Ankommen - Vedran Džihić - E-Book

Ankommen E-Book

Vedran Džihić

0,0

Beschreibung

Sind wir bald da? Vom Flüchtling zum anerkannten Wissenschaftler: Vedran Džihić ist angekommen. Doch was braucht es, um den Neubeginn zu schaffen? Wann fühlen wir uns einer Gesellschaft wirklich zugehörig? Jänner 1993, Traiskirchen bei Wien: Hier kommt Vedran Džihić auf seiner Flucht vor dem Bosnienkrieg an. In Österreich fühlt er sich sicher, erlebt aber auch Gleichgültigkeit und Benachteiligung. Parallel zu seinem bemerkenswerten Bildungsaufstieg machen sich in Europa Populismus und Nationalismus breit. Geflüchtete und Migrant:innen werden immer mehr zur Gefahr stilisiert. Eindringlich beschreibt Vedran Džihić sein persönliches Ankommen und warnt vor der grassierenden Politik der Angst und Ausgrenzung. Wie geht unsere Gesellschaft mit "Anderen" um? Was ist nötig, damit sich alle zuhause fühlen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 87

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ankommen

Vedran Džihić

Inhalt

Prolog – Auf den Spuren des Gedächtnisses

Der Verlust der Heimat

Die Flucht und der Neubeginn

Paradoxien des Ankommens

Die Politik mit der Angst

Zaun und Abschottung

Der strukturelle Rassismus und die neuen Unsichtbaren

Neue polarisierende Großerzählung

Die Kraft des solidarischen Wir

Zweifel bleiben – Persönliche Miniaturen

Meine Wahrheit

Anmerkungen

für meinen Vater

„Ankommen,

irgendwo,

irgendwann,

zu Hause sein.

Heimat haben.“1

Michel Friedman

Prolog – Auf den Spuren des Gedächtnisses

Als ich mich Ende Februar 2024 in der letzten Phase der Arbeit am Manuskript für dieses Buch befand, suchte ich neben dem intensiven Schreiben immer wieder nach Ablenkung, meistens in Form des Schmökerns in spannenden und noch nicht gelesenen Büchern oder Zeitschriften. Ein Interview aus dem deutschen Wochenmagazin Der Spiegel mit dem Titel „Für das Gehirn gilt: Was weg ist, ist weg“ mit Hannah Monyer, einer der führenden europäischen Gedächtnisforscher:innen, machte mich neugierig. An einer Stelle im Gespräch stellten die beiden Spiegel-Redakteure eine ungewöhnliche Frage an Frau Monyer: „Wenn Sie Ihr Gedächtnis bis auf eine Erinnerung löschen müssten – welche würden Sie behalten?“. Frau Monyer verließ mit 17 Jahren Rumänien, das damals noch unter dem kommunistischen Regime von Nicolae Ceaușescu litt. Der Abschied von ihrem Bruder und Vater am Bahnhof war für sie diese eine Erinnerung, die sie aus ihrem Gedächtnis mitnehmen wollen würde. „Sie haben mich zum Zug gebracht, sie liefen dem Zug nach, als er losfuhr, sie winkten. Ich wusste nicht, was vor mir liegt. Es war mein Aufbruch in eine neue Welt, aber kein Weggehen, es blieb eine Verbundenheit.“2

Nachdem ich diese Antwort von Frau Monyer gelesen hatte, schloss ich die Augen und begann nach jenen Augenblicken und Momenten zu suchen, die mein Leben geprägt haben. Ich konnte mein Gedächtnis jedoch nicht bis auf eine Erinnerung löschen. Vielmehr sah ich vor meinem inneren Auge einen Wirbelsturm an Erinnerungen auf mich hereinprasseln, die ich kaum kontrollieren konnte.

Ich erinnerte mich an die unbeschwerte Kindheit in der sozialistischen Wohnblocksiedlung, die vielen Freund:innen, mit denen ich tagein, tagaus um die Wette lief oder Basketball spielte. Ich rief jene Momente in Erinnerung, als an Arbeitstagen gegen 15 Uhr Vater und Mutter von der Arbeit nach Hause kamen und meinem Bruder und mir im Sommer die süßeste Überraschung mitbrachten, die bis heute jeden meiner Sommer prägt – die Wassermelone. Bei der Erinnerung an jene Tage im Dorf in der Nähe meiner Heimatstadt Prijedor, an denen ich, ihr Lieblingsenkelkind, meiner Großmutter den Kopf in den Schoß legte, um mich von ihren warmen Händen streicheln zu lassen, schossen mir Tränen in die Augen.

Schnell wurden aber die Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit durch die dunklen Wolken und die tiefen Gräben ersetzt, die der Krieg in meiner Heimat, in Bosnien und Herzegowina, in meinem Gedächtnis hinterlassen hatte. Die Angst um den Vater und die Maschinengewehrsalven betrunkener Soldaten am Abend vermischten sich mit dem Bild brennender Dörfer, die ich vom Balkon meines damals besten Freundes in der Ferne beobachten konnte. Ich erinnerte mich, wie sehr ich um meine Mutter bangen musste, als sie mit anderen Frauen zu Fuß ins etwa 10 Kilometer weit entfernte Dorf Trnopolje zum Großvater und meinen beiden Onkeln ging, die von serbischen Truppen im dortigen Internierungslager, in dem Menschen gefoltert und umgebracht wurden, gefangen gehalten wurden.

Ich erinnerte mich an die Silvesternacht des Kriegsjahres 1992. In dieser Nacht hockten wir aus Angst vor möglichen Querschüssen aus Maschinengewehren und Pistolen auf dem Boden unserer Wohnung und wussten, dass wir in wenigen Tagen unsere Stadt verlassen würden. Wir hatten bei den lokalen Behörden schriftlich auf unsere Wohnung und all unser Hab und Gut verzichtet, um einen Platz in einem der Konvois des Roten Kreuzes zu ergattern, mit dem die Nicht-Serbi:nnen in dieser Phase des Krieges aus der Stadt geschafft wurden. Unter dem schrecklichen Begriff der „ethnischen Säuberung“ würde die Vertreibung von nahezu 50.000 Nicht-Serb:innen aus meiner Stadt in die Geschichte eingehen.

An jenem bitterkalten Morgen Anfang Jänner 1993, wenige Tage nach dem Jahreswechsel, nahmen wir zwei etwas größere Reisetaschen und marschierten in die Richtung des Platzes, auf dem bereits die Busse des Roten Kreuzes warteten. In den Taschen die notwendigste Kleidung, wenige ausgesuchte Familienbilder aus glücklicheren Zeiten und zwei Wörterbücher, eines für Deutsch und eines für Englisch. Der Vater muss wohl geahnt haben, was das Flüchtlingsleben bedeutet. Beim Weg über den Park in unserer Siedlung drehte ich mich noch ein letztes Mal um und blickte mein vergangenes Leben an. Das lokale Rote Kreuz half bei der Aussiedlung der wenigen noch in der Stadt verbliebenen Nicht-Serb:innen. Der Buskonvoi, kontrolliert von der Armee der Republika Srpska, mit jeweils einem Soldaten mit Kalaschnikow in jedem der Busse, fuhr langsam nach Gradiška, zur kroatischen Grenze. Dort wartet die Freiheit, dachten wir uns.

Nach einer langen Odyssee in Kroatien landeten wir im Jänner 1993 vor den Toren des Flüchtlingslagers Traiskirchen. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen, dass Österreich zur zweiten Heimat werden würde. Der lange Weg der Suche nach einem neuen Zuhause begann und wurde immer mehr zu einem Leben zwischen neuen und alten Welten, zwischen Erinnerungen an das Vergangene und Hoffnungen auf das Neue und Bessere jenseits der Angst und Sorgen. Dieser Weg, meine „Österreich-Karriere“, führte mich von Traiskirchen nach Eisenstadt und in die Arme jener 7b-Klasse des dortigen Gymnasiums, die mich umarmte und mir den ersten Schritt beim Ankommen erleichterte. Nach der Matura in Eisenstadt ging es zum Studium nach Wien, in die große Welt, von dort nach ganz Europa und in die USA, immer wieder aber auch zurück in meine alte Heimat, Ex-Jugoslawien, das bis heute eine jener Gegenden dieser Welt ist, wo ich mich zu Hause fühle. Österreich aber wurde zum zentralen Dreh- und Angelpunkt meines neuen Lebens und des Lebens meiner Familie.

Wer war ich und was bin ich geworden? Bin ich mehr als 30 Jahre nach meiner Flucht in Österreich angekommen? Wo fühle ich mich sicher? Und überhaupt: Was braucht es, um den Neubeginn zu schaffen? Wann fühlen wir uns einer Gesellschaft wirklich zugehörig? Dieses Buch gleicht einer vorsichtigen Suche nach Antworten auf diese Fragen.

An einer Stelle im erwähnten Spiegel-Interview zitierte Frau Monyer den französischen Philosophen Paul Valéry, der einmal gesagt hatte: „Das Gedächtnis ist die Zukunft der Vergangenheit“. Das Gedächtnis beschreibt, wer wir waren und wer wir geworden sind. Ich bin vom Kind des jugoslawischen Spätsozialismus zum Flüchtling in Österreich und zum Mitbürger dieses Landes geworden, das mir ans Herz gewachsen ist. Mein Bildungsweg, den ich dank des freien und kostenlosen Hochschulzugangs in Wien genießen konnte, führte mich zur Position des Forschers und Wissenschaftlers. Ich genieße es, junge Menschen an Universitäten zu unterrichten, Neues im zivilgesellschaftlichen Bereich zu bauen und mir wichtige Initiativen zu unterstützen, mich in öffentliche Debatten einzumischen. Wie oft sagt man mir bis heute, dass ich ein „Paradeflüchtling“ sei – so gut integriert sei ich, mein Deutsch sei ja so gut, ein Wahnsinn sei das. Oft wird die Bemerkung nachgeschoben, wie gut es doch wäre, wenn alle sich so schnell und erfolgreich integrieren würden. Oft lächle ich und sage leise danke, um keinen Streit zu provozieren. Manchmal kann ich es mir aber nicht verkneifen und spreche das Dilemma hinter einem solchen vermeintlich wohlwollenden Diskurs an: Dieses Narrativ riecht mir ganz stark nach einer Trennung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge und Migrant:innen. Ich kann dieses nachgeschobene „Aber“ in Sätzen wie „Du bist super, aber all die anderen“ nicht ertragen und muss dann jenen, die es aussprechen, sofort sagen, dass sie sich damit enttarnt haben als Menschen, die nichts von Gleichheit und unser aller universellen Menschenwürde verstehen.

In unserem Gedächtnis – ich komme wieder zur Frau Monyer – steckt die Vorstellung davon, was wir einmal waren. Aus ihm schöpft sich aber auch ein Bild von uns, wie wir sein wollen. Wir wollen jemand sein. Ja, es geht dabei auch um mich und meine Kinder, für die trotz oder gerade wegen ihres „ić“ am Namensende Österreich und Wien genauso wie die deutsche Sprache die Heimat sind. Es geht aber insbesondere um all jene, die in Österreich und vielen Staaten Europas heute auf der Suche nach einem Zuhause sind, die kämpfen und alles tun, damit sie ankommen. Es geht um die Opfer der in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrten Härte3 gegen „die Anderen“ – die Migrant:innen, die Flüchtlinge oder all die anderen Menschen in unseren Gesellschaften, die an den Rand gedrängt werden, die Armen, die Obdachlosen, die Ausgestoßenen, die Unsichtbaren. Sie wollen alle jemand sein. Und es geht letztlich auch darum, dass wir als Gesellschaft an den Grundfesten unserer Demokratie sägen, wenn wir all diese „Anderen“ ausgrenzen, diffamieren, vorverurteilen, schikanieren – wenn man ihnen ihr neues Zuhause abspricht und sie allein lässt.

„Jeder ist jemand“, zitierte Michel Friedman den großen George Tabori bei einer Gedenkrede im österreichischen Parlament.4 Es gebe Menschen und Parteien, so Friedman, die immer lauter schreien: „Einige sind niemand“. Damit sprach Friedman ganz klar jene xenophoben, rassistischen und rechtsextremen Kräfte inmitten unserer Gesellschaften an, die Flüchtlinge und Migrant:innen zu neuen Sündenböcken machen und sich zu Allmachtsphantasien von „Remigration“5 aufschwingen. Wenn man die anderen in unserer Mitte zu hassen beginnt, sie zum Spielball niedriger politischer Interessen degradiert und dies zur neuen Normalität wird, kann sich das erhoffte und von uns allen herbeigesehnte Zuhause in den Horror verwandeln, in dem unsere Freiheit und Demokratie zugrunde gehen.

Gegen Ende seiner Rede im Berliner Ensemble im November 2023, die er nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel hielt, holte Michel Friedman zu einer mächtigen universalistischen Botschaft aus: „Wir wollen doch eine andere Welt. Wir wollten doch eine Welt, wo man nicht Angst haben muss, wo die Fremdbestimmung nicht mein Leben bestimmt. Was die anderen sagen. Wie sie mit einem umgehen. Sondern die Selbstbestimmung. Frei sein. Was ist das anderes, als sich selbst sein können? Alles, was ich bin, bin ich. Ich kann es ablegen, ich kann es wieder anziehen. Ich kann einen Mischmasch daraus machen. Es ist egal. Das ist frei sein als Mensch. Das haben wir uns doch versprochen. (...) Und ich werde dafür kämpfen, dass jeder jemand ist. Dankeschön.“6