ihre aufmüpfige Art. Und in ihr freches Lachen.“ Er lächelte bei seinen Worten und fuhr fort: „Meinen ganzen Mut musste ich zusammennehmen, um sie zum Kino einzuladen. Aber sie sagte sofort ja, ohne zu überlegen. Als wenn sie auf meine Einladung gewartet hätte.“
„Die große Liebe also.“
„Ja, das war sie.“
„Was ist passiert?“
Peter zuckte nachdenklich mit den Schultern und trank einen Schluck von seinem Kaffee.
„Bis zum Schluss hat sie behauptet, dass es nicht an mir läge. Kathleens Vater war ein hohes Tier der Regierung. Von daher waren unsere Tage von vornherein gezählt.“
„Sie verließ das Gymnasium?“
„Von heute auf morgen. Ohne ein Wort.“
„Und du hast nie wieder etwas von ihr gehört?“
Peter presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Das ist bitter. Aber ihre Freundinnen müssen doch was gewusst haben.“
„Nicht viel. Nur, dass Kathleens Vater sie auf irgendein teures Internat in der Schweiz verfrachtet hat.“
„Und jetzt vermutest du, dass sie zum Nachtreffen kommt?“
Peter hob die Schultern. „Ihr Name stand zumindest im Verteiler.“
„Dann frag sie doch, ob sie kommt.“
Peters Augen weiteten sich. „Bist du verrückt? Damit mach ich mich lächerlich.“
Die Bürotür wurde aufgerissen und ihr Kollege Stefan Rauhaus stürmte herein. Niemanden bei der Kölner Kriminalpolizei kannte Mark so gut und vor allem so lange wie Stefan. Immerhin seit seiner aktiven Sandkastenzeit. Wobei ihre aufflammende Freundschaft in erster Linie aus Kopfeinschlagen mit Schaufeln bestanden hatte, sofern man ihren Müttern Glauben schenken durfte. Ihre eigentliche Freundschaft hatte noch Jahre auf sich warten lassen und war auf dem Gymnasium besiegelt worden. Stefan hatte ihn vor einer Sechs bewahrt, nachdem Mark während des Unterrichts eine Explosion verursacht hatte und dabei der halbe Chemieraum abgebrannt war.
Seit diesem Vorfall waren sie unzertrennlich, weshalb man sie im Morddezernat auch Winnetou und Old Shatterhand der Neuzeit nannte. Sie waren grundverschieden, was wiederum das Geheimnis ihrer hervorragenden Zusammenarbeit war. Stefan hatte breite Schultern, dunkle Haare und eine sportliche Figur. Mit der kurz geschorenen Naturkrause und den blauen Augen erinnerte er an den amerikanischen Schauspieler Channing Tatum.
„Egal, was ihr zu bequatschen habt. Es muss warten“, riss Stefan sie aus ihrem Gespräch.
Neugierig sah Mark ihn an. „Was ist los?“
„Zwei Kollegen von der Schutzpolizei haben vor ein paar Minuten Verstärkung angefordert, nachdem eine Fußgängerin behauptet hat, dass eine Leiche auf dem Fühlinger See treibt. Anscheinend hat sich die Frau nicht geirrt. Kommt, wir müssen los!“, sagte Stefan, vollführte eine Kopfbewegung in Richtung Tür und eilte ohne ein weiteres Wort der Erklärung hinaus auf den Flur.
Mark ergriff seine Jacke und sah Peter an, der weiterhin äußerst nachdenklich wirkte. „Wir reden später in Ruhe bei einem Kölsch, in Ordnung?“
Sein Kollege schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Aufmunternd schlug Mark ihm auf die Schulter und wartete, bis er sich seine Regenjacke übergestreift hatte. Danach machten sie sich auf den Weg zum Fühlinger See.
Das knapp einhundert Hektar große Naherholungsgebiet Fühlinger See lag westlich vom Rhein und war ein siebenfach unterteilter, künstlich angelegter See am nördlichen Stadtrand von Köln. Sportattraktivitäten wie Surfen, Inlineskaten und Tauchen, aber auch Baden im speziell abgegrenzten Badebereich lockten an heißen Sommerwochenenden bis zu achtzigtausend Menschen an. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde das Gelände für Triathlon-Wettkämpfe genutzt, nachdem die ersten Europameisterschaften über die Langdistanz ausgerichtet worden waren.
Am Blackfoot Beach reckten hinter einer Absperrung zahlreiche Schaulustige ihre Köpfe in die Höhe und erhofften sich so einen Blick auf die nackte Frauenleiche. Mithilfe eines Rettungsbootes war sie vor über einer Stunde aus dem See gezogen worden. Immer wieder leuchteten die Blitzlichter von Smartphones auf. Die Polizeibeamten hatten alle Mühe, die Tote vor den neugierigen Blicken der Menschen abzuschirmen.
„Bitte meine Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen. Verlassen Sie bitte den Uferbereich“, befahl der Polizeibeamte Walter Gries und warf den Leuten einen Blick zu, der seine ganze Empörung über die menschliche Sensationslust zum Ausdruck brachte. Walter Gries hatte Mark eingearbeitet, nachdem er sein Studium an der Hochschule der Landespolizei erfolgreich absolviert hatte. Walter, der nur noch wenige Jahre von der wohlverdienten Pension entfernt war, war zu einer Art Vaterersatz geworden. Vor allem in der Zeit nach dem Mord an Marks Schwester Patricia und nach dem Kontaktabbruch zu seinen Eltern. Walters Gesichtsausdruck erhellte sich, als er seine drei Kollegen erblickte, die sich mühsam durch den Menschenauflauf kämpften.
„Da seid ihr ja endlich. Ich werde noch wahnsinnig bei den ganzen Idioten.“
Aus verquollenen Augen beobachtete Walter eine Gruppe Jugendlicher, die sofort auf ihre Handys drückten, sobald sich eine Lücke auftat. Walters Tränensäcke wirkten dicker als sonst, doch vermutlich lag das an den schlechten Lichtverhältnissen.
„Und dem da drüben polier ich gleich seine Visage“, blaffte Walter.
Mark folgte seinem Blick und verzog den Mund, als er im Gedränge einen stadtbekannten Zeitungsreporter erkannte. Für Marks Geschmack war der Kerl in letzter Zeit zu oft zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.
„Der muss auch sehen, wie er seine Brötchen verdient“, versuchte er, seinen Kollegen zu beruhigen. Zeitgleich beobachtete er die Kollegen von der Spurensicherung, die im Licht der aufgestellten Scheinwerfer den Strand nach möglichen Beweisen absuchten.
Obwohl Mark gebürtiger Kölner war und nie woanders gelebt hatte, kam er meist im Sommer hierher. Das letzte Mal vor einigen Jahren zum Summerjam Reggae-Festival, zu dem ihn seine Ex-Freundin Larissa mitgenommen hatte. Damals war der gesamte Strandabschnitt mit Zelten und grölenden Fans überfüllt, und er mit Larissa noch glücklich gewesen. Nachdenklich schaute er zu der Stelle, an der Larissa und er gestanden und Arm in Arm nach den Klängen der Musik getanzt hatten. Niemals wäre ihm in dem Augenblick in den Sinn gekommen, dass das mit Larissa und ihm einmal so enden würde. Betrogen hatte sie ihn. Eiskalt und ohne mit der Wimper zu zucken. Mit seinem damaligen besten Freund. Womit sie mit einer einzigen Nacht sechs Jahre Beziehung das Klo runtergespült hatte. Mark schluckte. Zweimal waren ihm die beiden noch über den Weg gelaufen. Das erste Mal am Tag der Gerichtsverhandlung, bei der er sich um Kopf und Kragen reden musste, um einer drohenden Bewährungsstrafe zu entgehen, nachdem Mark seinem Widersacher durch einen Schlag ins Gesicht den Unterkiefer gebrochen hatte. Das zweite und letzte Mal hatte er die beiden im Supermarkt gesehen, als er an einer Kasse gestanden hatte. Seitdem hatte er nie wieder etwas von Larissa gehört. Genauso plötzlich und unvorhergesehen wie sie in sein Leben getreten war, war sie nach dem letztendlich klärenden Streit mit Sack und Pack ausgezogen. Niemals zuvor hatte er eine Frau so geliebt wie Larissa, und nie zuvor war er so verletzt worden wie von ihr.
Er atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Langsam stapfte er durch den aufgeweichten Sand und folgte Stefan. Peter Eiser hingegen blieb bei Walter Gries, um die aufgebrachten Passanten zu beruhigen.
Die Leiche der toten Frau lag auf dem Sandstreifen, auf Höhe des Seepavillons, mit dem Gesicht nach oben. Schon von Weitem erkannte Mark den fortgeschrittenen Verwesungsprozess. Die Haut der Toten war aufgedunsen, schimmerte grünlich, und ihr Gesicht wirkte merkwürdig entstellt.
Er betrachtete die leblose Hülle und beobachtete den Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow, der die Tote gerade inspizierte.
Bei seiner Körpergröße von zwei Metern hatte der schlaksige Mallow sichtlich Mühe, seine Beine in eine bequeme Position zu bringen.
„Hallo Karsten. Seit wann seid ihr hier?“, fragte Mark verwundert und schaute auf die Armbanduhr. Der glatzköpfige Rechtsmediziner, der es seit vielen Jahren vorzog, das wenige Haar, das ihm geblieben war, abzurasieren, lächelte freundlich. „Seit einer halben Stunde, schätze ich. Aber ich habe eben erst angefangen, weil Staatsanwältin Reinhold so viel wissen wollte.“
„Maja?“, fragte Mark und ertappte sich dabei, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.
Mallow nickte kaum wahrnehmbar und beugte sich zur Leiche.
„Kannst du schon was sagen?“, kam Mark zur Sache.
„Kommt drauf an. Die Dame packen wir auf jeden Fall jetzt ein. Was ich euch aber sagen kann, ist, dass sie nicht im See ertrunken ist.“
„Nicht? Also wurde sie hier nur entsorgt?“
„Exactamente. Ich schätze mal, dass sie hier irgendwo in den See geworfen wurde. Vermutlich von einer Brücke. Das geht am schnellsten“, erklärte der Rechtsmediziner und betrachtete die tote Frau. „Aber eine klassische Wasserleiche ist unsere Dame nicht. Die hatte schon lange Zeit, bevor sie ins Wasser geworfen wurde, das Zeitliche gesegnet.“
„Woran siehst du das?“
„Ganz einfach. So weit wie der Verwesungsprozess vorangeschritten ist, hätte sich auf ihrer Haut schon längst ein Algenrasen bilden müssen. Und wie du siehst. Niente.“
„Was schätzt du, wie lange sie schon tot ist?“, hakte Stefan nach.
„Schwer zu sagen. Schaut mal hier.“ Mallow deutete zum Bauch der Toten und setzte hinterher: „In der Unterleibregion werden die ersten Veränderungen auf Grund der einsetzenden Fäulnis sichtbar. Grünliche Verfärbungen, die durch den Abbau des roten Blutfarbstoffes entstehen. Unter der Bauchwand befindet sich der Dickdarm, von dort breiten sich Darmbakterien besonders schnell aus. Und je weiter die Fäulnis voranschreitet, desto mehr weitet sich die Grünverfärbung auf die gesamte Körperoberfläche aus. Seht ihr das hier?“
Mallow tippte mit der Pinzette auf ihren Unterarm.
„Diese dunklen Verästelungen sind Blutadern. Wir sagen auch Durchschlagen des Venennetzes dazu. Und wenn ihr hier mal schaut …“ Mallow bewegte die Pinzette zu den Gesichtsöffnungen. „Wenn aus Mund und Nase bräunliche Flüssigkeit austritt, dann ist das kein Blut, sondern Fäulnisflüssigkeit. Und nach einer angemessenen Zeit bilden sich auf der Haut Blasen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind und einreißen können. Die Verwesung ist sehr weit vorangeschritten. Wäre sie ertrunken, hätte ich auf knapp zwei Wochen getippt. Aber die Sache hat einen entscheidenden Haken.“
„Der Algenrasen“, sagte Stefan.
„Exactamente. Algen besiedeln eine Wasserleiche Pi mal Daumen nach drei bis vier Tagen, aber wie wir bereits festgestellt haben …“
„… sind da weit und breit keine Algen“, beendete Mark den Satz.
Mallow nickte. „Und noch etwas ist interessant: Angenommen sie wurde tatsächlich ermordet, und darauf deuten allein schon die Würgemale an ihrem Hals hin, dann war ihrem Mörder egal, ob sein Opfer schnell gefunden wird oder nicht.“
Mark warf Stefan einen erstaunten Blick zu.
„Woher weißt du das denn?“
„Ein Mörder, der will, dass sein Opfer so lange wie möglich unentdeckt bleibt, befestigt einen schweren Gegenstand an der Leiche. Damit verhindert er, dass sie durch die Fäulnisgase an die Wasseroberfläche getrieben wird. Konkret bedeutet das: Wirft man eine stark verweste Leiche ins Wasser, muss man auf jeden Fall einen schweren Gegenstand an ihr befestigen, damit sie überhaupt untergeht.“
„Was glaubst du, weshalb ihr Mörder so vorgegangen ist?“
Karsten Mallow schnalzte mit der Zunge.
„Schwer zu sagen. Vielleicht Zeitnot. Oder vielleicht wusste es der Mörder nicht besser. Aber das glaube ich nicht. Ich vermute schlicht und ergreifend Gleichgültigkeit“, mutmaßte Mallow, der jetzt mit der Pinzette eine Haarsträhne anhob.
„Herr Birkholz. Herr Rauhaus. Schön, dass Sie sich auch mal blicken lassen. Und Karsten, kommst du voran?“, durchbrach die tiefe Stimme von Thomas Dahlmann ihr Gespräch.
Der Leiter des Kriminalkommissariats KK11 und die Polizeibeamtin Barbara Roth überquerten den Sandstreifen und kamen geradewegs auf sie zu. Ein Windstoß wirbelte Dahlmanns graue Haare durcheinander und spielte mit seiner Stoffhose, wodurch sich seine dürren Beine abzeichneten. Erst letztes Jahr noch hatte sich unter seinem Hemd ein unübersehbarer Bauchansatz gezeigt. Seine Haare waren weitaus dunkler gewesen. Was hatte seinen Chef im letzten Jahr so altern lassen? Mark wusste keine Antwort, und er ertappte sich bei dem Gedanken, ob ein Zusammenhang bestand zwischen Dahlmanns beschleunigtem physischen Verfall und dem Telefongespräch, das Stefan belauscht hatte. Mark nickte seiner verhassten Kollegin Barbara Roth zu. Es kostete ihn Überwindung, obwohl er nicht sagen kannte, was genau ihn an ihr störte. Vielleicht war es ihr blonder Pagenkopf, der an den ausgefransten Haarschnitt einer Barbie-Puppe erinnerte, nachdem ein Mädchen die Haare mit einer Schere bearbeitet hatte.
„Na Mark, heute die Elektrozahnbürste mit einem Kamm verwechselt?“, begrüßte ihn Barbara.
Er bedachte sie mit einem schiefen Seitenblick und konterte: „Und die Augen deines Friseurs werden wohl auch immer schlechter.“
„Du bist ja so witzig, Mark. Und so originell“, erwiderte sie überspitzt freundlich.
Kommentarlos wandte er sich dem Rechtsmediziner und seinem Chef zu. „Das Opfer ist an einem anderen Ort ermordet worden. Im See ist sie nur entsorgt worden“, hörte er Mallow sagen, während Dahlmann die Frauenleiche betrachtete.
„Wie lang lag sie ungefähr im Wasser?“, wollte sein Chef wissen.
„Grob geschätzt? Keine zwölf Stunden.“
Dahlmanns Augen weiteten sich und irritiert starrte er auf die Blasen und die Verfärbungen der Leiche. „Die muss doch gewaltig gestunken haben.“
Mallow stand auf und trat neben Dahlmann. „Davon kannst du ausgehen. Die hat einige Zeit vor sich hingedümpelt, um es mal so zu sagen. Aber wenn du dir mal ihre Hände anschaust, da sieht man, dass diese typische Waschhaut kaum vorhanden ist“, sagte Mallow, während er die Pinzette in seinen Alukoffer zurücklegte und ihn zuklappte.
Zwei Bestatter näherten sich und verfrachteten die Leiche der Frau in einen Leichensack.
Mark nutzte den Moment der allgemeinen Aufbruchstimmung und verabschiedete sich von seinen Kollegen. Er überquerte den Strand und sah ein letztes Mal zum See. In der Ferne erkannte er Karsten Mallow, der sich gestikulierend mit Dahlmann unterhielt. Neben dem Rechtsmediziner stand Stefan, der seine Arme vor der Brust verschränkt hatte, zustimmend nickte und sich danach Barbara Roth zuwandte. Mark drängte sich an den Passanten vorbei und hörte, wie Walter energisch auf die Leute einredete, doch er verstand nur Wortfetzen.
Er ließ den Strand hinter sich, schlenderte den schmalen Fußgängerweg hinauf und erreichte die Überdachung einer Eventlocation. Durch die Fensterscheiben erkannte er leere Stühle vor den festlich geschmückten Tischreihen. Er hielt sich rechts und passierte eine Tauchschule, vor deren Eingang ein Taucher in Lebensgröße stand. Danach durchquerte er das offenstehende Tor, durch das er schon auf dem Hinweg gegangen war, und schritt über den mit Laub bedeckten asphaltierten Weg. Hinter den Absperrpollern bog er in den Stallagsbergweg ein, wo er seinen Wagen auf dem Parkplatz der Paintballanlage geparkt hatte. Er schloss die Fahrertür auf und setzte sich hinters Lenkrad, doch augenblicklich jagte ein stechender Schmerz durch seine Schulter. Er stöhnte auf und schnellte mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn. Doch das Brennen in seiner Schulter ließ nur langsam nach. Je nach Wetterlage machte sich seine Verletzung bemerkbar, die er sich bei einem Schusswechsel eingefangen hatte. Wobei der körperliche Schmerz zu ertragen war. Im Gegensatz zu dem Seelenschmerz, den er empfand, wenn er an seine tote Schwester Patricia dachte. Fast zweieinhalb Jahre war es her, dass sie Patti neben einem Waldweg gefunden hatten. Ermordet. Von einer menschlichen Bestie, von der seitdem jede Spur fehlte. Die grausamen Bilder vom Tatort, die sich in Marks Kopf unlöschbar eingebrannt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf, und es kam ihm vor, als wäre seitdem kein Tag vergangen. Davor hatte er sich am meisten gefürchtet. Dass die Bilder nie verblassen und die Wunden erneut aufreißen würden, sobald wieder eine junge Frau ermordet worden war.
Den Abend zuvor hatte der 1. FC Köln gegen Schalke mit einem erfolgreichen 2:0 den Klassenerhalt geschafft. Schon während des Spiels hatten sie ausgiebig gefeiert. Die Quittung dafür hatte Mark prompt am nächsten Morgen kassiert. Kopfschmerzen vom allerfeinsten, aber ansonsten war seine Laune ungetrübt, bis am späten Vormittag Walter angerufen und sie über einen Leichenfund unterrichtet hatte. Angeblich hatte ein Bürger in der Nacht aus dem angrenzenden Wald Schreie gehört und ein Gewaltverbrechen befürchtet.
Am Tag darauf war seine Vermutung zur traurigen Gewissheit geworden, nachdem ein Reiter eine tote Frau in der Nähe eines Wanderweges gefunden hatte.
Zu dem Zeitpunkt hatte Mark noch nicht geahnt, wie gravierend sich die nachfolgenden Stunden auf sein weiteres Leben auswirken sollten. Unmittelbar nach Walters Anruf hatten sich Mark und Stefan auf den Weg zum Tatort gemacht. Noch heute klang der Song von Iron Maiden, den Stefan auf der Hinfahrt lautstark mitgesungen hatte, in Marks Ohren. Die Luft im Fahrzeuginneren war stickig gewesen. Er hatte die Klimaanlage aufgedreht und gleichzeitig das Radio lauter gestellt, um Stefans schiefes Gepfeife nicht hören zu müssen. Danach hatte er eine halb volle Coladose geleert und gefragt: „Wo müssen wir überhaupt hin?“
Noch heute erinnerte er sich an Stefans Gesichtsausdruck, mit dem er ihn angesehen hatte.
„Ich dachte, du wüsstest …“
„Weiß ich auch. Die nächste Straße links. Irgendwo da vorn müsste es sein“, hatte er selbstgefällig geantwortet.
Keine Minute darauf hatten sie an einem Straßenrand geparkt. Walter Gries war ihnen winkend entgegengeeilt und hatte gewartet, bis sie ausgestiegen waren.
„Wo wart ihr denn so lange, Jungs? Kommt beeilt euch. Die Frau ist übel zugerichtet.“
Schlagartig war Marks gute Laune verflogen, und sein Magen hatte sich verkrampft. Dasselbe Problem hatte er bei Obduktionen. Eine Schwäche, die er versuchte, vor anderen zu verbergen. Nur dem Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow hatte er sich anvertraut, und der besorgte ihm seitdem regelmäßig Kreislauftropfen.
Sie hatten sich auf den Weg zum Leichenfundort gemacht. Die gesamte Zeit hatten sie sich angeschwiegen, bis sie schließlich einen Abhang erreichten, vor dem sich weitere Kollegen versammelt hatten. Die Leute von der Spurensicherung hatten bereits ein Zelt aufgebaut, das die Sonnenstrahlen reflektierte, die sich durch den lichten Wald kämpften.
Eine Kollegin sprach ihn an und hielt ihm einen Zettel unter die Nase, während Stefan und Walter zum Leichenfundort vorgingen. Die Angelegenheit, die seine Kollegin mit ihm klären wollte, war mehr als unwichtig gewesen. Längst wusste er, dass damals alles nur vorgeschoben war. Ein Ablenkungsmanöver, um Zeit zu gewinnen.
Er hatte den Tatort nur wenige Minuten nach Walter und Stefan erreicht. Die Spurensicherer suchten das Gebiet bereits nach Beweisen ab. Sofort stachen ihm die betretenen Gesichter seiner Kollegen ins Auge. Noch während er über das Absperrband stieg, verließ Stefan das Zelt. Mit aschfahlem Gesicht und Tränen in den Augen trat er ihm entgegen.
„Mark, geh da bitte nicht rein!“
„Was?“
„Bitte. Tu es nicht.“
Stefan machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Zugang zum Zelt.
„Was soll der Quatsch?“
„Mark, bitte!“ Mittlerweile hielt er ihn an der Schulter fest. Mit einer ruckartigen Bewegung riss er sich los. Erneut packte ihn Stefan am Oberarm. „Ich flehe dich an. Tu es nicht.“
Mark stieß ihn zur Seite, stürzte ins Zelt und verharrte in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die am Boden liegende Frauenleiche. Übelkeit stieg in ihm hoch, und Sekunden darauf erbrach er sich schwallartig, als er begriff, dass vor ihm die sterblichen Überreste seiner Schwester Patricia lagen.
Es folgte eine Zeit der tiefen Trauer. Der Selbstvorwürfe. Der inneren Zerrissenheit. Ein zermürbender Gefühlswechsel von Wut, Verleugnung bis hin zu unerträglichen Rachegelüsten, die ihm selbst Angst gemacht hatten. Dahlmann hatte das einzig Richtige getan und ihn von den Ermittlungsarbeiten abgezogen, mit der Auflage, sich einer Psychotherapie zu unterziehen. Sechs Sitzungen hatte er über sich ergehen lassen, aber die seelische Erleichterung, die er sich dadurch erhofft hatte, war ausgeblieben. Zwar hatten sich seine Schlafprobleme und sein ständiges Gedankenkarussell gebessert, doch nach wie vor waren sie vorhanden. Nach einem Monat hatte er die Therapie abgebrochen und Dahlmann gegenüber erklärt, dass er keine Seelenklempnerin bräuchte und selbst alles in den Griff bekommen würde. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so geirrt. Unverändert rissen seine Wunden wieder auf und setzten sein Gedankenkarussell in Gang, sobald er zu einem Tatort gerufen wurde und eine ermordete junge Frau vorfand.
Er atmete tief durch, während die Bilder seiner toten Schwester langsam blasser wurden, bis sie schließlich verschwanden. Eine erdrückende Stille umgab ihn, die er kaum ertrug. Hastig schaltete er das Radio ein und lauschte der Männerstimme, die mit einer Eilmeldung das Programm unterbrach. Er traute seinen Ohren kaum, als der Nachrichtensprecher von einer Wasserleiche berichtete, die am frühen Abend von der Kölner Polizei aus dem Fühlinger See gezogen worden war. Die Jungs von der Presse leisteten gute Arbeit und verdienten seinen Respekt. Fehlte nur, dass der Sprecher die Identität der Toten preisgab, doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen wurde der nächste Song gespielt. Aber wer war die Tote?
In den letzten Wochen war die eine oder andere Vermisstenanzeige aufgegeben worden. Teenager, die nach Diskobesuchen oder Wochenendtrips spurlos verschwunden waren und erst Tage später wieder zu Hause auftauchten. Menschen, die aus ihrer Ehe flüchteten, um nach wenigen Tagen reumütig zurückzukehren. Aber auch junge Frauen, die nach einiger Zeit nicht wieder auf der Matte standen, sondern vermisst blieben. Ob die Tote eine von ihnen war?
Der Wetterbericht und die nachfolgenden Staumitteilungen rauschten an ihm vorbei. Erst das Klingeln eines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Er langte zu seiner Jacke, doch bis er das Smartphone zu fassen bekam, hatte es aufgehört zu klingeln.
Sein Blick wanderte zur Mondsichel, die am sternenklaren Abendhimmel leuchtete, und blieb an seinem Mobiltelefon hängen. Ein Bekannter hatte angerufen, der sich vermutlich auf ein Kölsch mit ihm treffen wollte. Er beschloss, ihn später zurückzurufen, denn vorher wollte er noch etwas nachsehen. Er aktivierte den Whatsapp-Messenger. Auf dem obersten Statusbild grinste Stefan mit einem Bierglas in der Hand. Die Fotos darunter waren von Gruppen oder Freunden. Er scrollte hinunter zu einem Bild, auf dem eine Frau mit dunkler Löwenmähne zu erkennen war. Maja. Er öffnete den Chat und las die Zeile unter dem Namen ‚Staatsanwältin Maja Reinhold‘. Zuletzt online um acht Uhr. Vor drei Minuten.
Sein Blick fiel auf das Datum im Chatverlauf. Siebzehnter Oktober. An dem Tag hatte er Maja das letzte Mal eine Nachricht geschickt, die bis zum heutigen Tag unbeantwortet geblieben war.
Er hatte Maja vor eineinhalb Jahren kennengelernt. Es war ihr erster gemeinsamer Fall gewesen. Ein Serienkillerfall, der ihnen an die Substanz gegangen war und ihnen alles abverlangt hatte. Sowohl fachlich als auch emotional. Von Anfang an war der Wurm in ihrer Beziehung. Wenn man überhaupt davon sprechen konnte. Vielmehr war es eine geschäftliche Verbindung, die hin und wieder in eine Liaison abdriftete. Die Zähne hatte er sich an ihr ausgebissen. Er war schon kompliziert, doch Maja übertraf ihn um Längen. Dabei hatte er gedacht, er wäre nach dem Vier-Augen-Gespräch auf Majas Geburtstagsfeier vor über einem Jahr endlich am Ziel seiner Träume gewesen. Das war er auch, eine Viertelstunde lang. Solange, bis kurz nach Mitternacht plötzlich Majas Ex-Freund auftauchte und ihr vor versammelter Mannschaft einen Kuss verpasste, der sogar Stefan sprachlos gemacht hatte. Innerhalb kürzester Zeit war Mark von Wolke sieben abgestürzt und hart auf den Boden der Realität aufgeschlagen. Eine gefühlte Ewigkeit hatte er gebraucht, um zu begreifen, was da vor seinen Augen passierte. Keine zehn Minuten darauf hatte er die Party verlassen. Vielmehr war er geflüchtet und hatte nie mehr ein Wort darüber verloren, nachdem er von Dritten erfahren hatte, dass Maja seitdem wieder mit ihrem Ex-Freund zusammen war. Mehr als ein Jahr hatte er das Thema Maja Reinhold gemieden, und er hätte es auch weiterhin durchgezogen, wenn nicht vor vier Wochen ihr Abendessen beim Italiener dazwischengekommen wäre.
Maja und er hatten bis spät abends über Ermittlungsakten gebrütet und über das mögliche Motiv eines Mörders nachgedacht, als Maja plötzlich auf die Idee kam, beim Italiener etwas Essen zu gehen. Was sie schließlich auch getan hatten. Seitdem war mehr als ein Monat vergangen, doch nach wie vor wusste er nicht, was er von dem Abend halten sollte. Sie hatten beide zu viel Wein getrunken, und plötzlich hatte er Maja nach Dingen gefragt, nach denen er besser nicht gefragt hätte.
Er startete den Motor, lenkte den Wagen vom Parkplatz und beschloss, in seine Wohnung zu fahren.
Am nächsten Morgen saß Mark in seinem Büro und schrieb eine Zusammenfassung über ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse, als sein Handy klingelte. Er tippte den Satz schnell zu Ende und setzte seine Hornbrille ab, die er normalerweise nur fürs Lesen brauchte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass er mit Brille seriöser wirkte. Stefans Meinung hingegen war, dass er damit wie ein verwirrter Brillenlangur aussah. Doch sie erfüllte ihren Zweck. Außerdem konnte er mit der Brille Zeit schinden, wenn er in heiklen Situationen Bedenkzeit benötigte. Verwundert schaute er aufs Display. „Maja. Ich habe schon gehört, dass du dich um die Ermittlungen kümmerst“, meldete er sich mit belegter Stimme und räusperte sich.
„Falsch, mein Lieber. Du kümmerst dich um die Ermittlungen, und ich sage dir, was du tun sollst“, erwiderte sie lachend und setzte hinterher: „Mir geht es übrigens bestens. Danke der Nachfrage. Aber weshalb ich anrufe: Check doch mal bitte, ob in der Vergangenheit …“