Anna Karenina - Leo Tolstoi - E-Book

Anna Karenina E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.« - Schon der erste Satz lässt einen nicht mehr los. Anna Karenina - Leo Tolstois Mammutwerk über Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Erstmalig erhalten Sie hier die vollständige Ausgabe für elektronische Lesegeräte mit interaktivem Inhaltsverzeichnis, Fußnoten und Personenverzeichnis Das achtteilige Romanepos verwebt die Geschichten dreier adliger Familien: des Fürsten Oblonski und seiner Frau Dolly, Dollys junger Schwester Kitty Schtscherbazkaja und des Gutsbesitzers Lewin, sowie schließlich Anna Karenina, der Schwester des Fürsten, die mit dem Staatsbeamten Karenin verheiratet ist. Annas Liebesaffäre mit dem Grafen Wronskij führt schließlich zum Bruch der Ehe und ihrer Selbsttötung. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1913

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Lew Tolstoi

Anna Karenina

Überarbeitete und kommentierte Fassung

Lew Tolstoi

Anna Karenina

Überarbeitete und kommentierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Hermann Röhl EV: Leipzig, Insel-Verlag, 1921 6. Auflage, ISBN 978-3-954180-00-4

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Per­so­nen­re­gis­ter

Mot­to

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Drit­ter Teil

Vier­ter Teil

Fünf­ter Teil

Sechs­ter Teil

Sie­ben­ter Teil

Ach­ter Teil

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Personenregister

Die Oblons­ki­js

Fürst Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch Oblons­kij (ge­nannt Sti­wa), hö­he­rer Be­am­ter

Fürs­tin Dar­ja Alex­an­drow­na Oblons­ka­ja (geb. Scht­scher­baz­ka­ja, ge­nannt Dol­ly), sei­ne Frau

Tan­ja Ste­pa­now­na Oblons­ka­ja, sei­ne Toch­ter

Gri­scha Ste­pa­no­witsch Oblons­kij, sein Sohn

Lil­li Ste­pa­now­na Oblons­ka­ja, sei­ne Toch­ter

Ni­ko­laj Ste­pa­no­witsch Oblons­kij, sein Sohn

Ma­scha Ste­pa­now­na Oblons­ka­ja, sei­ne Toch­ter

Die Ka­ren­ins

Ale­xej Alex­an­dro­witsch Ka­re­nin, ho­her Be­am­ter

Anna Ar­k­ad­jew­na Ka­re­ni­na, sei­ne Frau und (geb. Oblons­ka­ja, Schwes­ter des Ste­pan A. Oblons­kij)

Ser­gej Ale­xe­je­witsch Ka­re­nin, (ge­nannt Ser­jo­scha) sein Sohn

Anna Ale­xe­jew­na Ka­re­ni­na (ge­nannt Anny), die il­le­gi­ti­me Toch­ter der Anna A. Ka­re­ni­na und Ale­xej Wrons­ki­js

Die Wrons­ki­js

Graf Ale­xej Ki­ril­lo­wi­tsch Wrons­kij, (ge­nannt Al­jo­scha),

1

der Ge­lieb­te Anna A. Ka­re­ni­nas, Oberst a.D. und Groß­grund­be­sit­zer

Graf Alex­an­der Ki­ril­lo­wi­tsch Wrons­kij, sein äl­te­rer Bru­der

Grä­fin War­ja Wrons­ka­ja, sei­ne Schwä­ge­rin

Grä­fin Wrons­ka­ja, sei­ne Mut­ter

Die Scht­scher­baz­ki­js

Fürst Alex­an­der Scht­scher­baz­kij

Fürs­tin Scht­scher­baz­ka­ja, sei­ne Frau

Dar­ja Alex­an­drow­na Scht­scher­baz­ka­ja, sei­ne Toch­ter (verh. Oblons­ka­ja, gen. Dol­ly)

Na­ta­lia Alex­an­drow­na Scht­scher­baz­ka­ja, sei­ne Toch­ter (verh. Ljwo­wa)

Je­ka­ta­ri­na Alex­an­drow­na Scht­scher­baz­ka­ja, sei­ne Toch­ter (verh. Lje­wi­na, gen. Kit­ty)

Die Lje­wins

Kon­stan­tin Dmi­tri­je­witsch Lje­win, (ge­nannt Kost­ja), Guts­be­sit­zer und Ju­gend­freund Ste­pan A. Oblons­ki­js

Je­ka­ta­ri­na Alex­an­drow­na Lje­wi­na, (geb. Scht­scher­baz­ka­ja, ge­nannt Kit­ty), sei­ne Frau

Dmi­trij Kon­stan­ti­no­witsch Lje­win, (ge­nannt Mit­ja),

2

sein Sohn

Ni­ko­laj Dmi­tri­je­witsch Lje­win, sein Bru­der

Wan­ja Ni­ko­la­je­witsch Lje­win, sein Nef­fe

Ser­gej Iwa­no­witsch Kos­ny­schew, sein Stief­bru­der, be­rühm­ter Schrift­stel­ler

Wei­te­re Per­so­nen

Fürs­tin Bet­sy Twers­ka­ja, Ehe­frau ei­nes Vet­ters der Anna A. Ka­re­ni­na

Grä­fin Ly­dia Iwa­now­na, Dame der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft

Mar­ja Ni­ko­la­jew­na, (ge­nannt Ma­scha), Le­bens­ge­fähr­tin des Ni­ko­laj Dmi­tri­je­witsch Lje­win

Di­mi­nu­tiv von Ale­xej  <<<

Di­mi­nu­tiv von Dmi­tri  <<<

Motto

Die Ra­che ist mein, Ich will ver­gel­ten.

Erster Teil

1

Alle glück­li­chen Fa­mi­li­en sind ein­an­der ähn­lich; aber jede un­glück­li­che Fa­mi­lie ist auf ihre be­son­de­re Art un­glück­lich. Der gan­ze Haus­halt der Fa­mi­lie Oblon­ski war in Un­ord­nung ge­ra­ten. Die Haus­frau hat­te er­fah­ren, dass ihr Mann mit ei­ner fran­zö­si­schen Gou­ver­nan­te, die sie frü­her im Hau­se ge­habt hat­ten, ein Ver­hält­nis un­ter­hielt, und hat­te ihm er­klärt, sie kön­ne nicht län­ger mit ihm un­ter ei­nem Da­che woh­nen. Drei Tage schon währ­te nun die­ser Zu­stand, und er wur­de so­wohl von den Ehe­gat­ten selbst wie auch von den üb­ri­gen Fa­mi­li­en­mit­glie­dern und dem Haus­ge­sin­de als eine Qual emp­fun­den. Alle Fa­mi­li­en­mit­glie­der und das Haus­ge­sin­de hat­ten das Ge­fühl, dass ihr Zu­sam­men­le­ben gar kei­nen Sinn mehr habe und dass in je­der Her­ber­ge die Leu­te, die sich dort zu­fäl­lig zu­sam­men­fän­den, in en­ge­rer Be­zie­hung un­ter­ein­an­der stün­den als sie, die Mit­glie­der und das Ge­sin­de der Fa­mi­lie Oblon­ski. Die Haus­frau ver­ließ ihr Zim­mer nicht; der Haus­herr war zwei Tage lang nicht nach Hau­se ge­kom­men. Die Kin­der lie­fen im gan­zen Hau­se wie ver­lo­ren um­her; die eng­li­sche Miss hat­te sich mit der Wirt­schaf­te­rin ge­zankt und einen Brief an eine Freun­din ge­schrie­ben, ob sie ihr nicht eine an­de­re Stel­le ver­schaf­fen kön­ne; der Koch war schon ges­tern vor dem Mit­ta­ges­sen da­von­ge­gan­gen; die Kü­chen­magd und der Kut­scher ba­ten um ih­ren Lohn, um den Dienst zu ver­las­sen. Am drit­ten Tage nach dem Strei­te er­wach­te Fürst Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch Oblon­ski (Sti­wa, wie er von sei­nen Be­kann­ten ge­nannt wur­de) zur ge­wohn­ten Stun­de, das heißt um acht Uhr mor­gens, aber nicht im ge­mein­sa­men Schlaf­zim­mer, son­dern in sei­nem Ar­beits­zim­mer auf dem Le­der­so­fa. Er wälz­te sei­nen gut ge­nähr­ten und ge­pfleg­ten Kör­per auf dem Sofa ein paar­mal hin und her, als ob er noch weiter­schla­fen wol­le, um­fass­te das Kopf­kis­sen fest von un­ten her und drück­te die Wan­ge da­ge­gen; plötz­lich aber fuhr er in die Höhe, setz­te sich auf dem Sofa auf­recht hin und öff­ne­te die Au­gen.

›Ja, ja, wie war das doch nur?‹ dach­te er, in­dem er sich auf sei­nen Traum zu be­sin­nen such­te. ›Ja, wie war das doch nur? Ja! Ala­bin gab ein Di­ner in Darm­stadt; nein, nicht in Darm­stadt, es war ir­gend­wo in Ame­ri­ka. Ja, aber Darm­stadt lag da­bei in Ame­ri­ka. Ja, Ala­bin gab ein Di­ner auf glä­ser­nen Ti­schen, ja, – und da wa­ren sol­che klei­ne Li­kör­fla­schen, die san­gen: Il mio te­so­ro,1 oder viel­mehr nicht Il mio te­so­ro, son­dern ein noch schö­ne­res Lied, und auf ein­mal wa­ren die Li­kör­fla­schen Wei­ber‹, er­in­ner­te er sich.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witschs Au­gen leuch­te­ten fröh­lich auf, und lä­chelnd über­ließ er sich sei­nen Ge­dan­ken. ›Ja, schön war es, sehr schön. Es war auch sonst noch viel Ver­gnüg­li­ches da­bei; aber wenn man auf­ge­wacht ist, kann man es sich nicht mehr in Ge­dan­ken klar­ma­chen und es nicht mit Wor­ten aus­drücken.‹ Und als er einen Licht­strei­fen be­merk­te, der sich an dem einen Fens­ter ne­ben dem Stoff­vor­hang ins Zim­mer stahl, hob er in hei­te­rer Stim­mung die Bei­ne vom Sofa her­un­ter, such­te mit ih­nen nach den gold­far­be­nen Saf­fian­pan­tof­feln, die ihm sei­ne Frau ge­stickt und im vo­ri­gen Jah­re zum Ge­burts­ta­ge ge­schenkt hat­te, und streck­te nach al­ter, neun­jäh­ri­ger Ge­wohn­heit, ohne auf­zu­ste­hen, die Hand nach der Stel­le aus, wo im Schlaf­zim­mer sein Schlaf­rock zu hän­gen pfleg­te. Da­bei kam es ihm auf ein­mal zum Be­wusst­sein, dass und warum er nicht in dem ge­mein­sa­men Schlaf­zim­mer ge­schla­fen hat­te, son­dern in sei­nem Ar­beits­zim­mer; das Lä­cheln ver­schwand von sei­nem Ge­sich­te, und er run­zel­te die Stirn.

»Ach, o weh, o weh!« stöhn­te er, da ihm al­les Vor­ge­fal­le­ne wie­der ins Ge­dächt­nis kam. Und vor sei­nem geis­ti­gen Bli­cke er­schie­nen wie­der alle Ein­zel­hei­ten sei­nes Strei­tes mit sei­ner Frau und die gan­ze Miss­lich­keit sei­ner Lage und, was ihn am al­ler­meis­ten quäl­te, sei­ne ei­ge­ne Schuld.

›Ja, das wird sie nicht ver­zei­hen und kann sie nicht ver­zei­hen. Und das Schau­der­haf­tes­te da­bei ist, dass ich selbst an al­le­dem schuld bin; – ich bin an al­le­dem schuld und kann doch ei­gent­lich nichts da­für. Das ist das Tra­gi­sche bei der Sa­che‹, dach­te er. »O weh, o weh!« sag­te er ver­zwei­felt vor sich hin, in Erin­ne­rung an jene Ein­zel­hei­ten des Strei­tes, die auf ihn den stärks­ten Ein­druck ge­macht hat­ten.

Am un­an­ge­nehms­ten war je­ner ers­te Au­gen­blick ge­we­sen, als er, hei­ter und zu­frie­den aus dem Thea­ter heim­keh­rend, sei­ne Frau, für die er eine ge­wal­tig große Bir­ne in der Hand trug, zu sei­nem Er­stau­nen we­der im Sa­lon noch in ih­rem Zim­mer vor­ge­fun­den und end­lich im Schlaf­zim­mer er­blickt hat­te, in der Hand den un­glück­se­li­gen Brief, der al­les ver­ra­ten hat­te.

Sie, die sonst stets sorg­lich ge­schäf­ti­ge und sei­ner An­sicht nach et­was be­schränk­te Dol­ly, hat­te mit dem Brie­fe in der Hand re­gungs­los da­ge­s­es­sen und den Ein­tre­ten­den mit ei­ner Mie­ne des Schre­ckens, der Verzweif­lung und des Zor­nes an­ge­blickt.

»Was ist das hier? Was ist das?« hat­te sie, auf das Schrei­ben deu­tend, ihn ge­fragt.

Als pein­lich und be­schä­mend emp­fand Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch bei die­ser Erin­ne­rung, wie das oft so geht, we­ni­ger den Vor­fall selbst, als viel­mehr die Art, wie er auf die­se Wor­te sei­ner Frau geant­wor­tet hat­te.

Es war ihm in die­sem Au­gen­blick er­gan­gen, wie es nicht sel­ten Leu­ten er­geht, die un­ver­se­hens auf ei­ner recht schmäh­li­chen Tat er­tappt wer­den. Er hat­te es nicht ver­stan­den, sei­ne Mie­ne der Lage an­zu­pas­sen, in die er sei­ner Frau ge­gen­über durch die Auf­de­ckung sei­nes Ver­ge­hens ge­ra­ten war. An­statt den Ge­kränk­ten zu spie­len, zu leug­nen, sich zu recht­fer­ti­gen, um Ver­zei­hung zu bit­ten oder auch ein­fach nur gleich­gül­tig zu blei­ben (al­les dies wäre bes­ser ge­we­sen als das, was er in Wirk­lich­keit ge­tan hat­te), statt des­sen hat­te sein Ge­sicht ganz un­will­kür­lich (›Re­fle­xe des Ge­hirns‹, dach­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, der sich gern ein biss­chen mit Phy­sio­lo­gie ab­gab) sich zu sei­nem ge­wohn­ten gut­mü­ti­gen und da­her in die­sem Fal­le dum­men Lä­cheln ver­zo­gen.

Die­ses dum­me Lä­cheln konn­te er sich nicht ver­zei­hen. Beim An­bli­cke die­ses Lä­chelns war Dol­ly wie in­fol­ge ei­nes kör­per­li­chen Schmer­zes zu­sam­men­ge­zuckt, hat­te mit der ihr ei­ge­nen Hef­tig­keit einen Strom schar­fer Wor­te her­vor­ge­spru­delt und war aus dem Zim­mer ge­eilt. Seit­dem hat­te sie ih­ren Mann nicht mehr se­hen wol­len.

›An al­le­dem ist die­ses dum­me Lä­cheln schuld‹, dach­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch.

›A­ber was ist zu ma­chen? Was ist zu ma­chen?‹ frag­te er sich in sei­ner Verzweif­lung und fand kei­ne Ant­wort dar­auf.

Mein Schatz.  <<<

2

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch war sich selbst ge­gen­über stets auf­rich­tig und wahr­heits­lie­bend. Er war un­fä­hig, sich selbst zu be­trü­gen und sich ein­zu­re­den, dass er das Ge­ta­ne be­reue. Zur Zeit war er nicht im­stan­de, Reue dar­über zu emp­fin­den, dass er, ein vierund­drei­ßig­jäh­ri­ger, hüb­scher, lie­bes­lus­ti­ger Mann, nicht mehr in sei­ne Frau ver­liebt war, die ihm fünf noch le­ben­de und zwei be­reits ver­stor­be­ne Kin­der ge­bo­ren hat­te und nur um ein Jahr jün­ger war als er selbst. Das ein­zi­ge, was er be­reu­te, war, dass er es nicht bes­ser ver­stan­den hat­te, sei­ner Frau die Sa­che zu ver­heim­li­chen. Aber er emp­fand in vol­lem Um­fan­ge die Miss­lich­keit sei­ner Lage und be­dau­er­te sei­ne Frau, die Kin­der und sich selbst. Vi­el­leicht hät­te er sich auch er­folg­rei­cher be­müht, sei­ne Sün­den vor sei­ner Frau zu ver­ber­gen, wenn er ge­ahnt hät­te, dass die­se Nach­richt auf sie so stark wir­ken wür­de. Klar nach­ge­dacht hat­te er über die­sen Punkt al­ler­dings nie: aber er hat­te die un­deut­li­che Vor­stel­lung ge­habt, sei­ne Frau ahne schon längst, dass er ihr un­treu sei, sehe aber da­bei durch die Fin­ger. Er war so­gar der An­sicht, eine schon so wel­ke, ge­al­ter­te, be­reits un­schö­ne Frau, die nichts Be­son­de­res an sich habe, son­dern le­dig­lich eine ein­fa­che, bra­ve Fa­mi­li­en­mut­ter sei, müs­se aus ei­ner Art von Ge­rech­tig­keits­ge­fühl her­aus sich nach­sich­tig zei­gen. Und nun hat­te er ge­ra­de das Ge­gen­teil da­von er­lebt.

›Schau­der­haft! O weh, o weh, schau­der­haft!‹ sag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch ein­mal über das an­de­re vor sich hin, ohne dass er einen Aus­weg er­sin­nen konn­te. ›Und wie nett war al­les bis­her, wie gut ha­ben wir mit­ein­an­der ge­lebt! Sie war zu­frie­den und glück­lich über ihre Kin­der; ich kam ihr in kei­ner Wei­se in die Que­re und ließ sie bei den Kin­dern und beim Haus­we­sen her­um­wirt­schaf­ten, wie sie woll­te. Frei­lich, dass »sie« in un­se­rem Hau­se Gou­ver­nan­te ge­we­sen ist, das ist übel. Das ist übel. Es liegt im­mer et­was Ge­wöhn­li­ches, Un­wür­di­ges dar­in, wenn man ei­ner Gou­ver­nan­te der ei­ge­nen Kin­der den Hof macht. Aber was ist die­se Gou­ver­nan­te auch für ein Weib!‹ (Er er­in­ner­te sich leb­haft an Ma­de­moi­sel­le Ro­lands schwar­ze Schel­men­au­gen und an ihr rei­zen­des Lä­cheln.) ›A­ber so­lan­ge sie bei uns im Hau­se war, habe ich mir ja auch nichts er­laubt. Das Schlimms­te ist, dass sie jetzt … Das muss auch al­les wie mit Ab­sicht gleich­zei­tig über mich her­ein­stür­zen! O weh, o weh! Aber was in al­ler Welt soll ich nun tun?‹

Eine Ant­wort gab es dar­auf nicht au­ßer je­ner all­ge­mei­nen Ant­wort, die das Le­ben auf alle Fra­gen gibt, selbst auf die ver­wi­ckelts­ten und un­lös­ba­ren. Und die­se Ant­wort lau­tet: Man muss sein Le­ben aus­fül­len mit dem, was der Tag bringt und for­dert, das heißt, man muss da­durch zu ver­ges­sen su­chen. Aber durch Schla­fen und Träu­men Ver­ges­sen­heit zu su­chen, das war nicht mehr mög­lich, we­nigs­tens nicht vor der nächs­ten Nacht; es ging nicht mehr an, zu je­nem mu­si­ka­li­schen Ge­nus­se, dem Ge­san­ge der Li­kör­fla­schen, die dann auf ein­mal Wei­ber wa­ren, zu­rück­zu­keh­ren. Also muss­te er Ver­ges­sen­heit su­chen in der Ablen­kung, die das Le­ben mit sich brach­te.

›Na, es wird sich ja bald zei­gen‹, sag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch zu sich selbst, stand auf, zog den grau­en, mit blau­er Sei­de ge­füt­ter­ten Schlaf­rock an, schlang die in Quas­ten aus­ge­hen­den Schnü­re zu ei­nem Kno­ten zu­sam­men, sog in kräf­ti­gen Atem­zü­gen die Luft in sei­nen brei­ten Brust­kas­ten, trat mit dem ge­wohn­ten mun­te­ren Schritt der aus­wärts ge­rich­te­ten Füße, die sei­nen vol­len Kör­per so leicht tru­gen, zum Fens­ter, hob den Vor­hang auf und klin­gel­te laut. Auf das Klin­geln trat so­gleich sein alt­ver­trau­ter Kam­mer­die­ner Mat­wei ins Zim­mer, der die Klei­der, die Stie­fel und ein Te­le­gramm brach­te. Hin­ter Mat­wei kam auch der Bar­bier mit sei­nem Ra­sier­ge­rät her­ein.

»Sind Ak­ten von der Be­hör­de ge­kom­men?« frag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, in­dem er das Te­le­gramm nahm und sich vor den Spie­gel setz­te.

»Sie lie­gen im Ess­zim­mer auf dem Ti­sche«, ant­wor­te­te Mat­wei und rich­te­te einen fra­gen­den Blick vol­ler Teil­nah­me auf sei­nen Herrn; dann, nach ei­ner kur­z­en Pau­se, füg­te er mit ei­nem schlau­en Lä­cheln hin­zu: »Es ist je­mand von dem Fuhr­herrn hier ge­we­sen.«

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch gab kei­ne Ant­wort und blick­te nur im Spie­gel nach Mat­wei hin; an den Bli­cken, mit de­nen sie sich im Spie­gel tra­fen, konn­te man se­hen, wie gut sie ein­an­der ver­stan­den. Ste­pan Ar­k­ad­je­witschs Blick frag­te gleich­sam: ›Wo­zu sagst du das? Weißt du etwa nicht, wie’s steht?‹

Mat­wei steck­te die Hän­de in die Ta­schen sei­ner Ja­cke, setz­te den einen Fuß ein we­nig seit­wärts und blick­te schwei­gend, mit gut­mü­ti­ger Mie­ne und bei­nah mit ei­nem Lä­cheln sei­nen Herrn an.

»Ich habe ihm ge­sagt, er möch­te erst nächs­ten Sonn­tag wie­der­kom­men und bis da­hin we­der Ih­nen noch sich selbst un­nö­ti­ge Mühe ma­chen«, ant­wor­te­te er mit ei­nem of­fen­bar vor­her zu­recht­ge­leg­ten Sat­ze.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch er­kann­te, dass Mat­wei einen klei­nen Scherz ma­chen und die Auf­merk­sam­keit auf sich len­ken wol­le. Er riss das Te­le­gramm auf, las es, wo­bei er die, wie stets, ent­stell­ten Wor­te sinn­ge­mäß ver­bes­ser­te, und sein Ge­sicht leuch­te­te auf.

»Mat­wei, mei­ne Schwes­ter Anna Ar­k­ad­jew­na kommt mor­gen«, sag­te er und hemm­te für einen Au­gen­blick die di­cke, fett­glän­zen­de Hand des Bar­biers, der da­bei war, den ro­si­gen Zwi­schen­raum zwi­schen dem rech­ten und lin­ken krau­sen Ba­cken­bart rein zu put­zen.

»Gott sei Dank!« rief Mat­wei und zeig­te durch die­se Ant­wort, dass er die Be­deu­tung die­ses Be­su­ches eben­so­wohl zu wür­di­gen wuss­te wie sein Herr, in­dem er näm­lich zu­ver­sicht­lich glaub­te, dass Anna Ar­k­ad­jew­na, Ste­pan Ar­k­ad­je­witschs Schwes­ter, die die­ser sehr lieb­te, eine Ver­söh­nung zwi­schen Mann und Frau wer­de zu­stan­de brin­gen kön­nen.

»Kommt die gnä­di­ge Frau al­lein oder mit dem Herrn Ge­mahl?« frag­te Mat­wei.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch konn­te nicht spre­chen, da der Bar­bier mit sei­ner Ober­lip­pe be­schäf­tigt war, und hob einen Fin­ger in die Höhe. Mat­wei nick­te nach dem Spie­gel hin mit dem Kop­fe.

»Al­lein. Soll ich oben al­les in­stand set­zen las­sen?«

»Mel­de es mei­ner Frau. Sie wird das Nö­ti­ge an­ord­nen.«

»Der Frau Ge­mah­lin?« frag­te Mat­wei wie im Zwei­fel, ob er rich­tig ge­hört habe.

»Ja, mel­de es ihr! Und da, nimm das Te­le­gramm mit und gib es ihr, was sie wohl dazu sagt.«

›Das soll ein Füh­ler sein‹, dach­te Mat­wei ver­ständ­nis­voll; aber er ant­wor­te­te nur: »Zu Be­fehl!«

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch war schon ge­wa­schen und ge­kämmt und woll­te sich eben an­klei­den, als Mat­wei, mit sei­nen knar­ren­den Stie­feln lang­sam da­her­kom­mend, das Te­le­gramm in der Hand, wie­der ins Zim­mer trat. Der Bar­bier war nicht mehr da.

»Dar­ja Alex­an­drow­na hat be­foh­len, zu mel­den, dass sie weg­fährt; sie sag­te: ›Es kann al­les ein­ge­rich­tet wer­den, wie es ihm‹, das heißt Ih­nen, ›ge­nehm ist‹«, be­rich­te­te er; da­bei lach­te er nur mit den Au­gen, schob die Hän­de in die Ta­schen und blick­te mit seit­wärts ge­neig­tem Kop­fe sei­nen Herrn un­ver­wandt an. Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch schwieg ein Weil­chen. Dann er­schi­en ein gut­mü­ti­ges und et­was kläg­li­ches Lä­cheln auf sei­nem hüb­schen Ge­sich­te.

»Nun, Mat­wei?« frag­te er und wieg­te den Kopf hin und her.

»Das ist wei­ter nicht schlimm, gnä­di­ger Herr; es wird sich schon al­les wie­der ein­ren­ken«, er­wi­der­te Mat­wei.

»Du meinst, es wird sich wie­der ein­ren­ken?«

»Ganz ge­wiss.«

»Meinst du? Wer ist denn da?« frag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, da er auf der an­de­ren Sei­te der ein we­nig ge­öff­ne­ten Tür das Ra­scheln von Frau­en­klei­dern hör­te.

»Ich bin es«, sag­te eine fest und an­ge­nehm klin­gen­de weib­li­che Stim­me, und in der Tür er­schi­en das erns­te, po­cken­nar­bi­ge Ge­sicht der al­ten Kin­der­frau Ma­tro­na Fi­li­mo­now­na.

»Nun, was gibt es, lie­be Ma­tro­na?« frag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, in­dem er zu ihr an die Tür trat.

Ob­gleich Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch sei­ner Frau ge­gen über durch­aus im Un­recht war und dies selbst fühl­te, wa­ren doch fast alle im Hau­se auf sei­ner Sei­te, so­gar die Kin­der­frau, die sich mit Dar­ja Alex­an­drow­na au­ßer­or­dent­lich gut stand.

»Nun, was gibt es?« frag­te er in be­drück­tem Tone.

»Sie soll­ten doch noch ein­mal hin­ge­hen, gnä­di­ger Herr, und sich schul­dig be­ken­nen. Vi­el­leicht hilft Gott. Sie quält sich sehr, es ist kläg­lich an­zu­se­hen, und im Hau­se geht al­les drun­ter und drü­ber. Die Kin­der, gnä­di­ger Herr, die Kin­der kön­nen ei­nem leid tun. Be­ken­nen Sie sich schul­dig, gnä­di­ger Herr! Was kön­nen Sie auch sonst tun? Wenn man et­was er­rei­chen will, darf man sich kei­ne Mühe ver­drie­ßen las­sen.«

»Aber sie wird mich gar nicht emp­fan­gen!«

»Tun Sie nur das Ih­ri­ge! Gott ist barm­her­zig; be­ten Sie zu Gott, gnä­di­ger Herr, be­ten Sie zu Gott!«

»Na schön, geh nur!« ant­wor­te­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch; er war auf ein­mal ganz rot ge­wor­den. »Nun, dann hilf mir beim An­klei­den«, wand­te er sich an Mat­wei und warf mit ei­ner ent­schlos­se­nen Be­we­gung den Schlaf­rock ab.

Mat­wei hielt be­reits das Hemd, von dem er et­was Un­sicht­ba­res weg­b­lies, in Form ei­nes Kum­tes zum Über­strei­fen be­reit und hüll­te mit sicht­li­chem Ver­gnü­gen den wohl­ge­pfleg­ten Kör­per sei­nes Herrn dar­in ein.

3

Nach dem An­klei­den be­spreng­te sich Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch mit Par­füm, zupf­te die Man­schet­ten zu­recht, steck­te mit den ihm ge­läu­fi­gen Be­we­gun­gen in die ein­zel­nen Ta­schen die Zi­ga­ret­ten, die Brief­ta­sche, die Zünd­höl­zer, die Uhr mit dop­pel­ter Ket­te und Ber­lo­cken, schüt­tel­te das Ta­schen­tuch aus­ein­an­der und fühl­te sich nun sau­ber, wohl­duf­tend, ge­sund und kör­per­lich mun­ter, trotz sei­nem Un­glück. Auf je­dem Bein sich ein we­nig hin und her wie­gend, ging er in das Ess­zim­mer, wo der Kaf­fee be­reits auf ihn war­te­te und ne­ben dem Kaf­fee­ge­schirr sei­ne Brie­fe und die von der Be­hör­de ein­ge­lau­fe­nen Ak­ten la­gen.

Er las die Brie­fe. Ei­ner dar­un­ter war ihm recht un­will­kom­men – von dem Händ­ler, mit dem er we­gen des Ver­kau­fes ei­nes Wal­des auf dem Gute sei­ner Frau in Un­ter­hand­lung stand. Er muss­te die­sen Wald un­be­dingt ver­kau­fen; aber jetzt, vor ei­ner Ver­söh­nung mit sei­ner Frau, konn­te da­von nicht die Rede sein. Am pein­lichs­ten war ihm da­bei, dass sich auf die­se Wei­se Geld­fra­gen in das be­vor­ste­hen­de Werk sei­ner Ver­söh­nung mit sei­ner Frau hin­ein­misch­ten. Und der Ge­dan­ke, dass es schei­nen könn­te, als las­se er sich von die­sem In­ter­es­se lei­ten und als ver­an­las­se ihn die Aus­sicht auf den Ver­kauf die­ses Wal­des, die Ver­söh­nung mit sei­ner Frau an­zu­stre­ben, die­ser Ge­dan­ke hat­te für ihn ge­ra­de­zu et­was Be­lei­di­gen­des.

Als Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch mit den Brie­fen fer­tig war, zog er die Ak­ten zu sich her­an, durch­blät­ter­te schnell zwei Sa­chen und mach­te dar­in mit ei­nem großen Blei­stift ein paar Be­mer­kun­gen. Da­rauf schob er die Ak­ten wie­der zur Sei­te und mach­te sich an sei­nen Kaf­fee; wäh­rend des Kaf­fee­trin­kens brei­te­te er die noch feuch­te Mor­gen­zei­tung aus­ein­an­der und be­gann sie zu le­sen.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch hielt und las eine li­be­ra­le Zei­tung, nicht ein ex­tre­mes Blatt, son­dern von der Rich­tung, zu der sich die Mehr­heit des ge­bil­de­ten Pub­li­kums be­kann­te. Und ob­gleich we­der Wis­sen­schaft noch Kunst, noch Po­li­tik ihn son­der­lich in­ter­es­sier­ten, so hielt er doch auf al­len die­sen Ge­bie­ten ener­gisch an den An­schau­un­gen fest, de­nen die Mehr­heit und sei­ne Zei­tung an­hin­gen, und än­der­te die­se An­schau­un­gen nur dann, wenn auch die Mehr­heit das glei­che tat, oder, rich­ti­ger ge­sagt, er än­der­te sie nicht, son­dern sie än­der­ten sich von selbst un­ver­merkt in sei­nem Geis­te.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch wähl­te sich we­der sei­ne Grund­sät­ze noch sei­ne An­sich­ten aus, son­dern die­se Grund­sät­ze und An­sich­ten ka­men von selbst zu ihm, ganz eben­so, wie er die For­men sei­nes Hu­tes oder sei­nes Rockes nicht aus­wähl­te, son­dern ein­fach die nahm, die all­ge­mein ge­tra­gen wur­den. Und An­sich­ten zu ha­ben, war für ihn, der in ei­nem be­stimm­ten ge­sell­schaft­li­chen Krei­se leb­te und ein Ver­lan­gen nach ei­ni­ger Denk­tä­tig­keit ver­spür­te, wie es sich ge­wöhn­lich in rei­fe­ren Le­bens­jah­ren her­aus­bil­det, – An­sich­ten zu ha­ben, war für ihn eben­so eine Not­wen­dig­keit, wie einen Hut zu ha­ben. Wenn wirk­lich ein Grund vor­han­den war, wes­halb er die li­be­ra­le Rich­tung der kon­ser­va­ti­ven vor­zog, der doch auch vie­le aus sei­nem Ge­sell­schafts­krei­se an­hin­gen, so lag die­ser Grund je­den­falls nicht etwa dar­in, dass er die li­be­ra­le Rich­tung für ver­nünf­ti­ger ge­hal­ten hät­te, son­dern dar­in, dass sie mit der Ge­stal­tung sei­nes ei­ge­nen Le­bens mehr über­ein­stimm­te. Die li­be­ra­le Par­tei be­haup­te­te, in Russ­land sei al­les schlecht, und tat­säch­lich hat­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch vie­le Schul­den und konn­te mit sei­nem Gel­de ab­so­lut nicht aus­kom­men. Die li­be­ra­le Par­tei er­klär­te die Ehe für eine Ein­rich­tung, die sich über­lebt habe und un­be­dingt um­ge­stal­tet wer­den müs­se, und wirk­lich mach­te das Ehe­le­ben Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch we­nig Ver­gnü­gen und nö­tig­te ihn dazu, zu lü­gen und sich zu ver­stel­len, was doch sei­ner Na­tur sehr zu­wi­der war. Die li­be­ra­le Par­tei sag­te oder, rich­ti­ger aus­ge­drückt, ließ als ihre Mei­nung durch­bli­cken, dass die Re­li­gi­on nur ein Zü­gel für den un­ge­bil­de­ten Teil der Be­völ­ke­rung sei, und in der Tat ver­moch­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch nicht ein­mal einen ganz kur­z­en Got­tes­dienst ohne Schmer­zen in den Bei­nen aus­zu­hal­ten und konn­te gar nicht be­grei­fen, was die­ses gan­ze groß­ar­ti­ge, hoch­tra­ben­de Ge­re­de von je­ner Welt für einen Zweck habe, da es sich doch auch auf die­ser Welt sehr ver­gnüg­lich le­ben las­se. Au­ßer­dem fand Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, der ein mun­te­res Späß­chen lieb­te, sei­ne Freu­de dar­an, ab und zu einen harm­lo­sen Men­schen durch Äu­ße­run­gen wie die­se zu ver­blüf­fen: wol­le man den Stolz auf die Ab­stam­mung ein­mal gel­ten las­sen, so sei es nicht recht, bei Ru­rik ste­hen­zu­blei­ben und den ers­ten Stamm­va­ter, den Af­fen, zu ver­leug­nen. Auf die­se Wei­se war die li­be­ra­le Rich­tung für Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch eine Sa­che der Ge­wohn­heit ge­wor­den, und er lieb­te sei­ne Zei­tung wie die Zi­gar­re nach dem Mit­ta­ges­sen we­gen der lei­sen Be­nom­men­heit, die sie in sei­nem Kop­fe her­vor­rief. Heu­te las er den Leit­ar­ti­kel, in dem aus­ein­an­der­ge­setzt wur­de, dass in un­se­rer Zeit völ­lig ohne Grund ein Jam­mer­ge­schrei er­ho­ben wer­de, als dro­he der Ra­di­ka­lis­mus alle kon­ser­va­ti­ven Ele­men­te zu ver­schlin­gen und als sei die Re­gie­rung ver­pflich­tet, Maß­re­geln zur Über­wäl­ti­gung der re­vo­lu­tio­nären Hy­dra zu er­grei­fen. »Ganz im Ge­gen­teil«, hieß es, »liegt un­se­rer An­sicht nach die Ge­fahr nicht in der ver­meint­li­chen re­vo­lu­tio­nären Hy­dra, son­dern in der Starr­köp­fig­keit der Re­ak­tio­näre, die je­den Fort­schritt hem­men.« Auch einen zwei­ten Ar­ti­kel, fi­nan­zi­el­len In­halts, las er durch, in dem Bent­ham und Mill zi­tiert wur­den und ei­ni­ge ge­gen das Mi­nis­te­ri­um ge­rich­te­te bos­haf­te Sti­che­lei­en vor­ka­men. Mit der ihm ei­ge­nen Schnel­lig­keit der Auf­fas­sung ver­stand er die Be­deu­tung ei­ner je­den die­ser Sti­che­lei­en, von wem sie aus­ging und ge­gen wen sie ge­rich­tet war und wel­cher An­lass ihr zu­grun­de lag, und das mach­te ihm, wie im­mer, ein ge­wis­ses Ver­gnü­gen. In­des wur­de heu­te die­ses Ver­gnü­gen durch die Erin­ne­rung an Ma­tro­na Fi­li­mo­now­nas Ratschlä­ge und an die un­er­freu­li­chen Um­stän­de im Hau­se stark be­ein­träch­tigt. Er las auch, dass Graf Beust, wie ver­lau­te, nach Wies­ba­den ge­reist sei, und eine An­zei­ge: »Kei­ne grau­en Haa­re mehr!«, und über den Ver­kauf ei­ner leich­ten Equi­pa­ge,1 und dass ein jun­ges Mäd­chen eine Stel­lung su­che; aber die­se Nach­rich­ten be­rei­te­ten ihm nicht das stil­le, iro­ni­sche Ver­gnü­gen wie frü­her.

Als er mit der Zei­tung, ei­ner zwei­ten Tas­se Kaf­fee und ei­ner But­ter­sem­mel fer­tig war, stand er auf, klopf­te sich die Sem­mel­krü­mel von der Wes­te, reck­te sei­ne brei­te Brust und lä­chel­te da­bei hei­ter, nicht als ob ihm ge­ra­de be­son­ders froh zu­mu­te ge­we­sen wäre, viel­mehr wur­de das hei­te­re Lä­cheln durch die gute Ver­dau­ung her­vor­ge­ru­fen.

Aber die­ses hei­te­re Lä­cheln brach­te ihm auch so­fort wie­der die gan­ze Wirk­lich­keit zum Be­wusst­sein, und er wur­de ernst und nach­denk­lich.

Zwei Kin­der­stim­men (Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch er­kann­te die Stim­men sei­nes jüngs­ten Soh­nes Gri­go­ri und sei­nes äl­tes­ten Töch­ter­chens Tan­ja) wur­den vom Ne­ben­zim­mer her durch die Tür ver­nehm­bar. Die Kin­der fuh­ren mit et­was um­her, und es fiel et­was auf den Fuß­bo­den.

»Ich habe es dir doch ge­sagt: auf das Dach darfst du kei­ne Fahr­gäs­te set­zen!« rief das klei­ne Mäd­chen auf eng­lisch. »Nun kannst du sie auch auf­he­ben!«

›Al­les ist aus der ge­wohn­ten Ord­nung ge­kom­men‹, dach­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch. ›Da lau­fen nun die Kin­der ganz al­lein im Hau­se um­her.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie lie­ßen die Schach­tel, die einen Ei­sen­bahn­zug dar­stell­te, lie­gen und ka­men zu ih­rem Va­ter her­ein.

Das Mäd­chen, des Va­ters Lieb­ling, lief dreist her­ein, um­arm­te ihn und häng­te sich ihm la­chend an den Hals; sie freu­te sich wie im­mer über den ihr wohl­be­kann­ten Duft des Par­füms, den sein Ba­cken­bart aus­ström­te. Nach­dem sie end­lich sein von der ge­bück­ten Hal­tung ge­röte­tes und von Zärt­lich­keit strah­len­des Ge­sicht ge­küsst hat­te, lös­te sie die Arme von sei­nem Hal­se und woll­te wie­der weg­lau­fen; aber der Va­ter hielt sie zu­rück.

»Was macht Mama?« frag­te er und strich mit der Hand über das glat­te, zar­te Häl­schen sei­ner Toch­ter. »Gu­ten Mor­gen!« sag­te er lä­chelnd zu dem Kna­ben, der ihn be­grüß­te.

Er war sich des­sen be­wusst, dass er den Kna­ben we­ni­ger lieb­te, und gab sich stets Mühe, die Kin­der gleich­mä­ßig zu be­han­deln; aber der Kna­be emp­fand das und er­wi­der­te das kal­te Lä­cheln des Va­ters sei­ner­seits nicht mit ei­nem Lä­cheln.

»Mama? Die ist schon auf­ge­stan­den.«

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch seufz­te.

›Da hat sie also wie­der die gan­ze Nacht nicht ge­schla­fen‹, dach­te er.

»Nun, und ist sie ver­gnügt?«

Das klei­ne Mäd­chen wuss­te, dass es zwi­schen Va­ter und Mut­ter einen Streit ge­ge­ben hat­te, und dass die Mut­ter nicht ver­gnügt sein konn­te, und dass der Va­ter das wis­sen muss­te, und dass er sich ver­stell­te, wenn er so leicht­hin da­nach frag­te. Und sie er­rö­te­te für ih­ren Va­ter. Er ver­stand das so­fort und er­rö­te­te nun gleich­falls.

»Ich weiß es nicht«, ant­wor­te­te sie. »Sie hat ge­sagt, wir soll­ten heu­te kei­nen Un­ter­richt ha­ben, son­dern mit Miss Hull zu Groß­ma­ma ge­hen«

»Na, dann geh, mei­ne lie­be klei­ne Tan­ja! Ja so, war­te noch mal«, sag­te er, in­dem er sie doch noch zu­rück­hielt und ihr zar­tes Händ­chen strei­chel­te.

Er nahm vom Ka­min­sims eine Schach­tel Kon­fekt her­ab, die er ges­tern da­hin ge­stellt hat­te, und gab ihr zwei Stück­chen; er wähl­te sol­che, die sie am liebs­ten aß: eine Scho­ko­la­den­pra­li­ne und einen Frucht­bon­bon.

»Für Gri­go­ri?« frag­te das Kind und zeig­te auf die Pra­li­ne.

»Ja, ja!« Noch­mals strei­chel­te er ihr die Schul­ter und küss­te sie auf die Stirn beim Haar­an­satz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.

»Der Wa­gen steht be­reit!« mel­de­te Mat­wei. »Es ist auch eine Bitt­stel­le­rin da«, füg­te er hin­zu.

»Ist sie schon lan­ge hier?« frag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch.

»Etwa ein hal­b­es Stünd­chen.«

»Wie oft habe ich dir be­foh­len, mir die Leu­te so­fort zu mel­den!«

»Sie müs­sen doch Ihren Kaf­fee in Ruhe trin­ken kön­nen«, er­wi­der­te Mat­wei in ei­nem freund­lich-gro­ben Tone, über den sein Herr nicht zor­nig wer­den konn­te.

»Na, dann bit­te sie jetzt schnell her­ein«, sag­te Oblon­ski, är­ger­lich die Au­gen­brau­en zu­sam­men­zie­hend.

Die Bitt­stel­le­rin, eine Frau Haupt­mann Ka­li­ni­na, bat um et­was ganz Un­mög­li­ches und Un­ver­nünf­ti­ges; aber nach sei­ner Ge­wohn­heit er­such­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch sie, Platz zu neh­men, hör­te ihr, ohne sie zu un­ter­bre­chen, auf­merk­sam zu und gab ihr aus­führ­li­che Ratschlä­ge, an wen sie sich zu wen­den habe und wie sie es an­grei­fen müs­se, und schrieb so­gar in ge­wand­tem, bün­di­gem Sti­le mit sei­ner großen, sper­ri­gen, hüb­schen, kla­ren Hand­schrift einen Brief für sie an die Per­sön­lich­keit, die ihr be­hilf­lich sein konn­te. Nach­dem er die Frau Haupt­mann ent­las­sen hat­te, nahm er sei­nen Hut und stand noch einen Au­gen­blick da, um zu über­le­gen, ob er auch nichts ver­ges­sen habe. Er über­zeug­te sich, dass er nichts ver­ges­sen hat­te au­ßer dem einen, was er gern ver­ges­sen woll­te, – sei­ne Frau.

›Ach ja!‹ Er ließ den Kopf sin­ken, und sein hüb­sches Ge­sicht nahm einen sor­gen­vol­len Aus­druck an. ›Soll ich zu ihr hin­ge­hen oder nicht?‹ er­wog er. Und eine in­ne­re Stim­me sag­te ihm, es sei zweck­los, hin­zu­ge­hen, es lie­fe doch al­les nur auf Lüge hin­aus; ihre ge­gen­sei­ti­gen Be­zie­hun­gen wie­der­her­zu­stel­len und in Ord­nung zu brin­gen, sei un­mög­lich, weil es we­der mög­lich sei, Dol­ly wie­der zu ei­nem an­zie­hen­den, rei­zen­den Wei­be noch sich selbst zu ei­nem al­ten, der Lie­be un­fä­hi­gen Man­ne zu ma­chen. Es war jetzt al­les not­wen­di­ger­wei­se vol­ler Lüge und Un­wahr­haf­tig­keit; Lüge und Un­wahr­haf­tig­keit aber wa­ren sei­ner Na­tur zu­wi­der.

›In­des­sen, ir­gend­ein­mal muss es doch ge­sche­hen; so kann die Sa­che ja nicht blei­ben‹, sag­te er zu sich, be­strebt, sich Mut zu ma­chen. Er reck­te die Brust her­aus, hol­te eine Zi­ga­ret­te her­vor, zün­de­te sie an, rauch­te ein paar Züge, warf sie in das Aschen­schäl­chen aus Perl­mut­ter, durch­maß mit schnel­len Schrit­ten den Sa­lon und öff­ne­te die Tür zum Schlaf­zim­mer sei­ner Frau.

Ge­päck  <<<

4

Er fand Dar­ja Alex­an­drow­na in der Nacht­ja­cke, die Flech­ten ih­res be­reits recht dünn ge­wor­de­nen, frü­her so dich­ten schö­nen Haa­res am Hin­ter­kopf auf­ge­steckt, mit ver­fal­le­nem, ha­ge­rem Ge­sicht und großen, er­schro­cke­nen Au­gen, die in­fol­ge der Ha­ger­keit des Ge­sichts stark her­vor­tra­ten. Sie stand mit­ten un­ter al­ler­lei Sa­chen, die im Zim­mer um­her­ge­wor­fen wa­ren, vor ei­nem of­fe­nen Wä­sche­schrank, aus dem sie ein­zel­nes her­aus­such­te. Als sie die Schrit­te ih­res Man­nes hör­te, hielt sie inne und blick­te nach der Tür, wo­bei sie sich ohne Er­folg be­müh­te, ih­rem Ge­sich­te einen stren­gen, ver­ächt­li­chen Aus­druck zu ver­lei­hen. Sie fühl­te, dass sie vor ihm Furcht hat­te und sich vor der be­vor­ste­hen­den Auss­pra­che ängs­tig­te. Eben erst hat­te sie von neu­em ver­sucht, das zu tun, was sie schon zehn­mal in die­sen drei Ta­gen zu tun ver­sucht hat­te: von den Sa­chen der Kin­der und von ih­ren ei­ge­nen das Not­wen­digs­te her­aus­zu­su­chen, um es zu ih­rer Mut­ter brin­gen zu las­sen. Und wie­der konn­te sie sich nicht end­gül­tig dazu ent­schlie­ßen; aber auch jetzt sag­te sie sich eben­so wie bei den frü­he­ren Ver­su­chen, dass die­ser Zu­stand nicht fort­dau­ern kön­ne; sie müs­se ir­gend et­was un­ter­neh­men, ih­ren Mann be­stra­fen, bloß­stel­len, sich an ihm rä­chen, in­dem sie ihm we­nigs­tens einen klei­nen Teil des Schmer­zes an­tä­te, den er ihr zu­ge­fügt habe. Sie sag­te sich im­mer noch, dass sie ihn ver­las­sen wol­le, fühl­te aber, dass das un­mög­lich sei; un­mög­lich aber war es des­we­gen, weil sie nicht da­von las­sen konn­te, ihn als ih­ren Gat­ten zu be­trach­ten und zu lie­ben. Au­ßer­dem sah sie vor­aus, dass, wenn sie schon hier, im ei­ge­nen Hau­se, mit der Pfle­ge und Beauf­sich­ti­gung ih­rer fünf Kin­der kaum fer­tig wur­de, die­se dort, wo­hin sie sich mit ih­nen al­len be­ge­ben woll­te, noch schlech­ter ver­sorgt wer­den wür­den. War doch schon in die­sen drei Ta­gen der Jüngs­te von schlech­ter Fleisch­brü­he, die er be­kom­men hat­te, krank ge­wor­den, und die üb­ri­gen hat­ten ges­tern fast gar kein Mit­ta­ges­sen ge­habt. Sie fühl­te, dass es ihr un­mög­lich sei, von hier weg­zu­ge­hen; aber sie täusch­te sich trotz­dem selbst et­was vor, such­te die Sa­chen zu­sam­men und tat, als ob sie weg wol­le.

Als sie ih­ren Mann er­blick­te, ver­senk­te sie die Hän­de in ein Fach des Wä­sche­schran­kes, als ob sie et­was such­te, und sah sich nach ihm erst um, als er ganz dicht an sie her­an­ge­tre­ten war. Aber ihr Ge­sicht, dem sie einen stren­gen, ent­schlos­se­nen Aus­druck ver­lei­hen woll­te, sprach nur von Rat­lo­sig­keit und tie­fem Lei­de.

»Dol­ly!« sag­te er mit lei­ser, schüch­ter­ner Stim­me. Er hat­te den Kopf in die Schul­tern hin­ein­ge­zo­gen und woll­te sich gern ein kläg­li­ches, de­mü­ti­ges Aus­se­hen ge­ben, aber da­bei strahl­te er doch von Fri­sche und Ge­sund­heit. Mit ei­nem schnel­len Bli­cke über­schau­te sie vom Kopf bis zu den Fü­ßen sei­ne präch­ti­ge, le­bens­fro­he Ge­stalt. ›Ja, er ist glück­lich und zu­frie­den!‹ dach­te sie. ›A­ber ich? … Und die­se wi­der­wär­ti­ge Gut­mü­tig­keit, um de­rent­wil­len ihn alle lie­ben und lo­ben; ich has­se an ihm die­se Gut­mü­tig­keit.‹ Ihr Mund press­te sich zu­sam­men; die Wan­gen­mus­keln auf der rech­ten Sei­te ih­res blei­chen, ner­vö­sen Ge­sich­tes zuck­ten.

»Was wün­schen Sie?« frag­te sie schnell in un­na­tür­lich klin­gen­dem Tone.

»Dol­ly«, sag­te er noch ein­mal, und sei­ne Stim­me zit­ter­te da­bei. »Anna kommt heu­te her.«

»Was geht es mich an? Ich kann sie nicht emp­fan­gen!« schrie sie auf.

»Aber es wird doch nö­tig sein, Dol­ly …«

»Ge­hen Sie weg, ge­hen Sie weg!« rief sie, ohne ihn an­zu­bli­cken, als wäre die­ser Auf­schrei durch einen kör­per­li­chen Schmerz her­vor­ge­ru­fen.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch hat­te wohl ru­hig sein kön­nen, so­lan­ge er an sei­ne Frau nur dach­te; da hat­te er hof­fen kön­nen, es wer­de sich al­les, nach Mat­weis Aus­druck, wie­der ein­ren­ken, und hat­te in die­ser Hoff­nung ru­hig sei­ne Zei­tung le­sen und sei­nen Kaf­fee trin­ken kön­nen; als er aber jetzt ihr ab­ge­härm­tes Mär­ty­rer­ge­sicht vor sich sah und die­sen Ton ih­rer Stim­me hör­te, aus dem ihre Er­ge­bung in das Schick­sal und ihre Verzweif­lung her­aus­klan­gen, da war es ihm, als wenn er er­sti­cken müss­te; es stieg ihm et­was in die Keh­le, und sei­ne Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen.

»Mein Gott, was habe ich ge­tan, Dol­ly! Um Got­tes wil­len! Ich habe ja …« Er konn­te nicht wei­ter­re­den; ein Schluch­zen ver­schloss ihm die Keh­le.

Sie schloss die Schrank­tür und blick­te ihn an.

»Dol­ly, was kann ich sa­gen? Nur das eine: Ver­zeih mir! Den­ke zu­rück; kön­nen denn nicht neun Jah­re des Zu­sam­men­le­bens ei­ni­ge we­ni­ge Au­gen­bli­cke auf­wie­gen, in de­nen …«

Sie hat­te die Au­gen auf den Bo­den ge­rich­tet und hör­te ihm zu, als war­te sie, was er wohl sa­gen wer­de, als fle­he sie ihn an, sie ir­gend­wie von sei­ner Schuld­lo­sig­keit zu über­zeu­gen.

»… ei­ni­ge we­ni­ge Au­gen­bli­cke, in de­nen ich mich hin­rei­ßen ließ …«, fuhr er fort und woll­te wei­ter­spre­chen; aber bei die­sen Wor­ten press­ten sich ihre Lip­pen wie­der wie in­fol­ge ei­nes kör­per­li­chen Schmer­zes zu­sam­men, und wie­der zuck­ten die Mus­keln ih­rer rech­ten Wan­ge.

»Ge­hen Sie weg, ge­hen Sie weg von hier!« schrie sie noch durch­drin­gen­der. »Und spre­chen Sie zu mir nicht da­von, dass Sie sich hät­ten hin­rei­ßen las­sen, und nicht von dem, was Sie Schänd­li­ches ge­tan ha­ben!«

Sie woll­te hin­aus­ge­hen; aber sie wank­te und fass­te nach ei­ner Stuhl­leh­ne, um sich zu stüt­zen. Sein Ge­sicht zog sich in die Brei­te, sei­ne Lip­pen wur­den di­cker, und die Trä­nen ström­ten ihm aus den Au­gen.

»Dol­ly!« sag­te er schluch­zend. »Um Got­tes wil­len, den­ke an die Kin­der; sie tra­gen ja kei­ne Schuld. Ich bin der Schul­di­ge; stra­fe mich, lass mich mei­ne Schuld bü­ßen. Wo­mit ich sie nur zu bü­ßen ver­mag, ich bin zu al­lem be­reit! Ich habe ge­fehlt, und es ist gar nicht mit Wor­ten zu sa­gen, wie schwer ich ge­fehlt habe! Aber den­noch, Dol­ly, ver­zei­he mir!«

Sie setz­te sich hin. Er hör­te ihr schwe­res, lau­tes At­men und emp­fand ein un­säg­li­ches Mit­leid mit ihr. Sie setz­te meh­re­re Male an, et­was zu sa­gen, war aber dazu nicht im­stan­de. Er war­te­te.

»Du denkst an die Kin­der nur, um mit ih­nen zu spie­len; wenn ich aber an sie den­ke, so weiß ich da­bei, dass sie jetzt zu­grun­de ge­hen müs­sen«, sag­te sie; es war dies of­fen­bar eine der Re­de­wen­dun­gen, die sie sich im Lau­fe die­ser drei Tage im­mer wie­der vor­ge­spro­chen hat­te.

Sie hat­te du zu ihm ge­sagt, und dar­um blick­te er sie voll Dank­bar­keit an und mach­te eine Be­we­gung, um ihre Hand zu er­grei­fen; aber sie wich mit Ab­scheu vor ihm zu­rück.

»Ich den­ke an die Kin­der, und des­halb wür­de ich al­les tun, was men­schen­mög­lich ist, um sie zu ret­ten; aber ich weiß selbst nicht, wo­durch ich sie ret­ten kann: ob da­durch, dass ich sie von ih­rem Va­ter weg­neh­me, oder da­durch, dass ich sie bei ih­rem lie­der­li­chen Va­ter las­se, – ja­wohl, bei ih­rem lie­der­li­chen Va­ter. Nun, sa­gen Sie selbst, ist es denn nach al­lem, was ge­sche­hen ist, über­haupt noch mög­lich, dass wir wei­ter mit­ein­an­der le­ben? Ist das über­haupt noch mög­lich?« frag­te sie noch ein­mal mit er­ho­be­ner Stim­me. »Nach­dem mein Mann, der Va­ter mei­ner Kin­der, sich in eine Lieb­schaft mit der Er­zie­he­rin sei­ner ei­ge­nen Kin­der ein­ge­las­sen hat …«

»Aber was ist nun zu ma­chen? Was ist nun zu ma­chen?« frag­te er in kläg­li­chem Ton; er wuss­te selbst nicht recht, was er sag­te, und ließ den Kopf im­mer tiefer und tiefer her­ab­sin­ken.

»Sie sind mir wi­der­wär­tig und ekel­haft!« schrie sie, im­mer mehr in Hit­ze ge­ra­tend. »Ihre Trä­nen sind wei­ter nichts als Was­ser! Sie ha­ben mich nie ge­liebt; Sie be­sit­zen we­der ein Herz noch eine vor­neh­me Ge­sin­nung! Sie sind mir ver­hasst und ekel­haft; Sie sind mir ein Frem­der, ja, ein ganz Frem­der!« Mit bit­te­rem Schmer­ze und tie­fem In­grimm sprach sie die­ses Wort ›ein Frem­der‹ aus, das ihr selbst schreck­lich er­schi­en.

Er blick­te sie an, und der In­grimm, der auf ih­rem Ge­sich­te zum Aus­druck kam, ver­setz­te ihn in Schre­cken und Stau­nen. Er be­griff nicht, dass ge­ra­de sein Mit­leid mit ihr sie reiz­te. Sie be­merk­te bei ihm nur ein Ge­fühl des Be­dau­erns für sie, aber kei­ne Lie­be. ›Nein, sie hasst mich; sie wird mir nicht ver­zei­hen‹, dach­te er.

»Das ist furcht­bar, ganz furcht­bar!« sprach er vor sich hin.

In die­sem Au­gen­blick fing im Ne­ben­zim­mer ei­nes der Kin­der, das wahr­schein­lich hin­ge­fal­len war, an zu schrei­en. Dar­ja Alex­an­drow­na horch­te auf, und ihre Mie­ne wur­de plötz­lich mil­der.

Es schi­en, als samm­le sie ei­ni­ge Se­kun­den lang ihre Ge­dan­ken, wie wenn sie nicht recht wüss­te, wo sie sich be­fin­de und was sie zu tun habe. Dann stand sie schnell auf und ging zur Tür hin.

›Al­so liebt sie doch mein Kin­d‹, dach­te er, da er die Ver­än­de­rung ih­res Ge­sich­tes beim Schrei­en des Kin­des be­merkt hat­te. ›Sie liebt mein Kind; wie kann sie dann mich has­sen?‹

»Dol­ly, noch ein Wort!« sag­te er, ihr nach­ge­hend.

»Wenn Sie mir fol­gen, so rufe ich die Leu­te und die Kin­der! Mö­gen sie es alle hö­ren, dass Sie ein Schur­ke sind! Ich ver­las­se noch heu­te die­ses Haus, und Sie kön­nen dann hier mit Ih­rer Mätres­se zu­sam­men woh­nen!«

Da­mit ging sie hin­aus und schlug die Tür hef­tig hin­ter sich zu.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch seufz­te, trock­ne­te sich die Trä­nen vom Ge­sich­te und ging mit lei­sen Schrit­ten zu der Tür, durch die er ge­kom­men war. ›Mat­wei sagt, es wird sich wie­der ein­ren­ken; aber wie? Ich sehe schlech­ter­dings kei­ne Mög­lich­keit. Ach, was für eine schreck­li­che Lage! Und in wel­cher ge­wöhn­li­chen Wei­se sie schrie! Was für Aus­drücke!‹ sag­te er zu sich selbst in Erin­ne­rung an ihr Schrei­en und an die Wor­te Schur­ke und Mätres­se. ›Vi­el­leicht ha­ben es so­gar die Dienst­mäd­chen ge­hört! Furcht­bar ge­wöhn­lich, wahr­haf­tig!‹ Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch blieb noch ei­ni­ge Se­kun­den al­lein ste­hen, trock­ne­te sich die Au­gen, nahm eine fes­te Hal­tung an und ver­ließ das Zim­mer.

Es war Frei­tag, und im Ess­zim­mer zog ge­ra­de der deut­sche Uhr­ma­cher die Uhr auf. Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch er­in­ner­te sich an einen Scherz, den er ein­mal über die­sen pünkt­li­chen, kahl­köp­fi­gen Uhr­ma­cher ge­macht hat­te: die­ser Deut­sche sei wohl selbst ein­mal für das gan­ze Le­ben auf­ge­zo­gen wor­den, um Uhren auf­zu­zie­hen. Und die­se Erin­ne­rung ent­lock­te ihm ein Lä­cheln.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch lieb­te einen gu­ten Witz. ›Vi­el­leicht renkt es sich wie­der ein! Ein hüb­scher Aus­druck das: Es renkt sich wie­der ein‹, dach­te er. ›Den muss ich wei­ter­er­zäh­len.‹

»Mat­wei!« rief er und trug ihm auf, als er er­schi­en: »Rich­te also mit Mar­ja al­les im Frem­den­zim­mer für Anna Ar­k­ad­jew­na her!«

»Zu Be­fehl.«

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch zog sei­nen Pelz an und trat vor den Haus­ein­gang hin­aus.

»Wer­den Sie zu Hau­se spei­sen?« frag­te Mat­wei, der ihn hin­aus­be­glei­te­te.

»Ich weiß noch nicht. Wie es sich ge­ra­de ma­chen wird. Aber hier nimm das für Aus­la­gen«, sag­te er und hän­dig­te ihm aus sei­ner Brief­ta­sche zehn Ru­bel ein. »Wird es rei­chen?«

»Es lässt sich vor­her nicht sa­gen; je­den­falls wer­de ich es ein­zu­rich­ten su­chen«, er­wi­der­te Mat­wei, schlug den Kut­schen­schlag zu und trat auf die Stu­fen vorm Hau­stor zu­rück.

Dar­ja Alex­an­drow­na hat­te un­ter­des­sen das Kind be­ru­higt, und als sie an dem Geräusche des Wa­gens merk­te, dass ihr Mann weg­ge­fah­ren sei, kehr­te sie in das Schlaf­zim­mer zu­rück. Dies war im­mer ihre Zuf­lucht vor den häus­li­chen Sor­gen; so­bald sie die­se Zuf­lucht ver­ließ, stürm­ten die Sor­gen stets wie­der von al­len Sei­ten auf sie ein. Auch jetzt, wäh­rend sie die paar Mi­nu­ten im Kin­der­zim­mer ge­we­sen war, hat­ten die Eng­län­de­rin und Ma­tro­na Fi­li­mo­now­na die Ge­le­gen­heit be­nutzt, um ihr ver­schie­de­ne Fra­gen vor­zu­le­gen, die kei­nen Auf­schub dul­de­ten und die sie al­lein ent­schei­den konn­te: Was die Kin­der zum Spa­zier­gang an­zie­hen soll­ten. Ob sie Milch be­kom­men soll­ten. Ob ein an­de­rer Koch zur Aus­hil­fe an­ge­nom­men wer­den sol­le.

»Ach, lasst mich, lasst mich!« ant­wor­te­te sie, kehr­te in das Schlaf­zim­mer zu­rück und setz­te sich auf den­sel­ben Platz, auf dem sie mit ih­rem Man­ne ge­spro­chen hat­te; sie press­te die ab­ge­ma­ger­ten Hän­de zu­sam­men, an de­nen ihr die Rin­ge von den kno­chi­gen Fin­gern zu glei­ten droh­ten, und ging in der Erin­ne­rung das gan­ze vor­her­ge­hen­de Ge­spräch noch ein­mal durch. ›Er ist weg­ge­fah­ren! Aber wie mag er sich mit die­ser Per­son aus­ein­an­der­ge­setzt ha­ben?‹ dach­te sie. ›Ob er sie wohl noch be­sucht? Wa­rum habe ich ihn nicht da­nach ge­fragt? Nein, nein, eine Aussöh­nung ist un­mög­lich. Und selbst wenn wir in dem­sel­ben Hau­se blei­ben, so wer­den wir doch ein­an­der fremd sein. Fremd für im­mer!‹ Auf die­ses ihr so furcht­ba­re Wort kam sie im­mer wie­der mit be­son­de­rem Nach­druck zu­rück. ›Und wie habe ich ihn ge­liebt, o mein Gott, wie habe ich ihn ge­liebt, wie habe ich ihn ge­liebt! – Und lie­be ich ihn denn nicht auch jetzt noch? Lie­be ich ihn nicht noch mehr als frü­her? Das Schreck­lichs­te ist …‹ Aber sie be­en­de­te die­sen an­ge­fan­ge­nen Ge­dan­ken nicht, da Ma­tro­na Fi­li­mo­now­na durch die Tür her­ein­blick­te.

»Ge­stat­ten Sie doch, dass ich mei­nen Bru­der ho­len las­se«, sag­te sie. »Der kann das Mit­ta­ges­sen her­rich­ten; sonst be­kom­men die Kin­der wie­der wie ges­tern bis sechs Uhr nichts zu es­sen.«

»Nun gut, ich kom­me gleich und wer­de al­les, was nö­tig ist, an­ord­nen. Ist nach fri­scher Milch ge­schickt?«

Und Dar­ja Alex­an­drow­na ver­senk­te sich in die Sor­gen des Ta­ges und be­täub­te da­durch für ei­ni­ge Zeit ih­ren Gram.

5

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch hat­te in der Schu­le dank sei­nen treff­li­chen Fä­hig­kei­ten gut ge­lernt, war aber trä­ge und aus­ge­las­sen ge­we­sen und in­fol­ge­des­sen bei der Ent­las­sung in der Rang­ord­nung ei­ner der letz­ten ge­wor­den; aber trotz sei­nem all­zeit lo­cke­ren Le­bens­wan­del, trotz der Kür­ze sei­ner Dienst­zeit und trotz sei­nem ver­hält­nis­mä­ßig ju­gend­li­chen Le­bensal­ter be­klei­de­te er die an­ge­se­he­ne, gut be­sol­de­te Stel­lung des Di­rek­tors ei­ner Mos­kau­er Ver­wal­tungs­be­hör­de. Die­sen Pos­ten hat­te er durch Ale­xei Alex­an­dro­witsch Ka­re­nin, den Gat­ten sei­ner Schwes­ter Anna, er­hal­ten, der eine der höchs­ten Stel­len in dem Mi­nis­te­ri­um ein­nahm, dem jene Be­hör­de un­ter­stellt war. Aber auch wenn Ka­re­nin sei­nen Schwa­ger nicht in die­se Stel­le ge­bracht hät­te, so wür­de Sti­wa Oblon­ski doch durch hun­dert an­de­re Per­so­nen, durch Brü­der, Schwes­tern, Vet­tern, On­kel und Tan­ten, die­se oder eine an­de­re, ähn­li­che Stel­le mit etwa sechs­tau­send Ru­beln Ge­halt be­kom­men ha­ben; und eine sol­che Ein­nah­me brauch­te er recht nö­tig, da sei­ne Geld­ver­hält­nis­se trotz dem be­deu­ten­den Ver­mö­gen sei­ner Frau sich in ar­ger Zer­rüt­tung be­fan­den.

Halb Mos­kau und Pe­ters­burg war mit Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch ver­wandt oder be­freun­det. Er war mit­ten un­ter den Leu­ten ge­bo­ren, die die Mäch­ti­gen die­ser Welt wa­ren oder wur­den. Ein Drit­tel der ho­hen Re­gie­rungs­be­am­ten, die äl­te­ren Män­ner, wa­ren Freun­de sei­nes Va­ters ge­we­sen und hat­ten ihn noch im Kin­der­kleid­chen ge­kannt; das zwei­te Drit­tel stand mit ihm auf du und du; und das drit­te wa­ren gute Be­kann­te. So­mit wa­ren die Ver­tei­ler ir­di­scher Gü­ter, als da sind Äm­ter, Pach­tun­gen, Kon­zes­sio­nen und der­glei­chen, sämt­lich mit ihm be­freun­det und konn­ten ihn als einen der Ih­ri­gen nicht über­ge­hen; und Oblon­ski brauch­te sich nicht son­der­lich zu be­mü­hen, um eine ein­träg­li­che Stel­le zu er­hal­ten; er brauch­te eine sol­che nur nicht aus­zu­schla­gen, sich nicht miss­güns­tig zu zei­gen, sich mit nie­man­dem zu über­wer­fen, sich nicht ge­kränkt zu füh­len, was er auch so­wie­so zu­fol­ge der ihm ei­ge­nen Gut­mü­tig­keit nie­mals tat. Es wäre ihm lä­cher­lich er­schie­nen, wenn man ihm ge­sagt hät­te, er wür­de kei­ne Stel­le mit ei­nem Ge­hal­te, wie er es brauch­te, er­lan­gen, umso mehr, da er nichts Au­ßer­or­dent­li­ches be­an­spruch­te; er woll­te nur das, was sei­ne Stan­des­ge­nos­sen meist er­lang­ten, und einen der­ar­ti­gen Pos­ten konn­te er eben­so gut aus­fül­len wie je­der an­de­re.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch war nicht nur bei al­len, die ihn kann­ten, we­gen sei­nes gut­mü­ti­gen, hei­te­ren Cha­rak­ters und sei­ner un­zwei­fel­haf­ten Ehren­haf­tig­keit be­liebt, son­dern in sei­nem gan­zen We­sen, in sei­ner schö­nen, glän­zen­den Er­schei­nung, den blit­zen­den Au­gen, den schwar­zen Brau­en und Haa­ren, dem fri­schen, ge­sun­den Ge­sicht lag et­was, was schon durch die rein phy­si­sche Wir­kung alle, die mit ihm in Berüh­rung ka­men, für ihn ein­nahm und in eine fröh­li­che Stim­mung ver­setz­te. »Ah! Sti­wa! Oblon­ski! Da ist er ja auch!« rie­fen fast im­mer die, die mit ihm zu­sam­men­tra­fen, mit ver­gnüg­tem Lä­cheln. Und wenn sie nach ei­nem Ge­sprä­che mit ihm sich be­wusst wur­den, dass ei­gent­lich nichts be­son­ders Ver­gnüg­li­ches vor­ge­kom­men sei, so freu­ten sie sich doch am an­de­ren und am drit­ten Tage alle wie­der ganz eben­so bei ei­ner Be­geg­nung mit ihm.

Schon mehr als zwei Jah­re be­klei­de­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch den Di­rek­tor­pos­ten bei der Mos­kau­er Ver­wal­tungs­be­hör­de und hat­te sich wäh­rend die­ser Zeit wie die Zu­nei­gung so auch die Ach­tung sei­ner Kol­le­gen, Un­ter­ge­be­nen und Vor­ge­setz­ten und al­ler, die mit ihm zu tun hat­ten, er­wor­ben. Die Ei­gen­schaf­ten, die haupt­säch­lich dazu bei­tru­gen, ihm die­se all­ge­mei­ne Ach­tung in dienst­li­cher Hin­sicht zu ver­schaf­fen, wa­ren ers­tens sei­ne au­ßer­or­dent­li­che Leut­se­lig­keit, die bei ihm auf dem Be­wusst­sein sei­ner ei­ge­nen Män­gel be­ruh­te; zwei­tens sei­ne durch­aus li­be­ra­le, fort­schritt­li­che Ge­sin­nung, nicht die, die er sich aus den Zei­tun­gen zu ei­gen mach­te, son­dern die, die ihm im Blu­te steck­te und in­fol­ge de­ren er alle Men­schen, ohne jede Rück­sicht auf ih­ren Stand und Be­ruf, völ­lig gleich und un­par­tei­isch be­han­del­te; drit­tens (und das war wohl die Haupt­sa­che) sei­ne voll­stän­di­ge Ge­müts­ru­he ge­gen­über den An­ge­le­gen­hei­ten, mit de­nen er sich zu be­schäf­ti­gen hat­te, so­dass er sich nie­mals von Er­re­gun­gen hin­rei­ßen ließ und kei­ne Übe­rei­lungs­feh­ler mach­te.

Als Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch heu­te in sei­nem Wa­gen zu der Stät­te sei­ner dienst­li­chen Tä­tig­keit ge­langt war, be­gab er sich, be­glei­tet von dem ehr­er­bie­ti­gen Pfört­ner, der ihm die Ak­ten­map­pe trug, in sein klei­nes Ar­beits­zim­mer, zog die Uni­form an und trat in den Sit­zungs­saal. Die Schrei­ber und Be­am­ten er­ho­ben sich sämt­lich und ver­beug­ten sich mit freund­li­cher, ach­tungs­vol­ler Mie­ne. Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch ging wie im­mer schnel­len Schrit­tes zu sei­nem Plat­ze, drück­te den Rä­ten die Hand und setz­te sich. Er scherz­te und plau­der­te ein we­nig mit ih­nen, ge­ra­de so viel, wie schick­lich war, und nahm dann die Ar­beit in An­griff. Nie­mand ver­stand es bes­ser als Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, jene Grenz­li­nie zwi­schen harm­lo­sem, schlich­tem Be­neh­men und dienst­li­cher Hal­tung zu fin­den, de­ren In­ne­hal­tung für eine an­ge­neh­me Amt­stä­tig­keit er­for­der­lich ist. Freund­lich und ach­tungs­voll, wie sich eben alle in Ste­pan Ar­k­ad­je­witschs Amts­be­reich be­nah­men, trat der Se­kre­tär mit ei­ni­gen Schrift­stücken zu ihm her­an und sag­te in dem frei­en, un­ge­zwun­ge­nen Tone, den Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch ein­ge­führt hat­te:

»Wir ha­ben doch noch von dem Gou­ver­ne­ment Pen­sa die Nach­rich­ten er­hal­ten. Hier, ist es Ih­nen viel­leicht ge­fäl­lig …«

»Ha­ben wir sie end­lich be­kom­men?« er­wi­der­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch und schob einen Fin­ger in das Ak­ten­stück vor ihm an der Stel­le, wo er es nach­her auf­schla­gen woll­te. »Nun, mei­ne Her­ren …« Und die Sit­zung be­gann.

›Wenn die wüss­ten‹, dach­te er, wäh­rend er mit be­deut­sa­mer Mie­ne beim An­hö­ren ei­nes Be­rich­tes den Kopf zur Sei­te neig­te, ›welch ein zer­knirsch­ter Sün­der noch vor ei­ner hal­b­en Stun­de ihr Vor­sit­zen­der ge­we­sen ist!‹ Sei­ne Au­gen lach­ten wäh­rend der Ver­le­sung des Be­rich­tes. Bis zwei Uhr muss­te nach der be­ste­hen­den Ord­nung die Ar­beit ohne Un­ter­bre­chung fort­ge­führt wer­den; um zwei Uhr kam dann eine Früh­stücks­pau­se.

Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glas­tür des Sit­zungs­saa­l­es plötz­lich ge­öff­net wur­de und je­mand her­ein­kam. Alle Be­am­ten blick­ten, er­freut über eine klei­ne Ablen­kung, zur Tür hin; aber der Tür­hü­ter, der dort sei­nen Pos­ten hat­te, wies den Ein­dring­ling so­fort wie­der hin­aus und mach­te die Glas­tür hin­ter ihm wie­der zu.

Als die Ver­le­sung des ge­ra­de vor­lie­gen­den Schrift­stückes be­en­det war, er­hob sich Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, reck­te sich ein we­nig, hol­te noch im Sit­zungs­saa­le, den fort­schritt­li­chen An­schau­un­gen der mo­der­nen Zeit Rech­nung tra­gend, eine Zi­ga­ret­te her­vor und mach­te sich auf nach sei­nem Ar­beits­zim­mer. Zwei sei­ner Kol­le­gen, der be­jahr­te, be­reits in ho­hem Dienstal­ter ste­hen­de Ni­ki­tin und der Kam­mer­jun­ker Gr­in­je­witsch, gin­gen mit ihm zu­sam­men hin­aus.

»Nach dem Früh­stück wer­den wir schon mit der Sa­che zu Ende kom­men«, be­merk­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch.

»Mit Leich­tig­keit!« ver­setz­te Ni­ki­tin.

»Aber ein ge­hö­ri­ger Gau­ner muss doch die­ser Fo­min sein«, mein­te Gr­in­je­witsch mit Be­zug auf eine der Per­so­nen, die an der zur Un­ter­su­chung ste­hen­den Sa­che be­tei­ligt wa­ren.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch run­zel­te bei Gr­in­je­witschs Wor­ten die Stirn, wo­mit er zu ver­ste­hen gab, dass es un­pas­send sei, vor­zei­tig ein Ur­teil aus­zu­spre­chen, und gab ihm kei­ne Ant­wort.

»Wer kam denn da vor­hin her­ein?« frag­te er den Tür­hü­ter.

»Ich ken­ne ihn nicht, Euer Ex­zel­lenz. Er drang, ohne zu fra­gen, ein, als ich ge­ra­de ein­mal einen Au­gen­blick den Rücken kehr­te. Er frag­te dann nach Ih­nen. Ich habe ihm ge­sagt: wenn die Her­ren her­aus­kom­men, dann …«

»Wo ist er denn?«

»Er muss wohl eben auf den Flur hin­un­ter­ge­gan­gen sein; bis vor kur­z­em ist er im­mer hier auf und ab ge­wan­dert. Da ist er«, sag­te der Tür­hü­ter und wies auf einen kräf­tig ge­bau­ten, breit­schul­te­ri­gen, kraus­bär­ti­gen Mann, der, ohne sei­ne Schaf­fell­müt­ze ab­zu­neh­men, schnell und be­händ die ab­ge­tre­te­nen Stu­fen der Stein­trep­pe her­auf­ge­lau­fen kam. Ein ha­ge­rer Be­am­ter, der mit den üb­ri­gen, sei­ne Ak­ten­map­pe un­ter dem Arm, die Trep­pe hin­un­ter­stieg, blieb ste­hen, warf einen miss­bil­li­gen­den Blick auf die Bei­ne des Lau­fen­den und blick­te dann fra­gend Oblon­ski an.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch stand oben an der Trep­pe. Sein gut­mü­tig glän­zen­des Ge­sicht über dem ge­stick­ten Uni­form­kra­gen strahl­te plötz­lich noch hel­ler auf, als er den Her­auf­kom­men­den er­kann­te.

»Wahr­haf­tig! Lje­win! End­lich ein­mal!« rief er mit ei­nem freund­schaft­li­chen, ein we­nig spöt­ti­schen Lä­cheln, wäh­rend er den zu ihm tre­ten­den Lje­win mus­ter­te. »Wie hast du es nur über dich ge­win­nen kön­nen, mich in die­ser Räu­ber­höh­le auf­zu­su­chen?« fuhr Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch fort und be­gnüg­te sich nicht mit ei­nem Hän­de­druck, son­dern küss­te sei­nen Freund herz­lich. »Bist du schon lan­ge in Mos­kau?«

»Ich bin eben erst an­ge­kom­men und woll­te dich gern spre­chen«, ant­wor­te­te Lje­win und blick­te da­bei schüch­tern und zu­gleich är­ger­lich und un­ru­hig um sich.

»Na, komm mit in mein Ar­beits­zim­mer!« sag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, der die emp­find­li­che, leicht reiz­ba­re Schüch­tern­heit sei­nes Freun­des kann­te; er fass­te ihn an der Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch dro­hen­de Ge­fah­ren hin­durch­ge­lei­ten woll­te.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch stand mit fast al­len sei­nen Be­kann­ten auf du und du: mit al­ten Män­nern von sech­zig Jah­ren und mit jun­gen von zwan­zig Jah­ren, mit Schau­spie­lern, Mi­nis­tern, Kauf­leu­ten und Ge­ne­ral­ad­ju­tan­ten, so­dass sehr vie­le sei­ner Duz­freun­de sich an den bei­den ent­ge­gen­ge­setz­ten En­den der ge­sell­schaft­li­chen Stu­fen­lei­ter be­fan­den und sehr ver­wun­dert ge­we­sen wä­ren, zu er­fah­ren, dass sie in Oblon­ski einen ge­mein­sa­men Berüh­rungs­punkt hat­ten. Er duz­te sich mit al­len, mit de­nen er Cham­pa­gner ge­trun­ken hat­te, und Cham­pa­gner trank er mit all und je­dem. Traf er nun in An­we­sen­heit von Be­am­ten, die ihm un­ter­stellt wa­ren, mit sei­nen ›kom­pro­mit­tie­ren­den Duz­freun­den‹, wie er im Scher­ze vie­le sei­ner Freun­de nann­te, zu­sam­men, so ver­stand er es mit dem ihm ei­ge­nen Tak­te, den un­an­ge­neh­men Ein­druck ab­zu­schwä­chen, den dies auf sei­ne Un­ter­ge­be­nen ma­chen konn­te. Lje­win ge­hör­te nicht zu die­sen kom­pro­mit­tie­ren­den Duz­freun­den; aber Oblon­ski merk­te mit dem fei­nen Ge­fühl, das er für sol­che Din­ge be­saß, dass Lje­win glaub­te, er, Oblon­ski, möge vor sei­nen Un­ter­ge­be­nen nicht gern sein en­ge­res Ver­hält­nis zu ihm, Lje­win, be­kun­den; dar­um be­eil­te sich Oblon­ski, ihn in sein Ar­beits­zim­mer zu füh­ren.

Lje­win war bei­nah glei­chen Al­ters mit Oblon­ski, und sei­ne Duz­freund­schaft mit ihm stamm­te nicht etwa nur vom Cham­pa­gner her. Lje­win war schon in frü­her Ju­gend sein Ka­me­rad und Freund ge­we­sen. Sie moch­ten ein­an­der gern trotz der Ver­schie­den­heit der Cha­rak­tere und Nei­gun­gen, wie eben Freun­de ein­an­der gern ha­ben, die sich in frü­her Ju­gend zu­sam­men­ge­fun­den ha­ben. Aber trotz­dem ging es auch bei ih­nen, wie so oft bei Leu­ten, die sich für stark ver­schie­de­ne Ar­ten von Tä­tig­keit ent­schie­den ha­ben: ob­gleich ein je­der von ih­nen der Tä­tig­keit des an­de­ren bei ge­naue­rer Über­le­gung Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren ließ, schätz­te er sie doch im Grun­de sei­ner See­le ge­ring. Je­dem schi­en das Le­ben, das er selbst führ­te, das ein­zig wah­re Le­ben zu sein und das des Freun­des nur eine Ka­ri­ka­tur des Da­seins. Oblon­ski konn­te, so­bald er Lje­win zu se­hen be­kam, ein lei­ses, spöt­ti­sches Lä­cheln nicht un­ter­drücken. Wer weiß wie oft hat­te er ihn nun schon von sei­nem Gute, wo er sich ir­gend­wel­cher Tä­tig­keit hin­gab, nach Mos­kau kom­men se­hen; aber was er dort ei­gent­lich tat, das hat­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch nie so recht be­grei­fen kön­nen, und es in­ter­es­sier­te ihn auch nicht be­son­ders. Wenn Lje­win nach Mos­kau kam, so war er im­mer stark auf­ge­regt, in großer Hast, ein we­nig be­fan­gen und eben in­fol­ge die­ser Be­fan­gen­heit sehr reiz­bar, und meis­tens hat­te er sich in­zwi­schen ir­gend­ei­ne völ­lig neue, über­ra­schen­de An­schau­ung über die­sen oder je­nen Ge­gen­stand zu ei­gen ge­macht. Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch lach­te über das We­sen sei­nes Freun­des, hat­te es aber doch gern. Ganz eben­so ver­ach­te­te auch Lje­win im Grun­de sei­ner See­le die städ­ti­sche Le­bens­wei­se des an­de­ren und sei­ne dienst­li­che Tä­tig­keit, der er je­den Wert ab­sprach, und mach­te sich dar­über lus­tig. Aber ein Un­ter­schied be­stand dar­in, dass Oblon­ski, der so leb­te wie alle an­de­ren Men­schen auch, wenn er über sei­nen Freund spot­te­te, dies voll Selbst­ver­trau­en und in gut­mü­ti­ger Wei­se tat, Lje­win da­ge­gen ohne rech­tes Selbst­ver­trau­en und mit­un­ter in auf­ge­brach­tem Tone.

»Wir ha­ben dich schon lan­ge er­war­tet«, sag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch beim Ein­tritt in sein Zim­mer und ließ nun Lje­wins Hand los, wie wenn er da­durch aus­drücken woll­te, dass hier kei­ne Ge­fahr mehr sei. »Ich bin sehr, sehr er­freut, dich wie­der­zu­se­hen«, fuhr er fort. »Nun, was machst du? Wie geht es dir? Wann bist du an­ge­kom­men?«

Lje­win schwieg und rich­te­te sei­ne Bli­cke auf die ihm un­be­kann­ten Ge­sich­ter der bei­den Kol­le­gen Oblons­kis und na­ment­lich auf die Hän­de des ele­gan­ten Gr­in­je­witsch mit den lan­gen, wei­ßen Fin­gern, mit den lan­gen, gel­ben, an den Spit­zen ge­krümm­ten Nä­geln und den rie­si­gen, blit­zen­den Man­schet­ten­knöp­fen. Die­se Hän­de nah­men au­gen­schein­lich Lje­wins gan­ze Auf­merk­sam­keit in An­spruch und lie­ßen ihn an nichts an­de­res mehr den­ken. Oblon­ski be­merk­te das so­fort und lä­chel­te.

»Ach ja, ge­stat­ten Sie, dass ich Sie mit­ein­an­der be­kannt ma­che«, sag­te er. »Mei­ne Kol­le­gen: Fil­ipp Iwa­no­witsch Ni­ki­tin, Michail Sta­nis­la­witsch Gr­in­je­witsch«, und auf Lje­win deu­tend: »Ein Ko­ry­phäe der länd­li­chen Selbst­ver­wal­tung, ein mo­der­ner Land­wirt, ein Ath­let, der mit ei­ner Hand an­dert­halb Zent­ner hebt, Vieh­züch­ter, Jä­ger und mein Freund, Kon­stan­tin Dmi­tri­je­witsch Lje­win, ein Bru­der von Ser­gei Iwa­no­witsch Kos­nü­schew.«

»Sehr an­ge­nehm«, sag­te der alte Be­am­te.

»Ich habe die Ehre, Ihren Bru­der Ser­gei Iwa­no­witsch zu ken­nen«, be­merk­te Gr­in­je­witsch und streck­te ihm sei­ne schma­le Hand mit den lan­gen Nä­geln hin.

Lje­win zog ein fins­te­res Ge­sicht, reich­te ihm kühl die Hand und wand­te sich so­fort Oblon­ski zu. Ob­gleich er sei­nen mit ihm von der­sel­ben Mut­ter stam­men­den Stief­bru­der, einen in ganz Russ­land be­kann­ten Schrift­stel­ler, sehr hoch schätz­te, konn­te er es doch nicht lei­den, wenn man ihn im Ver­kehr nicht als Kon­stan­tin Lje­win, son­dern als den Bru­der des be­rühm­ten Kos­nü­schew be­han­del­te.

»Nein, ich be­tei­li­ge mich nicht mehr an der länd­li­chen Selbst­ver­wal­tung. Ich habe mich mit al­len über­wor­fen und fah­re nicht mehr zu den Ver­samm­lun­gen«, sag­te er, zu Oblon­ski ge­wen­det.

»Das ist ein­mal flink ge­gan­gen!« er­wi­der­te Oblon­ski lä­chelnd. »Aber warum? Wie ist das ge­kom­men?«

»Das ist eine lan­ge Ge­schich­te. Ich will sie dir ein an­der Mal er­zäh­len«, ant­wor­te­te Lje­win, be­gann aber mit der Er­zäh­lung doch so­fort. »Nun, um es kurz zu ma­chen, ich bin zu der Über­zeu­gung ge­langt, dass es eine er­sprieß­li­che länd­li­che Selbst­ver­wal­tung nicht gibt und nicht ge­ben kann«, fing er an, und zwar mit ei­ner Hef­tig­keit, als hät­te ihn so­eben je­mand be­lei­digt. »Ers­tens ist es eine Spie­le­rei, man spielt Par­la­ment; ich bin aber we­der jung ge­nug noch alt ge­nug, um an Spie­le­rei­en Ver­gnü­gen zu fin­den. Und zwei­tens« (er be­gann zu stot­tern) »ist das für die fei­nen Leu­te im Krei­se ein Mit­tel, um Geld her­aus­zu­schla­gen. Frü­her dienten dazu die Vor­mund­schaft­säm­ter und Land­schafts­ge­rich­te, jetzt je­doch die Kreis­ver­wal­tung. Sie be­rei­chern sich zwar nicht durch An­nah­me von Be­ste­chungs­gel­dern, wohl aber durch Be­zug von Ge­häl­tern, für die sie nichts leis­ten.« Er brach­te das al­les so hit­zig vor, wie wenn ei­ner der An­we­sen­den sei­ne An­sicht be­strit­te.

»Ei sieh ein­mal! Du be­fin­dest dich ja, mer­ke ich, wie­der auf ei­ner neu­en Ent­wick­lungs­stu­fe; du bist jetzt kon­ser­va­tiv«, sag­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch. »Je doch, dar­über spre­chen wir spä­ter ein­mal.«

»Ja, ja, spä­ter. Aber ich habe not­wen­dig mit dir zu re­den«, ver­setz­te Lje­win mit ei­nem has­s­er­füll­ten Blick auf Gr­in­je­witschs Hän­de.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch lä­chel­te kaum merk­lich.

»Hast du nicht vor kur­z­em ge­sagt, du woll­test nie mehr eu­ro­päi­sche Klei­dung tra­gen?« frag­te er, wäh­rend er Lje­wins neu­en An­zug, of­fen­bar das Werk ei­nes fran­zö­si­schen Schnei­ders, mus­ter­te. »Ja, ja, ich sehe schon, eine neue Ent­wick­lungs­stu­fe!«

Lje­win er­rö­te­te plötz­lich, aber nicht so, wie er­wach­se­ne Leu­te er­rö­ten, nur so ein we­nig und ohne sich des­sen selbst be­wusst zu wer­den, son­dern so, wie Kna­ben er­rö­ten, die füh­len, dass sie durch ihre Be­fan­gen­heit lä­cher­lich er­schei­nen und die nun in­fol­ge­des­sen sich noch mehr schä­men und noch mehr er­rö­ten, bei­nah bis zum Wei­nen. Der An­blick die­ses klu­gen, männ­li­chen Ge­sich­tes in ei­nem so kind­li­chen Zu­stan­de wirk­te so be­frem­dend, dass Oblon­ski die Au­gen da­von weg­wand­te.

»Also, wo wol­len wir denn zu­sam­men­kom­men? Ich muss näm­lich not­wen­dig, ganz not­wen­dig mit dir re­den«, sag­te Lje­win.

Oblon­ski über­leg­te einen Au­gen­blick.

»Wir könn­ten es so ma­chen: wir fah­ren jetzt gleich zu Gu­rin, früh­stücken da und re­den da­bei mit­ein­an­der. Bis drei Uhr bin ich frei.«

»Das geht nicht«, ant­wor­te­te Lje­win nach kur­z­em Nach­den­ken. »Ich habe jetzt noch eine not­wen­di­ge Be­sor­gung.«

»Nun gut, dann wol­len wir zu­sam­men Mit­tag es­sen.«

»Mit­tag es­sen? Et­was Be­son­de­res habe ich dir ei­gent­lich nicht zu sa­gen; es sind nur ein paar Wor­te; ich woll­te dich et­was fra­gen. Nach­her kön­nen wir ja mit­ein­an­der plau­dern.«

»So sage doch die paar Wor­te jetzt gleich; dann kön­nen wir uns bei Ti­sche voll­stän­dig ei­ner ge­müt­li­chen Un­ter­hal­tung wid­men.«

»Die paar Wor­te sind näm­lich die«, sag­te Lje­win. »Üb­ri­gens ist es wei­ter nichts Be­son­de­res.«

Sein Ge­sicht nahm plötz­lich einen är­ger­li­chen Aus­druck an, der durch die An­stren­gung her­vor­ge­ru­fen wur­de, mit der er sei­ner Ver­le­gen­heit Herr zu wer­den such­te.

»Was ma­chen denn Scht­scher­baz­kis? Al­les beim al­ten?« frag­te er.

Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, der schon lan­ge wuss­te, dass Lje­win in sei­ne, Ste­pans, Schwä­ge­rin Kit­ty ver­liebt war, lä­chel­te lei­se, und sei­ne Au­gen blitz­ten lus­tig.

»Da hast du nun also dei­ne paar Wor­te ge­sagt; ich kann dir aber nicht mit ein paar Wor­ten ant­wor­ten, weil … Ent­schul­di­ge einen Au­gen­blick!«

Ein Se­kre­tär kam her­ein. Mit ei­ner Art von ach­tungs­vol­ler Ver­trau­lich­keit und ei­nem ge­wis­sen, bei al­len Se­kre­tä­ren zu fin­den­den be­schei­de­nen Be­wusst­sein der ei­ge­nen Über­le­gen­heit über den Dienstherrn, was Ge­schäfts­kennt­nis an­langt, trat er mit ei­ni­gen Ak­ten­stücken in der Hand an Oblon­ski her­an und be­gann, un­ter der Form ei­ner Fra­ge, ir­gend­ei­ne Schwie­rig­keit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch hör­te ihn nicht bis zu Ende an, son­dern un­ter­brach ihn, in­dem er ihm freund­lich die Hand auf den Rock­är­mel leg­te.

»Nein, ma­chen Sie das doch nur so, wie ich ge­sagt habe«, ver­setz­te er, wo­bei er den Ta­del, der in die­ser Be­mer­kung lag, durch ein Lä­cheln mil­der­te. Dann er­klär­te er ihm kurz, wie er die Sa­che auf­fas­se, und schob die Pa­pie­re mit den Wor­ten zu­rück: »So also ma­chen Sie es, bit­te, so, Sachar Ni­ki­tisch.«

Ver­le­gen ent­fern­te sich der Se­kre­tär. Lje­win, der wäh­rend der Er­ör­te­rung mit dem Se­kre­tär sei­ne Be­fan­gen­heit voll­stän­dig über­wun­den hat­te, stand mit bei­den Hän­den auf eine Stuhl­leh­ne ge­stützt da, und auf sei­nem lä­cheln­den Ge­sich­te mal­te sich ein spöt­ti­sches In­ter­es­se.

»Mir un­be­greif­lich, mir un­be­greif­lich«, sag­te er.

»Was ist dir denn un­be­greif­lich?« frag­te Oblon­ski, gleich­falls hei­ter lä­chelnd, und hol­te eine Zi­ga­ret­te her­vor. Er er­war­te­te, dass Lje­win wie­der ein­mal in be­son­de­rer Wei­se los­bre­chen wer­de.

»Es ist mir un­be­greif­lich, mit wel­chen Din­gen ihr euch da ab­gebt«, er­wi­der­te Lje­win ach­sel­zu­ckend. »Wie kannst du der­glei­chen nur ernst­haft be­trei­ben!«

»Wie­so?«

»Nun, weil es ei­gent­lich doch eine Art Mü­ßig­gang ist.«

»Das denkst du so; aber wir sind mit Ar­beit über­häuft.«

»Mit pa­pie­re­ner Ar­beit. Na ja, da­für hast du ja eine Be­ga­bung«, füg­te Lje­win hin­zu.

»Das heißt, du meinst, dass es mir an­der­wei­tig man­gelt?«

»Kann schon sein«, ver­setz­te Lje­win. »Aber trotz­dem be­wun­de­re ich dei­ne her­vor­ra­gen­den Ei­gen­schaf­ten und bin stolz dar­auf, einen so großen Mann zum Freun­de zu ha­ben. – Aber du hast mir auf mei­ne Fra­ge noch nicht geant­wor­tet«, füg­te er hin­zu und blick­te mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung dem an­de­ren ge­ra­de in die Au­gen.

»Na schön, schön! War­te nur, du kommst auch noch ein­mal auf un­se­ren Stand­punkt. Du bist ja gut dran mit dei­nen drei­tau­send Deßja­ti­nen im Krei­se Ka­ras­insk und mit sol­chen Mus­keln und mit sol­cher Le­bens­fri­sche wie ein zwölf­jäh­ri­ges Mäd­chen, – aber auch du wirst noch auf un­se­re Sei­te kom­men. Ja, also was dei­ne Fra­ge be­trifft: es hat sich da nichts ge­än­dert; aber scha­de, dass du so lan­ge nicht hier ge­we­sen bist.«

»Wie­so?« frag­te Lje­win er­schro­cken.

»Nun, es ist nichts Be­son­de­res«, ant­wor­te­te Oblon­ski. »Wir spre­chen schon noch dar­über. Aber zu wel­chem Zwe­cke bist du denn ei­gent­lich her­ge­kom­men?«

»Ach, dar­über kön­nen wir ja auch spä­ter noch spre­chen«, er­wi­der­te Lje­win und wur­de wie­der rot bis über die Ohren.

»Na schön, ge­wiss«, ver­setz­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch. »Siehst du, ich wür­de dich gern zu mir ein­la­den; aber mei­ne Frau ist nicht recht wohl. Aber weißt du was? Wenn du die Scht­scher­baz­ki­schen Da­men se­hen willst, die sind heu­te höchst­wahr­schein­lich von vier bis fünf im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten. Kit­ty läuft da Schlitt­schuh. Fah­re da hin; ich hole dich nach­her ab, und wir es­sen dann zu­sam­men ir­gend­wo zu Mit­tag.«

»Aus­ge­zeich­net! Also auf Wie­der­se­hen!«

»Aber denk auch dar­an! Dass du es ja nicht etwa ver­gisst oder wohl gar plötz­lich aufs Land zu­rück­fährst! Ich ken­ne dich!« rief Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch la­chend.

»Nein, nein, du kannst dich auf mich ver­las­sen.«

Erst als er an der Tür war, fiel es Lje­win ein, dass er ja ver­ges­sen hat­te, sich von Oblons­kis Kol­le­gen zu ver­ab­schie­den; has­tig hol­te er das Ver­säum­te nach und ver­ließ das Zim­mer.

»Wohl ein sehr ener­gi­scher Herr?« be­merk­te Gr­in­je­witsch, als Lje­win hin­aus­ge­gan­gen war.

»Ja, liebs­ter Freund«, ant­wor­te­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, den Kopf hin und her wie­gend, »das ist ein Glücks­kind! Drei­tau­send Deßja­ti­nen im Krei­se Ka­ras­insk, das gan­ze Le­ben noch vor sich, und was für eine Fri­sche! Nicht so wie un­serei­ner!«

»Sie wol­len sich be­kla­gen, Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch, Sie?«

»Ja, scheuß­lich geht es ei­nem, gar zu schlimm!« ant­wor­te­te Ste­pan Ar­k­ad­je­witsch mit ei­nem schwe­ren Seuf­zer.

6

Als Oblon­ski an Lje­win die Fra­ge ge­rich­tet hat­te, zu wel­chem Zwe­cke er denn ei­gent­lich nach Mos­kau ge­kom­men sei, war Lje­win rot ge­wor­den und är­ger­te sich nun nach­her eben dar­über, dass er rot ge­wor­den war und es nicht fer­tig­ge­bracht hat­te, ihm zu ant­wor­ten: ›Ich bin her­ge­kom­men, um dei­ner Schwä­ge­rin einen Hei­rats­an­trag zu ma­chen‹, wie­wohl dies der ein­zi­ge Zweck sei­ner Rei­se war.