Exodus - Astrid Schwikardi - E-Book

Exodus E-Book

Astrid Schwikardi

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Beschreibung

"Exodus" ist der dritte Teil der Krimireihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz. Die ersten beiden Bände "Uterus" und "Animus" sind ebenso im Frankfurter Verlag mainbook erschienen. Manchmal liegt der Schlüssel zur Wahrheit in einem selbst verborgen. Doch du siehst ihn nicht, weil die grausame Realität dich vernichten würde. Ein seit langer Zeit gehütetes Geheimnis … Ein rätselhafter Brief … Ein mysteriöser Todesfall … … und Anzeichen, dass die Ereignisse mit dem schrecklichen Mord an seiner Schwester Patricia zusammenhängen. Endlich da: der dritte Band der spannungsreichen Kriminalreihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz.

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eISBN 978-3-948987-34-3

Copyright © 2022 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Astrid Schwikardi

Exodus

Ein Köln-Krimi

Inhalt

Die Autorin

Das Buch

Prolog

Kapitel 1 Freitag, 19. April

Kapitel 2 Freitag, 19. April

Kapitel 3 Samstag, 20. April

Kapitel 4 Montag, 22. April

Kapitel 5 Freitag, 26. April

Kapitel 6 Samstag, 27. April

Kapitel 7 Sonntag, 28. April

Kapitel 8 Montag, 29. April

Kapitel 9 Dienstag, 30. April

Kapitel 10 Mittwoch, 1. Mai

Kapitel 11 Mittwoch, 1. Mai

Kapitel 12 Mittwoch, 1. Mai

Kapitel 13 Mittwoch, 1. Mai

Kapitel 14 Mittwoch, 1. Mai

Kapitel 15 Donnerstag, 2. Mai

Kapitel 16 Donnerstag, 2. Mai

Kapitel 17 Dienstag, 7. Mai

Kapitel 18 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 19 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 20 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 21 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 22 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 23 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 24 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 25 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 26 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 27 Mittwoch, 8. Mai

Kapitel 28 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 29 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 30 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 31 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 32 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 33 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 34 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 35 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 36 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 37 Donnerstag, 9. Mai

Kapitel 38 Freitag, 10. Mai

Kapitel 39 Freitag, 10. Mai

Kapitel 40 Freitag, 10. Mai

Kapitel 41 Freitag, 10. Mai

Kapitel 42 Freitag, 10. Mai

Kapitel 43 Samstag, 11. Mai

Kapitel 44 Samstag, 11. Mai

Kapitel 45 Montag, 13. Mai

Kapitel 46 Dienstag, 14. Mai

Kapitel 47 Freitag, 24. Mai

Kapitel 48 Freitag, 24. Mai

Epilog

Danke

Die Autorin

Astrid Schwikardi, geboren 1974 in einer Kleinstadt, in der Nähe von Wuppertal. Hauptberuflich arbeitet sie derzeit als Führungskraft in einem Versicherungsunternehmen. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit besucht sie entweder laute Musikevents, entspannt im Kino bei einem Actionfilm oder verbringt ihre Freizeit mit Freunden, sofern sie nicht gerade spannende Kriminal- und Kurzgeschichten schreibt.

Sowohl unter ihrem realen Namen als auch unter ihrem Pseudonym V.J. Courtier sind bereits einige ihrer Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht worden.

Mehr über die Autorin unter www.astridschwikardi.de

Das Buch

Einige Jahre sind mittlerweile seit dem brutalen Mord an seiner Schwester Patricia vergangen. Noch immer gibt sich Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz die Schuld an ihrem Tod, nachdem er bei den damaligen Ermittlungsarbeiten einen folgenschweren Fehler begangen hat. Nach außen hin scheint er sein Leben wieder in den Griff bekommen zu haben, als plötzlich die frühere Freundin seiner Schwester, Aurelia Vreede, nach einem abendlichen Spaziergang mit ihrem Freund spurlos verschwindet. Doch schon wenige Tage darauf taucht ein Brief von Aurelia auf, in dem sie ausdrücklich darum bittet, nicht nach ihr zu suchen.

Die Neugierde des Kölner Ermittlers ist geweckt. Unverzüglich stellt er private Nachforschungen an, die zuerst im Sande verlaufen. Als allerdings Aurelias Mutter kurz darauf auf einem Eventschiff unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, steht für ihn fest, dass hinter den rätselhaften Todesumständen und Aurelias Verschwinden ein Zusammenhang bestehen muss. Kurzerhand leitet er die Ermittlungen ein.

„Exodus“ ist der dritte Teil der Krimireihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz. Die ersten beiden Bände „Uterus“ und „Animus“ sind ebenfalls im Frankfurter Verlag mainbook erschienen.

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Prolog

Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Sein Herz jagte hinter seinem Brustbein, als habe er einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Seine Kehle fühlte sich trocken an, er bekam kaum Luft.

Mit zittriger Hand nahm er den eingehenden Anruf auf seinem Smartphone entgegen.

„Ja?“, meldete er sich mit belegter Stimme.

Die abendliche Anruferin war eine Klientin von ihm. Er kannte die Frau kaum, doch immerhin so gut, dass er wusste, dass sie sehr wohlhabend war und ihn für seine Dienste ordentlich bezahlte. Sie wirkte aufgeregt und sprach mit greller Stimme.

„Gibt es Neuigkeiten? Haben Sie etwas herausgefunden?“

„Leider nicht“, antwortete er sonderbar emotionslos.

„Aber vorhin auf der Mailbox haben Sie doch gesagt, Sie hätten interessante Neuigkeiten für mich.“

Er betrachtete die sich hinter dem Waldrand ausbreitende Abenddämmerung und schluckte. „Da war ich wohl zu voreilig. Ich habe mich geirrt.“

„Aber man irrt sich doch nicht einfach so! Vor allem nicht Sie!“, echauffierte sie sich verständnislos.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich keine neuen Informationen für Sie habe. Doch vertrauen Sie mir, ich melde mich, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe.“

Er vernahm ein verzweifeltes Seufzen am anderen Ende der Leitung.

„Na schön, da kann man nichts machen. Oder wollen Sie mehr Geld?“

„Nein, so glauben Sie mir doch. Das Honorar reicht vollkommen aus.“

„Sie melden sich aber, sobald Sie mehr wissen?“, vergewisserte sie sich mit unsicherer Stimme.

„Sie haben mein Wort“, log er und wischte sich über seine nasse Stirn.

Er beendete das Gespräch und schaute die beiden Männer an. Sie waren kräftig gebaut und ungefähr gleich groß. Der eine hielt eine Pistole mit einem Schalldämpfer in der Hand. Während des gesamten Telefonats hatte der Unbekannte ihm die Waffe an die Schläfe gedrückt. Über zwei Stunden hatten die Männer mit ihm auf diesen Anruf gewartet, nachdem sie ihn zu dieser Notlüge gezwungen hatten. In seinem tiefsten Inneren hatte er da schon gewusst, dass er den nächsten Tag nicht mehr erleben würde. Er dachte an seine Frau und an seine zweijährige Tochter. Niemals in seinem Leben hätte er gedacht, dass sich aus solch einem banalen Auftrag eine Todesfalle entpuppen könnte. Es gab kein Entkommen mehr. Er schaute zum wolkenverhangenen Himmel und schloss die Augen. Das Rauschen des Windes war zu hören. Ein Luftzug strich durch sein dichtes Haar, während er den Geruch von feuchter Erde einatmete und an den letzten Waldspaziergang mit seiner kleinen Familie dachte. Er wartete auf den Schuss, der ihn endgültig aus dem Leben reißen und von seinen Lieben trennen würde. Nur wenige Sekunden darauf zersprengte das Projektil seine Schädeldecke. Augenblicklich sackte er zu Boden und blieb leblos auf der Wiese liegen.

Kapitel 1

Freitag, 19. April

Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz bog in eine Seitenstraße und fuhr im Schritttempo an den zum Teil renovierungsbedürftigen Reihenhäusern vorbei. Vor einem morschen Jägerzaun stoppte er seinen schwarzen BMW und setzte rückwärts in eine Parklücke. Noch während er ausstieg, zog er die Hosenbeine seines Anzugs zurecht, stopfte sein zerknittertes Hemd in die Hose und strich sich durch die ungekämmten, dunkelblonden Haare.

Mit schnellen Schritten eilte er zur Beifahrerseite, nahm das mühselig eingepackte Geburtstagsgeschenk, das er vorsorglich im Fußraum deponiert hatte, an sich und warf die Autotür ins Schloss. Breitbeinig und mit gekrümmtem Rücken beförderte er es zum Gartentor.

„Warte, mein Junge! Ich helfe dir!“, vernahm er die Stimme seines Vaters. Er eilte herbei und öffnete ihm das Tor. Freudestrahlend tätschelte ihm sein Vater die Wange und half ihm, das Geschenk unbemerkt durch den Garten zu transportieren. Auf einem Terrassenstuhl stellten sie die zerbrechliche Ladung ab.

„Hast du alles bekommen?“, flüsterte sein Vater geheimniskrämerisch, als hätten sie gerade zehn Kilo Koks aufs Anwesen geschmuggelt.

Noch während Mark nickte, entdeckte er seinen Onkel Willi. Er stand kopfschüttelnd unter der Markise und schaute abwechselnd von seiner Hand hinauf zum ausgefahrenen Sonnenschutz.

Sein Vater legte einen Arm um Marks Schulter und führte ihn zu seinem Onkel, der sie erst jetzt zu bemerken schien.

„Schau mal, wer hier ist, Willi.“

Der Onkel sah ihn über den breiten Rand seiner Brille an, umarmte ihn lachend und klopfte ihm auf die Schulter.

„Mark, gütiger Himmel, wie lang ist das her?“

„Gefühlt eine halbe Ewigkeit. Aber ich bin froh, dass du dir zumindest das obligatorische ‚Mensch bist du groß geworden‘ verkniffen hast?“, erwiderte Mark grinsend.

Der Bruder seines Vaters lachte herzhaft. Um seine Augen bildeten sich tiefe Falten, die Mark zum ersten Mal auffielen. Auch die Haare trug er mittlerweile länger. Zurückgegelt mit Pomade. Doch in erster Linie stellte er fest, dass Onkel Willi in der zurückliegenden Zeit offensichtlich in Saus und Braus gelebt haben musste. Zumindest deutete der beachtliche Bierbauch, den er neuerdings vor sich hertrug, darauf hin. Bis auf die graue Haarfarbe hatten die Brüder keinerlei Ähnlichkeiten. Benno Birkholz war rank und schlank wie eh und je. Sein Onkel hingegen würde vermutlich in spätestens einem Vierteljahr die Dreizentnermarke knacken, wenn er so weitermachte. Mark überlegte, wann er ihn zuletzt gesehen hatte. War es tatsächlich auf Patricias Beerdigung gewesen? Er hätte schwören können, dass er damals noch keinen Bierbauch hatte.

Die Gedanken an den explosionsartigen Bauchzuwachs seines Onkels wurden jäh unterbrochen, als Mark seinen Vater sagen hörte: „Schau mal, was Willi eben gefunden hat. Was meinst du? Ob das wohl eine Wanze ist?“

Mark richtete seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, den sein Vater ihm entgegenstreckte.

„Zeig mal!“

Mark nahm das Metallgehäuse an sich und betrachtete es von allen Seiten. Neugierig verfolgten sein Vater und sein Onkel, wie er den ominösen Fund inspizierte, bis sie schließlich verständnislos die Köpfe schüttelten.

„Was brauchst du denn so lange? Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass das eine Wanze ist“, erklärten die Brüder gleichzeitig, wie aus der Pistole geschossen.

Mark versuchte abzuschätzen, wie schwer der Gegenstand war. Er war so groß wie ein Mantelknopf und wog schätzungsweise nicht mehr als zwanzig Gramm.

„Wo genau habt ihr das gefunden?“

„Da vorn.“ Sein Onkel deutete zur Hauswand, an der die Markise befestigt war.

„Und?“, wollte sein Vater wissen.

Mark verzog den Mund und ruckte mit den Schultern. „Das könnte schon eine sein.“

Die Augen seines Vaters weiteten sich. „Aber aus welchem Grund sollte jemand …?“

„Ich lass das Ding mal von den Kollegen untersuchen. Danach weiß ich mehr“, fiel Mark ihm ins Wort.

Zufrieden verschränkten die Birkholz-Brüder ihre Arme und nickten im Gleichtakt.

Kapitel 2

Freitag, 19. April

Gegen zweiundzwanzig Uhr legten die Gäste ihre Essbestecke beiseite und gingen gut gelaunt zum gemütlichen Teil des Abends über. Vorher hatten sie sich ausgiebig an der erlesenen Auswahl kulinarischer Köstlichkeiten satt gegessen. Bis dahin hatte Marks Mutter Karola fast keine Minute stillgesessen und war ständig zwischen Esszimmer und Küche hin- und hergelaufen.

Gedankenversunken betrachtete Mark gerade das Familienfoto auf dem Klavier, als Tante Hedwig ihn ansprach.

„Was ist eigentlich mit dir und Larissa? Seid ihr nicht mehr zusammen?“

Die Frage traf ihn ohne Vorwarnung und gänzlich unvorbereitet. Im ersten Moment fehlten ihm die Worte. Ungläubig sah er sie an, während sie unverfroren weitersprach: „Deine Mutter erzählt ja nichts und druckst immer nur rum. Dabei ist es doch offensichtlich, dass ihr euch getrennt habt. Was auch nicht verwunderlich ist. Welche Frau will schon mit einem Mann zusammen sein, der mit seinem Job verheiratet ist? Du bist doch noch bei der Polizei, oder? Mein Gott, wir haben uns ja schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich glaube, das letzte Mal war auf Patricias Beerdigung.“

Mark nickte wortlos und wusste nicht, wie ihm geschah. In der Zeit nach der Trennung von Larissa hatte er sich als das Opfer gefühlt. Larissa hatte ihn betrogen. Sie hatte ihn verlassen und war mit Marks damaligem besten Freund zusammengezogen.

Allein schon deshalb war für ihn immer klar gewesen, wer schuld an der gescheiterten Beziehung war. Doch die offenkundige Sichtweise seiner Tante brachte seine bis dahin felsenfeste Überzeugung ins Wanken.

Tante Hedwig zählte zu den Menschen, denen man lieber aus dem Weg ging, wenn man vermeiden wollte, dass am nächsten Tag die gesamte Nachbarschaft über seine persönlichen Probleme Bescheid wusste. Nach einem tiefsinnigen Gespräch mit ihr fühlte sich ein Normalsterblicher ausgequetscht wie eine Zitrone.

„Da brauchst du dir nichts vormachen. Das macht keine Frau lange mit. Auch wenn sie den Mann noch so sehr liebt. Und Larissa hat dich geliebt. Das glaub mir mal. Sowas sehe ich auf den ersten Blick.“

Hedwigs Worte berührten ihn, mehr als sie erahnen konnte. Nachdenklich wandte er sich von ihr ab und trank einen Schluck von seinem Kölsch.

„Ich war wieder indiskret, stimmt’s? Tut mir leid, das wollte ich nicht. Du weißt ja, wie ich bin. Es ist nur so …“ Tante Hedwig stockte mitten im Satz, als sich Onkel Willi rüber beugte und sich in ihr Gespräch einmischte. Zuvor hatte er lange mit Harald Vreede gesprochen, einem langjährigen Freund von Marks Eltern. Während des gesamten Abendessens waren die beiden Männer vertieft in ihr Gespräch gewesen, doch nun richtete Onkel Willi seine Aufmerksamkeit auf seine Ehefrau Hedwig und Mark.

„Geht dir ihre Ausfragerei auch so auf den Sack wie mir?“, fragte sein Onkel lachend.

Hedwig strafte ihren Mann mit einem bösen Blick.

„Ist schon in Ordnung. Ich hab ein dickes Fell.“

„Das muss man bei Frauen auch haben, mein Junge“, erwiderte sein Onkel augenzwinkernd und ergriff sein Kölsch. Lachend prostete er Mark und Harald Vreede zu und leerte sein Glas in einem Zug.

„Jetzt lass mich doch. Wir haben uns so lange nicht gesehen, da wird man wohl noch fragen dürfen“, herrschte Hedwig ihren Mann an und wandte sich wieder an Mark. „Ich habe dich doch nicht verletzt, oder?“

„Mach dir keine Sorgen. Dafür ist das mit Larissa und mir schon viel zu lange her. Und außerdem bin ich schon längst wieder liiert.“

Sie kniff die Augenbrauen zusammen und musterte ihn.

„Ach, wirklich?“, erwiderte sie in einem abschätzigen Tonfall, ließ ihren Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah ihn danach fragend an. „Und wieso hast du dann deine neue Partnerin nicht mitgebracht? Larissa war immer dabei …“

Ohne ein Wort der Erklärung erhob er sich vom Stuhl. Seine Mutter war gerade damit beschäftigt, die leeren Dessertteller aufeinanderzustapeln und abzuräumen. Er nutzte die Gelegenheit und half ihr dabei. So konnte er sich wenigstens aus der Affäre ziehen.

„Komm, lass mich das machen. Genieß du lieber deinen Geburtstag“, sagte er und nahm seiner Mutter den Tellerstapel aus der Hand. In Sekundenschnelle riss er Tante Hedwig den Dessertteller unter der Nase weg, obwohl sie das Tiramisu noch nicht aufgegessen hatte.

„Moment, ich bin doch noch gar nicht fertig“, rief sie ihm hinterher.

Eilig ging er an den Gästen vorbei und flüchtete in die Küche. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Hedwig ihm ungläubig hinterher sah. Erleichtert atmete er auf, als die Küchentür hinter ihm ins Schloss fiel. Er schob die Teller auf die Anrichte und schüttelte schmunzelnd den Kopf. An Hedwig war eine Psychologin erster Güte verloren gegangen. Bisher hatte noch niemand seiner Tante etwas vormachen können. Mit ihren knapp siebzig Jahren war sie nach wie vor ziemlich clever. Auch äußerlich hatte sie sich gut gehalten. So manch Dreißigjährige konnte mit Tante Hedwigs wohlgeformten Beinen nicht mithalten, die sie besonders zu feierlichen Anlässen gerne unter einem knielangen Rock hervorblitzen ließ. Ihre graugelockten Haare trug sie auf Kinnlänge, wodurch ihr Haarschopf voluminöser wirkte. Die wenigen Gesichtsfalten waren allerdings ungewöhnlich für ihr Alter. Auch wenn sie es an diesem Abend wieder vehement abgestritten hatte, konnte man deutlich sehen, dass sie mit einer Schönheitsoperation nachgeholfen hatte. Und der Chirurg hatte sein Handwerk verstanden. Ihr Gesicht wirkte weder maskenhaft noch sonderbar unproportioniert.

Mark verdrängte die Gedanken an seine Tante und zog das Metallgehäuse aus seiner Tasche, das sein Onkel am Nachmittag auf dem Grundstück seiner Eltern gefunden hatte. Erneut betrachtete er den Gegenstand, doch nach wie vor war er unschlüssig, ob es sich tatsächlich um eine Wanze handelte.

Weshalb hätte sie jemand dort anbringen sollen? Ihm fiel niemand ein, der ein Interesse daran haben könnte, seine Eltern zu observieren.

Nach dem Tod seiner Schwester Patricia hatte Mark fast zwei Jahre keinen Kontakt zu seinen Eltern gehabt. Glücklicherweise gehörte das längst der Vergangenheit an. Seine Schwester war damals von einem Unbekannten brutal ermordet worden. Bis zum heutigen Tag konnte ihr Mörder nicht gefasst werden. So wie es aussah, würde das grausame Verbrechen für immer ein ungeklärter Mordfall bleiben. Und so schlimm diese Tatsache für seine Eltern und ihn auch war, sie hatten die schreckliche Vergangenheit mittlerweile akzeptiert und gelernt, mit ihr zu leben. Lange Zeit hatte Mark mit schweren Schuldgefühlen zu kämpfen und war davon überzeugt gewesen, schuld an Patricias Tod gewesen zu sein. Weil er versagt hatte. Weil er einen unverzeihlichen Ermittlungsfehler begangen hatte, der sie das Leben kostete, und der dazu geführt hatte, dass der Mörder entkommen konnte und weiterhin frei herumlief.

Die Küchentür ging auf und sein Vater betrat den Raum. Grinsend lehnte er sich an die Arbeitsplatte und sah ihn an.

„Du hast eine Freundin? Ich habe es gerade zufällig mitbekommen, als Hedwig versucht hat, aus deiner Mutter etwas herauszubekommen.“ Er lachte und fügte hinzu: „Herrje, du weißt ja, wie Hedwig ist.“

Der Gesichtsausdruck seines Vaters veränderte sich und sein Grinsen versiegte. Mit ernster Miene sah er Mark an. „Wieso hast du uns nichts gesagt?“

„Das war gelogen.“

Erstaunen legte sich auf Benno Birkholz’ Gesicht. „Gelogen? Aber wieso?“

„Hedwig hat mich mit ihrer Fragerei genervt. Außerdem meinte sie, mir erklären zu müssen, weshalb das mit Larissa und mir niemals funktioniert hätte. Das war mir zu blöd, daher habe ich gesagt, ich wäre längst wieder liiert. Damit sie Ruhe gibt.“

Sein Vater schmunzelte. „Tja, das hat Hedwig von ihrer Mutter. Die hat auch immer getratscht und konnte fabelhaft in den Wunden ihrer Mitmenschen rumstochern.“

Sie lachten, und erneut wurde ihm bewusst, wie sehr er seinen Vater in den zurückliegenden Jahren vermisst hatte. Fast vier Jahre waren seit Patricias Tod vergangen. Er war froh, dass diese schwere Zeit endlich hinter ihnen lag und inzwischen Normalität eingekehrt war. So schien es zumindest oberflächlich betrachtet, obwohl er wusste, dass der schmerzliche Verlust im Verborgenen weiterlebte.

Lautes Gelächter drang an ihr Ohr. Schon kurz darauf wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen, und Karola Birkholz schaute lachend um die Ecke.

„Benno, komm schnell! Das musst du dir ansehen. Harald und Willi tanzen Schuhplattler.“

Benno Birkholz stieß sich von der Arbeitsplatte ab und eilte hinter seiner Frau her. Am Türrahmen blieb er allerdings stehen und drehte sich noch mal um.

„Was ist? Willst du dir das etwa entgehen lassen?“

„Ich komme gleich. Ich räum noch kurz die Teller in die Spülmaschine.“

Sein Vater nickte und verschwand dann im Nebenraum. Sekunden darauf war erneut schallendes Gelächter zu hören. Nachdenklich trat Mark ans Küchenfenster und starrte hinaus in die Abenddämmerung. Schwaches Licht schimmerte aus den Nachbarhäusern. Das einzige freistehende Haus in der Straße, das noch dazu am Grundstück seiner Eltern angrenzte, gehörte Harald und Gerda Vreede. Es passte nicht in das Gesamtbild der Wohnsiedlung. Die Reihenhäuser waren in den 1960er Jahren erbaut worden und schon längst in die Jahre gekommen. Hingegen kam das Anwesen der Vreedes einer Villa gleich. Der erfolgreiche Bauunternehmer Harald Vreede und seine damals hochschwangere Frau Gerda waren vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren hierhergezogen. Zu einer Zeit, als Marks Großeltern noch mit bester Gesundheit gesegnet waren. Doch zur Jahrtausendwende hatte sich der Gesundheitszustand seines Großvaters rapide verschlechtert, bis er schließlich ein Jahr darauf den Kampf gegen den Prostatakrebs endgültig verlor, obwohl es zwischenzeitlich so ausgesehen hatte, als habe er ihn besiegt.

Marks Großmutter war ihm nur ein Jahr später gefolgt. Mark hatte sie eines Abends leblos in ihrem Fernsehsessel vorgefunden, als er ihr Lebensmittel vorbeibringen wollte, die er nachmittags noch für sie eingekauft hatte. Das halbe Haus hatte er nach ihr abgesucht, bis er sie schließlich im Sessel gefunden hatte. Sie war friedlich eingeschlafen, mit einem Lächeln auf den Lippen. Nachdem auch seine Großmutter für immer gegangen war, waren allerdings noch zwei weitere Jahre ins Land gezogen, bis sich seine Eltern dazu entschlossen hatten, in das Reihenhaus am Rande der Stadt zu ziehen. Jahrelang hatte Mark ein beklemmendes Gefühl empfunden, wenn er das Haus betreten hatte. Doch nach und nach hatte es nachgelassen, bis es sich schließlich in Luft auflöste.

An einem Abend wie diesem fühlte er sich fast so wie früher, als seine Großeltern und Patricia noch lebten. Er war ins Leben zurückgekehrt und hatte gelernt, die Toten ruhen zu lassen.

Gedankenversunken schaute er zum Anwesen der Vreedes, als er eine Bewegung im Augenwinkel bemerkte. Im Licht der Abenddämmerung erkannte er Gerda Vreede, die mit unsicherem Gang auf den Bürgersteig trat und langsam den Nachhauseweg antrat. Offensichtlich schien sie kein Interesse daran zu haben, ihrem Mann Harald beim Tanzen zuzusehen. Schon seit vielen Jahren waren die Vreedes Freunde seiner Eltern. Längst zählten sie zur Familie, weshalb sie auf keiner Familienfeier fehlen durften. Für einen Augenblick schaute er ihr noch hinterher, danach schweifte sein Blick zur imposanten Villa der Vreedes und blieb an der meterlangen Fensterfront hängen, die von einem Wintergarten abgelöst wurde. Zwar waren die Vorhänge zugezogenen, doch trotzdem meinte Mark, einen Schatten erkennen zu können. Er kniff die Augen zusammen und sah deutlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Sie ging auf und ab, bis sie schließlich mitten im Raum stehen blieb. Als Gerda Vreede den Hauseingang erreichte, erlosch das Licht und der Schatten verschwand.

Marks Blick wanderte zum Flurfenster des Nachbarhauses, doch zu seiner Verwunderung blieb dort alles dunkel. Er schaute hinauf zum Schlafzimmerfenster, aber auch dort flammte kein Licht auf. Gähnend sah er auf die Uhr und beschloss, sich zu verabschieden. Obwohl morgen Samstag war und er nicht arbeiten musste, lag trotzdem ein anstrengender Tag vor ihm. Er hatte seinem Vater versprochen, im Garten zu helfen. Seine Eltern planten, ein Blumenbeet umzugestalten und einige Steine zu versetzen. Ein Vorhaben, das man unmöglich zu zweit stemmen konnte, daher hatte Mark seinen Kollegen Stefan Rauhaus gebeten mit anzupacken. Für neun Uhr in der Früh hatten sie sich verabredet. Er war gespannt, ob Stefan an ihre Verabredung dachte und ausnahmsweise einmal pünktlich war.

Kapitel 3

Samstag, 20. April

Am nächsten Morgen weckte Mark das Vibrieren seines Smartphones. Schlaftrunken tastete er über den Nachttisch, bekam sein Handy zu packen und schaute aus verquollenen Augen aufs Display.

„Stefan, was gibt’s?“, meldete er sich gähnend.

„Alter, wo bleibst du?“, vernahm er die vorwurfsvolle Stimme seines Kollegen am anderen Ende der Leitung.

Ruckartig richtete er sich auf. „Wie viel Uhr haben wir?“

„Gleich halb zehn.“

Fluchend riss Mark die Bettdecke fort und sprang aus dem Bett.

„Jetzt sag nicht, ich hab dich geweckt!“ Stefan lachte und setzte hinterher: „So einen Schlaf hätte ich auch gerne. Pass auf, ich trinke mir jetzt mit deinem alten Herrn einen Kaffee, und wenn du in einer halben Stunde nicht hier bist, könnt ihr den Mist ohne mich machen.“

Keine fünf Minuten später hatte sich Mark seine Arbeitskluft übergeworfen und die Zähne geputzt. Hastig schnappte er sich den Autoschlüssel und checkte kurz die eingegangenen WhatsApp-Nachrichten. Sein Blick blieb an einer Mitteilung hängen, die ihm die Staatsanwältin Maja Reinhold vor über zwei Stunden geschickt hatte.

„Wirf mal einen Blick in die heutige Zeitung“, las er und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Zu genau wusste Maja, dass er so gut wie nie Zeitung las. Und wenn, dann nur den Sportteil. Trotzdem nahm er sich vor, bei seinen Eltern einen Blick in den Express zu werfen.

Kurz vor zehn erreichte er das Anwesen seiner Eltern. Er begrüßte eilig seine Mutter, schnappte sich die Tageszeitung und las in Windeseile den Bericht über den 1. FC Köln und dessen Chancen auf den Wiederaufstieg. Als er durch die Terrassentür trat, empfing ihn das vorwurfsvolle Gesicht seines Vaters. Stefan grinste hingegen schadenfroh, prostete ihm zu und setzte sein Kölsch an.

„Kaffee nennt man das also neuerdings.“

„Männerkaffee“, erwiderte Stefan augenzwinkernd und postierte die Flasche neben einem Pflaumenbaum. Obwohl es erst Mitte April und noch dazu Vormittag war, war es bereits warm in der prallen Frühlingssonne. Schweißperlen standen seinem Vater auf der Stirn, während Stefans gerötetes Gesicht bereits auf einen leichten Sonnenbrand hindeutete. Stefan war nicht nur sein Kollege, sondern gleichzeitig auch sein ältester Freund. Allerdings war der Beginn ihrer aufflammenden Freundschaft nicht sonderlich rosig verlaufen. Gerade in den ersten Monaten hatte sie ausschließlich aus gegenseitigem Schlagen mit Sandschaufeln bestanden, sofern man ihren Müttern Glauben schenken durfte. Erst auf dem Gymnasium war ihre eigentliche Freundschaft besiegelt worden. Stefan hatte Mark zur Seite gestanden, nachdem er während des Chemieunterrichts eine Explosion verursacht und den halben Unterrichtsraum abgefackelt hatte. Seitdem waren sie unzertrennlich, weshalb sie im Morddezernat auch Winnetou und Old Shatterhand der Neuzeit genannt wurden.

Zwar waren sie grundverschieden, doch genau das war der Grund für ihre erfolgreiche Zusammenarbeit. Stefan war sportlich, hatte breite Schultern und dunkle Haare. Mit seiner kurz geschorenen Naturkrause und den blauen Augen erinnerte er an den amerikanischen Schauspieler Channing Tatum.

„So Männer, dann wollen wir mal“, sagte Benno Birkholz und deutete auf zwei Steinblöcke, die oft auf neu erschlossenen Grundstücken vorzufinden waren.

„Das ist nicht dein Ernst, Papa!“

Sein Vater krempelte die Ärmel seiner Strickjacke hoch und grinste ihn herausfordernd an.

„Die zwei Dinger schaffen wir doch mit links!“

Drei geleerte Mineralwasserflaschen sowie einige Liter kerniger Männerschweiß später war der Umzug der Steingiganten vollbracht. Sie prangten nun ein paar Meter von ihrem Ursprungsplatz entfernt in der Nähe des Gartenteichs. Stefan hatte sich bereits verabschiedet, während Mark noch die Hecke stutzen und den Rasen mähen musste. Klitschnass geschwitzt kehrte er die abgeschnittenen Äste zusammen und warf sie auf den Komposthaufen. Es war bereits Nachmittag, als sein Blick zum Haus der Vreedes wanderte, das an diesem Samstag sonderbar ruhig wirkte. Selbst die Vorhänge waren noch zugezogen. Schlagartig fiel ihm der gestrige Abend ein und die Gestalt, die sich am Vorabend im Haus der Vreedes aufgehalten hatte. Mit einem fragenden Blick drehte er sich zu seinem Vater.

„Hat Harald gestern zu tief ins Glas geschaut? Der mäht doch sonst immer in aller Herrgottsfrühe den Rasen“, sagte er und deutete zur Wiese, die aussah, als ob sie vor Monaten das letzte Mal gemäht worden wäre. Sein Vater bewegte sich auf ihn zu und blieb seufzend neben ihm stehen.

„Weißt du, seitdem das mit Aurelia passiert ist, haben sich Harald und Gerda ziemlich zurückgezogen.“

Irritiert runzelte Mark die Stirn. „Wovon sprichst du?“

Entsetzt sah ihn sein Vater an. „Gütiger Himmel! Du weißt es noch nicht?“

„Was weiß ich nicht?“

„Aurelia ist seit einiger Zeit spurlos verschwunden.“

„Wie verschwunden? Einfach so?“

„Einfach so! Und wenn du nicht so eine treulose Tomate …“ Sein Vater stockte mitten im Satz und sah ihn ernst an. „Tut mir leid. Ich wollte nicht schon wieder damit anfangen. Ich weiß ja, wie viel du um die Ohren hast.“

Mark schwieg und sammelte die restlichen Zweige auf, die noch vereinzelt auf dem Rasen herumlagen.

Obwohl sie mittlerweile mit Patricias Tod gut umgehen konnten, waberten die schrecklichen Geschehnisse nach wie vor wie Nebelschwaden über der Familie. Doch im Gegensatz zur Anfangszeit verging mittlerweile der ein oder andere Tag, an dem Mark nicht an seine Schwester dachte.

Aurelia Vreede war damals Patricias beste Freundin gewesen. Auch ihr hatte der Mord an ihrer Freundin stark zugesetzt. Ebenso wie Mark hatte auch sie damals mit einer Gesprächstherapie begonnen. Doch im Gegensatz zu ihm hatte sie es geschafft, die Therapie erfolgreich zu Ende zu bringen. Auf Stefans Anraten hin hatte Mark im vergangenen Jahr einen zweiten Anlauf gewagt und die Psychotherapie wieder aufgenommen. Zurückblickend war das der entscheidende Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Der hoffnungsvolle Schritt in eine bessere Zukunft, denn mit der Hilfe des Therapeuten konnte er mittlerweile die schreckliche Vergangenheit akzeptieren.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ den Blick über das weitläufige Anwesen schweifen. Wenn Aurelia seit einiger Zeit spurlos verschwunden war, wen hatte er dann gestern Abend hinter den Vorhängen gesehen? Oder hatte er sich alles nur eingebildet? Nein. Er hatte die Umrisse einer Gestalt gesehen. Da war er sich mehr als sicher. Aurelia war Haralds und Gerdas einzige Tochter. Verwandtschaft in näherer Umgebung gab es nicht. Außer Haralds Schwester, doch die kannte er nur von Erzählungen. Außerdem lebte sie hundert Kilometer entfernt in einem Kuhdorf im Sauerland.

Wer also hatte sich am gestrigen Abend im Haus aufgehalten, als Harald und Gerda auf der Feier seiner Eltern waren?

„Wieso habt ihr mir nichts gesagt?“

„Wir dachten, du wüsstest es.“

„Woher?“

„Du bist immerhin Polizist, mein Junge!“

Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Was genau ist passiert?“

Sein Vater zuckte resigniert die Schultern. „Wenn ich das wüsste. Harald und Gerda wissen es selbst nicht. Aurelia ist einfach nicht mehr nach Hause gekommen.“

„Und es ist nichts vorgefallen? Kein Streit? Nichts?“

„Angeblich nicht. Aurelia wollte an dem Abend noch mit ihrem Freund im Wald spazieren gehen. Dort sind sie dann von der einsetzenden Dunkelheit überrascht worden. Aurelia befürchtete, der Akku ihres Handys würde nicht mehr lange reichen, und ist deshalb schon zum Auto vorgegangen.“

„Allein?“

Sein Vater nickte. „Und als Aurelias Freund wenige Minuten später am Wagen ankam, war sie verschwunden. Seitdem fehlt jede Spur von ihr.“

„Das hört sich aber mehr als komisch an.“

Sein Vater verzog das Gesicht. „Wir können gut nachempfinden, wie sich die beiden momentan fühlen müssen. Gerda ist kaum wiederzuerkennen. Du hast sie gestern Abend selbst gesehen.“

Mark nickte. „Sie ist nur noch ein Strich in der Landschaft. Ich hatte schon gedacht, sie würde wieder eine ihrer sinnlosen Diäten machen.“

„Diät? Blödsinn. Sie isst nichts mehr, lässt niemanden mehr an sich ran. Um ehrlich zu sein, habe ich mich gewundert, dass sie gestern überhaupt dabei war. Wobei, lange ist sie ja nicht geblieben.“

„Und Harald?“

„Der verdrängt alles! Das kann er am besten! Die Tanzeinlage war wieder das beste Beispiel dafür. Und Gerda verletzt das.“

„Kennst du Aurelias Freund?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Wenn es hochkommt, habe ich ihn ein paarmal gesehen. Mal auf einer Feier. Oder, wenn er Aurelia abgeholt hat. Unterhalten habe ich mich auch mal mit ihm. Er machte auf mich einen anständigen Eindruck. Ich meine, mich daran erinnern zu können, dass Harald gesagt hätte, er würde bei einer Bank arbeiten.“

„Du weißt nicht zufällig, wie er heißt?“

„Nein, mein Junge. Du weißt doch: Mit Namen hab ich es nicht so.“

Kapitel 4

Montag, 22. April

An diesem Montagmorgen gab es nichts, was Marks Lust aufs Arbeiten auch nur ansatzweise gesteigert hätte. Im Büro warteten stapelweise Akten auf ihn. Sein verkaterter Kopf schmerzte entsetzlich. Doch am schlimmsten war, dass seine Befürchtungen wahr geworden waren und der FC am Tag zuvor eine bittere 3:0 Niederlage gegen Dynamo Dresden kassiert hatte. Eine Schmach, die er persönlich nahm und die an seinem Ego nagte. Deshalb war er seit Spielende in eine Art Verdrängungsmodus verfallen, den er frühestens am Spieltag gegen Darmstadt wieder deaktivieren würde.

Trotzdem war er davon überzeugt, dass der Aufstieg der Geißböcke unmittelbar bevorstand. Selbst das verlorene Spiel gegen Dresden würde daran nichts ändern. Schon als Mark zur Tür reinkam und das niedergeschlagene Gesicht seines Bürogenossen Peter Eiser sah, wusste er, was ihm blühte. Stefan Rauhaus war ebenfalls im Büro und hatte es sich auf dem Stuhl vor Peters Schreibtisch gemütlich gemacht. Im Gegensatz zu Mark und dem vollbärtigen Peter Eiser war Stefan allerdings kein FC-, sondern Fortuna-Fan. Mit einem schadenfrohen Grinsen schaute Stefan seine beiden Kollegen an.

Grußlos steuerte Mark seinen Schreibtisch an und fuhr sich durch seine zerzausten Haare. Er saß kaum, da haute ihm Stefan auch schon breit grinsend die Frage um die Ohren. „Wie habt ihr gestern eigentlich gespielt?“ Stefans Frage triefte förmlich vor Provokation.

Mark verdrehte die Augen, strafte Stefan mit einem vernichtenden Blick ab und kramte sein Handy aus der Jackentasche. Wortlos aktivierte er die FC-App, scrollte zu den News und las das aktuelle Statement des Trainers.

„Jetzt sag nicht, ihr habt …“

„Noch ein Wort und ich erzähl Peter von deinem desaströsen Date letzte Woche.“

Stefan lachte verhalten und versuchte, mit einer lässigen Handbewegung das Thema herunterzuspielen.

„Was für ein Date denn?“, fragte Peter neugierig.

„Vergiss es. Ist nicht weiter wichtig“, erwiderte Stefan kurz angebunden.

Marks nachdenklicher Blick wanderte von einem zum anderen, bis er schließlich sagte: „Aurelia ist spurlos verschwunden.“

Stefans Augen weiteten sich. „Etwa unsere Aurelia?“

Mark schüttelte den Kopf. „Aurelia Vreede. Die Tochter von Freunden meiner Eltern.“

„Muss ich die kennen?“

„Die Braunhaarige mit dem Schmollmund. Pattis damalige Freundin.“

„Ach die.“

„Ich muss unbedingt wissen, welche Kollegen ermitteln.“

Stefan erhob sich vom Stuhl, beugte sich über Peters Tastatur und tippte etwas in den Computer ein. Kurz darauf blickte er auf.

„Aha, unter anderem unser türkischer Kollege Sadik.“

Mark nickte und klärte seine Kollegen weiter auf. „Die Eltern von Aurelia sind stinkreich. Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu erzählen.“

Stefan und Peter schüttelten die Köpfe, während Mark zum Telefonhörer griff und Sadik Turans Nummer wählte.

„Ich hör mal, was er sagt.“

Stefan schien es plötzlich eilig zu haben. Mehrmals sah er auf die Uhr, raunte Peter etwas zu und verließ mit schnellen Schritten das Büro. Mit gerunzelter Stirn schaute Mark ihm hinterher, während er darauf wartete, dass sein türkischer Kollege den Hörer abnahm. Nach dem zehnten Klingelzeichen war Sadik endlich am Apparat, und keine Viertelstunde darauf betrat Mark bereits sein Büro.

Sadik Turan arbeitete seit drei Jahren in der Abteilung Personen- und Sachfahndung. Vor fünf Jahren war er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und sprach mittlerweile hervorragend Deutsch. Genauso wie Französisch, Italienisch und Griechisch. Wobei er sein Sprachtalent fürs Griechische weitgehend verheimlichte. Genauso wie seine griechische Freundin, mit der er seit über einem Jahr zusammenwohnte. Seitdem wartete Sadik auf eine passende Gelegenheit, es seinen Eltern zu sagen. Doch so wie es aussah, würde die noch lange auf sich warten lassen. Mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck blickte Sadik Turan auf.

„Eigentlich hättest du gar nicht kommen brauchen, aber da du mich nie ausreden lässt …“, brummte Sadik und bedachte Mark mit einem vielsagenden Blick.

„Was genau meinst du?“

„Der Fall ist abgeschlossen. Seit über vier Wochen.“

Erstaunt sah er Sadik an.

„Abgeschlossen?“

„Du bist wirklich nicht auf dem aktuellen Stand, oder? Weißt du denn wenigstens von dem Brief?“

„Welchem Brief?“

„Die Tochter hat ihren Eltern einen Brief geschrieben. Sie hat ausdrücklich darum gebeten, dass niemand nach ihr suchen soll.“

Für einen kurzen Moment verstand Mark die Welt nicht mehr. Ungläubig schaute er seinen Kollegen an.

„Und der Brief kam mit der Post?“

„Ich meine schon. Allerdings hat die Mutter ihn erst einige Tage später entdeckt. Die Haushälterin hatte den Briefkasten geleert und ihn dabei wohl übersehen. Die Mutter fand ihn danach rein zufällig unter einem Stapel Zeitungen.“

„Soll das ein Scherz sein? Und der Brief ist niemandem vorher aufgefallen?“

Zum ersten Mal während ihrer Unterhaltung meinte Mark, einen Anflug von Unsicherheit in Sadiks Gesicht zu erkennen. Sein Kollege überlegte etwas zu lange, bis er schließlich sagte: „Nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, haben wir zuallererst den Freund befragt. Mehrmals.“

„Wie heißt ihr Freund eigentlich?“

„Joachim Ho …“ Sadik presste die Lippen aufeinander und schien nachzudenken. „Irgendwas mit Ho … Da müsste ich gleich mal nachschauen“, antwortete er und setzte dort an, wo Mark ihn zuvor unterbrochen hatte.

„Am Anfang hatten wir natürlich den Freund in Verdacht.“

„Und?“, hakte Mark nach.

„Nun ja, zuerst sprach alles dafür, dass er irgendwie seine Hände mit im Spiel hat, doch sein Motiv fehlte.“

„Sein Motiv? Mensch Sadik, das kann nicht dein Ernst sein. Was ist mit Eifersucht? Ein anderer Mann? Geld?“

„Wem erzählst du das? Das weiß ich selbst, aber es gab einen entscheidenden Haken.“

„Welchen?“

„Die beiden scheinen glücklich zu sein. Egal, wen wir befragten, alle sagten dasselbe. Ihre Eltern, ihre Freundinnen. Sogar seine Freunde waren der Meinung, dass er wie ausgewechselt und ein von Grund auf anständiger Mensch geworden wäre, seitdem er mit Aurelia zusammen sei. Wie in einem kitschigen Roman“, erklärte Sadik.

Mark fuhr sich über seinen Dreitagebart und überlegte. „Also war er vorher ein schlechter Mensch?“

„Das habe ich so nicht gesagt“, protestierte sein Kollege und setzte hinterher: „Es gab jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte, die auf ein mögliches Motiv hingedeutet hätten. Und als dann der Brief auftauchte, war für uns der Fall klar.“

„Und der Brief war definitiv von ihr?“

„Hundertprozentig. Da war sich der Experte absolut sicher. Dafür war die Schriftauswertung zu eindeutig.“

Sadik Turan erhob sich vom Stuhl, steuerte einen Wandschrank an und zog die unterste Schublade auf. Es dauerte nicht lange, bis er eine Akte herauszog und anfing, darin zu blättern. Offiziell gab es zu jedem Ermittlungsfall immer nur eine Ermittlungsakte, über die die Staatsanwaltschaft herrschte. Doch inoffiziell fertigten sich die Ermittler mindestens eine Kopie an, um bürokratischen Zeitaufwand zu umgehen und um stets alle notwendigen Informationen griffbereit zu haben. Sadik Turan blätterte die Seiten durch und verharrte kurz darauf. Verheißungsvoll sah er Mark an.

„Du hast Glück. Anscheinend habe ich vergessen, den Originalbrief in die Ermittlungsakte zu packen.“

Neugierig trat Mark neben ihn und betrachtete das Schreiben. Sonderlich lang war der Brief nicht. Genau genommen bestand er nur aus vier Zeilen. Mark kramte sein Handy aus der Hosentasche und machte ein Foto von dem Brief.

„Nimm die Akte doch mit“, schlug Sadik vor und drückte sie ihm in die Hand.

Mark verschaffte sich einen groben Überblick und blätterte kurz durch die Seiten. Sofort fiel ihm auf, dass sich die Zeugenbefragungen offenbar in Grenzen gehalten hatten. Damit hatte er nicht gerechnet, nachdem Sadik eben noch betont hatte, wie viele Zeugen sie befragt hätten. Seine Kollegen hatten nur mit sechs Personen gesprochen. Verwundert blickte er Sadik an, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, ihn mit seiner Entdeckung zu konfrontieren.

„Das meiste ist wahrscheinlich digitalisiert, oder?“

Sadik nickte.

„Gut, dann nehme ich sie erst mal mit.“

Er klemmte sich die Akte unter den Arm, während Sadik einen Zettel beschriftete und ihn in den Spalt steckte, aus dem er zuvor die Unterlagen gezogen hatte.

Sie sprachen noch wenige Minuten, bis Mark sich schließlich verabschiedete. Und während Sadik seiner Arbeit bereits wieder nachging, beschloss Mark, den Kollegen von der Spezialeinheit einen Besuch abzustatten.

Die Spezialeinheit war in einem anderen Gebäude untergebracht und so verging eine gewisse Zeit, bis er schließlich bei dem abgeriegelten Gebäudekomplex ankam. Bereits zum zweiten Mal durchforstete er seine Hosentaschen, als ihm dämmerte, dass er Onkel Willis ominösen Wanzenfund zu Hause liegengelassen hatte. Auf der Geburtstagsfeier seiner Mutter hatte er eine Anzughose getragen und die hing fein säuberlich in seinem Schlafzimmer auf einem Kleiderbügel. Genervt machte er kehrt und beschloss, den Kollegen die Wanze in den nächsten Tagen vorbeizubringen.

Kapitel 5

Freitag, 26. April

Harald Vreede schlürfte an diesem Abend genüsslich seine Spargelcremesuppe und betrachtete mit sorgenvoller Miene seine Ehefrau Gerda. Apathisch starrte sie auf ihren Krabbencocktail und stocherte lustlos mit der Gabel im Glas, ohne auch nur einen Bissen zu kosten. Mit einem Seufzer sah er Gerda an und tätschelte ihre Hand.

„Schatz, du musst etwas essen.“

Sie blickte auf und zuckte wortlos mit den Schultern.

„Gefällt es dir denn nicht? So etwas wolltest du doch immer schon machen.“

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

„Aurelia geht es gut. Glaub mir.“

„Aber wieso meldet sie sich dann nicht? Warum schickt sie nur einen Brief?“

„Wahrscheinlich braucht sie Abstand.“

„Abstand? Von wem? Von uns etwa?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Aber sie wird schon einen Grund haben, weshalb sie sich nicht meldet.“

„Aber ihr Handy …“

„Gerda, ich weiß genauso wenig wie du. Entführt wurde sie aber bestimmt nicht, sonst hätten sich die Entführer längst gemeldet.“

Wie in den zurückliegenden Wochen aß Gerda Vreede auch an diesem Abend so gut wie nichts. Seitdem ihre Tochter Aurelia untergetaucht war, lebte Gerda wie in einer zeitlosen Blase. Jeder Tag glich dem anderen. Es war, als wenn ihr Leben zum Stillstand gekommen wäre. Desto unbegreiflicher war es für sie, dass an Harald anscheinend alles spurlos vorbeiging. Nach wie vor ging er seinen Geschäften nach, die fernab von jeglicher Legalität waren. Doch aus welchem Grund meldete sich Aurelia nicht? Erschwerend kam hinzu, dass die Polizei sämtliche Suchmaßnahmen eingestellt hatte, nachdem Aurelias Brief aufgetaucht war. Seitdem waren sie auf sich allein gestellt und harrten aus. Selbst der Privatdetektiv, den sie ohne das Wissen ihres Mannes engagiert hatte, hatte bisher nichts herausgefunden, obwohl er zwischenzeitlich etwas anderes behauptet hatte. Weiterhin fehlte von Aurelia jede Spur, als wäre sie inkognito in ein anderes Land ausgewandert.

Gerda saß regungslos am Tisch des Eventschiffs und blickte auf den Rhein. Mit dem Ausflug auf dem Flussboot hatte Harald sie überrascht. Die Überraschung war ihm gelungen, wenn auch nicht gerade zu ihrer Freude. Der Alltag fiel ihr schon schwer genug, da brauchte sie nicht noch den zusätzlichen Stress mit unbekannten Menschen. Tisch an Tisch, auf engstem Raum. Sie wandte den Blick zur Treppe, die hinauf aufs Deck führte. Sanfte Klavierklänge drangen an ihr Ohr, begleitet von unverständlichem Stimmengemurmel. Vor knapp zehn Minuten war der erste Gang des Fünf-Gänge-Menüs aufgetischt worden. Harald hatte sich auf die Spargelsuppe gestürzt, als habe er seit Tagen nichts gegessen. Weil sie Spargel nicht mochte, hatte sie anstelle der Suppe einen Krabbencocktail gewählt. Sie fühlte sich unwohl. Ihr Herz schlug kräftiger als sonst, und Übelkeit stieg in ihr auf. Keinen weiteren Bissen würde sie herunterbekommen.

Sie atmete schwer. Seit dem vierzehnten März war Aurelia nun fort. Von einem Moment auf den anderen. Ohne Vorankündigung. Selbst einen Streit hatte es nicht gegeben. Sie wollte an dem Abend mit ihrem Freund Joachim noch eine Runde durch den Wald drehen. Zumindest hatte Joachim das der Polizei gegenüber ausgesagt. Und Gerda vertraute ihm, zumal Aurelia in der kurzen Zeit, in der sie mit ihm zusammen war, so glücklich wirkte. So ausgelassen hatte sie ihre Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Sogar Hochzeitspläne hatten die beiden bereits geschmiedet.

Gerda hielt Haralds Vermutung, dass Aurelia sich abgesetzt hatte, für irrsinnig und an den Haaren herbeigezogen. Aus welchem Grund hätte sie das machen sollen? Außerdem hatten sie immer ein liebevolles Verhältnis zueinander gehabt. Niemals hätte Aurelia ihnen das angetan, dafür war sie viel zu gewissenhaft. Schon als Kind hatte sie ihnen stets Bescheid gegeben, wohin sie ging und wann sie wieder zu Hause war. Selbst in den herausfordernden Zeiten der Pubertät hatte sie das beibehalten. Je mehr Gerda darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass Aurelia den Brief nur aus einem einzigen Grund geschrieben hatte: weil sie dazu gezwungen wurde.

Die ersten Tage nach ihrem Verschwinden war ihr Freund Joachim Holmström ins Visier der Ermittler geraten, nachdem er sich zu Anfang in Widersprüche verstrickt hatte. Erst nach mehrmaliger Vernehmung und Aurelias Brief hatte er die Polizei von seiner Unschuld überzeugt.

Nach wie vor besuchte Joachim sie ein bis zweimal die Woche. Er hielt sporadischen Kontakt und erkundigte sich stets, ob es Neuigkeiten von Aurelia gäbe. Gerda freute sich über seine Besuche, auch wenn sie keinerlei Gemeinsamkeiten hatten und sie nicht wusste, über was sie sich mit ihm unterhalten sollte. Aus irgendeinem Grund gaben ihr seine Besuche Hoffnung. Gerda spürte einen Kloß in ihrem Hals. Wortlos stand sie auf und streifte sich ihre Strickjacke über.

„Wo willst du hin?“, fragte Harald besorgt.

„Ich fühl mich nicht so gut. Ich geh mal kurz an die frische Luft.“

„Soll ich mitkommen?“

Sie schüttelte den Kopf. Mit eiligen Schritten ließ sie den Restaurantbereich hinter sich und ging die Treppe hinauf. Die Sonne war bereits hinterm Horizont verschwunden und ein kühler Wind schlug ihr ins Gesicht, als sie das menschenleere Deck betrat. Sie fror und knöpfte ihre Jacke zu. Unter den Gästen waren viele Rentner, die ihren Lebensabend genossen und das Angebot eines ausgiebigen Festmahls sowie zahlreicher Cocktails in vollen Zügen auskosteten.

Die Stille auf dem Deck wirkte beruhigend. Wenige Meter unter ihr liefen die Stromgeneratoren auf Hochtouren. Die lachende Stimme einer Frau war zu hören. Kurz darauf kam ihr ein älteres Ehepaar um die siebzig entgegen und grüßte freundlich.

Ein Wetterumschwung schien sich anzukündigen. Es war windiger geworden, auch die Luft war nicht mehr so drückend wie noch die Abende zuvor. Das Schiff schaukelte kaum merkbar und doch fiel es Gerda schwer, das Gleichgewicht zu halten. Dicht aufeinanderfolgende Böen jagten über das leere Deck und zwangen sie zu Trippelschritten. Die Lichtstrahler im eingelassenen Boden wiesen ihr den Weg. Einige Meter entfernt entdeckte sie eine Gestalt. Regungslos stand sie an der Reling. Gerda grüßte, doch ihr Gruß blieb unerwidert. Sie wunderte sich, doch vermutlich hatte der Gast sie nicht gehört. Ein Windstoß brachte Gerda ins Schwanken und für einen Augenblick verlor sie den Halt. Eilig langte sie zum Geländer und schaute erneut zu der Stelle, an der kurz zuvor der Gast gestanden hatte. Aber da war niemand mehr. Suchend sah sie sich um und hielt Ausschau nach anderen Gästen, doch so wie es aussah, schienen alle das Festmahl zu genießen und niemand Lust auf einen Verdauungsspaziergang zu haben. Sie ging hinauf aufs Sonnendeck und trat zum Geländer. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Brüstung und starrte auf den Rhein. Selbst der Ausflug mit dem Schiff konnte ihre düsteren Gedanken nicht verdrängen. Viel zu groß war ihre Sorge um Aurelia. Aber im Gegensatz zu Benno und Karola Birkholz durfte sie wenigstens hoffen, dass Aurelia noch lebte und es ihr gut ging. Was wenn sie doch entführt worden war und irgendjemand sie gefangen hielt? Mehrmals am Tag betete Gerda, dass ihre Tochter nicht dasselbe Schicksal ereilt hatte wie Patricia Birkholz.

Sie vernahm hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Nach wie vor war das obere Deck menschenleer. Wenige Meter entfernt erkannte sie einen Strick, der sich gelöst hatte und gegen eine Metallsäule schlug. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie löste sich vom Geländer und steuerte den Rückweg an. Ein flüchtiger Blick über die Schulter gab ihr die Gewissheit, dass sie allein war.

Sie erreichte gerade den Treppenabsatz, als plötzlich ein vernichtender Schmerz durch ihren Brustkorb jagte. Reflexartig presste sie ihre Hand auf die Stelle und versuchte tief einzuatmen. Ihr Herz raste. Pochende Schmerzwellen wanderten von ihrer Schulter aus hinunter zu ihrem Ellenbogen. Kalter Schweiß legte sich auf ihre Stirn. Panisch schnappte sie nach Luft, langte zur Reling, verfehlte sie allerdings um wenige Zentimeter. Ein Schleier legte sich über ihr Sichtfeld, während sich der Schmerz unaufhaltsam verstärkte und sich Schwindel in ihrem Kopf ausbreitete. Sie versuchte, sich am Treppengeländer festzuhalten, und wollte sich gerade auf die oberste Stufe setzen, als sie plötzlich das Gleichgewicht verlor und vornüber die Treppe hinunterstürzte. Gerda Vreede schlug mit dem Kopf auf und blieb regungslos am Treppenaufgang liegen.

Kapitel 6

Samstag, 27. April

Es war mitten in der Nacht, als das Vibrieren des Smartphones Mark aus dem Tiefschlaf riss. In aller Seelenruhe wollte er sich gerade zur anderen Seite drehen, als er realisierte, dass das Brummen von seinem Handy kam. Hastig langte er zum Nachttisch und stieß dabei ein Wasserglas um. Sofort war er hellwach. Fluchend zog er sein Handy aus der Wasserlache und meldete sich mit fragender Stimme.

„Hallo?“

Er vernahm ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung und starrte irritiert aufs Display.

„Mama?“

„Maaark …“, stammelte sie.

Schlagartig saß er aufrecht im Bett. „Ist was passiert? Ist was mit Papa?“

„Gerda … ist … tot“, sagte sie, begleitet von einem langgezogenen Seufzer.

Mark fiel alles aus dem Gesicht und im ersten Moment wusste er nicht, was er sagen sollte. Er erlebte eine Gefühlsachterbahn, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnte. Einerseits war er froh, dass seinem Vater nichts passiert war, andererseits war es unbegreiflich, wie eine so agile Frau wie Gerda Vreede plötzlich tot sein konnte.

„Wie?“ Im ersten Moment brachte er kaum ein Wort heraus. Er stockte und holte tief Luft. „Was ist passiert?“

„Das ist alles so furchtbar,“ schluchzte seine Mutter. Sie schien unter Schock zu stehen und bekam nur mit Mühe einen verständlichen Satz zustande. Sichtlich mitgenommen beendete er Minuten darauf das Telefonat, nachdem ihm seine Mutter erzählt hatte, was sie wusste.

Der Tag fing noch schlimmer an, als der Abend zuvor geendet hatte. Das gestrige Fußballspiel gegen Darmstadt war schon eine Katastrophe gewesen, doch die Nachricht über Gerdas Tod schockierte ihn mehr, als er sich im ersten Moment eingestehen wollte. Es war nicht unbedingt deshalb, weil Gerda so plötzlich aus dem Leben gerissen worden war, vielmehr war es eine tief verwurzelte Angst, dass seinen Eltern etwas zustoßen könnte, und er danach ganz allein wäre. Gerdas Tod führte ihm erbarmungslos vor Augen, wie endlich das Leben war und wie schnell es vorbei sein konnte.